J. Verbr. Lebensm. (2013) 8:227–253 DOI 10.1007/s00003-013-0833-0
Journal fu¨r Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit Journal of Consumer Protection and Food Safety
ANNOUNCEMENTS AND REPORTS
Alternativen zum Informationsparadigma der Verbraucherpolitik 1. Verbraucherforschungsforum an der Zeppelin Universita ¨t, Friedrichshafen, 24. Januar 2013
Received: 22 June 2013 Bundesamt fu ¨ r Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) 2013
Alternativen zum Informationsparadigma der Verbraucherpolitik: Eine kommentierende Einfu ¨ hrung in ein noch dynamisches verbraucherwissenschaftliches Feld mit verbraucherpolitischen Implikationen Peter Kenning1 und Lucia Reisch2 1
¨t, Lehrstuhl fu Zeppelin Universita ¨ r Marketing, Am Seemooser Horn 20, 88045 Friedrichshafen, Germany
[email protected] 2 ¨t, Forschungszentrum Verbraucher, Zeppelin Universita Markt und Politik, Am Seemooser Horn 20, 88045 Friedrichshafen, Germany
[email protected] In den letzten Jahren hat in der verbraucherwissenschaftlichen und -politischen Diskussion die Erkenntnis an Bedeutung gewonnen, dass das Informationsparadigma der Verbraucherpolitik nicht ¨hligen weiter aufrechterhalten werden kann. In unza empirischen Studien sowohl im psychologischen als auch im o ¨konomischen Bereich, die weit bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hineinreichen, wurde sehr deutlich, dass ein ,,Mehr‘‘ an Informationen kein Patentrezept zur Lo ¨sung verbraucherpolitischer Probleme sein kann. Mit dieser Erkenntnis einher ging die Forderung der Politik an die Wissenschaften alternative Konzepte zu entwickeln, um so eine moderne Verbraucherpolitik zu ¨hrleisten und Selbstbeschaffen, die Sicherheit gewa stimmung ermo ¨glichen kann. In der seit Jahren anhaltenden Diskussion, die im ¨ brigen keineswegs nur in Deutschland gefu U ¨ hrt wird, befinden sich dabei verschiedene potentielle Nachfolger,
die u. a. unter den Begriffen ,,Evidenzbasierung‘‘, ,,Nudging‘‘, ,,Self-Regulation‘‘ und ‘‘Consumer Neuroscience’’ diskutiert werden und unterschiedliche Reichweiten entwickelt haben. Um die mit dieser Entwicklung einhergehenden verbraucherpolitischen Chancen und Risiken aus wissenschaftlicher Perspektive beurteilen zu ko ¨nnen, widmete sich das 1. Verbraucherforschungs¨t in forum am 24.1.2013 an der Zeppelin Universita Friedrichshafen dem Thema ‘‘Alternativen zum Informationsparadigma der Verbraucherpolitik’’. Gegenstand des Fachforums war es, die mo ¨glichen Alternativen in einer kurzen kennzeichnenden Form durch fu ¨ hrende Fachvertreter skizzieren zu lassen und die entsprechenden Skizzen dann zusammen mit dem fachkundigen Publikum zu diskutieren. Die in dieser Sammlung doku¨ge sollen im Folgenden kurz mentierten Beitra zusammengefasst und gewu ¨ rdigt werden. Dabei sei ¨hlte Reihenfolge keinesfalls im betont, dass die gewa ¨Sinne einer impliziten verbraucherpolitischen Priorita tenliste verstanden werden sollte, sondern lediglich die Programmstruktur in chronologischer Reihenfolge wiedergibt. Den zentralen Gegenstand des ersten Beitrags von GERHARD ROTH unter dem Titel ,,ENTSCHEIDUNGSVERHALTEN AUS SICHT DER NEUROWISSENSCHAFTEN‘‘ bildet die neurowissenschaftliche Entscheidungsforschung, die oft auch unter dem Titel ,,Decision Neuroscience‘‘ diskutiert wird. Den Ausgangspunkt der Ausfu ¨ hrungen stellt dabei die Rational-Choice Theory dar, die im Konzept der ,,bounded rationality‘‘ konkretisiert wurde. Nach einer kurzen, differenzierten Diskussion dieser Theorie kommt Roth rasch zu dem Schluss, dass diese aus neurowissen¨nglich‘‘ ist. Der wesentliche schaftlicher Sicht ,,unzula Grund dafu ¨ r besteht darin, dass Entscheidungen in der
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¨t regelma ¨ßig nicht rational, sondern emotional Realita getroffen werden. Darauf aufbauend systematisiert Roth die Rolle von Emotionen im Entscheidungsverhalten und nennt fu ¨ nf verschiedene Entscheidungstypen. Danach wu ¨ rdigt er einige ,,motivationale Besonderheiten‘‘, die einen Einfluss auf das menschliche Entscheidungsverhalten haben und fokussiert dabei u. a. das Konzept der ,,Belohnungserwartung‘‘ in seinen verschiedenen Facetten. Abschließend fasst er seine Ausfu ¨ hrungen auf einer praktisch-normativen Ebene zusammen. Dabei betont er, dass gerade in komplexen Situationen die beste Entscheidungsstrategie die ,,aufgeschobene, intuitive Entscheidung‘‘ ist. Aufbauend auf diesen Ausfu ¨ hrungen wird deutlich, dass die Integration neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, Theorien und Methoden in die verbraucherwissenschaftliche Forschung ku ¨ nftig dazu beitragen kann, das menschliche ¨Entscheidungsverhalten besser zu beschreiben, zu erkla ren sowie, darauf aufbauend, effektivere und effizientere verbraucherpolitische Maßnahmen zu entwickeln. Der zweite Beitrag in diesem Heft stammt von ANDREAS OEHLER und fokussiert die Verbraucherpolitik aus einer o ¨konomischen und bildungspolitischen Perspektive. Unter dem Titel ,,NEUE ALTE VERBRAUCHERLEITBILDER: BASIS FU¨R ¨chst die unla ¨ngst DIE VERBRAUCHERBILDUNG‘‘ zeichnet er zuna auch vom Wissenschaftlichen Beirat ‘‘Verbraucher- und ¨hrungspolitik’’ des BMELV aufgegriffene LeitbildErna ¨chst Verbrauchern in diskussion nach. Dabei wird zuna wesentlichen wissenschaftlichen Modellwelten nachgespu ¨ rt, um Ursachen und Wirkungen verschiedener Leitbilder in Verbraucherpolitik und Verbraucherbildung besser nachvollziehen zu ko ¨nnen. Darauf aufbauend wird konkret der Frage nach der Ausgestaltung einer Verbraucherbildung hinsichtlich Subjekt und Objekt nachgegangen und dabei mit dem bemerkenswerten Ansatz der praxisorientierten Meta-Bildung ein ¨tsnaher Lo realita ¨sungsweg entworfen. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Ausblick, in dem gefordert wird, dass die ,,Regulierung und Verbraucherbildung ¨t ankommen‘‘ sollten und (…) in der Verbraucherrealita dazu auf vorgefertigte Lei(d)tbilder und Mythen verzichten mu ¨ ssten. Insgesamt zeigt der Beitrag damit deutlich die Grenzen einer auf ein bestimmtes Leitbild gerichteten Verbraucherpolitik und lehnt ebensolche aus den genannten Gru ¨ nden ab. Der dritte Beitrag von HANS-W. MICKLITZ unter dem Titel ,,ASCHENPUTTEL – EINE VERBRAUCHERGESCHICHTE – VERSUCH ¨rchen der EINER DEUTUNG‘‘ verwendet das bekannte Ma Bru ¨ der Grimm als Vehikel, um die Bedeutung des Verbrauchers in der Wirtschaftswelt in einer historischen Ru ¨ ckschau nachzuzeichnen. Diese anschauliche Beschreibung findet ihr abruptes Ende, wenn sie ¨t mit der aktuellen verbraucherpolitischen Realita
konfrontiert wird. Diese Konfrontation bildet den zweiten Teil des Micklitzschen Textes in dem er u. a. konstatiert, dass eine ,,Verbraucher-Politik, die mehr sein will als eine Anpassung rechtlicher Maßnahmen an die Effizienzbedingungen des globalisierten Marktes, (…) das Politische in der schwindenden Schutzrhetorik der letzten zwei Jahrzehnte zuru ¨ ckgewinnen‘‘ muss. Zur Umsetzung dieses Postulats zeichnet Micklitz im Folgenden ein schrittweises Vorgehen, das die differenzierten Ausfu ¨ hrungen im Beitrag von Andreas ¨nzt. Im weiteren Fortgang werden einige Oehler erga ,,Denkansto ¨ße‘‘ subsumiert und das Spannungsfeld zwischen staatlichen und supranationalen Instanzen problematisiert. Besonders betont Micklitz dabei die Frage, welcher Instanz welche Kompetenzen zugesprochen werden sollen. Abschließend diskutiert er die Idee des ,,kollektiven Verbraucherschutzes‘‘ und leitet aus dieser Diskussion einige Handlungsempfehlungen fu ¨ r die nationale Ebene ab, bevor er dann wiederum die supranationale und globale Perspektive einnimmt. Im ¨r vielerorts noch Ergebnis wird deutlich, wie rudimenta verbraucherrechtliche Aspekte behandelt und beru ¨ cksichtigt werden. Im Kontrast zu dieser globalen rechtlichen Perspektive widmet sich der Beitrag von ANJA ACHTZIGER und ALEXANDER JAUDAS zum Thema ,,KOGNITIVE BELASTUNG, EGO-DEPLETION, SELBSTREGULATION: RELEVANT FU¨R DIE VERBRAU¨ R DIE VERBRAUCHERPOLITIK?‘‘ der CHERFORSCHUNG! RELEVANT FU Individual- und Sozialpsychologie. Die Motivation ihres Beitrags besteht unter anderen darin, dass die psychologische Forschung in den Verbraucherwissenschaften eine relativ hohe Bedeutung beansprucht – diese hohe Bedeutung aber bis dato kaum Eingang in die (deutsche) Verbraucherpolitik gefunden hat. Im Beitrag soll daher aufgezeigt werden, wie Erkenntnisse aus der Sozial- und Motivationspsychologie fu ¨ r die Verbraucherforschung und Verbraucherpolitik nutzbar gemacht werden ko ¨nnen. Dazu ¨utert, wie Selbstregulationswird exemplarisch erla ¨higkeit und Konsumentensouvera ¨nita ¨t zusammenfa ¨ngen. Achtziger und Jaudas verdeutlichen dann, ha ¨higkeit zur Selbstregulation keine unerdass die Fa ¨ndig die scho ¨ pfliche Ressource ist und somit besta Gefahr besteht, dass diese erscho ¨pft wird (Ego-Depletion). Ausgehend von Baumeisters ,,Ressourcenmodell der Selbstkontrolle‘‘ werden die Ursachen und ¨nzend die Folgen der Ego-Depletion skizziert. Erga werden wirksame und erprobte Selbstregulationsstrategien aufgezeigt, mit denen negativen Auswirkungen von Ego-Depletion begegnet werden kann. Im Kern zeigt der Beitrag von Achtziger und Jaudas, dass individual- und sozialpsychologisch entwickelte, fundierte Instrumente eine hohe verbraucherpolitische
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Relevanz haben ko ¨nnen. Voraussetzung fu ¨ r ihren ¨re aber, das in den Beitra ¨gen von Roth, Einsatz wa Oehler und Micklitz bereits kritisierte Leitbild des mu ¨ ndigen Verbrauchers aufzugeben und die ¨rker auf die empirischen Verbraucherpolitik sta ¨ten der Verbraucher im 21. Jahrhundert Realita auszurichten. Welche unterstu ¨ tzende, vielleicht sogar maßgeb¨ger liche Rolle dabei die politischen Entscheidungstra auf verschiedenen Ebenen haben ko ¨ nnen und welche Erwartungen diese wiederum an die entsprechenden Institutionen und Akteure im wissenschaftlichen Bereich haben, zeigt schließlich der Beitrag von WOLFANG REIMER zum Thema ,,DIE BEDEUTUNG DER VERBRAUCHERFORSCHUNG FU¨R DIE VERBRAUCHERPOLITIK‘‘. Im
Kern geht es ihm dabei um zentrale verbraucherpolitische Fragen zum Thema ,,Verbraucherverhalten‘‘, ,,Verbraucherbildung‘‘ und ,,Aufgaben der Politik‘‘, die in konkreter Form unter anderen durch den fortgesetzten Dialog im Format das Fachforums beantwortet werden, um eine ,,empirisch fundierte Verbraucherpolitik‘‘ zu ermo ¨glichen. Gerade in ¨mlich der empirischen Fundiesem letzten Punkt, na dierung, skizziert Reimer wohl das zentrale Fazit des Verbraucherforschungsforums und den gemeinsa¨ge. Es bleibt jedoch men Nenner der jeweiligen Beitra abzuwarten, ob die damit implizit angesprochene Evidenzbasierung sich auch politikpraktisch als echte Alternative zum Informationsparadigma durchzusetzen vermag.
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Entscheidungsverhalten aus Sicht der Neurowissenschaften
2 Welche Entscheidungstypen gibt es, und was la ¨uft dabei im Gehirn ab?
Gerhard Roth
Man kann aus Sicht der Psychologie und Neurobiologie folgende Typen von Entscheidungen differenzieren: Entscheidungen unter Zeitdruck
¨t Bremen, Institut fu Universita ¨ r Hirnforschung, Postfach 330440, 28334 Bremen
[email protected]
1 Ausgangslage
1. routinisierte (automatisierte) Entscheidungen 2. affektiv-impulsive Entscheidungen (,,Bauchentscheidungen I‘‘) Entscheidungen ohne Zeitdruck
Die seit der Antike herrschende traditionelle philosophische Auffassung und auch die moderne Rational-Choice-Theorie gehen davon aus, dass sich Menschen in ihren Entscheidungen von Verstand ¨ berlegungen leiten lassen sollten, und rationalen U und zwar umso mehr, je komplexer die Entscheidungssituation ist. Gefu ¨ hle sind dabei mo ¨glichst ¨ngen (Esser 1999; Roth 2012). Allerdings zuru ¨ ckzudra gelingt dies oft nur unzureichend. Deshalb spricht ¨nkten man seit Herbert Simon von einer ,,eingeschra ¨t‘‘ (,,bounded rationality‘‘, Simon 1993) – Rationalita ein Konzept, das von Reinhard Selten (Selten 2001) und Gary Becker (Becker 1999) weiterentwickelt wurde. Alle drei erhielten hierfu ¨ r Nobelpreise. ¨t‘‘ besteht unter Eine solche ,,begrenzte Rationalita anderem in Folgendem: – –
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Begrenztheit der Kenntnisse von Neben- und Randbedingungen bzw. ihrer Berechenbarkeit. Risikovermeidung bzw. Beharrungsvermo ¨gen: Menschen tendieren dazu, ihr bisheriges Verhalten auch unter erheblichen Kosten fortzusetzen, wenn Verhaltensalternativen mit unkalkulierbaren Risiken verbunden sind. Kurzsichtigkeit: Zeitlich naheliegende Ereignisse haben subjektiv ein ho ¨heres Gewicht als zeitlich ferner liegende Ereignisse; entsprechend werden naheliegende Ziele eher verfolgt als ferner lie¨ngig von der Rationalita ¨t. gende Ziele – unabha ,,Satisficing‘‘: Menschen betrachten in der Regel nur wenige Alternativen (meist nur zwei), und ¨gung vernu ¨re. keineswegs alle, deren Erwa ¨ nftig wa ¨gen auf, wenn sie auf eine Sie ho ¨ ren mit dem Abwa halbwegs befriedigende Lo ¨sung gestoßen sind, auch wenn durchaus die Chance besteht, dass es noch wesentlich gu ¨ nstigere Lo ¨sungen gibt.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist aber ein sol¨nglich. Vielmehr muss man von ches Konzept unzula einer ,,bounded emotionality‘‘ sprechen, weil Ratio¨t einschra ¨nkt und nalita¨t gelegentlich Emotionalita nicht umgekehrt.
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3.
rein emotionale Entscheidungen (,,Bauchentscheidungen II‘‘) 4. logisch-rationale Entscheidungen 5. intuitive aufgeschobene Entscheidungen 2.1 Routinisierte (automatisierte) Entscheidungen ¨zise Sie haben den Vorteil, dass sie schnell und pra ablaufen, kein Nachdenken erfordern und gegen Stress weitgehend resistent sind, z.B. im Alltagsleben, im Katastrophenfall oder unter großem Zeitdruck. Sie basieren auf langer Vorerfahrung und Einu ¨ bung. Ihr großer Nachteil ist, dass sie an bestimmte Problemsituationen angepasst und hochgradig unflexibel sind und bei neuartigen Gegebenheiten versagen. ¨nderten Verha ¨ltnisse sind Anpassungen an die vera dann schwierig. Im Gehirn sind solche Entscheidungen vornehmlich im sogenannten Striato-Pallidum (genauer im Nucleus caudatus, Putamen und Globus pallidus) lokalisiert (Roth 2012). Diese große Struktur tief im menschlichen Gehirn ist der Ort des impliziten Lernens und damit der klassischen und operanten Konditionierung sowie aller Gewohnheiten, d.h. sol¨zise ohne Nachdenken cher Handlungen, die wir pra ausfu ¨ hren ko ¨ nnen, wie Fahrradfahren, Klavierspielen, handwerkliche Routinen, auswendig gelernte Reden usw., aber auch alle anderen stereotypen ¨t. Es Verhaltensweisen unterschiedlichster Komplexita ¨ufe, die anfangs holprig handelt sich dabei um Abla vonstatten gingen, Aufmerksamkeit und Konzentra¨ bung tion beno ¨tigten, aber mit zunehmender U glatter werden und gleichzeitig immer weniger Aufmerksamkeit beno ¨tigen, bis Aufmerksamkeit sogar sto ¨rt. Die zugrunde liegenden Neuronennetze werden dabei immer fester und sparsamer ,,verdrahtet‘‘ und kapseln sich zunehmend von Eingriffen der in der Großhirnrinde lokalisierten bewussten Aufmerksamkeit ab. Deshalb sind sie, einmal etab¨ndern. liert, auch schwer zu vera
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2.2 Affektiv-impulsive Entscheidungen unter Zeitdruck (Bauchentscheidungen I) Derartige Entscheidungen laufen vornehmlich bei großer Gefahr und unter starkem Stress und Zeitdruck ab und sind mit starken Gefu ¨ hlen, d.h. Affekten, verbunden. Meist geht es bei ihnen um einfache Angriffs-, Verteidigungs- und Fluchtreaktionen oder Erstarren. Sie werden von der sogenannten ,,unteren limbischen Ebene‘‘ unseres Gehirns gesteuert (Roth 2012), zu der der Hypothalamus, die zentrale Amygdala, das zentrale Ho ¨hlengrau und das vegetative System geho ¨ren. Es handelt sich bei ihnen um reflexartige und ,,archaische‘‘ Reaktionen, die mehr oder weniger fest verdrahtet in den genannten Hirnzentren vorliegen. Sie sind hochgradig unflexibel und in der Regel dem ¨ berleben in unserer komplexen natu U ¨ rlichen, sozia¨glich, wie man gut im len und technischen Welt abtra Straßenverkehr beobachten kann. 2.3 Emotionale Entscheidungen ohne Zeitdruck (Bauchentscheidungen II) Derartige Entscheidungen werden in Situationen getroffen, in denen rationale Motive und Argumente sich mit emotionalen Beweggru ¨ nden die Waage halten oder unanwendbar sind, z.B. bei der Partnerwahl, der Berufswahl, dem Auto- oder Hauskauf, aber auch bei normalem Kaufverhalten ohne konkrete Entscheidungsziele. Typisch ist hier ein langes Hin und Her und das Entscheiden aufgrund rein emotionaler Beweggru ¨ nde. Solche Entscheidungen werden meist aufgrund von Motiven getroffen, die uns nicht oder nicht ¨ndig klar sind. Dies resultiert aus der Tatsache, vollsta dass die eigentlichen Beweggru ¨ nde in Zentren des limbischen Systems außerhalb der Großhirnrinde ¨nglich liegen, die dem Detailbewusstsein nicht zuga sind. Hierzu geho ¨rt die basolaterale Amygdala und das mesolimbische System (vornehmlich der Nucleus accumbens), die der Ort fru ¨ hkindlicher oder jugendlicher emotionaler Konditionierung im Sinne von Furcht und Lust, Sympathie und Antipathie sind und damit Grundmerkmale unserer Perso ¨ nlichkeit festlegen, sofern diese nicht genetisch bedingt sind. Sie bestimmen auch unsere Belohnungserwartungen und unseren entsprechenden Umgang mit Belohnungsaussichten und Risiken. Im Nucleus accumbens gibt es spezialisierte Klassen von Neuronen, welche ¨rke der Belohnung, das Ausbleiben von die Sta Belohnung, den zu treibenden Aufwand, das Risiko der Belohnung und die Unsicherheit u ¨ ber Belohnungsrisiko codieren (Tobler et al. 2005). Ihre
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¨t wird in spezialisierten neuronalen NetzAktivita werken miteinander ,,verrechnet‘‘ und ergibt einen unbewussten Motivationszustand, der dann den Rahmen fu ¨ r unsere bewussten emotionalen Entscheidungen liefert. 2.4 Logisch-rationale Entscheidungen Diese Entscheidungen beruhen – zumindest im Ideal¨gen der kurzzustand – auf dem rein rationalen Abwa und langfristigen Konsequenzen des eigenen Verhaltens, von Kosten, Gewinn, Verlust, Risiken usw. Im Gehirn laufen derartige Operationen im sogenannten ¨chtnis ab, das der Ort von AufmerksamArbeitsgeda keit, Intelligenz, Verstand und gedanklichen Manipulationen jeglicher Art ist und sich im oberen ¨frontaler Cortex) und im Stirnhirn (dorsolateraler pra hinteren Parietalcortex befindet. Der vordere Teil hat mit der gedanklichen Synthese von Informationen zu tun, die im hinteren Teil aufgerufen werden. ¨chtnis ist notorisch beschra ¨nkt Das Arbeitsgeda hinsichtlich seiner Verarbeitungszeit, der Anzahl und ¨t der zu verarbeitenden Inhalte und der Komplexita Auswahl geeigneter Verhaltensantworten (Sprache, Bewegung). Insbesondere ko ¨nnen Inhalte nur nacheinander, d.h. sequenziell abgearbeitet werden – man kann nicht zwei Gedanken gleichzeitig haben. ¨chtnis ist sehr stressanfa ¨llig, d.h. Das Arbeitsgeda Stoffe wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, die im Gehirn in Stresssituationen ausgeschu ¨ ttet werden, ¨hmen das Denken. Deshalb ist das Arbeitsgeda ¨chtla nis nur bei geringem Stress und zum Lo ¨sen von Problemen geringer Komplexita¨t geeignet, zum Beispiel wenn der Lo ¨ sungsraum sehr klein bzw. die Entscheidung eigentlich schon klar ist und es nur noch um Details geht. 2.5 Intuitive aufgeschobene Entscheidungen Diese Art von Entscheidungen ist die beste zur ¨ltigung komplexer Entscheidungssituationen Bewa (Dijksterhuis et al. 2006). Sie besteht darin, vor der Beratung bzw. Lo ¨ sungsfindung die Zahl mo ¨glicher ¨ge auf wenige zu verAspekte und Lo ¨ sungsvorschla ringern, die aber meist noch zu komplex sind, als dass man sie rein gedanklich-rational durcharbeiten ko ¨ nnte. Dann geht man mit wenigen Entscheidern oder auch allein diese Alternativen ausfu ¨ hrlich fu ¨ r 1-2 Stunden durch und unterbricht dann den Entschei¨hrend dieser Pause von einigen dungsprozess. Wa Stunden, am besten von 24 Stunden, denkt man nicht mehr u ¨ ber das Problem nach. Schließlich setzt man sich mit den anderen Entscheidern oder mit sich
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selbst wieder zusammen, ruft sich kurz die Alterna¨chtnis und entscheidet dann intuitiv, tiven ins Geda ¨ßig und ohne weiteres Nachdenken. d.h. ahnungsma Diese Lo ¨sungsstrategie beruht darauf, dass man ¨chtnis aktiviert, das einen das Erfahrungsgeda ¨chtnisses wesentlichen Teil unseres Langzeitgeda ¨chtnis ist in der gesamausmacht. Das Langzeitgeda ten Großhirnrinde in zahllosen ,,Modulen‘‘ lokalisiert und von praktisch unbegrenzter Speicher- und Ver¨t. Es stellt mit rund 15 Milliarden arbeitungskapazita Nervenzellen und 500 Billionen Synapsen ein gigantisches assoziatives Netzwerk dar (Roth 2010). Es ¨chtnis hocharbeitet im Gegensatz zum Arbeitsgeda gradig parallel-distributiv. Hier sind alle Erfahrungen ,,abgespeichert‘‘, die wir in unserem Leben gemacht haben, und zwar je nach verstrichener Zeit in einem zunehmend ,,datenkomprimierten‘‘ Zustand. ¨ngliche explizite Diskussion der Durch die anfa Alternativen werden bestimmte Erfahrungen im ¨chtnis aktiviert, und diese werden dann Langzeitgeda in paralleler, impliziter und ,,vorbewusster‘‘ Form weiterverarbeitet, auch wenn wir nicht an sie denken. Dies gilt insbesondere fu ¨ r die Schlafperiode, in der die Großhirnrinde und der Hippocampus als Organisator ¨chtnisses intensiv miteinunseres deklarativen Geda ander interagieren (Marshall und Born 2007). Deshalb geschieht es oft, dass uns beim morgendlichen Auf¨llt. wachen eine passable (oder ,,die‘‘) Lo ¨sung einfa Letztere taucht in intuitiver, d.h. vage erlebter Weise auf, aber nicht als starkes ,,Bauchgefu ¨ hl‘‘. Dieser aufgeschoben-intuitive Entscheidungspro¨llig, beno zess ist nicht sehr stressanfa ¨ tigt aber Zeit – bei relativ unbedeutenden Problemen mindestens 1-2 Stunden, bei sehr komplexen Problemen ca. 24 Stunden. Deshalb sagt man, man wolle eine Entscheidung ,,u ¨ berschlafen‘‘. Wichtig ist, dass man sich in der Pause nicht gedanklich-explizit mit dem Pro¨ftigt, denn das wu blem bescha ¨ rde nur den intuitiven Entscheidungsprozess sto ¨ren. Am besten sind stark ¨ftigungen. ablenkende Bescha 3 Motivationale Besonderheiten Entscheidungen sind immer von bewussten oder unbewussten Belohnungsaussichten getrieben, wobei das Vermeiden oder Abku ¨ rzen unangenehmer oder schmerzhafter Situationen als besonders belohnend empfunden wird. Dabei sind aber folgende motivationale Besonderheiten zu beachten: –
Je ,,materieller‘‘ eine Belohnung, desto schneller verliert sie bei Wiederholung ihre Wirkung
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¨ttigung‘‘). Materielle Belohnungen, wie ko (,,Sa ¨rperliche Lust und Geld, verlieren ihre Wirkung negativ hyperbolisch bis negativ exponentiell, d.h. die Wirkung reduziert sich bei jeder Wieder¨lfte (oder schneller). holung mindestens um die Ha ¨uschungseffekt bei Eintritt Hinzu kommt ein Entta einer Belohnung in erwarteter Ho ¨he. Soziale Belohnungen (Lob, Anerkennung, Titel) lassen in ihrer Wirkung langsamer, jedoch auch stetig nach. Die ,,Erholungszeiten‘‘ variieren allerdings bei beiden individuell stark. Die einzige Beloh¨ttigung geht, ist die nung, die nicht in Sa intrinsische Belohnung. Sie kann sogar mit Wiederholung ansteigen. Dasselbe gilt fu ¨ r die Belohnungserwartungen. Zeitliche Diskontierung zuku ¨ nftiger Belohnung. ¨gen zwischen zeitlich naher, aber Beim Abwa ¨tere, aber große kleiner Belohnung gegen spa Belohnung neigen wir dazu, erstere zu bevorzugen – weit in der Zukunft liegende Belohnungen sind meist wirkungslos, auch wenn sie groß sind. Der Verlauf dieser zeitlichen Diskontierung ist ¨ngig, d.h. bei allerdings stark perso ¨ nlichkeitsabha ¨llt sie sta ¨rker aus, bei risiko-aversiven Personen fa ¨cher (McClure et al. 2004; risiko-freudigen schwa Tanaka et al. 2004; Peters und Bu ¨ chel 2011). Verlust-Aversion: Die meisten Menschen empfinden Verluste und Verlusterwartungen schwerer als entsprechende Gewinne bzw. Gewinnerwartungen. In Entscheidungsversuchen stellt sich ein Wahl-Gleichgewicht (50:50) ein, wenn die Gewinnaussichten mindestens doppelt so hoch sind wie die Verluste (Kahneman und Tverski 1978; Kahneman 2012). Diese Tendenz wird allerdings deutlich abgewandelt durch die Perso ¨ nlichkeitsstruktur, d.h. Verluste bzw. Verlusterwartungen werden bei Risikovermeidern als schmerzhafter empfunden und bei Risikosuchern als weniger schmerzhaft im Vergleich zum Durchschnitt. Umgang mit Risiken: In der klassischen Entscheidungstheorie wird die Entscheidung durch den Erwartungswert bestimmt. Dieser Erwartungswert ist das Produkt aus Belohnungsho ¨ he und Belohnungswahrscheinlichkeit. Die Belohnungswahrscheinlichkeit setzt sich aus Risiko und Unsicherheit, d.h. Unkenntnis des Risikos, zusammen. Menschen gehen im Allgemeinen (bis auf die stark Risikovermeidenden) gut mit bekannten Risiken um, aber schlecht mit Unsicherheiten, mit Ausnahme der stark Risikosuchenden, der ,,sensation seekers‘‘ (Tobler et al. 2007).
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4 Zusammenfassung Das unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungssystem (Amygdala, mesolimbisches System, Insel, vorderer Gyrus cinguli) hat bei den Handlungsentscheidungen das erste und das letzte Wort: Das erste beim Entstehen von Wu ¨ nschen, Absichten und Zielsetzungen, das letzte bei der Entscheidung, ob das, was geplant ist, wirklich jetzt und so und nicht anders ausgefu ¨ hrt werden soll. Dies garantiert, dass alle Entscheidungen im Lichte vergangener individueller Erfahrungen getroffen werden. Es gibt rein affektiv-emotionale Entscheidungen (,,Bauchentscheidungen‘‘), aber es gibt keine rein rationalen Entscheidungen – Verstand und Vernunft sind immer nur Ratgeber, nicht Entscheider. Rationalita¨t hat nur eine Chance in einfachen bzw. vereinfachten Situationen. Stress und Zeitdruck ¨nkung ada ¨quaten Entbedeuten eine starke Einschra scheidungsverhaltens. Man sollte alles tun, um sie zu vermeiden oder zu reduzieren. Die beste Entscheidungsstrategie in komplexen Situationen ist die aufgeschobene intuitive Entscheidung, in der unser ¨chtnis in ,,kompakter‘‘ Form aktiviert Erfahrungsgeda wird. Literatur ¨Becker GS (1999) Der o ¨konomische Ansatz zur Erkla rung menschlichen Verhaltens. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tu ¨ bingen Dijksterhuis A, Bos MW, Nordgren LF, van Baaren RB (2006) On making the right choice: the deliberation-without-attention effect. Science 311:1005–1007 Esser H (1999) Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 1: Situationslogik und Handeln. Campus, Frankfurt, New York
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Kahneman D (2012) Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler, Mu ¨ nchen Kahneman D, Tversky A (1979) Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47:263–292 Marshall L, Born J (2007) The contribution of sleep to hippocampus-dependent memory consolidation. Trends Cogn Sci 11:443–450 McClure SM, Laibson DI, Loewenstein G, Cohen JD (2004) Separate neural systems value immediate and delayed monetary rewards. Science 306:503–7 Peters J, Bu ¨ chel C (2011) The neural mechanisms of inter-temporal decision-making: understanding variability. Trends Cogn Sci 15:227–239 Roth G (2010) Wie einzigartig ist der Mensch? Spektrum-Springer, Heidelberg Roth G (2012) Perso ¨nlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta, Stuttgart (8. Aufl.) Selten R (2001) What is bounded rationality? In: Gigerenzer G, Selten R (Hrsg.) Bounded rationality. The adaptive toolbox. Dahlem workshop reports. The MIT Press, Cambridge, pp 13–36 Simon H (1993) Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben. Campus, Frankfurt-New York Tanaka SC, Doya K, Okada G, Ueda K, Okamoto Y, Yamawaki S (2004) Prediction of immediate and future rewards differentially recruits cortico-basal ganglia loops. Nat Neurosci 7:887–893 Tobler PN, Fiorillo CD, Schultz W (2005) Adaptive coding of reward value by dopamine neurons. Science 307:1642–1645 Tobler PN, O’Doherty JP, Dolan RJ, Schultz, W (2007) Reward value coding distinct from risk attituderelated uncertainty coding in human reward system. J Neurophysiol 97:1621–1632
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Neue alte Verbraucherleitbilder: Basis fu ¨ r die Verbraucherbildung?1
¨ chtert: ,,Was fußen.4 Daniela Kuhr folgert daher ernu … in den vergangenen Jahren alles an neuen Vorschriften fu ¨ r Anlageberater und Vermittler auf den ¨sst sich kaum noch za ¨hWeg gebracht … [wurde], la len. … Alle diese Reformen haben eines gemeinsam: Sie setzen auf den mu ¨ ndigen Verbraucher, dem man angeblich nur mo ¨glichst viele Informationen geben ¨ndig entscheiden kann. Doch muss, damit er versta das ist ein Irrglaube.‘‘5 Der nachfolgende Beitrag ist wie folgt aufgebaut: ¨chst wird Verbrauchern in wesentlichen wisZuna senschaftlichen Modellwelten nachgespu ¨ rt, um Ursachen und Wirkungen verschiedener Leitbilder in Verbraucherpolitik und Verbraucherbildung besser nachvollziehen zu ko ¨ nnen (Kapitel 6). Darauf aufbauend wird konkret der Frage nach der Ausgestaltung einer Verbraucherbildung hinsichtlich Subjekt und Objekt nachgegangen und dabei mit dem Ansatz der praxisorientierten Meta-Bildung ein ¨tsnaher Lo realita ¨sungsweg entworfen (Kapitel 7). Der Beitrag schließt mit einem kurzen Ausblick.
Andreas Oehler ¨t Bamberg, Lehrstuhl fu Universita ¨ r Finanzwirtschaft und Forschungsstelle fu ¨ r Verbraucherfinanzen & ¨rntenstr. 7, 96045 Bamberg, Verbraucherbildung, Ka www.uni-bamberg.de/bwl-finanz
[email protected] ¨t ist weitaus differenZusammenfassung Die Realita ¨be ein ,,mu zierter als die Annahme, es ga ¨ ndiges‘‘ Wirtschaftssubjekt wie den Homo oeconomicus. Das ¨hrlich: Es erzeugt ,,Mu ¨ ndigkeits‘‘-Modell ist sogar gefa die Illusion, jede und jeder ko ¨nnte immer alles wissen und tun. Gestu ¨ tzt auf Ergebnisse der Behavioral Economics & Finance erscheint eine so genannte ¨tzlich Meta-Bildung zielfu ¨ hrend: Es reicht grundsa aus, auf fundierter fachlicher Grundbildung geeignete Expertise zu finden, statt selbst fu ¨ r alles Experte werden zu mu ¨ ssen. Schlu ¨ sselwo ¨ rter: Verbraucherbildung, Behavioral Economics, Verbraucherforschung, Consumer Education, Household Finance
6 Verbraucher in wissenschaftlichen Modellwelten6 6.1 Neoklassik und Homo oeconomicus
5 Einfu ¨ hrung Das Paradigma der ,,Mu ¨ ndigkeit‘‘ von Verbrauchern, die u. a. einfach nur genu ¨ gend Informationen brauchen, um sich – ihren eigenen Nutzen maximierend – problemlos selbstverantwortlich entscheiden zu ko ¨ nnen, ist nicht nur Gegenstand etlicher wissenschaftlicher und politischer Kontroversen,2 es entpuppt sich vielmehr bei realistischer Betrachtung des Verbraucherdaseins als blanke Illusion oder Mythos aus dem ,,Elfenbeinturm‘‘,3 auch wenn ca. zwei Drittel aller rechtlichen Regelungen darauf
Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung wird seit den sechziger Jahren in Kernbereichen durch die Gedankenwelt der Neoklassik und des Homo oeco¨gt. Der Blick in die Originalquellen der nomicus gepra neoklassischen Modelle zeigt, dass solche urspru ¨ nglich weder mit normativem noch mit direktem empirisch-deskriptivem Anspruch formuliert worden sind. Es du ¨ rfte eher ein Gefu ¨ ge von ,,if so‘‘-Aussagen intendiert worden sein, die die Eigenschaften eines idealisierten Marktes im Gleichgewicht aufzeigen, falls sich die Akteure und die Rahmenbedingungen den Modellpra¨missen entsprechend verhalten. 4
1
Dieser Aufsatz geht u.a. auf eine Reihe von nachstehend ¨gen und Publikationen zur Thematik zuru genannten Vortra ¨ ck (Oehler 2010b,c, 2011b,c,d, 2012a,b,c,d, 2013a,b,c,d,e). Der Autor dankt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern fu ¨ r ihre rege ¨ltigen Anmerkungen. Ein Diskussionsbereitschaft und die vielfa besonderer Dank gilt Lucia A. Reisch, Peter Kenning, Hans-W. Micklitz und Kirsten Schlegel-Matthies fu ¨ r die fruchtbaren Diskussionen und Kommentare. 2 Vgl. z.B. Reisch 1995, 2004, Oehler 2004, 2005a, 2006a,c, 2010a,b, 2011a,b, 2012a,b,c,d, 2013a,b,c,d; vgl. auch Micklitz/ Oehler et al. 2010, Oehler/Reisch 2008. 3 Gemeint ist nicht ,,Mu ¨ ndigkeit‘‘ im Sinne eines lebenslangen Strebens nach einem Bildungsideal im Humboldt’schen Sinne.
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¨sslich Vgl. etwa Micklitz 2013; vgl. auch die Diskussion anla ¨sident des 69. Deutschen Juristentags in Mu ¨ nchen 2012 [Pra Martin Henssler: ,,Das Motto, viel hilft viel, hat sich nicht ¨hrt.‘‘, Su bewa ¨ ddeutsche Zeitung, 18.9.2012, 6]. Schon zehn Jahre fru ¨ her kommt Micklitz (2003, 1049-1050, 1058; vgl. auch Micklitz 2004) u. a. zu dem Schluss, dass die Verbraucherpolitik ¨ischen Union, vor allem das Vertragsrecht, und der Europa ¨ischen Gerichtshofes fest insb. die Rechtsprechung des Europa unter dem Primat des Wirtschafts- und Wettbewerbsrechts mit dem Leitbild des ,,mu ¨ ndigen‘‘ Verbrauchers stehen. 5 Kuhr 2012, 17. 6 Vgl. zu diesen und den nachstehenden Ausfu ¨ hrungen Oehler 1995, 1998, 2000, 2002, insb. 2004, 2005a,b, 2006a,b, 2009a, 2009b, 2010a, 2010b, 2011a.
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Jenseits der Setzung sehr restriktiver Verhaltensannahmen ist die Ru ¨ cku ¨ bersetzung der Modeller¨t der entscheidende gebnisse in die Realita Diskussionspunkt. In der Regel ist die empirische Testbarkeit nicht gegeben und die Vorhersage von Entscheidungen und die Beschreibung von Verhalten sind nicht zutreffend. Es bestehen systematische Abweichungen zu dem offenbarten Verhalten einzelner Entscheider und des Aggregats.7 Verbraucher in der neoklassischen Modellwelt kann man als ,,Klone‘‘ des Homo oeconomicus ver¨ndigen stehen, die in vollkommenen und vollsta ¨rkten agieren, alle dasselbe ,,Welt- und WirtMa schaftsmodell‘‘ im Kopf haben und als zentrales ¨nderliche (Risiko-)Pra ¨Unterscheidungsmerkmal vera ferenzen aufweisen. Der Markt ist definiert, im Ergebnis ,,rational‘‘ zu sein (,,as-if‘‘-Ansatz). Doch welche Verbraucher schaffen es wirklich, Kompetenzen in allen wichtigen Lebensbereichen zu erlangen? Wer wird – von Beginn der Bildungskette ¨chlich omni-kompetenter Multi-Spezialist? an – tatsa ¨ren solche Verbraucher sta ¨ndig ,,up-toZudem wa date‘‘. Die Schlussfolgerung u ¨ berrascht daher nicht, dass ,,mu ¨ ndige‘‘ Verbraucher dieser Art bestenfalls im ¨tsbezug haben ,,Elfenbeinturm‘‘ leben, keinen Realita und eher eine Illusion, einen Mythos darstellen; solche Verbraucher hat es nie gegeben.
physischen/psychischen ,,Schicksal‘‘ des Vertragspartners (Betroffenheit). Die institutioneno ¨ konomischen Standardinstrumente zur Reduzierung der Informations-, Gestaltungs- und Betroffenheitsasymmetrien liegen zum einen in einem Mehr an Informationen, um ein ,,Lernen‘‘ bei den asymmetrisch schlechter Informierten zu bewirken, indem den besser Informierten Informationspflichten auferlegt werden (juristisch orientiertes ,,Informationsparadigma‘‘). Zum anderen sollen immer mehr Regeln und Vorschriften die ¨rken und so einen ,,schwache‘‘ Vertragsseite sta ,,Wettbewerb‘‘ ermo ¨glichen, der Gestaltung auf ¨gige Literatur9 ,,Augenho ¨he‘‘ erlaubt. Die einschla unterscheidet jedoch Suchgu ¨ ter, Erfahrungsgu ¨ ter und Vertrauensgu ¨ ter (inkl. Kontraktgu ¨ ter). Fu ¨r ¨tsunsicherheit ex ante Suchgu ¨ ter kann die Qualita durch die Informationssammlung und -auswertung ¨t la ¨sst sich vor der Entbehoben werden, die Qualita scheidung beurteilen. Bei Erfahrungsgu ¨ tern ist eine Beurteilung u ¨ berhaupt erst ex interim mo ¨glich, zum ¨tsEntscheidungszeitpunkt liegen bestenfalls Qualita vermutungen vor. Vertrauensgu ¨ ter schließlich sind dadurch charakterisiert, dass auch nach der ¨t Entscheidung eine Beurteilung der Qualita ¨ndig mo abschließend nicht bzw. nicht vollsta ¨ glich ist. Dies verdeutlicht, dass zumindest bei Vertrauensgu ¨tern in der Regel die traditionelle o ¨konomische Argumentation nicht zutrifft, es sei ein Lernen durch Erfahrungen mo ¨glich und daher fu ¨ hre der Wettbewerb um eine ausreichend große Menge erfahrener und informierter Kunden automatisch zu einem Schutz Uninformierter.10 Im Sinne einer ,,ersten Hilfe‘‘ ko ¨nnte es sinnvoll sein, die Produktkennzeichnung, also die Kennzeichnung von Sachgu ¨ tern und Dienstleistungen, auf ¨ndliche, klare und vergleichbare Darsteleine versta lung zu fokussieren, bei der alle wesentlichen Risiken, die Wertentwicklung/Nutzenstiftung, die Verfu ¨ gbarkeit/erwartete Lebensdauer und mo ¨ gliche Portfolioeffekte/Quer- und Nebenwirkungen, mo ¨glichst in Euro, aufgefu ¨ hrt werden.11 Trotzdem verschwinden die Asymmetrien nicht komplett und ¨nomen der Beratung nicht.12 auch das ,,als ob‘‘-Pha
6.2 (Neue) Institutioneno ¨konomie ¨tze der Gedanklicher Ausgangspunkt der Ansa (neuen) Institutioneno ¨konomie ist eine Welt mit Wirtschaftssubjekten, die weniger perfekt funktionieren als in der neoklassischen Modellwelt und damit institutioneller Regelungen bedu ¨ rfen.8 Die ¨re von Wirtschaftssubjekten, natu Spha ¨ rlichen Perso¨sst sich danach als nen wie auch Unternehmen, la ¨eine Vielzahl von expliziten und impliziten Vertra gen zwischen den Akteuren (Anbieter, Nachfrager) ¨tzlich sehr und ihrem Umfeld verstehen, die grundsa unterschiedlich u ¨ ber den Vertragspartner informiert sind, mit der Folge eines Informationsrisikos ¨tsunsicherheit i.w.S.), und die auf die Ver(Qualita haltensweisen sehr verschieden einwirken ko ¨nnen (Gestaltung, Einfluss), mit der Konsequenz eines Delegationsrisikos. Schließlich partizipieren die Akteure sehr unterschiedlich am finanziellen oder
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Vgl. z.B. Oehler 1992, 1994, 1995; vgl. z.B. auch Jungermann et al. 2005. 8 ¨ berblick Oehler/Unser 2002, Kap. III.2 und die Vgl. fu ¨ r einen U dort zitierte Literatur sowie z.B. Kaas 1995, Richter 1998.
Vgl. z.B. Oehler 2004, 2005a und die dort zitierte Literatur. Oehler 2004, 2005a. 11 Oehler 2012e,f. 12 Oehler 2004, 2006a, Oehler et al. 2009, Jungermann/Belting 2004. 10
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6.3 Behavioral Economics & Finance
Verhaltensrelevanz beeinflussen. Des Weiteren ist ¨ten‘‘ besonders relevant, dass die sog. ,,Irrationalita auch dann auftreten, wenn die institutioneno ¨konomischen Asymmetrien reduziert oder beseitigt sein sollten (was aber sehr unwahrscheinlich sein du ¨ rfte). Als eine der maßgeblichen Schlussfolgerungen la ¨ sst sich aus den Erkenntnissen der Behavioral Economics & Finance ableiten, dass es DEN Verbraucher oder DIE Konsumentin nicht gibt und geben kann. Die analoge und die digitale Sachgu ¨ ter- und Dienstleistungswelt16 sind gepra ¨ gt durch Asymmetrien, oft zu Lasten vieler Verbraucher. Selbst bei Symmetrie unterliegen alle Akteure, also die Stakeholder der Anbieter, die verschiedenen Verbraucher und die Beteiligten an politischen Entscheidungsprozessen und ihre Kontrolleure zahlreichen ,,Biases‘‘ und ,,Anomalien‘‘. Es gibt verschiedene Verhaltensmuster, die zur selben Zeit bei verschiedenen Verbrauchern, aber auch beim selben Verbraucher zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Entscheidungssituationen auftreten.
Der entscheidende Schwerpunkt der Forschungsan¨tze unter dem Paradigma der Behavioral Econosa mics & Finance13 liegt auf der Beru ¨ cksichtigung tat¨chlichen Verhaltens von natu sa ¨ rlichen Personen. Eine wesentliche Komponente stellt das Konzept der Bounded Rationality dar. Diese von Simon14 in die allgemeine Entscheidungstheorie eingefu ¨ hrte Basisu ¨ berlegung negiert die Existenz einer ,,full ¨nkungen (,,bounds‘‘) betrefrationality‘‘. Die Beschra ¨ten hinsichtlich fen dabei sowohl kognitive Kapazita der Informationsaufnahme und -verarbeitung als auch Einflussfaktoren im motivationalen und emotionalen Bereich.15 Behavioral Economics & Finance lenkt die Aufmerksamkeit auf menschliches Informations- und Entscheidungsverhalten, das den Aussagen neoklassischer Modelle nicht entspricht. Zentrale Ansatzpunkte im Kontext Verbrau¨ bercherpolitik und Verbraucherbildung sind die U legungen, dass Informationen nicht in beliebiger Menge und in beliebig kurzer Zeit wahrgenommen und verarbeitet werden ko ¨nnen (Information Overload) und ein zu großes Angebot an Entscheidungsalternativen eher zu einer Verweigerung oder einem Aufschieben von Entscheidungen fu ¨ hrt (Choice Overload) als zu rationalem Verhalten. Dies trifft besonders auf komplexe, selten gekaufte Produkte mit Vertrauensgu ¨ tereigenschaften zu (wie Finanzdienstleistungen und insbesondere Altersvorsorgeprodukte) sowie auf Leistungsbu ¨ ndel, deren Eigenschaften nicht mehr u ¨ berschaubar sind und ¨ufig a ¨ndern (z.B. im Bereich Mobilfunk/Telesich ha kommunikation, Energie). In den nur scheinbar ¨rkten sozial-marktwirtschaftlich ,,liberalisierten‘‘ Ma der Daseinsvorsorge (insb. Telekommunikation, ¨t, Digitale Welt/Soziale Netzwerke, Energie, Mobilita Verbraucherfinanzen/Altersvorsorge, Gesundheit/ Pflege, vergleichbare Netzindustrien) fehlt Verbrauchern meist Wissen, Erfahrung und Durchsetzungsvermo ¨gen, um sich selbst mit Informationsin¨ren (Stiftung Warentest und andere NGOs) termedia im Sinne der eigenen Nutzenmehrung bewegen zu ko ¨ nnen. Hinzu kommt, dass der situationale Kontext, ¨sentiert werden, und die in dem Informationen pra Art der Darstellung (,,Framing‘‘) ganz entscheidend ¨ndnis, Akzeptanz und Aufnahmebereitschaft, Versta 13 ¨ berblick vgl. Oehler 1995, 1998a, 2000 und 2002. Fu ¨ r einen U ¨ bersicht Zur Entwicklung der Behavioral Finance vgl. z.B. die U von Ricciardi 2005 und das Sammelwerk von Shefrin 2002. 14 Vgl. Simon 1955 und 1956. 15 Vgl. z.B. Kahneman/Tversky 1979, Selten 1990.
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6.4 Neuro Economics ¨tze der NeuroExperimentelle und empirische Ansa wissenschaften in Anwendung auf Sachverhalte o ¨konomischer Informations- und Entscheidungsprozesse fu ¨ hren zu dem Anspruch, menschliches und hier insb. o ¨ konomisches Verhalten auf der Basis neuro-biologischer und neuro-physiologischer Pro¨ren zu ko zesse erkla ¨nnen.17 Noch wird der Bereich der Grundlagenforschung kaum verlassen. Allerdings ist bereits heute erkennbar, dass viele Ergebnisse der Behavioral Economics & Finance durch medizinischbiologische Forschungsergebnisse validiert zu werden scheinen.
7 Der Ansatz der Meta-Bildung: Expertise finden, ohne Experte werden zu mu ¨ ssen Die Diskussion der Ergebnisse der wissenschaftlichen Modellwelten, insb. aber der Behavioral Economics & Finance, verdeutlicht, dass Verbraucherpolitik und Regulierung einerseits und Verbraucherbildung ¨tsnah und andererseits nur ,,aus einer Hand‘‘ realita wirksam sein ko ¨nnen. Eine Regulierung hat Verbraucher und Verbraucherinnen als unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Verhaltensmustern 16
Vgl. z.B. Micklitz/Oehler et al. 2010. Vgl. z.B. Camerer et al. 2005 und die Dokumentation in der ¨ge von Zeitschrift ApuZ, 44-45/2008 und hier insb. die Beitra Roth, Hagner oder Hoppe.
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ernst zu nehmen und zu akzeptieren. Es braucht einen Masterplan, damit Querschnittsaufgaben, insb. im Bereich der Daseinsvorsorge, politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich gelo ¨ st werden ko ¨ nnen. Hierzu muss auch eine entsprechend fundierte und ¨ge finanzierte Verbraucherforschung wichtige Beitra ¨tsreduktion bei leisten.18 Neben einer Komplexita bestehenden Regelungen bei gleichzeitiger Standardisierung und Musterbildung kommt es dabei besonders auf eine faire Verteilung von Kosten und Nutzen u ¨ ber die erwartete Lebens- und Nutzungsdauer von Sachgu ¨ tern und Dienstleistungen und einer entsprechenden verbu ¨ rgten langfristigen Produktverantwortung der jeweiligen Anbieter inkl. ¨rketten an.19 Dazu geho deren Intermedia ¨rt eine Evidenzbasierung als Standard, nicht als Ausnahme: ¨ngig, realistisch und empirisch.20 unabha Bildung und damit auch Verbraucherbildung lassen sich als Prozess und Zustand verstehen, die sich wechselseitig bedingen. Unter Beru ¨ cksichtigung der Erkenntnisse der Behavioral Economics & Finance steht dabei der Prozess im Vordergrund und zwar im Sinne einer Erziehung, einer Selbsterziehung, der ¨gung und entsprechenden Beeinflussung und Pra eines lebensbegleitenden Lernens. Dabei wird deutlich, dass vor allem das u ¨ ber das Wissen Verfu ¨ gen Ko ¨nnen eine zentrale Rolle spielen du ¨ rfte. Es geht ¨ltnis einer Person dabei um das reflektierende Verha zu sich selbst, zu anderen und zur Welt, mithin um Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Fachkompetenz inkl. Methoden- und Problemlo ¨sekompetenz.21 Verbraucherbildung ist dann mehr als die Summe der Einzelteile wie o ¨ konomische/finanzielle Bildung, ¨hrungsbildung, Gesundheitsbildung etc. VielErna mehr sollte es sich um eine praktische Sensi¨ltigung bilisierung und Unterstu ¨ tzung bei der Bewa zentraler Bereiche des Alltags (Daseinsvorsorge, Vertrauensgu ¨ ter) handeln, auf fundierter fachlicher Grundbildung. Insofern sind die Forderungen nach ¨cheru der Institutionalisierung als fa ¨ bergreifendes Schulfach und einer klaren Verankerung in den entsprechenden Curricula allgemeinbildender und beruflicher Schulen gut nachvollziehbar. Gleichwohl reicht dies sicherlich nicht aus, denn auch nach ¨ren und sekunda ¨ren dem Verlassen der prima
Bildungskettenelemente bedarf es im Sinne eines lebensbegleitenden Lernens einer entsprechend ausgerichteten Verbraucherbildung fu ¨ r Erwachsene, ,,vor Ort‘‘ bei den Betroffenen. Angesichts der permanenten Informationsu ¨ berflutung stellt ein Kern der Verbraucherbildung dar, die Wichtigkeit und Relevanz der Informationen, die fu ¨ r eigene Problemlo ¨sungen geeignet erscheinen, selektieren zu ko ¨nnen. Nicht so sehr zahlreiches Detailwissen, sondern allenfalls exemplarische Aspekte und vor allem eine so genannte Meta-Bildung scheinen zielfu ¨ hrend zu wirken. In der Regel wird es darum gehen, zu lernen, wie man Expertise findet, ohne selbst jeweils Experte werden zu mu ¨ ssen. Informationssuche und Informationsanalyse sind mit dem Ziel zu gestalten, Informationen zur Kompetenz und Glaubwu ¨ rdigkeit von Informationen und Informationsquellen zu erhalten, also Expertise zu erkennen: Wo finde ich Vertrauenspersonen?, Wie finde ich ¨ngige, aktuelle Informationsquelgeeignete unabha len?, Wie finde ich interessante Informationen, wie entlarve ich unglaubwu ¨ rdige Quellen und dahinter stehende Interessen?, Wann kann ich einem Ratschlag vertrauen? oder Wie lerne ich, ob der ¨hlte Informations- und Entscheidungsweg in gewa einem Fall auch fu ¨ r ein anderes Beispiel passt?22 Dabei spielen ,,Informationslotsen‘‘, z.B. die Stiftung Warentest, die Verbraucherzentralen oder andere vergleichbare NGOs, eine wesentliche Rolle. Ohne eine Meta-Bildung und die ,,kollektive Dimension‘‘ der Verbraucher kann in vielen lebenswichtigen Konsumbereichen eine Passung und Geeignetheit nur verfehlt werden. Meta-Bildung im Zusammenspiel mit ,,Informationslotsen‘‘ entlastet also Verbraucherinnen und Verbraucher, nicht permanent in allen wichtigen Lebensbereichen kundig und omni-kompetent sein zu mu ¨ ssen, ohne Illusion und Hybris u ¨ ber die eigene Kompetenz und ¨ berfordeohne empfundenes Leid u ¨ ber die eigene U rung. Zur Meta-Bildung geho ¨rt lebensnahes Training in der Schule genauso wie lebenslanges, praxisnahes Training nach der Schule, fu ¨ r Erwachsene, vorzugsweise am Ort des Problems und der Betroffenheit. Dafu ¨ r bedarf es weniger einer (frontalen) Wissens¨ßigen vermittlung, sondern vor allem eines regelma ¨ bens‘‘ an Praxisfa ¨llen in Alltagssituationen. Hand ,,U ¨ndnis und Selbstkontrolle in in Hand sind Risikoversta der analogen und in der digitalen Welt praxisnah zu trainieren: Meta-Bildung auf fundierter fachlicher Grundbildung.
18 ¨nZur Notwendigkeit und zur Ausgestaltung einer unabha ¨tsbezogenen und empirisch ausgerichteten gigen, realita Verbraucherforschung vgl. Oehler/Reisch 2012, Oehler 2012g sowie Oehler 2010b, 2011a und 2012a. 19 Oehler 2012h, Oehler 2012e,f. 20 Oehler 2010b, 2011b,c; vgl. auch Hagen et al. 2013. 21 Zur Diskussion und Problematisierung der Kompetenzen vgl. z.B. Wilhelm-Oehler 2006, Schlegel-Matthies 2011.
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Oehler/Wilhelm-Oehler 2011, Oehler 2012a,b,c,d.
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8 Ausblick
¨doyer fu Verbraucher? Pla ¨ r eine differenzierte Strategie in der Verbraucherpolitik. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Er¨hrungspolitik beim BMELV, Berlin na ¨ten’’ oder Oehler A (1992) ‘‘Anomalien’’, ‘‘Irrationalita ‘‘Biases’’ der Erwartungsnutzentheorie und ihre ¨rkte. ZBB 4:97–124 Relevanz fu ¨ r Finanzma Oehler A (1994) Verhaltensmuster individueller Anleger — eine experimentelle Studie. zfbf 46:939–958 ¨rung des Verhaltens privater Oehler A (1995) Die Erkla Anleger — Theoretischer Ansatz und empirische Analysen. Poeschel, Stuttgart Oehler A (1998) Analyse des Verhaltens privater Anleger. In: Kleeberg J, Rehkugler H (eds) Handbuch des Portfoliomanagement, Uhlenbruch, Bad Soden, pp 71–110 Oehler A (2000) Behavioral Finance – Theoretische, empirische und experimentelle Befunde unter Marktrelevanz. BankArchiv 48:978–989 Oehler A (2002) Behavioral Finance, verhaltenswissenschaftliche Finanzmarktforschung und Portfoliomanagement. In: Kleeberg J, Rehkugler H (eds) Handbuch des Portfoliomanagement, 2nd edn. Uhlenbruch, Bad Soden, pp 843–870 Oehler A (2004) Anlegerschutz in einem markt- und ¨rbasierten System — Eine Analyse im intermedia Lichte der Neuen Institutioneno ¨konomik, der Theorie der Finanzintermediation und der Behavioral Economics & Finance. Gutachten fu ¨ r den wissen¨hschaftlichen Beirat fu ¨ r Verbraucher- und Erna rungspolitik beim BMELV, Berlin Oehler A (2005a) Verbraucherinformation als Motor ¨tswettbewerbs. In: vzbv Verbraucherdes Qualita zentrale Bundesverband (ed) Wirtschaftsfaktor Verbraucherinformation — Die Bedeutung von ¨rkte, BWV, Information fu ¨ r funktionierende Ma Berlin, pp 28–50 Oehler A (2005b) Funktion von Banken und anderer ¨re bei zunehmender internatioFinanzintermedia naler Finanzmarktintegration unter der Perspektive ihrer gesellschaftlichen und nationalstaatlichen Bedeutung – Corporate Governance & ¨rbasierten FinanzControl in markt- und intermedia systemen im Kontext von Personal- und Kapitalverflechtungen. In: Heidenreich M, Micklitz H-W, Oehler A, Rattinger H, Schwarze J (eds) Europa nach der Osterweiterung. Europaforschung an der ¨t Bamberg, Kadmos, Berlin, pp 210–221 Universita Oehler A (2006a) Zur ganzheitlichen Konzeption des Verbraucherschutzes — eine o ¨konomische Perspektive. Verbraucher und Recht 21:294–300
¨t ist weitaus differenzierter als die Die Realita ¨be ein typisches, durchschnittliches, Annahme, es ga ,,mu ¨ ndiges‘‘ Wirtschaftssubjekt wie den Homo oeconomicus. Das ,,Mu ¨ ndigkeits‘‘-Modell ist sogar ¨hrlich: Es erzeugt die Illusion, jede und jeder gefa ko ¨ nnte immer alles wissen und tun. Der Abschied von der Illusion des ,,mu ¨ ndigen‘‘ Verbrauchers und vom einseitigen Informationsparadigma des ,,Viel hilft viel!‘‘ mag fu ¨ r manche sehr schmerzhaft sein. Regulierung und Verbraucherbildung sollten aber in der ¨t ankommen, ohne vorgefertigte Verbraucherrealita ¨ndLei d t bilder und Mythen. Transparenz, Versta lichkeit und Vergleichbarkeit sind in einer sozialen Marktwirtschaft dringend notwendig. Die zentrale ¨chlihinreichende Bedingung ist aber eben das tatsa che Erkennen der wirklich wichtigen Informationen! Literatur Hagen K, Micklitz H-W, Oehler A, Reisch LA, Stru ¨ nck C (2013) ,,Check Verbraucherpolitik und Verbraucherbeteiligung‘‘ — Empfehlungen fu ¨ r eine evidenzbasierte Verbraucherpolitik. J Verbrauch Lebensm 8 (forthcoming) Jungermann H, Belting J (2004) Wir verstehen uns doch — nicht wahr? Psychologische Aspekte der Altersvorsorge und Anlageberatung. KritV 87, Heft 3:325–344 Jungermann H, Pfister H-R, Fischer K (2005) Die Psychologie der Entscheidung (2. Aufl.). Spektrum, Mu ¨ nchen Kaas KP (1995) Einfu ¨ hrung: Marketing und Neue Institutioneno ¨ konomik. zfbf, Sonderheft 35:1–17 Kahneman D, Tversky A (1979) Prospect theory: an analysis of decision under risk. Econometrica 47:263–291 Kuhr D (2012) Der u ¨ berforderte Anleger. Su ¨ ddeutsche Zeitung, 28.12.2012 17 Micklitz H-W (2003) The necessity of a new concept for the further development of the consumer law in the EU. Ger Law J 4:1043–1064 Micklitz H-W (2004) The principles of European contract law and the protection of the weaker party. J Consum Policy 27:339–356 Micklitz H-W (2013) Jenseits des Informationsparadig¨doyer fu mas — ein Pla ¨ r ein soziales Verbraucherrecht. Vortrag, Friedrichshafen, Jan 2013 Micklitz H-W, Oehler A, et al (2010) Der vertrauende, der verletzliche oder der verantwortungsvolle
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Haushalt: ,,Was kann finanzielle Bildung leisten?‘‘ ¨rz 2012 Berlin, Ma Oehler A (2012b) Verbraucherbildung ja!: Aber welche? Ero ¨ffnungsvortrag, Zweite Netzwerkkonferenz: ,,Verbraucherbildung — Konsumkompetenz ¨rken‘‘. Berlin, Mai 2012 sta Oehler A (2012c) Verbraucher & Wirtschaft: Modell¨t? Leid(t)bilder, Mythen und welten oder Realita Lo ¨sungen. Ero ¨ ffnungs- und Grundsatzvortrag, 33. Wirtschaftsphilologentagung ,,Wirtschaftliche Entscheidungsmodelle in der Krise‘‘. Passau, 27. Sep 2012 Oehler A (2012d) Verbraucherforschung — Verbraucherlei d t bild—Verbraucherbildung: aber welche? Ero ¨ffnungsvortrag zur Ringvorlesung ,,Verbraucherforschung—Basis fu ¨ r Verbraucherpolitik, Verbraucherschutz und Marketing‘‘. Sigmaringen, Nov 2012 ¨ndlich und Oehler A (2012e) Klar, einfach, versta vergleichbar: Chancen fu ¨ r eine standardisierte Produktinformation fu ¨ r alle Finanzdienstleistungen. Eine empirische Analyse. ZBB 24:119–133 Oehler A (2012f) Anbieter- und verbrauchergerechte Beratung und Information, Mehr Anlegerschutz durch standardisierte Beratungsprotokolle und ¨tter. Studie im Auftrag des Produktinformationsbla ¨ndlichen Raum und MLR Ministerium fu ¨ r La Verbraucherschutz Baden Wu ¨ rttemberg, des SparkassenVerband Baden-Wu ¨ rttemberg, des BadenWu ¨ rttembergischen Genossenschaftsverband e.V., Bamberg/Stuttgart Oehler A (2012g) Politikberatungsbedarf im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes. Vortrag, Leitungsgruppe Forschung des BMELV. Braunschweig, Juli 2012 Oehler A (2012h) Die Verbraucherwirklichkeit: Mehr ¨den ja ¨hrlich bei Altersals 50 Milliarden Euro Scha vorsorge und Verbraucherfinanzen. Befunde, Handlungsempfehlungen und Lo ¨ sungsmo ¨ glichkeiten. Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion Bu ¨ ndnis 90 Die Gru ¨ nen, Berlin/Bamberg, Dez 2012 Oehler A (2013a) Verbraucher und Wirtschaft: Mo¨t? Lei d (t) bilder, Mythen dellwelten oder Realita und Lo ¨sungen. Vortrag, 1. Fachforum des Netzwerks Verbraucherforschung des BMELV ,,Alternativen zum Informationsparadigma der Verbrau¨t, Friedrichshafen, cherpolitik‘‘. Zeppelin Universita Jan 2013 Oehler A (2013b) Verbraucher (finanz) bildung in Schulen: Expertise finden, ohne Experte werden zu mu ¨ ssen?! Vortrag, Hessisches Netzwerk Finanzkompetenz. Wiesbaden, Feb 2013 Oehler A (2013c) Neue alte Verbraucherleitbilder: Basis fu ¨ r die Verbraucherbildung? Vortrag,
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HaBiFo-Jahrestagung ,,Ethik — Konsum — Verbraucherbildung‘‘. Paderborn, Feb 2013 Oehler A (2013d) Verbraucherbildung fu ¨ r Erwachsene: Expertise finden, ohne Experte werden zu mu ¨ ssen?! Festvortrag, Projektmesse und Netzwerk¨ konomische Verbraucherbildung — ein tagung ,,O ¨rz 2013 Leben lang‘‘. Mu ¨ nchen, Ma Oehler A (2013e) Neue alte Verbraucherleitbilder: Basis fu ¨ r die Verbraucherbildung? HiBiFo Haushalt in Bildung und Forschung 2:44–60 ¨t der Finanzberatung Oehler A et al (2009) Zur Qualita von Privatanlegern: Probleme des Beratungspro¨tze. Stellungnahme des zesses und Lo ¨sungsansa Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Er¨hrungspolitik beim BMELV, Berlin na Oehler A, Reisch LA (2008) Behavioral Economics — eine neue Grundlage fu ¨ r die Verbraucherpolitik? Studie im Auftrag des vzbv e.V., Berlin Oehler A, Reisch LA (2012) Sie lebt! Zur Verbraucherforschung im deutschsprachigen Raum: Eine empirische Analyse. J Verbrauch Lebensm 7:105–115 ¨ berlegungen zur Oehler A, Wilhelm-Oehler D (2011) U Evaluation der Bildungskampagne ,,Altersvorsorge macht Schule‘‘. Deutsche Rentenversicherung 66: 32–58 Oehler A, Unser M (2002) Finanzwirtschaftliches Risikomanagement, 2nd edn. Springer, Berlin
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Alternativen zum Informationsparadigma der Verbraucherpolitik
Aschenputtel – eine Verbrauchergeschichte 23
Versuch einer Deutung Hans-W. Micklitz
European University Institute, Law Department, Villa Schifanoia, Office 30, Via Boccaccio 121, 50133 Florenz
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9 Eine alte Geschichte neu erza ¨hlt ¨rchen ist bekannt. Aschenputtel – die PrinDas Ma zessin/Ko ¨ nigin ist die Verbraucherin, der Prinz/Ko ¨ nig der Markt, dazu erfunden habe ich den Liebhaber von Aschenputtel – den Staat und die drei (statt 2) ¨sentiebo ¨sen Schwestern, die die Gesellschaft repra ren. Der nicht passgenaue Umgang mit den Figuren ¨rchen mo ¨ ge mir nachgesehen werden. Das Ma beginnt mit dem qualvollen Weg zur Hochzeit, durch alle vermeintlichen Erniedrigungen hindurch. Ko ¨nigin Verbraucher und Ko ¨nig Markt leben jetzt glu ¨ cklich zusammen. Der Ko ¨nig umwirbt die Ko ¨nigin, wir sprechen von den 50/60er Jahren, von den Zeiten der Entstehung der Konsumgesellschaft. Um einen Konsumgu ¨ termarkt etablieren zu ko ¨nnen, bedurfte es der Konstituierung einer Rechtsfigur – der Ko ¨nigin Verbraucher. Deutschland hatte anders als die USA oder etwa Frankreich kriegsbedingt großen Nachholbedarf. Unter dem Nationalsozialismus wurde die Wirtschaft auf die Produktion von Waffen ausgerichtet, Konsum blieb bescheiden. Nach dem 2. Weltkrieg wurde in Europa mithilfe des Marshallfonds die Wirtschaft angekurbelt. Die Ko ¨ nigin Verbraucher wurde wirtschaftlich und politisch umworben. Konsum stand fu ¨ r Wohlstand und Wohlstand dokumentierte sozialen Aufstieg. Wir sprechen von der sich in Europa entwickelnden Mittelstandsgesellschaft. Die Ko ¨nigin wird hofiert. Die 5 Verbraucherrechte in Kennedys Botschaft (1962) bilden das Maß der Dinge. Information dient als Instrument zur Bildung von Vertrauen und zur Herstellung autonomen Verhaltens, nicht nur am Markt, sondern in der Mittelstandsgesellschaft. ¨ndern sich. Der Ko Die Zeiten a ¨nig Markt gewinnt sukzessive die Oberhand u ¨ ber die inzwischen gewonnene Ko ¨nigin Verbraucher. Liebeswerbung wird ersetzt durch effiziente Gestaltung der Lebens- und
23 Rede im Rahmen der Veranstaltung zur Ero ¨ffnung des Forschungszentrums Verbraucher, Markt und Politik am 24.1.2013
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Liebesbeziehungen. Gleichzeitig differenziert sich die ¨llt in die marktwirtKonsumgesellschaft und zerfa schaftlich Starken und die Schutzbedu ¨ rftigen. Die ¨t in die Defensive. Eike von Hippel pubKo ¨nigin gera liziert 1974 sein Buch u ¨ ber den Schutz des ¨cheren im Recht. Jetzt hat der Liebhaber von Schwa Aschenputtel seinen Auftritt. Der Staat der 70er Jahre, ¨gt von sozialdemokratischem Denken, ruft zur gepra staatlichen Gegensteuerung auf. Marktdefizite mu ¨ s¨lt eine starke sen beseitigt werden. Die Ko ¨nigin erha staatliche Stu ¨ tze. Zentrale Gesetze werden geschaffen, ¨cheren die sich am Leitbild des Schutzes des Schwa orientieren. Das sollten zwingende Regeln, die nicht zur Disposition der Parteien stehen, und kollektiver Rechtsschutz erreichen. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Der Ko ¨ nig Markt, inspiriert vom Erfolg, sprengt die nationalstaatlichen Grenzen. Er begibt sich auf einen Eroberungsfeldzug, der gemeinsame Markt wird zum ¨ischen Binnenmarkt (1986) ausgeformt, mit europa dem Mauerfall (1989) ist auch diese Welt zu klein geworden, nun steht die Globalisierung der Wirtschaft an. Zeiten der Eroberungen sind keine guten Zeiten fu ¨ r soziale und menschliche Beziehungen. Der ¨t ihr Ko ¨nig hat keine Zeit mehr fu ¨ r seine Ko ¨ nigin. Er ra an, sich fortzubilden. Sie, die Ko ¨nigin, mo ¨ ge doch bitte Nachhilfeunterricht nehmen, sich den modernen Marktbedingungen anpassen. Die ehemalige Liebesbeziehung wird zu einem Zweckbu ¨ ndnis. Information und Erziehung treten an die Stelle von Gefu ¨ hlen und Emotionen. Auch der Liebhaber Staat ¨uscht die Ko entta ¨nigin Verbraucher. Der Staat kann in ¨isierten und globalisierten Welt seine einer europa Schutzversprechungen nicht einhalten. Sukzessive ¨sst die Ko zieht er sich zuru ¨ ck und u ¨ berla ¨nigin sich ¨ngen des Ko selbst, nicht ohne sich dem Dra ¨nig Markt ¨t seine alte Geliebte, zu verschließen. Ja, der Staat verra er verbu ¨ ndet sich mit Ko ¨ nig Markt zur Eroberung der Welt des Konsums und verschreibt sich den Zielen der Verbraucherinformation und Verbrauchererziehung als Allheilmittel. Der informierte Superverbraucher wird generiert, an dem sich der deutsche und der ¨ische Gesetzgeber orientieren. Immer mehr europa Informationsregeln werden geschaffen, immer neue Erziehungsprogramme erfunden und gefo ¨rdert. ¨ ber- und Unterinformation sind die Folge. U An dieser entscheidenden Stelle in der Geschichte treten die drei Schwestern auf den Plan. Ich sehe und verstehe die drei Schwestern als Erinnyen oder Furien. Sie haben wie in der Mythologie die Aufgabe und die ¨ten Funktion, den Markt und den Staat an die Realita zu erinnern. Sie ko ¨nnen sich auch verbinden und eine politische Gegenmacht bilden, was zwar die
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Ausnahme ist, aber auch ab und an in der Welt des 20. Jahrhunderts geschieht. Man denke nur an den Aufschrei als Shell die abgenutzte und ausgebrannte Bohrinsel einfach im Meer versenken will. Wichtiger noch ist der Perspektivenwechsel. Die Erinnyen und Furien unterlaufen die allseits dominierende Perspektive des Marktes oder des Staates, sie betrachten die Ereignisse aus der Perspektive der Gesellschaft. Christa ¨hlungen Kassandra und Wolf hat in ihren beiden Erza Medea in wunderbarer Weise beschrieben, welche Erkenntnismo ¨glichkeiten der Perspektivenwechsel ero ¨ffnet. In Rashomon hat Kurosawa diese Weisheit filmisch umgesetzt, Nietzsche hatte sie schon lange zuvor philosophisch offen gelegt. ¨rchen habe ich drei Schwestern Anders als im Ma eingefu ¨ hrt, weil ich das fu ¨ r meine Anleihe an ein Positionspapier des Wissenschaftlichen Verbraucherbeirates beim BMELV beno ¨tige. Die drei Schwestern sind die drei Vs:
tut Beistand not. In den Zeiten der Expansion, in den 80er Jahren u ¨ bernimmt die vertrauende Schwester ¨ngt die Verdie Stelle der Verletzlichen. Sie verdra letzliche, sie wird die entscheidende Ratgeberin. Doch auch sie kann ihre Position nicht halten. Die ¨rkte erzwingt fortschreitende Ausdehnung der Ma einen neuen Rollentausch. Die Ko ¨ nigin orientiert ¨rker an der verantwortlichen sich jetzt immer sta Schwester. Sie wird zur Leitfigur und sie hofft, gut ¨ngen der informiert und wohl erzogen, den Zwa Konsumgesellschaft angepasst, die Liebe des Ko ¨ nigs zuru ¨ ckzugewinnen. ¨rchen ginge es jetzt so weiter: die drei Im Ma Schwestern solidarisieren sich erst untereinander, dann mit der Ko ¨ nigin. So vereint gelingt es ihnen, den Ko ¨nig Markt von seinen Expansionsgelu ¨ sten zu befreien und wieder an den heimischen Herd ¨hmt, die Liebeszuru ¨ ckzufu ¨ hren. Der Markt ist geza beziehung wieder hergestellt, Friede, Freude Eierkuchen, wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
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die verantwortliche Schwester, sie ist dynamisch, informiert, kennt die kaum absehbaren Zusam¨nge weltweiten Wirtschaftens und deren menha politischer Gestaltung, sie ist die Ikone der abso¨rung, o luten Aufkla ¨kologisch und politisch, kurz sie ist so, wie wir – oder zumindest manche von ¨ren. uns – gern wa Die vertrauende Schwester ist so, wie wir sind. Wir lesen die Informationen nicht, wir buchen ¨ge und fliegen durch die Welt, immer Vertra bereit Dinge zu unterschreiben, die wir nicht gelesen haben, geschweige denn verstehen. Wir vertrauen darauf, dass schon alles gut gehen wird, halten uns aber fu ¨ r stark genug, uns zu wehren, wenn etwas schief geht. Die verletzliche Verbraucherin ist vom Markt ausgeschlossen, sie hat keine Arbeit und kein Geld, ist u ¨ berschuldet, nicht wirklich gebildet, kurz sie ist so, wie wir nicht sein mo ¨chten. Sie ist gleichzeitig auch ein Produkt des Wohlfahrtsstaats, der individuierte Verantwortlichkeit in seine eigene Obhut nimmt.
¨ndig profanisierende Lassen Sie mich die sich sta Liebesbeziehung aus der Sicht der drei Schwestern betrachten. In der Hoch-Zeit (hohe Zeit, Hochzeit), in den 50/60er Jahren kommt die Ko ¨ nigin ohne ihre Schwestern aus. Sie hat den Prinz gewonnen, den sie gesucht hat. Er liebt sie und umwirbt sie, Beistand ist da nicht notwendig und nicht wichtig. Der Rollentausch setzt in den 70er Jahren ein. Die verletzliche Schwester wird zur Kumpanin der Ko ¨nigin. Sie, die Ko ¨nigin wird sich der Zerbrechlichkeit ihrer Liebes¨cher, da beziehungen bewusst, sie wird selbst schwa
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10 Versuch einer verbraucherpolitischen Deutung Leider kommt alles anders. Die Deutung erfolgt aus der Sicht des Verbrauchers nicht des Marktes. In Zeiten, in denen sich Politik jenseits des Staates abspielt, gewinnt der Markt eine immer offener zutage tretende politische Dimension. Der Verbraucher wird politisiert, er wird zum Markt-Bu ¨ rger, er u ¨ bernimmt gesellschaftliche Aufgaben. Das Internet dient nicht nur zum Einkaufen, auch demokratische Prozesse lassen sich u ¨ ber das Internet organisieren. Wie also soll eine Verbraucherpolitik im 21. Jahrhundert aussehen, in einer ¨ten des NationalWelt, in der die Regelungskapazita staates begrenzt sind, in der Effizienz (wobei wir nicht vergessen du ¨ rfen, dass Deutschland ohne Kon¨utet hat und sultationen die Energiewende eingela ¨ische Verbundsystem technisch damit das europa enorm belastet und den Verbraucher zum Zahler ¨ kologievorstellungen macht) zur ideologischer O allseits dominierenden Maxime geworden ist? Eines ist vorab deutlich herauszustellen: VerbraucherPolitik, die mehr sein will als eine Anpassung rechtlicher Maßnahmen an die Effizienzbedingungen des globalisierten Marktes, muss das Politische in der schwindenden Schutzrhetorik der letzten zwei Jahrzehnte zuru ¨ ckgewinnen (F. Scharpf). Aber wie? Wir befinden uns in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Die Globalisierung und das Internet
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¨ndern die Welt, die Staatsform der Demokratie vera und die Gesellschaft selbst. Das alles sind Gemein¨tze, die die verschiedenen Wissenschaftspla ¨nglich bescha ¨ftigen. Mein Beitrag disziplinen hinla zur Diskussion liegt darin, an Machiavellis Fu ¨ rst zu erinnern, der genau vor 500 Jahren vero ¨ffentlicht ¨ngige Lesart verlangt, den Fu wurde. Die ga ¨ rsten als Machtmenschen par excellence zu betrachten, der Politik als Instrument der Herrschaft, an die sich Hegel mit ‘Herr und Knecht’ anschließt, untersucht. Eine andere Lesart ist mo ¨glich und der schließe ich mich an. Machiavelli beschreibt im Fu ¨ rsten eine neue Staatsform, fu ¨ r die er keine Worte findet, das blieb erst Rousseau und anderen u ¨ berlassen. Er findet und kennt nicht die Worte und die Begriffe, die uns heute ¨ufig sind. Wo ist die Parallele? Wir haben zur so gela Beschreibung und Analyse der Rolle und Funktion der Verbraucherpolitik im 21. Jahrhundert, in einer Welt jenseits des Nationalstaates, nur die Begriffe und Worte zur Hand, die aus der Geschichte herru ¨ hren. Fu ¨ r den Umbruch selbst haben wir noch keine neuen Begrifflichkeiten gefunden. Das gilt auch fu ¨ r die Verbraucherpolitik. Wir denken und suchen in nationalstaatlichen Kategorien. Wie im Pawlowschen Reflex fallen wir, d.h. alle, die sich mit Verbraucherpolitik, Verbraucherschutz, Verbrau¨ftigen, unabha¨ngig von Berufsstand cherrecht bescha und Sympathie, immer wieder auf das Bild des Nationalstaates zuru ¨ ck, der doch bitte seine Rolle des Liebhabers wieder u ¨ bernehmen mo ¨chte. So wird es nicht gehen. Ich mo ¨chte den unbescheidenen Versuch unternehmen, u ¨ ber diese Kategorien hinauszugehen. Das Ergebnis meiner Suche nach den Bedingungen fu ¨ r Gegenmittel und deren Benennung wird notwendig bescheiden ausfallen. Der erste Schritt ist die Einsicht in die sich ¨ndernden Bedingungen einer globalisierten vera Konsumgesellschaft und deren Akzeptanz. Die Gesellschafts- und die Rechtsordnung muss sich darauf einstellen, dass die drei Vs nebeneinander existieren, und dass die identischen Marktbu ¨ rger je nach Akti¨t eine unterschiedliche Rolle spielen, einmal vita verantwortlich, einmal vertrauend, einmal verletzbar. Fu ¨ r die Rechtsordnung ist das eine große Herausforderung, da wir doch seit der franzo ¨ sischen Revolution die Gleichheit vor dem Gesetz als ein hehres Prinzip der modernen Demokratie verteidigen. Seit Kafka wissen wir, dass eine formale Handhabung zu absurden und menschenfeindlichen Ergebnissen fu ¨ hren kann. Ohne Forschung, die den Namen verdient, wird sich dieses Ziel nicht erreichen lassen. Die heute von der Politik favorisierte
9-Monatsforschung (von der Auftragserteilung bis zur Abgabe) und die verheerenden Konsequenzen ¨ufigen sog. Impact Assessments wird des ach so gela diesem Ziel nicht gerecht werden. Forschung, die nicht nur eine fake reality suggerieren, sondern die etwa die neuen Wege der Neurowissenschaft in der Verbraucherpolitik erkunden will, braucht mehr Zeit, als es die auf Unmittelbarkeit ausgerichtete Politik¨sst. verwertungsmaschinerie zula Die Suche sollte bei dem Verbraucher als politischer und rechtlicher Figur ansetzen. Diese Konsequenz ist dem Umstand geschuldet, dass der Verbraucher durch ¨isierung und die Globalisierung aus seinen die Europa Sozialbezu ¨ gen herausgebrochen worden ist. ¨sst die lokalen, Er ist auf sich allein gestellt, er la regionalen und nationalen Bezu ¨ ge hinter sich, er ¨nowird zum Marktbu ¨ rger. Durkheim hat dieses Pha men der kapitalistischen Gesellschaft bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben. Diesem Verbraucher/Marktbu ¨ rger ist mit Informationen nicht geholfen, er braucht mehr und er braucht andere Mittel – Mittel, die es ihm erlauben, die ihm zugewachsene genuin politische Funktion auch wahrzunehmen. Ein erster Weg dorthin ko ¨nnte sein, Verbraucherrecht als Menschenrecht zu begreifen. So ließe sich die erstrebte Politisierung des Verbraucherrechts vorantreiben und auch eine Einbindung des Verbraucherrechts in das Recht jenseits des ¨hrleisten. Nationalstaates gewa Gleichzeitig ist den Grenzen der Individualisierung nachzuspu ¨ ren. Durkheim’s Unterscheidung von ¨t hat weder mechanischer und organischer Solidarita die Politik noch die Praxis erreicht. Nicht-Regierungsorganisationen denken und handeln nach wie ¨re gevor in nationalen Kategorien. Theoretisch wa rade der Bereich des privaten Konsums fu ¨ r die ¨t pra ¨destiniert. Entwicklung organischer Solidarita ¨mlich ihrer Probleme des privaten Konsums sind na Natur nach kollektive Probleme, weil wir heute aller ¨tsideologie zum Trotz fast ausschließlich Individualita mit standardisierten Massenwaren und standardisierten Massendienstleistungen konfrontiert werden. Defekte im Apple Computer treffen den chinesischen Verbraucher sowie den amerikanischen oder den ¨ischen. Die Rechtssysteme haben auf die europa Transnationalisierung der Verbraucherprobleme bis heute nicht reagiert. In Europa verteidigen die Mitgliedstaaten gerade im Bereich des kollektiven Rechtschutzes ihre Handlungsautonomie, mit der fatalen Konsequenz, dass es zwar einen Binnenmarkt fu ¨ r Produkte, aber keinen effektiven kollektiven grenzu ¨ berschreitenden Rechtsschutz gegen die
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Probleme der im Binnenmarkt vertriebenen Produkte und Dienstleistungen gibt.
Maßstab reagieren. Der vertrauende Verbraucher braucht lediglich Basisinformationen, die es ihm ermo ¨glichen, seine Rechte wahrzunehmen. Der verletzliche Verbraucher beno ¨ tigt zwingende Mindeststandards, die u ¨ ber einen Sanktionsapparat effektiv geschu ¨ tzt werden. Das kann im Ergebnis auf eine gewisse Reformalisierung – Schutz durch Form – hinauslaufen. Der verantwortliche Marktbu ¨ rger ¨ndliche oder, vielleicht besbraucht zuvorderst versta ser, verstehbare Informationen, die es ihm gestatten, seine Rechte im politischen Raum des globalen Marktes wahrzunehmen. Doch geht es nicht nur um die Rolle staatlicher oder supranationaler Instanzen. Auch Unternehmen als potenzielle Adressaten sind in all ihrer Hetero¨t ins Auge zu fassen. Je nachdem, ob es sich um genita kleine oder große transnationale Unternehmen handelt, oder um solche, die nur im lokalen Kontext operieren oder eben im transnationalen, mu ¨ ssen die Instrumente differieren. ‘Die Unternehmen‘ sind ebenso wenig eine starre Gro ¨ ße wie ‘der Verbraucher‘. Gleichwohl hat die fortschreitende Globalisierung den Handlungsspielraum fu ¨ r Unternehmen jeder Couleur und Gro ¨ ße erweitert. Je gro ¨ ßer die Autonomie, umso gro ¨ßer die Verantwortung, das hat schon der Philosoph Jonas proklamiert. Die Rechtssysteme sind auf diese Verantwortungsverschiebung nicht eingestellt, was sie, mit Jonas gedacht, auch nicht mu ¨ ssen. Verbraucherrecht als Menschenrecht ¨sst sich mit der Debatte verbinden, ob international la agierende Unternehmen Adressaten von Menschenrechtsverletzungen sein ko ¨ nnen, oder ob nur die Staaten, die die Unternehmen beherbergen, auf die Einhaltung der Menschenrechte mithilfe ihres Rechtssystems zu achten haben. Der amerikanische Supreme Court hat im April dieses Jahres in einem ¨ren Verfahren (Kiobel) abgelehnt, multispektakula nationale Unternehmen (hier die Shell Dependence in den USA) fu ¨ r unstreitig vorliegende Menschenrechtsverletzungen in Ghana haftungsrechtlich in Pflicht zu nehmen. Es mag angehen, dass der Euro¨ische Gerichtshof eine Vorreiterrolle u pa ¨ bernehmen ko ¨ nnte, in dem er auch Unternehmen an die Grundrechtscharta bindet. Verbraucherschutz ließe sich hier integrieren. Nicht zu vergessen ist die Eigenverantwortung der Verbraucher, deren Proklamation jedoch erst Sinn macht, wenn sie mit den drei Vs verzahnt wird. Der verletzliche Verbraucher ist auf Schutz angewiesen. Ihm muss etwa der Zugang zu Universaldienstleistungen – all jenen Leistungen, die er fu ¨ r die Ausu ¨ bung einer menschenwu ¨ rdigen Existenz beno ¨tigt (Strom, Wasser, Internet, Bankkonto) – garantiert
11 Denkansto ¨ ße Eine Verbraucherpolitik des 21. Jahrhunderts muss sich an den unterschiedlichen Bedu ¨ rfnissen der Verbraucher orientieren. Diese Forderung hat Thomas Wilhelmsson bereits 1992 erhoben, auch wenn damals die verschiedenen Verbrauchertypen noch nicht so weit ausdifferenziert waren. Welcher Verbraucher braucht welche Instrumente? Sie mu ¨ ssen passfo ¨ rmig auf die verschiedenen Vs zugeschnitten werden. Im Sinne der Zielsetzung und der mir u ¨ berlassenen Fragestellung werde ich mich auf die Ero ¨rterung des ¨nken. Informationsparadigmas beschra Die erste Frage ist die nach dem Ziel und dem Adressaten der Verbraucherpolitik. Gefordert und verlangt ist eine Verbraucherpolitik nicht nur fu ¨ r den Markt, sondern jenseits des Marktes, eine Politik, die sich der Problematik annimmt, dass Banken mit Nahrungsmittelaktien spekulieren, wie behauptet wird, zum Nachteil der Versorgung in Entwick¨ndern. Schließlich, wer ist der Adressat der lungsla ¨iVerbraucherpolitik? Der Nationalstaat, die Europa sche Union oder gar die globale Welt? Die nationalen ¨ischen Union die Regierungen haben in der Europa Politikformulierung weitgehend nach Bru ¨ ssel verla¨nen gert, die mit postsozialistischen Mehrjahrespla auf die Notwendigkeiten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagiert. Zwar sind die Versuche der UNO schon Mitte der 80er Jahre gescheitert, parallel zur UNEP eine weltweite Verbraucherinstitution aufzubauen. De facto hat diese Rolle inzwischen die Weltbank u ¨ bernommen, die sich ¨rker in die Verbraucherpolitik einschaltet, immer sta ohne dass dies in Europa zur Kenntnis genommen wu ¨ rde. Was sind die Konsequenzen? Der wichtige ¨ische Gesetzgeber im Verbraucherrecht ist die Europa ¨tzte 80 % aller releUnion. Sie regelt heute gescha vanten Rechtskomplexe. Von außen betrachtet, sprich aus der Sicht Chinas oder den USA, ist Europa eine Festung, die einen sozialen Schutzstandard ¨ndern nicht gibt. Eine proklamiert, den es in diesen La Verbraucherpolitik des 21. Jahrhunderts muss sich ¨t auseinandersetzen, sie muss das mit dieser Realita ¨ischen und Ineinandergreifen von nationalen, europa supranationalen Institutionen sicherstellen. Wer macht was ist eine der Schlu ¨ sselfragen in der Suche nach Instrumenten, die auf die drei Vs im ¨ischen und internationalen nationalen, europa
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werden. Vom vertrauenden Verbraucher kann ein ho ¨heres Maß an Eigenverantwortung verlangt werden. Ohne Grenzziehung wird es nicht abgehen. Eine maßvolle Einfu ¨ hrung zwingender menschenrechtlicher Schutzstandards ko ¨nnte die Grundlage fu ¨ r ein neu zu konzipierendes Verbraucherrecht bilden. Maßvoll muss es deswegen sein, weil das Verbraucherrecht als Menschenrecht denaturiert wu ¨ rde, wenn alle und jede Forderung nach unge¨t sto ¨rtem Konsum mit menschenrechtlicher Qualita ausgestattet wu ¨ rde. Der verantwortliche Verbraucher des 21. Jahrhunderts, der politisch und umweltbewusst handelnde Verbraucher, beno ¨tigt ¨ Zugang in allgemeinverstandlicher Form zu all jenen Informationen, die er fu ¨ r eine aktive Teilnahme am politisierten und politischen Marktgeschehen beno ¨ tigt. Die Informationstechnologie ko ¨ nnte sicher Hilfestellung leisten. Schließen mo ¨ chte ich mit einem Ausblick auf den kollektiven Verbraucherschutz. Im nationalen Kontext sollte die Sorge vorrangig dem verletzlichen Verbraucher gelten, unabha¨ngig davon, ob die ¨ndigkeit in den Ha ¨nden von VerbrauSorgezusta cherorganisationen oder von staatlichen Aufsichtsinstanzen liegt. Dieser Schutzbedarf ist nicht in das Sozialrecht auszulagern, sondern als genuiner Bestandteil des Verbraucherschutzes zu verstehen. Man mag von einer Ru ¨ ckbesinnung sprechen, aber auch davon, dass sozialstaatliche Aufgaben eines der wenigen Felder sind, in denen sich Staaten ihre Autonomie bewahren konnten, wenn sie denn u ¨ ber ein fest etabliertes wohlfahrtstaatliches Selbstver¨ndnis verfu sta ¨ gen und auch bereit sind, es zu ¨isch scheint der vertrauende finanzieren. Europa Verbraucher im Zentrum der Entwicklung eines kollektiven Rechtsschutzsystems zu stehen. Jedenfalls deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die mit der
kollektiven Rechtsdurchsetzung betrauten Instanzen sich vorrangig um jene Verbraucher ku ¨ mmern, die ¨ren, sich selbst zu noch am ehesten in der Lage wa helfen. International hat sich bis heute nicht viel ¨tze der bewegt. Jenseits Europas gibt es zaghafte Ansa Selbstorganisation, die jedoch in den letzten 20 Jahren nicht wirklich vom Fleck gekommen sind, weil ¨rt ist. bis heute die Finanzierungsfrage ungekla Staatliche Agenturen hingegen haben in der OECD ein internationales Forum, in dem sie sich austauschen. Von einer staatlich organisierten kollektiven Rechtsdurchsetzung wage ich indessen nicht zu ¨ngige Streit um die Gasprechen. Der derzeit anha rantiebedingungen von Apple legt hierfu ¨ r Zeugnis ab. Nicht einmal Europa kann sich auf ein einheitliches Vorgehen gegen Apples Versuch einigen, die ¨hrleistung durch eine kostenlose gesetzliche Gewa kostenpflichtige Applegarantie zu ersetzen.
12 Wo bleiben die drei Vs, die Erinnyen und die Furien? Wenn alles rechtstechnisch wird, wenn es um das Kleinklein von Zielen, Instrumenten und Verantwortlichkeiten geht, wenn sich die Bedu ¨ rfnisse der Menschen im Hickhack um Kompetenzen und Befindlichkeiten verlieren, dann betreten die Erinnyen und die Furien die Bu ¨ hne. Ich hoffe, dass das neu ¨t gegru ¨ ndete Zentrum an der Zeppelin Universita genau diese Aufgabe u ¨ bernimmt und dass es mit unbequemer Forschung zur Entwicklung einer ¨gt, Verbraucherpolitik jenseits des Marktes beitra einer Politik, die sich den Herausforderungen und Unsicherheiten der Zielformulierung stellt und sich auf das ho ¨ chst unsichere Terrain der Neubesinnung ¨sst. im 21. Jahrhundert einla
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Kognitive Belastung, Ego-Depletion, Selbstregulation: Relevant fu ¨ r die Verbraucherforschung! Relevant fu ¨ r die Verbraucherpolitik?
und Vohs (2008) ordnen die bei einer Kaufentscheidungen ablaufenden kognitiven Prozesse zwei ¨ufer in System 1, so sind Systemen zu. Operiert der Ka seine Entscheidungen, spontan, schnell, beruhen auf unbewussten Prozessen, beno ¨tigen wenig Energie und werden daher als wenig anstrengend empfunden. In System 2 hingegen werden Entscheidungen genau durchdacht, Informationen werden analysiert und gegeneinander abgewogen – das Treffen einer Entscheidung dauert lange und wird als anstrengend empfunden. Im Sinne der Verbraucherforschung und Verbraucherpolitik ist es daher wichtig, neue Erkenntnisse daru ¨ ber zu erlangen, unter welchen Kaufbedingungen welche Systeme aktiviert sind und ¨tze abzuleiten. Ein Beispiel hieraus Interventionsansa hierfu ¨ r ist § 2 der Preisangabenverordnung (PAngV). ¨ufer abscha ¨tzen, ob Produkt A (1,69 Euro Will der Ka fu ¨ r 180 Gramm) oder Produkt B (1,99 Euro fu ¨ r 200 Gramm) gu ¨ nstiger ist, dann sollte ihm diese Information Dank PAngV in Form des sogenannten Grundpreises sofort zur Verfu ¨ gung stehen. In diesem Beitrag sollen nun einige Erkenntnisse aus den Bereichen der Sozial- und Motivationspsychologie diskutiert werden, die in diesem Zusammenhang fu ¨r die Verbraucherpolitik relevant sein ko ¨ nnten. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass in diesem Zusammenhang das Konzept der Selbstregulation eine zentrale Rolle spielt. Weiterhin wird diskutiert, wie ¨higkeit, Selbstkontrolle auszuu die Fa ¨ ben, durch kog¨chtnisses und Egonitive Belastung des Arbeitsgeda ¨chtigt wird. Abschließend werden Depletion beeintra einige Strategien diskutiert, um diesen Effekten entgegenzuwirken. Selbstregulation hat verschiedene Aspekte, wird jedoch oftmals synonym mit dem Begriff Selbstkon¨higkeit, das trolle verwendet und beschreibt die Fa eigene Handeln (aber z.B. auch Emotionen oder Aufmerksamkeit) so zu steuern, dass zielgerichtetes Verhalten mo ¨glich ist (Baumeister, Heatherton & Tice 1994). Selbstregulation ist also gerade dann notwendig, wenn kurzfristige Impulse (z.B. Lust auf Schokolade) einem langfristigen Ziel untergeordnet ¨thalten). Gerade in der Gewerden mu ¨ ssen (z.B. Dia sundheitspsychologie spielt Selbstregulation eine wichtige Rolle: Wie ko ¨nnen Menschen davon u ¨ berzeugt werden, mehr Sport zu treiben, auf Nikotin und Alkohol zu verzichten oder dazu gebracht werden, statt ungesunden Snacks frisches Gemu ¨ se zu kaufen? Ein weiterer Aspekt ist hierbei die Frage, wie schlechte ¨ndert werden Gewohnheiten auch dauerhaft gea ko ¨ nnen (Achtziger, Gollwitzer & Sheeran 2008).
Anja Achtziger* und Alexander Jaudas ¨t, Lehrstuhl fu Zeppelin Universita ¨ r Sozial- und Wirtschaftspsychologie, Am Seemooser Horn 20, 88045 Friedrichshafen *
[email protected] Zusammenfassung In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, wie Erkenntnisse aus der Sozial- und Motivationspsychologie fu ¨ r die Verbraucherforschung und Verbraucherpolitik nutzbar gemacht werden ¨utert, wie Selbstko ¨ nnen. Insbesondere wird erla ¨nita ¨t regulationsfa¨higkeit und Konsumentensouvera ¨ngen. Die Fa ¨higkeit zur Selbstregulatizusammenha on ist jedoch keine unerscho ¨ pfliche Ressource und ¨ndig die Gefahr, einer Erscho somit besteht besta ¨pfung dieser Ressource (Ego-Depletion). Ausgehend von Baumeisters ,,Ressourcenmodell der Selbstkontrolle‘‘ werden Ursachen und Folgen von Ego¨utert – aber auch wirksame und Depletion erla erprobte Selbstregulationsstrategien aufgezeigt, mit denen negativen Auswirkungen von Ego-Depletion begegnen werden kann. Aus Sicht der Verbraucherpolitik und insbesondere des Verbraucherschutzes zeichnet sich die ideale ¨ufer Kaufsituation u. a. dadurch aus, dass der Ka bestens informiert ist u ¨ ber die in Frage kommenden Produkte, dass er daru ¨ ber hinaus auch motiviert und in der Lage ist, diese Informationen in einen alle ¨geprozess Optionen beru ¨ cksichtigenden Abwa einzubeziehen, dass sein Urteil hierbei weder unter Zeitdruck erfolgt noch durch seine Stimmungslage beeinflusst wird, dass der Hersteller der Produkte alle relevanten Informationen zur Verfu ¨ gung stellt und ¨ nicht versucht, den Kaufer durch z.B. eine besondere Produktverpackung zu beeinflussen etc. Eine Situation ¨llen also, wie sie nur in den allerseltensten Fa vorliegen du ¨ rfte. Hierbei macht es natu ¨ rlich einen Unterschied, ob wir zwischen verschiedenen ¨ssern entscheiden mu Mineralwa ¨ ssen, oder eine Entscheidung treffen mu ¨ ssen, von der das wirtschaft¨ berleben eines Unternehmens abha ¨ngt. liche U ¨chlich reicht bei Kaufentscheidungen das Tatsa ¨ufen bis hin zu sehr Spektrum von Spontanka lange u ¨ berlegten und sehr genau durchdachten Kaufentscheidungen. Baumeister, Sparks, Stillman
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¨higkeit zur Selbstregulation, Zum einen kann die Fa als eine zeitlich stabile Perso ¨nlichkeitseigenschaft aufgefasst werden, die in unterschiedlichen Situationen (Schule, Arbeitsplatz, Privatleben) beobachtet werden kann. Sie kann dann mittels standardisierter Fragebo ¨gen gemessen werden (z.B. Tangney, Baumeister & Boone 2004; Rosenbaum, 1980). Zum anderen wurden auch so genannte Selbstregulationsstrategien unter¨ngig von der je sucht. Diese Strategien ko ¨nnen unabha ¨higindividuell unterschiedlichen Selbstregulationsfa keit (im Sinne einer Perso ¨nlichkeitseigenschaft) angewendet werden (Mischel et al. 2008; Achtziger & Gollwitzer 2010; Cohen, Bayer, Jaudas & Gollwitzer 2008).
zeigten z.B. Milosavljevic, Navalpakkam, Koch und Rangel (2012), dass bei Entscheidungen die schnell ¨lligkeit getroffen werden mu ¨ ssen, die visuelle Auffa eines Produktes wichtiger ist als die eigentliche Ein¨ferenz des Kunden – insbesondere bei kaufspra ¨chtgleichzeitiger Beanspruchung des Arbeitsgeda nisses. Andere Studien haben gezeigt, dass der Einfluss sozialer Normen (welches Konsumverhalten andere von uns erwarten) bei Beanspruchung des ¨chtnisses abnimmt (Melnyk, Herpen, Arbeitsgeda Fischer & van Trijp 2011). Wichtige Produktinformationen sollten daher mo ¨glichst knapp, klar und u ¨ bersichtlich dargestellt werden, so dass Verbraucher auch unter kognitiver Belastung die Mo ¨glichkeit haben, die relevanten Informationen verarbeiten zu ko ¨ nnen und darauf ihre Entscheidungen basieren zu lassen. Neben den eben genannten Aspekten, die eine Kaufentscheidung beeinflussen ko ¨nnen, spielt jedoch der als ,,Ego-Depletion‘‘ bezeichnete Effekt eine ganz zentrale Rolle. Ego-Depletion (zu deutsch ¨t) etwa: Erscho ¨pfung der Selbstregulationskapazita ¨higkeit zur beruht auf der Annahme, dass die Fa Selbstregulation eine nur begrenzt zur Verfu ¨ gung stehende Ressource ist (,,Ressourcenmodell der Selbstkontrolle‘‘; Baumeister, Bratslavsky, Muraven & Tice 1998). In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass die Beanspruchung der Selbstregula¨t dazu fu tionskapazita ¨ hrt, dass die Versuchsteilnehmer in einer nachfolgenden Aufgabe schlechter abschneiden, wenn zur Bearbeitung ebenfalls Selbstregulation erforderlich ist. Mussten die Versuchsteilnehmer z.B. eine Geschichte aufschreiben, ohne den Buchstaben ,,a‘‘ zu verwenden (Beanspruchung von Selbstregulation), so konnten sie ihre Hand nachfolgend weniger lang in eiskaltes Wasser halten – um den durch das Eiswasser verur¨mlich sachten Schmerz ertragen zu ko ¨ nnen ist na ebenfalls Selbstregulation erforderlich. Dies zeigt, dass dieselbe Ressource fu ¨ r die Bearbeitung ganz unterschiedlicher Aufgaben erforderlich ist. Selbstregulation funktioniert nach Roy Baumeister wie ein ¨hig ist, nach Muskel, der nicht unbegrenzt leistungsfa Beanspruchung ermu ¨ det und sich erst wieder rege¨ berblick gibt die nerieren muss – einen guten U Metaanalyse von Hagger, Wood, Stiff und Chatzisarantis (2010). Liegt in einer Kaufsituation Ego-Depletion vor, werden vermehrt schlechtere ¨uEntscheidungen getroffen (s.o.). So fokussieren Ka fer z.B. nur auf eine Dimension des Produkts (z.B. den ¨ssigen eine andere wichtige Preis) und vernachla ¨t). Daru Dimension (z.B. die Qualita ¨ ber hinaus kann das Treffen von Entscheidungen selbst zu EgoDepletion fu ¨ hren – v.a. wenn innerhalb kurzer Zeit
13 Selbstregulationsfa ¨higkeit als Perso ¨ nlichkeitseigenschaft Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass ein Mangel ¨higkeiten mit zahlreichen sozian Selbstregulationsfa alen und perso ¨nlichen Problemen einhergeht (z.B. Baumeister et al. 1994; Tangney et al. 2004). So zeigen ¨higkeiten Personen mit geringen Selbstregulationsfa einen ho ¨ heren Drogen- und Alkoholkonsum, mehr ¨lligkeiten, schlechtere Schulleistunpsychische Auffa gen, berichten mehr Probleme in der Partnerschaft etc. (Tangney et al. 2004; Duckworth & Seligman 2006). Im Arbeitsbereich wird berichtet, dass Personen mit ¨higkeiten auch eine ho hohen Selbstregulationsfa ¨here Leistung erbringen (z.B. Diefendorff, Hall, Lord & Strean 2000). Achtziger und Bayer (2013) konnten zei¨higkeiten bei gen, dass hohe Selbstregulationsfa ¨ngern auch mit hohen Leistungsstandards Studienanfa ¨hrend geringe Selbstregulationsfa ¨assoziiert sind, wa higkeiten eher mit dem Empfinden einhergehen, selbst gesetzte Standards nicht zu erreichen. Weiterhin wurde in dieser Studie beobachtet, dass hohe ¨higkeiten den Stress in den ersten Selbstregulationsfa drei Monaten des Studiums deutlich mildern ko ¨nnen. Im Hinblick auf das Konsumentenverhalten wurde v. a. eine unzureichende Selbstregulation im Zusam¨ufen untersucht (Vohs & Faber menhang mit Impulska 2007). Weitere Befunde zeigen, dass Konsumenten bei ¨ten z.B. unzureichenden Selbstregulationskapazita ¨hlen, dass sie sich eher ungesunde Lebensmittel auswa fu ¨ r schlechtere Filme entscheiden oder mehr Su ¨ ßigkeiten essen (Baumeister et al. 2008).
14 Ego-Depletion Die Kaufsituation und auch eine Kaufentscheidung werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. So
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eine Reihe schwieriger Entscheidungen getroffen werden mu ¨ ssen (Vohs, Baumeister, Schmeichel, Twenge, Nelson & Tice 2008). Interessanterweise kann Ego-Depletion auch dazu fu ¨ hren, dass u ¨ berhaupt keine Kaufentscheidung getroffen wird – in Laborstudien wird diese Option allerdings oftmals ausgeschlossen (Baumeister et al. 2007). Einerseits wird zumindest keine falsche Entscheidung getroffen - andererseits kann aber auch eine gu ¨ nstige Kaufge¨sst sich aus legenheit verpasst werden. Unmittelbar la diesem Forschungsbereich fu ¨ r den Verbraucherschutz ableiten, dass wichtige Entscheidungen nicht im Zustand von Ego-Depletion getroffen werden sollten: Vor wichtigen Entscheidungen eine Erholungspause einlegen, nicht zu viele Entscheidungen in zu kurzer Zeit treffen, Entscheidungen u ¨ berschlafen, Zeitdruck und Ablenkungen vermeiden. Welche Mo ¨glichkeiten es daru ¨ ber hinaus zur Vermeidung von Ego-Depletion gibt soll im Folgenden diskutiert werden.
lationskapzita¨t in anderen Bereichen (Baumeister, Gailliot, DeWall & Oaten 2006). Auch wenn also der Glaube an eine unerscho ¨pfliche Selbstregulationsressource und Fitnessu ¨ bungen zur Vermeidung von Ego-Depletion beitragen ko ¨ nnen, wurde in den letzten Jahren und inzwischen Jahrzehnten eine besondere Selbstregulationsstrategie beforscht, die sich als ausgesprochen wirksam erwiesen hat: Das ¨ne‘‘, ha ¨ufig Fassen sogenannter ,,Wenn-Dann-Pla ¨tze oder Durchfu auch Vorsa ¨ hrungsintentionen ge¨ bersicht: Gollwitzer & Sheeran 2006; nannt (zur U ¨ne sind Achtziger & Gollwitzer 2010). Derartige Pla notwendig, da sich immer wieder gezeigt hat, dass das alleinige Setzen von Zielen nicht ausreicht, um v. a. eingeschliffene Verhaltensgewohnheiten zu ¨ndern (Sheeran & Webb 2006). Es genu a ¨ gt also nicht, sich das Ziel zu setzen: ,,Ich werde ku ¨ nftig keine fetthaltigen, ungesunden Lebensmittel mehr kaufen‘‘, sondern es ist notwendig, dieses Ziel mit einem ¨nen zu unterstu oder mehreren Wenn-Dann-Pla ¨ tzen (z.B. Achtziger et al. 2008, Studie 2). Ein solcher Plan wird individuell gefasst und ko ¨nnte fu ¨ r einen Konsumenten mit dem obigen Ziel z.B. lauten: ,,Wenn ¨se mehr als 40 % Fettanteil ich sehe, dass ein Ka ¨se mit besitzt, dann kaufe ich stattdessen einen Ka einem Fettanteil von ho ¨chstens 20 %!‘‘ Im ersten Teil des Plans (Wenn-Teil) wird eine konkrete Kaufsituation spezifiziert und diese wird im zweiten Teil des Plans (Dann-Teil) mit einer konkreten Handlungsan¨ne zu weisung verknu ¨ pft. Dass solche simplen Pla einer teilweise drastischen Steigerung der Zielerreichungsrate fu ¨ hren ko ¨nnen, wird darauf zuru ¨ ckgefu ¨ hrt, dass die im Wenn-Teil spezifizierte Handlungssitutaion hoch aktiviert ist, und beim Eintreten dieser Situation das im Dann-Teil festgelegte Verhalten automatisch initiiert wird. Es konnte gezeigt werden, dass durch diesen Automatismus Ressourcen geschont werden, wodurch trotz vorheriger EgoDepletion eine darauf folgende Leistungseinbuße vermieden werden kann (Bayer, Gollwitzer, & Achtziger 2010, Studie 2). Durch den Einsatz von Wenn¨nen kann jedoch auch das Entstehen von Dann-Pla Ego-Depletion u ¨ berhaupt vermieden werden (Webb & Sheeran 2003). Daru ¨ ber hinaus listen Gollwitzer und Sheeran (2009) noch eine ganze Reihe weitere Aspekte auf, ¨ne fu wie Wenn-Dann-Pla ¨ r Konsumenten gewinnbringend eingesetzt werden ko ¨ nnen: Fokussierung der Aufmerksamkeit auf relevante Informationen. Abschirmung von sto ¨renden Informationen. Tiefere Informationsverarbeitung. Verminderung des Einflusses von Stimmungslagen auf Entscheidungen. Verminderung der automatischen Aktivierung von
15 Strategien zur Verbesserung der Selbstregulation In einer Reihe von Studien konnte festgestellt werden, dass nach Aufgaben, welche hohe Anforderungen an die Selbstregulation stellen, der Blutzuckerspiegel sinkt. Gailliot und Baumeister ¨chlich diese (2007) gehen davon aus, dass es tatsa Energieressource ist, die auf physiologischer Ebene aufgebraucht wird. Zwar konnten Molden, Scholer, Meier, Noreen, D’Agostino und Martin (2012) zeigen, dass auch motivationale Faktoren eine Rolle spielen nach wie vor scheint die Vorstellung einer vom ¨ngigen Selbstregulationsfa ¨higkeit Blutzucker abha zumindest fu ¨ r sehr fordernde Aufgaben Gu ¨ ltigkeit zu besitzen (Vohs, Baumeister & Schmeichel 2012). Ein Einkaufstag sollte also mit einem guten Fru ¨ hstu ¨ ck ¨hrend des Einkaufs sollte beginnen und auch wa ausreichend gegessen und getrunken werden. Miller, Walton, Dweck, Job, Trzesniewski und McClure (2012) konnten zeigen, dass Versuchspersonen, die im Experiment dazu gebracht wurden daran zu glau¨higkeit nicht erscho ben, dass Selbstregulationsfa ¨pft werden kann, anschließend einen weitaus geringeren Ego-Depletion-Effekt zeigten. Oaten und Cheng (2006) konnten zeigen, dass die Selbstregulati¨t durch regelma ¨ßige Fitnessu onskapazita ¨ bungen gesteigert werden kann. Wird die Selbstregulation in ¨ bereineinem Bereich verbessert, so fu ¨ hrt dies, in U stimmung mit Baumeisters Theorie, in der Regel auch zu einer Verbesserung der Selbstregu-
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Einstellungen gegenu ¨ ber Kunden oder Produkten. Unterdru ¨ ckung von Gedanken, die zum Konsum von ungesunden Produkten verleiten (Achtziger, Gollwitzer & Sheeran 2008; Studie 1). Kontrolle starker ¨ßige Nutzung eines Produktes Emotionen. Regelma ¨ndund damit verbunden eine positive Einstellungsa erung gegenu ¨ ber dem Produkt. Fo ¨rderung der Kompromissbereitschaft in Verhandlungssituationen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in der Sozial- und Motivationspsychologie zahlreiche Theorien und Forschungsergebnisse vorliegen, die sich erfolgversprechend auch in den Bereich der Verbraucherforschung u ¨ bertragen lassen. Dies ist bislang jedoch nur in ersten Schritten erfolgt. So werden in der Metaanalyse von Gollwitzer und Sheeran (2006, S. 95) z.B. nur 2 Studien im Bereich ,,Con¨hrend es im Bereich ,,Health‘‘ sumer‘‘ aufgefu ¨ hrt, wa 23 sind.
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Die Bedeutung der Verbraucherforschung fu ¨ r die Verbraucherpolitik
Damit eine ausgeglichene Balance zwischen ¨nigesetzlicher Regulierung und Verbrauchersouvera ¨t bestehen kann, ist es fu ta ¨ r die Verbraucherpolitik besonders wichtig, auf ein breites wissenschaftliches ¨ngige Beratung zuru Fundament und eine unabha ¨ ckgreifen zu ko ¨nnen. Eine empirisch fundierte Verbraucherforschung ist notwendig, um politische Maßnahmen in geeigneter Weise an das reale Verhalten und die Bedu ¨ rfnisse der Verbraucherinnen und Verbraucher anzupassen und die Folgen von Gesetzen besser ¨tzen. Im Gegensatz zu den Wirtschaftswisabzuscha senschaften, die schon seit Jahrzehnten der traditionellen Wirtschaftspolitik (aus Unternehmersicht) ein breites Instrumentarium zur Politikberatung bieten, fristen die Verbraucherwissenschaften/ Verbraucherpolitikwissenschaften zumindest im deutschsprachigen Raum eher ein Schattendasein, respektive ,,segeln unter anderer Flagge‘‘. Verbraucherpolitikforschung ist multi-, trans- und ¨r und bescha¨ftigt sich nicht nur mit interdisziplina politischen, sondern auch mit o ¨konomischen, gesellschaftlichen und psychologischen Fragen. Dabei steht vor allem die Perspektive der Verbraucherinnen und Verbraucher im Vordergrund, im Gegensatz zur Marketingforschung, die vorwiegend aus Sicht der Unternehmen agiert. ¨ berblick u Abbildung 1 gibt einen U ¨ ber wichtige Fragen an Politik und Verwaltung, die durch eine starke Verbraucherforschung besser beantwortet werden ko ¨nnen.
Wolfgang Reimer ¨ndlichen Raum und VerbraucherMinisterium fu ¨ r La schutz Baden-Wu ¨ rttemberg, Kernerplatz 10, 70182 Stuttgart;
[email protected] Die Verbraucherpolitik hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Durch immer komplexer ¨rkte und die Entstehung werdende globalisierte Ma von neuen Konsumfeldern wie Electronic- und Mobile-Commerce haben sich die Lebensbedingungen der Verbraucherinnen und Verbraucher rasant ¨ndert und die Verbraucherrechte ru vera ¨ cken zunehmend in das Blickfeld der o ¨ffentlichen Aufmerksamkeit. Aber auch die Energiewende und die Forderungen nach nachhaltigem Konsum stellen Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Politik vor neue Herausforderungen. Der Verbraucherpolitik ¨ndiges Politikfeld muss dabei der Spagat als eigensta zwischen verbraucherfreundlicher Regulierung durch gesetzliche Rahmenbedingungen und der gleichzeitigen Fo ¨ rderung von selbstbestimmten Verbraucherinnen und Verbrauchern durch eine fundierte Verbraucherbildung gelingen. In diesem Sinne kann Verbraucherpolitik auch als Wirtschaftspolitik von der Nachfrageseite oder aus Verbraucherperspektive bezeichnet werden.
Verbraucherverhalten
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Wie finden sich Verbraucherinnen und Verbraucher auf den aktuellen Märkten zurecht? Finden sie sich überhaupt zurecht?
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Wie verhalten sie sich, welche Beratung und Information brauchen sie?
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Wie fällen sie ihre Entscheidungen, wie können sie erreicht werden?
Verbraucherbildung
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Welche Rolle spielen Bildung und Medien – sowohl während der Schulzeit als auch beim lebenslangen Lernen?
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Wie können Verbraucherinnen und Verbraucher durch eine gute Verbraucherbildung zu nachhaltigem Konsum angeregt werden?
Aufgabe der Politik
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Welche Rahmenbedingungen müssen Politik und Verwaltung schaffen?
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Sind bestehende Regelungen für Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehbar und mit ihrem Alltag vereinbar?
Abbildung 1 Zentrale verbraucherpolitische Fragen
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Alternativen zum Informationsparadigma der Verbraucherpolitik
Trotz der zunehmenden Bedeutung der Verbraucherpolitik und dem hohen Bedarf an empirischer Validierung der verbraucherpolitischen Maßnahmen ¨ndige und vor allem starke tritt eine eigensta Verbraucherforschung, wie sie beispielsweise in den 80er- und 90er Jahren bei Prof. Dr. Gerhard Scher¨t Hohenheim am Lehrstuhl fu horn an der Universita ¨r Konsumtheorie und Verbraucherpolitik stattgefunden hat, seit vielen Jahren unter dieser Bezeichnung in der Forschungslandschaft kaum in Erscheinung. Das soll allerdings nicht bedeuten, dass verbraucherrelevante Forschung in Deutschland nicht ¨ufig entsprechende Themen im Rahexistiert, da ha men von psychologischen, wirtschafts-, oder sozialwissenschaftlichen Studien untersucht werden. ¨t des ForAufgrund der bestehenden Heterogenita schungsfeldes ist es insbesondere fu ¨ r die Politik oft schwer, wesentliche Studien zu identifizieren und auf relevante Ergebnisse zuru ¨ ckzugreifen. Dieses Thema wurde auch von Prof. Dr. Lucia Reisch und Prof. Dr. Andreas Oehler in einer Publikation im Jahr 2012 aufgegriffen. In einer empirischen Analyse untersuchten sie die aktuelle Situation der Verbraucherforschung im deutschsprachigen Raum in den Jahren 2001 bis 2011. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen zwar, dass ‘‘Verbraucherforschung in Deutschland lebt!’’, allerdings gibt es noch große Defizite, die vor allem in den folgenden Punkten bestehen:
stellungen an verschiedene Institutionen erteilt. Als Beispiele seien exemplarisch genannt:
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¨ngen Es wird weder an zentralen Forschungsstra gearbeitet, noch ist die Forschung vernetzt. Es fehlt eine kontinuierliche Finanzierung. Es besteht dringender Forschungsbedarf zu den Themen Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Insbesondere der o ¨kologisch-soziale Konsum, die ¨rkte der sozialen Finanzdienstleistungen, die Ma Sicherheit und der Datenschutz sind Wachstumsfelder der Verbraucherforschung und wurden bisher von der Wissenschaft noch nicht ausreichend adressiert.
Erfreulicherweise wurde die zunehmende Relevanz der Verbraucherforschung in den letzten Jahren vom Bundesverbraucherministerium (BMELV) und ¨ndern erkannt und Initiativen zur einzelnen Bundesla ¨rker gefo Verbraucherforschung sta ¨ rdert. Ein Vorreiter ist das Verbraucherministerium Baden-Wu ¨ rttemberg. Um eine wissenschaftliche ¨ngige Beratung der Fundierung und unabha Verbraucherpolitik zu gewa¨hrleisten, wurden vom Verbraucherministerium Baden-Wu ¨ rttemberg immer ¨ge mit verbraucherrelevanten Fragewieder Auftra
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Der Su ¨ ddeutsche Verbrauchermonitor untersucht ¨ßige Verbraucherumfragen die durch regelma Situation der Verbraucherinnen und Verbraucher in Baden-Wu ¨ rttemberg und extrahiert aktuelle Handlungsfelder fu ¨ r die Verbraucherpolitik. Das Informationsportal ,,Verbraucher BW‘‘ auf Facebook informiert Verbraucherinnen und Verbraucher u ¨ ber Themen des Verbraucherschutzes. Dieses Portal (vormals ,,Shoppen, Surfen, Simsen‘‘) entstand aus einer Studie zur Erreichbarkeit der Zielgruppe ,,Digital Natives‘‘ und richtete sich an Jugendliche und junge Erwachsene. Die Ergebnisse der Studie zu Internetgu ¨ tesiegeln ermo ¨ glichen Verbraucherinnen und Verbrauchern eine bessere Orientierung beim Einkauf im Internet. Der Nano-Dialog Baden-Wu ¨ rttemberg bescha¨ftigt sich mit der Verbraucherwahrnehmung und Kommunikationsstrategien bei Nanotechnolo¨ßig aktualisierten Auswertungen gien. Die regelma zu Forschungsprojekten u ¨ ber Nanotechnologie sind die Grundlage des seit 2009 stattfindenden Dialogs mit Expertinnen und Experten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern.
Auch wenn diese Studien des Verbraucherministeriums Baden-Wu ¨ rttemberg bei den beauftragten Fragestellungen konkrete politische Handlungsempfehlungen geben und eine fundierte Verbraucherpolitik ermo ¨glichen, sind sie dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit das gesamte Feld der Verbraucherforschung abgedeckt werden kann, bedarf es eines zentralen Knotenpunkts, der die verschiedenen Forschungsbemu ¨ hungen im Bereich Verbraucherforschung strukturiert und vernetzt. Aus diesem Grund hat sich das Verbraucherministerium Baden-Wu ¨ rttemberg entschlossen, sich noch intensiver fu ¨ r die Verbraucherforschung zu engagieren und das Forschungszentrum Verbrau¨t cher, Markt und Politik an der Zeppelin Universita einzurichten. Das Forschungszentrum wird von Prof. Dr. Lucia Reisch – der fu ¨ hrenden Verbraucherforscherin in Deutschland – geleitet und ist eng mit ihrer Gastprofessur Konsumverhalten & Verbrau¨t verbunden. cherpolitik an der Zeppelin Universita Das Forschungszentrum soll die Verbraucherfor¨rken und Beitra ¨ge schung in Baden-Wu ¨ rttemberg sta fu ¨ r ein wissenschaftliches Instrumentarium der Verbraucherpolitik leisten. Die Ziele des Forschungszentrums sind im Einzelnen:
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Fo ¨ rderung des Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Politik in Baden-Wu ¨ rttemberg. Rege Kommunikation mit Akteuren und Multiplikatoren der Verbraucherpolitik sowie der ¨ ffentlichkeit. interessierten O Vernetzung der Akteure der Verbraucherforschung in Baden-Wu ¨ rttemberg, aber auch national und international. Plattform fu ¨ r den Austausch zwischen den einzelnen Forschungsgebieten.
¨ten und Veranstaltungen wie Gemeinsame Aktivita beispielsweise die Veranstaltungsreihe ,,Verbraucherforschungsforum an der ZU‘‘ bringen die Verbraucherforschung und damit verbraucherpolitische Themen voran und bieten Mo ¨ glichkeiten fu ¨r Kooperationen und Synergien innerhalb der For¨nzt und unterstu schungslandschaft. Somit erga ¨ tzt das Forschungszentrum Verbraucher, Markt und Politik ¨ten des Bundes und anderer Bundesla ¨ndie Aktivita der, wie des ‘‘Netzwerks Verbraucherforschung’’ des Bundesverbraucherministeriums. Daru ¨ ber hinaus engagiert sich das Verbraucherministerium Baden-
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Wu ¨ rttemberg auf Bundesebene fu ¨ r die Dokumentation und Transparenz der Verbraucherforschung und setzt sich fu ¨ r die Erstellung einer bundesweiten Datenbank ein. Zusammenfassend soll die Rolle der Verbraucherforschung fu ¨ r eine empirisch fundierte Verbraucherpolitik betont werden. Auch wenn eine starke Verbraucherforschung in Deutschland momentan noch ein Zukunftsthema ist, weisen die ersten Initiativen von Politik und Wissenschaft, wie z.B. die Gru ¨ ndung des Forschungszentrums Verbraucher, ¨t, in die Markt und Politik an der Zeppelin Universita richtige Richtung. Verbraucherforschung wird auch in Zukunft an Bedeutung gewinnen und darf weder von der Politik noch von der Wissenschaft vernach¨ssigt werden. Das Forschungszentrum wird somit la nicht nur fu ¨ r das verbraucherpolitische Handeln der Politik und Verwaltung in Baden-Wu ¨ rttemberg wichtige Erkenntnisse liefern, sondern auch die Wissenschaft in Deutschland, Europa und international bereichern.
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