Leitthema: EU-Recht und nationales Gesundheitswesen: Chemikaliengesetzgebung Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2008 · 51:1434–1443 DOI 10.1007/s00103-008-0717-0 Online publiziert: 17. Dezember 2008 © Springer Medizin Verlag 2008
W. Lilienblum Dr. Lilienblum Consulting Toxikologie LiCoTox, Hemmingen/Han., BRD
Alternativmethoden zum Tierversuch Was können sie bei der Sicherheitsprüfung chemischer Stoffe im Rahmen von REACH leisten?
S
eit Inkrafttreten der Tierschutz-Richtlinie 86/609/EWG wird die Entwicklung von Alternativmethoden zum Tierversuch von der EU konsequent verfolgt, so auch auf dem Gebiet der Sicherheitsprüfung chemischer Stoffe. Mit der 7. Änderungsrichtlinie 2003/15/EG zur KosmetikRichtlinie 76/768/EWG wurde stufenweise ein Ausstieg aus allen In-vivo-Testmethoden mit einem sehr ehrgeizigen Zeitplan bis zum Jahr 2013 beschlossen. Dieser gilt auch für Testungen sehr komplexer toxikologischer Endpunkte wie der Reproduktionstoxizität und Kanzerogenität. Für die Chemikalientestung im Rahmen von REACH (Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien) gilt Ähnliches. Artikel 25 (1) Satz 1 fordert: „Um Tierversuche zu vermeiden, dürfen Wirbeltierversuche für die Zwecke dieser Verordnung nur als letztes Mittel durchgeführt werden.“ Das bedeutet in der Praxis den Vorrang alternativer Methoden, sofern diese, einzeln oder in Kombination, geeignet sind, vergleichbar sichere Vorhersagen zu den toxikologischen Eigenschaften chemischer Stoffe zu liefern wie konventionelle In-vivo-Methoden. Im Rahmen der REACH Implementation Projects (RIP) wurde ein Technical Guidance Document (TGD) entwickelt, das diese Anforderungen berücksichtigt. Die Entwurf-Fassung ist seit Mai 2007 allgemein zugänglich [1].
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Das Konzept der Alternativmethoden umfasst jede Methode, die verwendet werden kann, um tierexperimentelle Methoden in der biomedizinischen Forschung, in der Testung von Chemikalien und in der Ausbildung zu ersetzen, zu verfeinern oder die Zahl der zu diesem Zweck verwendeten Tiere zu verringern (replacement, refinement, reduction, sogenannte RRR- oder 3R-Prinzipien, Übersicht in [2]). Bei der Sicherheitsprüfung von Chemikalien können das experimentelle Methoden sein (in vitro, ex vivo oder verbesserte In-vivo-Methoden) sowie nicht-experimentelle Verfahren [z. B. auf Basis computergestützter Expertensysteme, (Q) SAR1], die adäquate Verwertung bereits vorhandener Daten zu einem Stoff oder von Daten chemisch ähnlicher Stoffe (Analogieprinzip). Auch Kombinationen all dieser Methoden sind denkbar und werden auch, obwohl nicht neu, als integrierte (oder sogar intelligente) Teststrategien bezeichnet. Auf EU-Ebene wird die Entwicklung neuer Alternativmethoden vom European Centre for the Validation of Alternative Methods (ECVAM) initiiert und koordiniert. Zusätzlich gibt es in den Mitgliedsstaaten entsprechende nationale Einrichtungen. Die weltweite Zusammenarbeit
der Industrienationen auf diesem Gebiet, hier besonders der EU, USA und Japan, wird durch die OECD koordiniert. Neu entwickelte Alternativmethoden werden in mehreren Schritten validiert (Übersichten in [2, 3, 4]), was nach bisherigen Erfahrungen in Europa zumeist 5–6 Jahre benötigt. Bei Eignung der Methode für einen genau umrissenen Anwendungsbereich folgt ihre wissenschaftliche Anerkennung2 und schließlich die „regulatorische“ Anerkennung durch die zuständigen Behörden der Mitgliedsstaaten bzw. auf internationaler Ebene als Testing Guideline (TG) durch die OECD, beides ebenfalls Schritte, die zumeist mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Die Akzeptanz als TG auf OECD-Ebene ist Voraussetzung für die gegenseitige Akzeptanz von Testdaten, die im Rahmen eines internationalen Abkommens geregelt ist, um doppelte oder mehrfache Testungen zu vermeiden und somit Kosten und insbesondere bei In-vivo-Methoden Versuchstiere einzusparen. Die Beratungskommission der Gesellschaft für Toxikologie (GT) hat sich mit dem aktuellen Sachstand und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Alternativmethoden zu Tierversuchen befasst und ihre Bedeutung mit Blick auf
1 Quantitative oder qualitative Struktur-/Wirkungsbeziehungen.
2 In der EU ist hierfür das ECVAM Scientific Advisory Committee (ESAC) zuständig.
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Zusammenfassung · Abstract die in REACH geforderten toxikologischen Daten untersucht [5]. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen werden im Folgenden dargestellt.
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Sachstand und aktuelle Entwicklungen
Alternativmethoden zum Tierversuch. Was können sie bei der Sicherheitsprüfung chemischer Stoffe im Rahmen von REACH leisten?
Eine Reihe von In-vitro-Tests zur Vorhersage der Gentoxizität und Mutagenität chemischer Stoffe sind als Testrichtlinien (TG) der OECD etabliert. In-vitro-Tests zur Bestimmung der lokalen Toxizität an Haut oder Auge (Ätz- und Reizwirkung) haben die entsprechenden In-vivo-Methoden sogar teilweise ersetzt. In-vitround In-vivo-Methoden, die auf OECDEbene für regulatorische Zwecke – in erster Linie für die Einstufung und Kennzeichnung von Gefahrstoffen – anerkannt sind, sind in . Tabelle 1 einander gegenübergestellt. Die aktuelle Entwicklung neuer Testmethoden kann z. B. auf der Webseite des ECVAM verfolgt werden (http://ecvam.jrc.it). Ende 2003 hat eine Expertengruppe im Auftrag der EU-Kommission den Sachstand und die voraussichtliche Entwicklung der Alternativmethoden zur Testung möglicher Effekte chemischer Stoffe auf die menschliche Gesundheit zusammengestellt in erster Linie um zu prüfen, ob die zeitliche Vorgabe für den endgültigen Ersatz von In-vivo-Methoden zur Testung von Kosmetika-Stoffen durch Alternativverfahren bis zum Jahr 2013 eingehalten werden kann [6]. Nach Einschätzung der Expertengruppe ist diese Vorgabe für die Testung folgender toxikologischen Endpunkte nicht umsetzbar: F akute systemische Toxizität, F Hautsensibilisierung, F Gentoxizität und Mutagenität, F subakute und subchronische Toxizität, F Toxikokinetik und Metabolismus, F Karzinogenität, F Reproduktionstoxizität (Fertilität und Entwicklung).
Zusammenfassung Alternativmethoden zum Tierversuch haben bei der Prüfung der lokalen Toxizität und der Mutagenität Anerkennung auf OECD-Ebene gefunden. Auf komplexeren toxikologischen Gebieten, d. h. auf dem Gebiet der systemischen Toxizität nach einmaliger oder wiederholter Exposition, der Toxikokinetik, Sensibilisierung, Reproduktionstoxizität und Kanzerogenität ist absehbar, dass für die Entwicklung und Validierung von Alternativmethoden noch viele Jahre benötigt werden und diesbezüglich zahlreiche wissenschaftliche Hindernisse und regulatorische Hürden zu überwinden sind. Wann Vorhersagemodelle mittels computergestützter Methoden, Testbatterien (in vitro und in silico) und Teststrate-
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gien brauchbare Ergebnisse liefern werden, ist ungewiss. Die bereits verfügbaren validierten Alternativmethoden werden im REACH-Zeitrahmen voraussichtlich nur begrenzt zur Verringerung des Bedarfs an Versuchstieren beitragen. Mittelfristig sollte daher die Strategie zur Verringerung der Zahl an Tierversuchen auf deren Verfeinerung und Einschränkung gerichtet sein. Ein Ersatz für Tierversuche zur Bestimmung komplexer toxikologischer Endpunkte ist derzeit noch nicht in Sicht. Schlüsselwörter Risikoabschätzung · Chemikalien · REACH · Alternative Methode · Teststrategie
Alternative methods to animal experiments. What can they afford in the safety testing of chemical substances under REACH? Abstract Alternative methods to safety studies using laboratory animals have been accepted by the OECD in areas such as local toxicity and mutagenicity. In more complex important fields, such as systemic single and repeated dose toxicity, toxicokinetics, sensitisation, reproductive toxicity and carcinogenicity, it is expected that the development and validation of computerised methods, testing batteries (in vitro and in silico) and tiered testing systems will need many years and have to overcome many scientific and regulatory obstacles, which makes it extremely difficult to predict the outcome and the
time needed. Therefore, the validated alternative methods available will only have a limited impact on reducing the numbers of animals required under REACH. In the midterm, the strategy should be more directed towards the refinement or reduction of in vivo testing because the replacement concerning complex toxicological endpoints is at present not in sight. Keywords Risk assessment · chemicals · REACH · alternative method · testing strategy
Diese Situation hat auch Auswirkungen auf REACH, weil über die aufwendigsten Tierstudien für die Stoffe entschieden wird, die in Mengen von > 1000 Tonnen/ Jahr (Entscheidung bis 2012) bzw. > 100 Tonnen/Jahr (Entscheidung bis Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 12 · 2008
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Leitthema: EU-Recht und nationales Gesundheitswesen: Chemikaliengesetzgebung 2016) produziert werden. Aus Sicht der Beratungskommission der GT ist bei den im Folgenden dargestellten toxikologischen Endpunkten zu diskutieren, inwiefern sich für diese Endpunkte alternative Methoden eignen bzw. entwickelt werden können. Für Einzelheiten wird auf die Übersichtsarbeit von W. Lilienblum et al. und die dort zitierte Literatur verwiesen [5].
Toxikokinetik und Metabolismus Toxikokinetik und Metabolismus werden hier an erster Stelle diskutiert, denn sie haben bei den nachfolgend diskutierten Endpunkten oft einen erheblichen Einfluss auf Art und Ausmaß der toxischen Effekte. Der Metabolismus, d. h. der biochemische Um- und Abbauprozess einer chemischen Substanz, beeinflusst bzw. verursacht häufig deren toxische Effekte. Zudem gibt es in Bezug auf den Metabolismus Inter- und Intra-Speziesunterschiede [7, 8]. Aus folgenden Gründen werden Toxikokinetik und Metabolismus als „Flaschenhals“ bei der Prädiktion toxischer Effekte mithilfe alternativer Methoden angesehen [5]: F Die metabolische Kapazität von In-vitro-Systemen ist meist viel geringer als die von In-vivo-Systemen. Auch sinkt sie oft über die Zeit und abhängig von den Bedingungen in der Zellkultur noch weiter ab. Eine Kokultivierung von Indikatorzellen mit metabolisch kompetenten Zellen oder ein S9-Mix ist oft nicht möglich oder verursacht schwerwiegende Probleme in Bezug auf die Dateninterpretation. F Es ist sehr aufwendig und zeitraubend, die Hauptmetaboliten oder sogar alle als wichtig erachteten Metaboliten zu isolieren oder zu synthetisieren, um sie dann in vitro zu testen. F Genetisch modifizierte Zell-Linien, die menschliche Enzyme des Phase-Iund Phase-II-Metabolismus exprimieren, sind aus verschiedenen Gründen nicht allgemein verfügbar und je nach Enzymausstattung nur für bestimmte Fragestellungen geeignet. F Trotz aller Fortschritte ist die Entwicklung computergestützter Exper-
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tensysteme und anderer In-silicoTechniken noch nicht ausgereift genug, um sichere Vorhersagen über so komplexe biologische Abläufe wie die Metabolisierung von Substanzen treffen zu können [9]. Ähnliches gilt auch für die Toxikokinetik, obwohl die physikalisch-chemischen Eigenschaften und die Strukturmerkmale eines chemischen Stoffes wichtige Hinweise über seine Aufnahme in den Körper sowie über seine Verteilung und Elimination im Organismus liefern. Zwar kann die Möglichkeit der Resorption einer chemischen Substanz über die Haut mithilfe von In-vitro-Verfahren abgeschätzt werden (. Tabelle 1). Andere Fragestellungen, z. B. Fragen zur Resorption einer Substanz aus dem Magen-Darm-Trakt oder zu ihrer Elimination über die Niere, lassen sich – aufgrund der diesen Prozessen zugrunde liegenden biologischen Komplexität – mit Prognosemodellen oder mit In-vitro-Verfahren nicht hinreichend sicher beantworten [10]. Die systematische Untersuchung der Toxikokinetik und des Metabolismus am Menschen – eine alternative Methodik par excellence im Sinne des 3R-Konzeptes – ist bei Arzneimittelwirkstoffen gang und gäbe, bei Industriechemikalien jedoch noch eher die Ausnahme oder auf einzelne Fragestellungen beschränkt (siehe [5]). Das hierfür erforderliche methodische Instrumentarium ist vorhanden – der Umsetzung stehen vor allem Kostenerwägungen entgegen. Wie auch bei der Testung von Arzneimittelwirkstoffen am Menschen sind natürlich auch bei der entsprechenden Testung von Industriechemikalien ethische Gesichtspunkte zu beachten.
Lokale Toxizität Für die Testung chemischer Substanzen auf die Eigenschaft „ätzend an der Haut“ stehen mehrere anerkannte In-vitro-Methoden zur Verfügung (. Tabelle 1). Zwei Testmethoden zum Erkennen hautreizender Eigenschaften wurden 2007 validiert; sie müssen jedoch noch das Verfahren zur Anerkennung durch die zuständigen Behörden der EU-Mitgliedsstaaten durchlaufen. Noch nicht zufriedenstellend
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gelöst ist die In-vitro-Testung der Aspekte „Reversibilität der Reizwirkung“ und „Dosis-Wirkungs-Beziehung“. Auch zur Vorhersage und Einstufung von Stoffen als „stark augenreizend“ (R 41) gibt es In-vitro-Testverfahren (. Tabelle 1). In Bezug auf die Aspekte „weniger stark augenreizende Eigenschaften“, „Reversibilität der Reizwirkung“ sowie „Dosis-Wirkungs-Beziehung“ besteht noch Entwicklungsbedarf. Die Entwicklung eines alternativen Vorhersagesystems zu ätzenden und reizenden Eigenschaften an Haut oder Augen anhand von Strukturmerkmalen und physikalisch-chemischen Eigenschaften der chemischen Stoffe hat gute Fortschritte gemacht. Ein- und Ausschlusskriterien für eine reizende/ätzende Wirkung an Haut oder Augen wurden anhand von Datensätzen entwickelt, die bei der Anmeldung neuer Stoffe nach dem Chemikaliengesetz (ChemG) mitgeteilt werden müssen [11, 12, 13, 14]. Dies ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung des über eine Anonymisierung oder Verschlüsselung ermöglichten Zugangs zu wichtigen Stoffdaten für die Weiterentwicklung alternativer Methoden und für die Toxikologie als Ganze (siehe auch [15]).
Sensibilisierende Wirkung Nach neueren Übersichtsarbeiten dürfte die Entwicklung geeigneter In-vitro-Modelle für die Prädiktion sensibilisierender Wirkungen chemischer Substanzen (als Testbatterie oder in Kombination mit Insilico-Modellen3) noch eine Reihe von Jahren in Anspruch nehmen, da sich die komplexen Sensibilisierungsvorgänge in vitro nur schwer simulieren lassen und sie zum Teil auch noch nicht völlig verstanden sind [16, 17]. In einem vom ECVAM koordinierten 5-Jahres-Projekt (Projekt Sens-it-iv) sollen neue Ansätze entwickelt werden (http://www.sens-it-iv.eu).
Akute systemische Toxizität Durch den Ersatz des klassischen LD-50Tests durch alternative In-vivo-Tests (. Tabelle 1) konnte die Zahl der zur Ermittlung der akuten (letalen) Toxizität 3 D. h. mittels computergestützter Methoden.
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Akute systemische Toxizität 앫 oral [401, 420 (Fixed Dose Procedure), 423 (Acute Toxic Class Method), 425 (Up-andDown Procedure)], 앫 dermal (402, 434a) or 앫 Inhalation [403, 433b (Fixed Concentration Procedure), 436c (Acute Toxic Class (ATC) Method)] 앫 Skin Absorption (427)
1. Akute systemische Toxizität
2. Dermale Resorption
앫 Repeated Dose Toxicity Study in Rodents Oral (28 day) (407), Dermal (21/28-day) (410) or Inhalation (28-day or 14-day study) (412) 앫 Combined Repeated Dose Toxicity Study with the Reproduction/Developmental Toxicity Screening Test (422) 앫 Repeated Dose 90-day Toxicity Study Oral in Rodents (408) or Non-Rodents (409), Dermal (411) or Inhalation (413) 앫 Chronic Toxicity Studies (452) 앫 Two-Generation Reproduction Toxicity Study (416) 앫 Repeated Dose 28-Day Oral Toxicity Study in Rodents; Updated with Parameters for Endocrine Effects (May 2007 version) (407d) 앫 Delayed Neurotoxicity of Organophosphorus Substances Following Acute Exposure (418) 앫 Delayed Neurotoxicity of Organophosphorus Substances, 28-day Repeated Dose Study (419) 앫 Neurotoxicity Study in Rodents (424)
7. Lebertoxizität 8. Nierentoxizität 9. Hämatotoxizität 10. Kardiotoxizität
11. Endokrine Funktionen
12. Neurotoxizität
13. Immunotoxizität
앫 Skin Sensitisation (406) 앫 Local Lymph Node Assay (LLNA) (429)
쐍 Embryonated chicken egg (HET-CAM) 쐍 Isolated bovine cornea (BCOP) 쐍 Isolated chicken eye (CEET) 쐍 Isolated rabbit eye (IRE)
앫 Acute Eye Irritation/Corrosion (405)
5. Verätzung und Reizung am Auge
6. Sensibilisierung
앫 Transcutaneous Electrical Resistance Test (TER) (430) 앫 Skin Corrosion: Human Skin Model Test (431) 앫 Membrane Barrier Test Method for Skin Corrosion (435)
앫 Acute Dermal Irritation/Corrosion (404)
앫 3T3 NRU Phototoxicity Test (432)
앫 Skin Absorption (428)
In-vitro-Methoden (Nr. der OECD-Testrichtlinie in Klammern, sofern anwendbar)
4. Verätzung und Reizung an der Haut
3. Phototoxizität
In-vivo-Methoden (Nr. der OECD-Testrichtlinie in Klammern)
Toxikologischer Endpunkt
Übersicht zu vorhandenen Testmethoden für regulatorische Zwecke
Tabelle 1
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쐍 Whole embryo culture (WEC) 쐍 Micromass Test (MM) 쐍 Embryonic stem cell test (EST)
앫 Bacterial Reverse Mutation Test (471) 앫 Saccharomyces cerevisiae, Gene Mutation Assay (480) 앫 Saccharomyces cerevisiae, Mitotic Recombination Assay (481) 앫 Mammalian Chromosome Aberration Test (473) 앫 Mammalian Cell Gene Mutation Test (476) 앫 Micronucleus Test (487e) 앫 Sister Chromatid Exchange Assay in Mammalian Cells (479) 앫 DNA Damage and Repair, UDS in Mammalian Cells (482) 쐍 Cell Transformation Assays (SHE, Balb/c 3T3, C3H10T)
앫 Prenatal Developmental Toxicity Study (414)
앫 Two-Generation Reproduction – Toxicity Study (416) 앫 Developmental Neurotoxicity Study (426) 앫 Combined Repeated Dose Toxicity Study with the Reproduction/Developmental Toxicity Screening Test (422) 앫 Reproduction/Developmental Toxicity Screening Test (421) 앫 Repeated Dose 28-Day Toxicity Study (407, 410, 412) 앫 Repeated Dose 90-Day Toxicity Study (408, 409, 411, 413) 앫 One-Generation Reproduction Toxicity Study (415) 앫 Two-Generation Reproduction Toxicity Study (416) 앫 Mammalian Erythrocyte Micronucleus Test (474) 앫 Mammalian Bone Marrow Chromosomal Aberration Test (475) 앫 Sex-linked Recessive Lethal Test in Drosophila melanogaster (477) 앫 Rodent Dominant Lethal Test (478) 앫 Mammalian Spermatogonial Chromosome Aberration Test (483) 앫 Mouse Spot Test (484) 앫 Mouse Heritable Translocation Assay (485) 앫 Unscheduled DNA Synthesis (UDS) Test with Mammalian Liver Cells (486) 앫 Carcinogenicity Studies (451) 앫 Combined Chronic Toxicity/Carcinogenicity Studies (453)
14. a) Pränatale Entwicklung
14 b) Prä- and postnatale Entwicklung
15. Fertilität
16. Gentoxizität, Mutagenität
16. Karzinogenität
Guideline 436: Acute Inhalation Toxicity – Acute Toxic Class (ATC) Method, December 2004 Version; d Draft Updated Test Guideline 407: Repeated Dose 28-Day Oral Toxicity Study in Rodents; Updated with Parameters for Endocrine Effects, May 2007 version; e Draft Proposal for a New Guideline 487: In Vitro Micronucleus Test, December 2006 Version; 앫 OECD Guidelines for the Testing of Chemicals (http://oberon.sourceoecd.org/ vl=5003995/cl=13/nw=1/rpsv/cw/vhosts/oecdjournals/1607310x/v1n4/contp1-1.htm); 쐍 Von den Bewertungsbehörden einiger EU-Mitgliedsstaaten akzeptierte Tests
a Draft Test Guideline 434 Acute Dermal toxicity-Fixed Dose Procedure, May 2004 Version; b Draft Test Guideline 433: Acute Inhalation Toxicity – Fixed Concentration Procedure, June 2004 Version; c Draft New Test
In-vitro-Methoden (Nr. der OECD-Testrichtlinie in Klammern, sofern anwendbar)
In-vivo-Methoden (Nr. der OECD-Testrichtlinie in Klammern)
Toxikologischer Endpunkt
Übersicht zu vorhandenen Testmethoden für regulatorische Zwecke
Tabelle 1
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benötigten Tiere deutlich gesenkt werden. Weiterhin versucht man z. B. mithilfe geeigneter In-vitro-Zytotoxizitätstests Voraussagen zur akuten Toxizität zu machen. Eine umfangreiche Validierungsstudie kam allerdings zum Ergebnis, dass die hier gewählten Bedingungen für eine hinreichend sichere Voraussage der akuten In-vivo-Toxizität nicht geeignet sind [18]. Zwar kann auf diesem Weg für Stoffe mit einer unspezifischen Toxizität die Startdosis für die In-vivo-Testverfahren besser abgeschätzt werden, jedoch würde man bei Stoffen mit besonderen Wirkungsmechanismen den in vivo zu testenden Dosisbereich tendenziell zu hoch ansetzen. Insofern ist das Ergebnis im Vergleich zum Aufwand eher mager. Seit 2005 läuft das 5-Jahres-Projekt „ACuteTox“, das dazu beitragen soll, Art, Dauer und Reversibilität akut toxischer Effekte mithilfe integrierter Teststrategien besser vorherzusagen (http://www.acutetox.org). Ob oder wann dieses Ziel erreicht werden kann, muss offen bleiben, denn die Vielfalt und die Komplexität akut toxischer Effekte können nur sehr schwer in vitro oder in silico prognostiziert werden.
Toxizität nach wiederholter Verabreichung Der In-vivo-OECD-Kurzzeit-Test über 28 Tage zur Ermittlung der Toxizität nach wiederholter Verabreichung einer chemischen Substanz spielt im Rahmen von REACH eine Schlüsselrolle, denn er gehört zum Pflichtprogramm für geschätzt 15.000 Stoffe mit einer Jahrestonnage von ≥ 10 Tonnen. Ziel dieses Tests ist die Ermittlung der Zielorgane der Substanz sowie des NOAEL4 – beides Voraussetzungen für die Ableitung eines sicheren Dosisbereichs beim Menschen5 – und die Klärung der potenziellen Anreicherung eines Stoffes und der Reversibilität toxischer Effekte. Bei ernsthaften Hinweisen auf toxische Effekte kann zusätzlich ein 90-Tage-Test erforderlich sein. Angesichts 4 No Observed Adverse Effect Level (NOAEL);
höchste Dosis ohne feststellbare nachteilige Wirkung. 5 Derived No Effect Level (DNEL); Expositionskonzentration eines Stoffes, bei der keine gesundheitsschädliche Wirkung für den Menschen besteht.
der Bedeutung dieser Tests sind die Bemühungen um Alternativen zur Einsparung von Labortieren verständlich. Leider ist die Situation hier aus folgenden Gründen noch schwieriger als bei der Ermittlung der akuten Toxizität [5]: F Die Bandbreite der weit über 70 funktionellen In-vivo-Testparameter lässt sich mit In-vitro- oder In-silico-Methoden nur sehr schwer bewältigen. F Fast alle Zellkulturen, auch Kokulturen, geben nur einen begrenzten Ausschnitt der In-vivo-Funktionen einer Zelle wieder. Dieser Funktionsumfang sinkt zudem beträchtlich mit der Dauer der Zellkultur, d. h. nach einigen Stunden, Tagen oder wenigen Wochen. Wie soll also unter diesen Umständen die Homöostase-Kapazität eines belasteten Organismus oder die Potenzierung von Effekten durch Zell-Zell-Interaktionen, z. B. bei Entzündungen, über die Dauer von Wochen ermittelt werden? F Die sichere Ableitung von NOAELs aus In-vitro-Daten ist nach wie vor ein weitgehend ungelöstes Problem. Trotz großer Fortschritte bei den In-vitro-Zellkultursystemen sind diese und viele andere Probleme noch ungelöst und Gegenstand der Grundlagenforschung. Einige In-vitro- oder In-silico-Ansätze zur Senkung der Zahl der Tierversuche sind in [19] beschrieben. Dazu gehören das In-vitro-Herausfiltern von Substanzen mit sehr hoher Toxizität, die Entwicklung von frühen und sensitiven BioIndikatoren in vitro (beispielsweise mittels Toxikogenomik, Übersicht in [15]) sowie die Extrapolation von In-vitroDaten auf die In-vivo-Situation (beispielsweise mittels biokinetischer Modellierungen) [20, 21]. Allerdings dürften bis zur Validierung dieser Verfahren noch viele Jahre vergehen.
Neurotoxizität Neurotoxische Effekte werden mithilfe besonderer In-vivo-Tests anhand von Endpunkten untersucht, die die spezifische Funktionalität des zentralen und peripheren Nervensystems berücksichtigen (. Tabelle 1). Neben Bemühungen um die Etablierung von toxikokinetischen
Modellen zur Simulation der Substanzaufnahme und -verteilung im ZNS (BlutHirn-Schranke, Transporter-Affinität) stehen Bemühungen zur Entwicklung von In-vitro-Methoden für die Testung spezifischer neurotoxischer Endpunkte. Die Ergebnisse neuerer ECVAM-Workshops sind dahingehend zu interpretieren, dass die meisten Probleme – trotz einiger Fortschritte – noch ungelöst sind und für die Wissenschaft noch über Jahre eine Herausforderung sein werden [22, 23].
Gentoxizität und Mutagenität Auf diesem Gebiet existiert eine Vielzahl prädiktiver In-vitro-Tests, von denen einige auch auf OECD-Ebene anerkannt sind. Jedoch erbringen sie als stark vereinfachte Modelle der In-vivo-Abläufe häufig falsch-positive und falsch-negative Ergebnisse. So kann die Testung mit hohen Dosierungen bis in den Bereich der Zytotoxizität zu falsch-positiven Resultaten beitragen. Weitere Limitationen der In-vitro-Testverfahren, ihre Ursachen sowie Lösungsansätze werden in [24] diskutiert. Keimzell-Mutagenität. Keimzell-Mutagenität ist unter REACH ein eigener Endpunkt für die Einstufung und Kennzeichnung chemischer Substanzen. Sind diesbezügliche In-vitro-Tests negativ, findet im Regelfall keine weitere Mutagenitätstestung statt. Im Falle positiver In-vitroTests sind weitere Mutagenitätsuntersuchungen – ab einer Produktionsmenge von 10 Tonnen/Jahr auch In-vivo-Tests – in Betracht zu ziehen. Derzeit gibt es keine anerkannte Methode, um ohne weitere Invivo-Versuche zu einer Einstufung als Verdacht-Mutagen oder Keimzell-Mutagen zu gelangen [5].
Kanzerogenität Die chemische Kanzerogenese ist ein komplexer und multifaktorieller LangzeitProzess, der – trotz mannigfaltiger Fortschritte in den letzten Jahrzehnten – in seinen vielen Facetten mechanistisch nur teilweise verstanden ist. Als Stichworte seien hier nur genannt: der mehrstufige Charakter der Krebsentstehung, gentoxische und nicht-gentoxische Mechanis-
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Leitthema: EU-Recht und nationales Gesundheitswesen: Chemikaliengesetzgebung men, vielfältige Veränderungen der Zellregulation, Organ- und Spezies-Spezifität vieler Kanzerogene, Mechanismen der Gegenregulation auch unter Einschluss des Immunsystems etc. Es verwundert daher nicht, dass es keine alternativen Methoden zur hinreichend sicheren Prädiktion kanzerogener Eigenschaften einer chemischen Substanz gibt. Dennoch gibt es einige interessante Entwicklungen. Während Mutagene der Kategorie 1 und 2 im Regelfall ohne weitere Testungen auch als krebserzeugend eingestuft werden (Default-Annahme), müssen bei Verdacht-Mutagenen (Kategorie 3) tonnageabhängig weitere In-vivo-Prüfungen in Betracht gezogen werden (Annex VII–IX, 8.4). Bei nicht-gentoxischen Stoffen mit potenziell kanzerogenen Eigenschaften müssen erst ab einer Produktionsmenge von 1000 Tonnen/Jahr unter bestimmten Umständen weitere Untersuchungen (z. B. ein Langzeitversuch) erwogen werden (Annex X, 8.9.1). Zum Erkennen nichtgentoxischer Kanzerogene fehlen geeignete Screening-Tests. Für diesen Zweck wurden mehrere Zelltransformationstests entwickelt, deren Prädiktivität bei einer Serie ausgewählter Substanzen jedoch noch nicht ausreichend war [25, 26]. Gelingt ihre Weiterentwicklung, würde eine wichtige Testlücke verkleinert werden. Hoffnungen setzt man auch in die Entwicklung von In-vivo-Testmethoden zum Erkennen typischer Veränderungen im Genexpressionsmuster nach dem Einwirken krebserzeugender Substanzen (Toxikogenomik). Man könnte hier mit wenigen Tieren pro Dosisgruppe auskommen. Würde es sich zudem um Veränderungen handeln, die sich früh manifestieren, ließen sich die In-vivo-Versuche entsprechend verkürzen [27, 28]. Erste In-vivoErgebnisse zur Mustererkennung bei gentoxischen sowie nicht-gentoxischen Stoffen liegen vor [29, 30]; weitere Zitate in [5]. Auch In-vitro-Tests werden angestrebt. Ob oder wann diese Technologien in validierte Testsysteme münden werden, ist noch ungewiss.
Reproduktionstoxizität Zur Testung auf reproduktionstoxische Eigenschaften sind unter REACH nach Jahrestonnage gestuft verschiedene In-vi-
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vo-Tests vorgesehen, vom Screening-Test bis hin zur 2-Generationenstudie. Nach vorliegenden Schätzungen entfallen auf diese Tests bis zu 80 % der für die geforderten REACH-Testungen benötigten Versuchstierzahlen [31, 32, 33]. Dementsprechend fokussieren die Bemühungen um alternative Methoden insbesondere auf diesen Bereich. Die Komplexität des Reproduktionszyklus bei Säugern dürfte der Hauptgrund für die geringen Fortschritte auf dem Gebiet alternativer Tests zur Ermittlung der Reproduktionstoxizität sein. Der diesbezügliche Sachstand wird in einem neueren OECD-Bericht diskutiert [34]. Es liegen 3 validierte Invitro-Screeningtests auf Entwicklungstoxizität vor (. Tabelle 1). Sie sind aber nur auf Teilbereiche der embryonalen Entwicklung gerichtet und decken diese somit nur unvollständig ab. Seit 2004 läuft das 5-Jahres-Projekt „ReProTect“, das dazu beitragen soll, reproduktionstoxische Effekte mithilfe integrierter Teststrategien und innovativer Methoden besser vorherzusagen (http:// www.reprotect.eu). Es bleiben aber Zweifel, ob die angestrebten Kombinationen aus In-vitro-Tests, In-silico-Methoden usw. es ermöglichen werden, alle oder auch nur die wichtigsten Aspekte der Fertilitäts- und Entwicklungstoxizität valide abzudecken. Neuere Untersuchungen konnten zeigen, dass bei der In-vivo-Testung auf Reproduktionstoxizität Einsparungen bei den Versuchstierzahlen und andere Verbesserungen möglich sind. Dies gilt insbesondere für die 2-Generationenstudie, die ca. 2600 Tiere umfasst. So ergab die Auswertung zurückliegender Tierstudien, dass bestimmte Hoden- und Spermienparameter empfindliche Endpunkte der männlichen Fertilität sind und sich für die Prädiktion einer Reproduktionstoxizität besser eignen als konventionelle Fertilitätsparameter [35, 36]. Auch beim Update des 28-Tage-Tests durch die OECD wurde die Erweiterung um endokrine Parameter zur Steigerung der Prädiktivität hormoneller Effekte mit Erfolg getestet [37]. In einer weiteren retrospektiven Auswertung von Studien zeigte sich, dass der zusätzliche Erkenntnisgewinn durch eine 2-Generationenstudie eher gering ist [38]. Sinn und Teststrate-
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gie der 2-Generationenstudie müssen daher überdacht werden. Einem neueren Vorschlag zufolge, kann die Zahl der Versuchstiere durch eine umfassende Änderung der gesamten Teststrategie für Agrochemikalien einschließlich der Fertilitätstestung bei vermutlich ähnlichem Erkenntnisgewinn halbiert werden [39]. Bei den In-vivo-Tests könnten also über das Erreichte hinaus weitere große Einsparpotenziale liegen.
Anmerkungen zu Testbatterien, gestuften Testschemata und integrierten Teststrategien Wenn bei den zuvor angesprochenen toxikologischen Endpunkten versucht wird, der biologischen Komplexität mit Testbatterien, Testschemata und integrierten Teststrategien zu begegnen, so muss man sich darüber im Klaren sein, dass deren Validierung auf größere Schwierigkeiten stoßen wird als die der einzelnen Tests. Eine allgemein anerkannte Handlungsanleitung dafür gibt es nicht, lediglich Hinweise [40]. Bislang wurden keine Testbatterie und kein Testschema validiert. Ein möglicher Ausweg könnte ein „weight of evidence approach“ sein, für den erste Kriterien und eine formalisierte Vorgehensweise entwickelt wurden [41]. Das Draft Technical Guidance Document der EU-Kommission beschreibt viele Möglichkeiten zur Vermeidung unnötiger Tests, insbesondere an Wirbeltieren. Beispiele sind der Nachweis vernachlässigbar geringer Exposition des Menschen durch einen chemischen Stoff, das Zusammentragen von vorhandenen validen Stoffdaten, die QSAR-Methode (quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehung) sowie die Ableitung von Stoffanalogien zur Überbrückung von Datenlücken, die auch als Grouping, Read-across oder chemische Kategorienbildung bezeichnet werden [1, 42, 43]. Auch hier besteht das Problem, dass diese Stoffanalogien validiert oder jedenfalls gut begründet sein müssen, will man nicht Gefahr laufen, dass sich eine Büchse der Pandora für Stoffdaten öffnet, die einer experimentellen Prüfung nicht standhalten würden, aber eine Gefahr für Umwelt und Gesundheit bedeuten könnten. Ferner erfordert der Umgang mit diesen Instrumenten viel
toxikologisches Wissen, Expertise und Erfahrung. Kombinationen dieser Instrumente lassen sich nicht validieren, denn dazu gibt es im Einzelfall zu viele Unwägbarkeiten.
Diskussion und Fazit Vorrang des Gesundheitsschutzes gegenüber Tierschutz und Kosten Erstmals werden im Rahmen von REACH in der EU für rund 30.000 chemische Stoffe systematisch toxikologische Daten erhoben und bewertet. Je höher das Tonnageband eines Stoffes, desto umfangreicher sind die Tests. Selbst wenn alle Möglichkeiten der Alternativmethoden und des Verzichts auf Tierstudien (Waiving) ausgeschöpft werden, wird groben Schätzungen zufolge die Zahl der für diese Sicherheitsprüfungen erforderlichen Versuchstiere immer noch bei mehreren Millionen liegen [31, 32, 33]. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass bei diesen ca. 30.000 Stoffen aufgrund der bislang unzureichenden Chemikaliengesetzgebung in der EU die toxikologische Datenlage mehr als 2 Jahrzehnte lang flächendeckend unbefriedigend blieb, weil nur zu vergleichsweise wenigen, als prioritär angesehenen Stoffen neue Untersuchungen durchgeführt wurden und somit ein erheblicher Nachholbedarf an toxikologischen Untersuchungen besteht. In der politischen und wissenschaftlichen Diskussion um den Ersatz von Tierversuchen müssen die Kosten der geforderten Tests und Aspekte des Tierschutzes sowie des Gesundheits- bzw. Umweltschutzes gegeneinander abgewogen werden. Ein großes Problem sind die weit verbreiteten hohen, aber oft kritiklosen Erwartungen einer breiten Öffentlichkeit hinsichtlich der schnellen Entwicklung und der Einsatzmöglichkeiten alternativer Methoden zu Tierversuchen sowie die oft einseitige Ethikdebatte im politischen Diskurs. Bei den Wissenschaftlern herrschen mit Blick auf die Möglichkeiten alternativer Methoden hingegen eher Zurückhaltung und Skepsis bzw. allenfalls vorsichtiger Optimismus vor. Die Industrie, die darauf bedacht ist, Kosten durch Vermeidung von Tests zu reduzieren, unterstützt oft ungewollt die
Position der Tierschutzverbände. Diese Entwicklung wird von vielen Wissenschaftlern als besorgniserregend empfunden, denn dadurch gerät das Primat des Gesundheits- und Umweltschutzes, also sein Vorrang vor den Kosten der Testverfahren und vor dem Schutz der Tiere, in Gefahr. Stattdessen muss die Entwicklung dahin gerichtet sein, neue Testmethoden sorgfältig hinsichtlich ihrer Anwendungsmöglichkeiten zu prüfen und adäquat einzusetzen.
Zeitliche Aspekte Wie bereits erwähnt, kam schon Ende 2003 eine Expertenkommission im Auftrag der EU-Kommission zu dem Ergebnis, dass die zeitliche Vorgabe, In-vivoMethoden zur Testung von KosmetikaStoffen bis 2013 durch Alternativmethoden zu ersetzen, – außer in wenigen Ausnahmefällen – nicht eingehalten werden kann [6]. Dies wird auch für entsprechende Methoden zur Testung chemischer Stoffe gelten, d. h., sie werden in den nächsten Jahren nur begrenzt von Bedeutung sein. Die Ursachen liegen nicht nur darin, dass die Entwicklung solcher Verfahren viel Zeit in Anspruch nimmt. Auch ihre Validierung sowie behördliche und internationale Anerkennung erfordern erfahrungsgemäß einen Zeitraum von mehreren Jahren [4, 5, 6]. Die Beratungskommission der GT steht mit ihrer vorsichtigen Haltung gegenüber dem Fortschritt bei und den Entwicklungsmöglichkeiten von Alternativmethoden nicht allein. Ähnlich zurückhaltend haben sich auch wissenschaftliche Gremien auf europäischer Ebene und in den USA geäußert [44, 45, 46]. Das zuständige Komitee der National Academy of Science der USA betrachtet den Paradigmenwechsel hin zum vollständigen Ersatz von In-vivo-Methoden sogar als Vision, deren Realisierung einer jahrzehntelangen systematischen Anstrengung bedarf [46].
Fazit 1. Bei der Registrierung chemischer Substanzen im Rahmen von REACH werden große Mengen an toxikologischen Daten erzeugt werden, die eine wesentlich breitere und bessere
Basis für die Entwicklung von Alternativmethoden zu Tierversuchen bilden werden. Voraussetzungen hierfür sind allerdings (a) die Sicherung der Datenqualität durch geeignete Maßnahmen, z. B. Kontrollmaßnahmen, und (b) die Schaffung geeigneter Datenbanken mit Zugangsmöglichkeiten für die Institutionen, die mit der Entwicklung von Alternativmethoden befasst sind. 2. In-vivo-Tests für komplexe toxikologische Endpunkte wie einmalige und wiederholte systemische Toxizität, Sensibilisierung, Kanzerogenität und Reproduktionstoxizität können derzeit und in voraussehbarer Zukunft nicht durch alternative Testmethoden und Testkombinationen ersetzt werden; es besteht jedoch die Möglichkeit, vorhandene In-vivo-Verfahren (a) zu verfeinern und (b) hinsichtlich der für eine Testung benötigten Tierzahlen zu optimieren. 3. Betrachtet man den Zeitrahmen, der für die Sicherheitstestung, Registrierung und Evaluierung der Stoffe mit einer Herstellungsmenge von > 1000 und > 100 Tonnen/Jahr vorgegeben ist, so muss man feststellen, dass hier Alternativmethoden nur begrenzt zum Einsatz kommen dürften, da innerhalb dieser kurzen Zeitspanne kaum entsprechend validierte Verfahren zur Verfügung stehen dürften. Der vorschnelle Einsatz unausgereifter Alternativmethoden (Anhang XI, Abschnitt 1.4 von REACH) wäre fehl am Platze und würde Vertrauen kosten. 4. Die Erhebung und Bewertung der Daten für REACH, die weitere Entwicklung von Alternativmethoden und die Einrichtung von Datenbanken für diese Zwecke und auch die Validierung neuer und integrierter Teststrategien erfordern eine breite toxikologische Expertise, die derzeit noch nicht vorhanden ist. Dies alles ruft nach Bewahrung und Erweiterungen der Aus- und Fortbildungskapazitäten in der Industrie, den Universitäten und Behörden.
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Leitthema: EU-Recht und nationales Gesundheitswesen: Chemikaliengesetzgebung
Korrespondierender Autor Werner Lilienblum Dr. Lilienblum Consulting Toxikologie LiCoTox 30966 Hemmingen/Han., BRD E-Mail:
[email protected]
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Elisabeth Stechl, Elisabeth SteinhagenThiessen, Catarina Knüvener
Demenz mit dem Vergessen leben – ein Ratgeber für Betroffene Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008, (ISBN 978-3-938304-98-3), kartoniert, 15,90 EUR
Auch heute noch, im sogenannten multimedialen Zeitalter, ist die Demenzerkrankung mit Stigmatisierung verbunden. Häufig wird die Erkrankung assoziiert mit Menschen, die würdelos sind, ihre Persönlichkeit verloren haben und in Pflegestationen abgeschoben werden. Umso verständlicher ist die Angst, die Menschen erleben, die mit dieser Diagnose konfrontiert werden. Die vorliegende Publikation richtet sich an Betroffene. Obwohl zahlreiche Ratgeber zum Thema vorliegen besticht das vorliegende Büchlein besonders durch die Tatsache, dass es sich an Menschen im Frühstadium der Erkrankung wendet. Präzis, wissenschaftlich fundiert, aber auch einfühlsam und verständnisvoll, wird der Alltag mit Demenz aus Sicht des Betroffenen und auch aus Sicht der Angehörigen beschrieben. Der Schreibstil ist prägnant, verständlich und klar. Man spürt zudem die große Nähe zu Demenzkranken und die Erfahrung im Umgang mit Patienten und deren Sorgen, die die Autorinnen befähigen, sich in die komplexe Welt der Demenz-Patienten und deren Angehörigen einzufühlen. Der Betroffene und seine Angehörigen lernen, dass Demenzerkrankungen oft nur mit geringer Veränderung der geistigen Leistungsfähigkeit beginnen. Auf die sonst übliche medizinische Unterteilung unterschiedlicher Demenztypen wird mit Rücksicht auf das allgemeine Verständnis der Erkrankung dankenswerterweise verzichtet. Der Ratgeber wirkt nicht belehrend und lässt für eigene Erfahrungen der Betroffenen freien Raum. Diese stellt er jedoch in einen lebenspraktischen Kontext und löst sie von Stereotypen. So entsteht ein „aufgeklärtes Bild“ der Demenz. Besonders erwähnenswert dabei ist, dass der vorliegende Ratgeber nicht, wie leider oft üblich, defizit-orientiert ausgerichtet ist, sondern im Besonderen die Ressourcen herausstreicht, die für den Betroffenen und dessen Angehörige Lebensqualität und Lebensfreude beinhaltet, ohne jedoch dadurch zu
einer Verharmlosung der Demenzerkrankung beizutragen. Besonders hilfreich und den Ratgeber bereichernd sind die Interview-Ausschnitte, in denen sich Menschen mit Demenz und deren Angehörige Probleme im täglichen Miteinander wiedererkennen können und in dem ihnen Wege aufgezeigt werden, diese zu bewältigen. Die Autorinnen geben wertvolle und praxisrelevante Hinweise für den Umgang mit Demenz und weisen so Wege, das Leben mit dieser Erkrankung leichter meistern zu können. Der Ratgeber macht Demenzkranken und ihren Angehörigen Mut und befördert sie darin, die Erkrankung zu verstehen und die nun notwendigen Maßnahmen zur genauen Diagnose und Therapie zu ergreifen. Er ermuntert auf eine erfrischende Art, sich mit dem krankheitsbedingt veränderten Leben auseinanderzusetzen. Der Leser erhält die Gelegenheit, sich sowohl auf einer wissenschaftlich theoretischen Ebene mit dem Thema Demenz auseinanderzusetzen, ihm wird aber auch Möglichkeit gegeben, sich mit seinen Gefühlen und Ängsten wiederzuerkennen. Er wird befähigt, seine Kräfte nicht für fragwürdige Bemühungen, Gedächtnisleistungen wieder zu aktivieren, zu verschwenden - vielmehr wird ihm aufgezeigt, dass dies sogar zur Frustration und zu zusätzlichem Leiden führt. Er lernt im Gegenteil, seine eigenen Ressourcen besser zu erkennen und diese zu entwickeln, um Lebensqualität und Freude zu erleben. Der vorliegende Ratgeber sticht aus zu diesem Thema vorliegenden Publikationen erfreulich hervor. Er ist Menschen im Frühstadium einer Demenz und dessen Angehörigen sehr zu empfehlen. Er hilft, die Erkrankung zu verstehen, nimmt Gefühle und Ängste wahr und zeigt konkrete Hilfestellungen auf. Zahlreiche Adressen zu Beratungsstellen und Kontakte zu Gedächtnisambulanzen runden eine hervorragende Publikation ab, die Betroffenen, deren Familien, jedoch auch professionellen Helfern eine wertvolle Grundlage sein kann. Dr. med. Torsten Kratz (Berlin)
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