Yvonne Spielmann ›Avantgarde‹ im Zeitalter der Digitalisierung Was heißt Avantgarde in der digitalen Kunst?
Die Beobachtung, dass die neuen digitalen Technologien in den Künsten grundlegende Veränderungen hervorrufen, nehme ich zum Ausgangspunkt der Fragestellung, wie die ästhetischen Strategien digitaler Kunstformen bestimmt werden können. Das Kriterium der Veränderung in den digitalen gegenüber den analogen Medien und ihren Kunstformen ist oft genug in Begriffen der Umwälzung, des Bruchs oder sogar einer Revolutionierung beschrieben worden. Allerdings bleibt die Bezugnahme auf zugrundeliegende Konzepte zumeist derart allgemein und undeutlich, dass Kategorien für eine Unterscheidung von ›vorher‹ und ›nachher‹, von ›alt‹ und ›neu‹ gar nicht ausreichend scharf konturiert sind. In der Gegenüberstellung von datenbasierten Medienformen, die in interaktiver oder Netzkunst vorliegen und auf Programmierbarkeit bzw. multiplen Wahlmöglichkeiten beruhen, und den Kunstformen der technischen Medien, die wie Fotografie, Film und Video als ›time based media‹ gelten, sind dimensionale Verschiebungen im Umgang mit zeit-räumlichen Parametern auffällig. Wenn interaktive Medienformen zeitliche Dimensionen ›einsparen‹, Distributionswege verkürzen und ein neues Paradigma von Gleichzeitigkeit anzeigen, so zeichnet sich dies in der non-sequentiellen Struktur von Computer- und komplexeren Hypermedien ab. Denn auf der Grundlage von Programmierbarkeit und unmittelbarer Verfügbarkeit von Daten bringen die Digitalmedien neue Formen von Gleichzeitigkeit und Nebeneinander hervor. Dass es sich hierbei jedoch nicht nur um eine paradigmatische Verschiebung von zeitbasierten zu Neuen Medien handelt, wodurch linear-sukzessive Vorgänge zusammengezogen und räumlich verdichtet werden, sondern vielmehr eine Veränderung in den zeit-räumlichen Dimensionen stattfindet, die sich auf Richtung, Ausdehnung und Dynamik auswirkt, belegt insbesondere die neuartige Qualität immersiver Erfahrung in und mit Virtual Environments. Immersive Medienkunst bringt den Verlust von räumlicher Dimension gerade dadurch hervor, dass die Kategorie Raum im Datennetz exponiert ist, aber eine Größe punktueller Verdichtung darstellt. Dies bedeutet eine Einbuße der tatsächlichen Ausdehnung und Richtung im prinzipiell unendlichen, weil multidimensionalen und mehrdirektionalen Datenraum, der durch Programmierung in Echtzeit die Erfahrbarkeit von Raum simulieren kann, jedoch keinen Raum darstellt. In der Mediendebatte besteht weitgehend Übereinstimmung, diese Verschiebungen in den computerbasierten und programmierbaren Medienformen Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 123 (2001)
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als Kennzeichen von Simulation zu werten. In die gleiche Richtung weist Gilles Deleuze (1991) mit der Feststellung, dass das elektronische Bild im Grunde genommen nicht die Parameter von Raum und Zeit darstellt, sondern vielmehr aus ständig neuen Verknüpfungen hervorgeht und ›ungerichtete‹, omnidirektionale Formen hervorbringt. Das mehrdimensionale (hypertextuelle) und omnidirektionale Bild stellt demzufolge keine Entfaltung dar, die sich als Zu- oder Abnahme von zeitlicher und räumlicher Dimension bestimmen ließe. Im Gegenteil verhält es sich so, dass das digitale Bild einen Effekt der Implosion zeit-räumlicher Parameter bezeichnet. Gleichwohl kann eine ästhetische Strategie in der digitalen Kunst darin bestehen, die Dimensionen von Zeit und Raum zu dynamisieren, also wahlweise zu beschleunigen und zu verlangsamen. Festzuhalten bleibt, dass solche Verfahren, wie sie beim digitalen Morphing und Sampling vorzufinden sind, nicht auf mediale Eigenschaften des Computers hinweisen oder daraus hervorgehen, sondern, wie gesagt, eine Qualität der Simulation ausmachen. Die Simulation allerdings ist medienspezifisch zu nennen, denn durch sie kann im Digitalmedium in unbeschränkter Weise über die Strukturmerkmale vorausgegangener Medienformen verfügt werden. Somit unterscheiden sich die Bildformen digitaler Medien grundlegend von den Möglichkeiten technischer Medienbilder auf der Basis von Fotografie und Film, denn dort geht es um die Entfaltung von Gleichzeitigkeit in einer zeitlichen Dimension, wobei insbesondere die Montage, deutlicher noch die Parallelmontage, den Zeitfaktor dynamisch gestaltet. Technische Neuerungen, die am Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert zur Zunahme von Beschleunigung beitragen und die Darstellungsmöglichkeiten von Geschwindigkeit und Dynamik erweitern, beruhen im wesentlichen auf der Entwicklung des Films. Bekanntermaßen haben die an Experimenten und neuen Medien interessierten Künstler der Avantgarde mit Film oder filmähnlichen Kunstformen gearbeitet, mit dem Ziel, Dynamik und Geschwindigkeit in dafür geeigneten Darstellungsformen auszudrücken und die zeiträumliche Beschränkung von Malerei und Theater durch die Verwendung von Film zu erweitern. Infolgedessen gilt Film als das Zentralmedium der Avantgarde und steht für ein dynamisches Veränderungskonzept, bei dem das Neue, die im Ästhetischen aufscheinende Bewegung der Formen, auch als Antizipation gesellschaftlicher Erneuerung zu verstehen ist. Der Einsatz filmischer Projektionen und Montagen, sei es im Theater (beispielsweise bei Erwin Piscator) oder für die Aufführungen synthetischer Gesamtkunstwerke im russischen Kubofuturisms und am Bauhaus, steht im Dienste einer Zeitauffassung, die besagt, dass durch die Beschleunigung in den Darstellungsmitteln und die Dynamisierung dargestellter Vorgänge ein umfassender Erneuerungsgedanke transportiert wird. Zum besseren Verständnis der Besonderheit von umwälzenden oder revolutionierenden Implikationen in der digitalen Kunst schlage ich daher vor, das Konzept der Avantgarde heranzuziehen. Mir geht es zunächst um die
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Erhellung der mit dem Konzept Avantgarde verbundenen Merkmale des Revolutionären und Innovativen, um daran die Überlegung anzuschließen, ob und wie Entwicklungen in den neueren Medienkünsten deshalb Avantgarde genannt werden könnten, weil sie sich der innovativen Technik von Computertechnologien bedienen. Diese gelten im allgemeinen Verständnis der Mediendiskurse als Ausdruck des Neuen/Innovativen im Sinne von Umbruch und Paradigmenwechsel.
I. Vor der Übernahme solcher Klassifizierung sollten wir jedoch die Mediengeschichte genauer in den Blick nehmen und auf notwendige Veränderungen im Konzept der Avantgarde eingehen, um im historischen Abstand nicht nur die weitergeführten Merkmale der Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern vielmehr auch Aspekte ihrer Diskontinuität berücksichtigen zu können. Denn gerade der Vergleich von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Elementen in der Avantgarde erlaubt eine dynamische Auffassung des Konzepts Avantgarde (vgl. Hermand 1980 und Spielmann 1991), die Veränderungen im Avantgardeverständnis zulässt und damit eine Debatte avantgardistischer Qualitäten im Digitalen überhaupt erst ermöglicht. Denn es kann in der digitalen Kunst nicht ausschlaggebend um die Weiterführung und Übernahme vormals avantgardistischer Formen und Verfahren gehen, vielmehr stellt sich schon aufgrund der technischen Voraussetzungen der Digitalmedien eine Differenz ein. Exemplarisch wird dies deutlich, wenn wir den Film als das projektierte Zentralmedium der frühen Avantgarde – zumindest was die futuristischkonstruktivistische Forderung an die Zukunft der Kunst anbelangt – ins Verhältnis setzen zum digitalen Film, dessen Innovationsschub nicht länger in der intermedialen Verbindung aller Künste und der Realisierung von Dynamik und Geschwindigkeit besteht. Ganz im Unterschied zu dieser am Medium Film deutlich werdenden und mit dem Paradigma der Zeitlichkeit operierenden Vorstellung des Neuen, das sowohl ästhetisch wie politisch im Avantgardekonzept antizipiert ist, beruhen die Neuerungen im Digitalmedium auf einer Vereinheitlichung aller zusammengebrachten Medien, die als Daten auf einer gemeinsamen technischen Basis beliebig austauschbar und verknüpfbar sind. Dabei besteht die charakteristische Struktur der Digitalmedien in der hypertextuellen Anordnung, die den unmittelbaren Zugriff und die non-sequentielle Gliederung meint. Folglich verschiebt sich das auf dem Zeitfaktor und der Linearität beruhende Innovationspotential, wie es mit dem Film assoziiert ist, im Computermedium zur Gleichzeitigkeit multidimensionaler und omnidirektionaler Vorgänge. Das Computermedium und die komplexeren Hypermedien erweitern räumliche Dimensionen bis hin zur Virtual Reality, wobei, wie bereits angeführt, dimensionale Erweiterungen im Digitalen
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auf der Ebene der Simulation stattfinden. Gleichwohl weisen die Simulationsräume eine parametrische Verschiebung auf, so dass die auf Bewegung und die Zunahme von Geschwindigkeit drängende Avantgardemetapher, wie sie zu Beginn dieses Jahrhunderts das Voranschreitende signifiziert, weniger geeignet scheint, wenn es um die Erfassung der Neuerung in Digitalmedien geht. Denn hier kennzeichnet vor allem eine Zunahme von Komplexität und Überlagerung das Kriterium des Neuen. Demzufolge wird die Metapher der synkretistischen Verschmelzung und der exponentiellen Beschleunigung abgelöst durch neue Formen von Gleichzeitigkeit und Nebeneinander, genauer Simultaneität und räumliche Dichte. Der Anspruch der Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beschränkte sich zudem nicht nur darauf, experimentell und innovativ in der Kunst zu sein, denn beides richtete sich gegen die etablierten gesellschaftlichen Institutionen, die durch diese radikalen Impulse grundlegend erschüttert, das heißt revolutioniert werden sollten. Hingegen lässt sich für die Künste der Gegenwart, die mit dem Eintritt ins einundzwanzigste Jahrhundert konfrontiert sind, ein vergleichbar experimenteller Anspruch gerade nicht als die wesentliche Kraft erkennen. Im Gegenteil deutet die heutige Positionierung der Medien darauf hin, dass avancierte technologische Verfahren innerhalb kommerzieller Märkte entwickelt werden. Es scheint sogar, als ob ein permanent experimentell sich gebendes Mediendesign gerade den kommerziellen Erfolg von Innovation aufrechterhält. Dass die frühe Avantgarde mit den institutionellen und finanziellen Mächten ihrer Zeit zusammengearbeitet hat, um Wirksamkeit zu erzielen, bedarf eigentlich keiner besonderen Hervorhebung, außer, dass sich heutzutage die Dimensionen vollständig verändert haben. Es ist erheblich schwieriger geworden, eine Grenze zu ziehen zwischen der Kennzeichnung kommerzieller im Unterschied zu künstlerischer Praxis. Genaugenommen stellt sich nicht mehr die Frage einer Bewertung von Avantgarde, die sich kommerzialisiert, wie dies auf Teilbereiche der frühen Avantgarde zutrifft. Stattdessen sind wir mit den Grenzen der Innovationsfähigkeit selbst konfrontiert, und zwar in der Art und Weise, wie das ehemalige Konzept von Avantgarde und Experiment in einer anderen Form von Gleichzeitigkeit aufgehoben ist, die nicht eine Verschiebung anzeigt, sondern die Möglichkeiten einer Vielzahl von parallelen Optionen ausdrückt. Was in der gegenwärtigen Medienentwicklung ansteht, lässt sich besser beschreiben als das Nebeneinander von künstlerischen und kommerziellen Praktiken. Zusammengenommen stimmen Geschichte und Theorie der Avantgarde darin überein, die wesentlichen Grundzüge avantgardistischer Kunst in der starken Betonung von neuen Technologien zu erkennen. Das Konzept der Avantgarde im zwanzigsten Jahrhundert verdeutlicht, dass der Begriff ›Avantgarde‹ im allgemeinen verwendet wird zur Bestimmung der revolutionären Entwicklungen in Kunst und Politik. Auf dem Gebiet der Künste hat die Metapher der Avantgarde eine zweifache Bedeutung: einerseits umfasst sie
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das Verständnis der revolutionären Aufgabe der Kunst und des Künstlers, die von den europäischen Avantgardebewegungen proklamiert worden war. Andererseits bedeutet sie eine revolutionäre Praxis innerhalb der Kunst, also den Bruch mit traditionellen Kunstformen und die Entwicklung neuer Techniken. Dies haben vor allem Futurismus, Konstruktivismus, Dadaismus und Surrealismus demonstriert. Allgemeiner gefasst, steht die Metapher der Avantgarde für das Konzept einer Kunst, die gleichermaßen revolutionär und experimentell ist. Auf dieser Grundlage lassen sich die Problemstellungen der europäischen Avantgarde Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit Entwicklungen in den Medienkünsten Ende des Jahrhunderts vergleichen, wo die Infragestellung von traditionellen ästhetischen Konzepten, wie das Bild, durch elektronische und digitale Techniken ausgelöst wird. Im folgenden geht es um das Verständnis der Verschiebung im Konzept und in der Metapher revolutionärer, genauer gesagt: avantgardistischer Kunst. Die Frage, die hier beantwortet werden soll, könnte lauten: Gibt es eine Avantgarde in der digitalen Kunst?
II. Es werden offensichtlich eine ganze Reihe von Begriffen benötigt, wenn es darum geht, die Herausforderung durch digitale Technologien zu kennzeichnen, wodurch die Produktionsprozesse der audiovisuellen Medien – beispielsweise die Filmproduktion – transformiert und die Distributionswege erweitert werden, einschließlich der Zugänglichkeit zu verschiedenen Medien in der privaten und öffentlichen Umgebung. Insbesondere tritt die Unsicherheit der Benennung dort auf, wo computererzeugte Bilder aus der Weiterverarbeitung und Verschmelzung von verschiedenartigen Medienbildern resultieren und eine Verschiebung in der Beschaffenheit des Bildes selbst auslösen. Diese Vorgänge werden zugleich als intermedial, hypermedial, hybrid oder multimedial charakterisiert. Allgemein scheint der Bereich des Digitalen eine Neuheit zu versprechen, die zwangsläufig nach einer Redefinition der notwendigen Begrifflichkeit verlangt, um solche ästhetischen Kategorien kennzeichnen zu können, die auf computerbasierte Künste anwendbar sind. Wenn wir also das Phänomen der Diffusion von Computertechnologien begreifen wollen, scheint es naheliegend, sich auf das Konzept der Revolutionierung der Kunst aus der Avantgarde zu beziehen und die Veränderung als Bruch zu verstehen. Wenn wir jedoch die spezifischen Verfahren diskutieren wollen, mit denen computerbasierte Künste vorangegangene Kunstformen und -praxen transformieren oder auch revolutionieren, dann sollten wir vielmehr ein dialektisches Verständnis anlegen, wie es allen Konzepten der Veränderung inhärent ist. Damit lässt sich die Interrelation von alt und neu als dialektische Beziehung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten auffassen. Weiterhin können wir auf diejenigen Formen der Medienkunst im zwanzigsten Jahrhundert, welche die bis dahin etablierten Kunstpraktiken heraus-
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gefordert und neue Medien wie den Film eingeführt haben und als Avantgarde verstanden worden sind, Bezug nehmen, und zwar so, dass die Geschichte und die Theorie der Avantgarde mit ihrem impliziten Konzept der Revolution genauer betrachtet wird. Schließlich kann gezeigt werden, dass die Avantgardefunktion der Künste weitgehend durch den Einsatz von avancierten Technologien erzielt wird, welche die Modalitäten des Sehens und Hörens und die Distribution von Information verändern. Führende Kritiker in solchen Disziplinen wie Kunstgeschichte, Filmwissenschaft, Kulturwissenschaft, Komparative Literaturwissenschaft und Philosophie haben immer wieder darauf hingewiesen, dass, wenn wir uns auf die Beschleunigung in der Entwicklung von Technologien im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert konzentrieren, ein dialektischer Prozess von alt und neu unbedingt bedacht werden muss: das Neue bricht nicht plötzlich hervor, und ältere Technologien werden nicht mit einem Stoß hinweggefegt. Die historische und theoretische Beschäftigung mit der Avantgarde, die das Potential der Transformation vor dem Hintergrund der politischen und kulturellen Vorgaben und Zwänge diskutiert, welche die Entstehung des Neuen, also der Avantgarde, prägen, unterstreicht interessanterweise den revolutionären Gehalt in der Metapher Avantgarde. Entsprechend der allgemein gültigen Auffassung, dass die Avantgarde eine radikale Gegenkraft im ausgehenden neunzehnten und im anbrechenden zwanzigsten Jahrhundert darstellt, reformiert und reformuliert sie kulturelle Normen durch die Umsetzung von neuen Vorstellungen und den Einsatz von neuen Technologien in einer Weise, die sich ästhetisch und politisch vorherrschenden Formen und Strukturen entgegenstellt. Folglich ist die Avantgarde eine Bewegung innerhalb eines herrschenden Systems von Kunst und Politik, die aufhört, Avantgarde zu sein, wenn sie den Durchbruch schafft und sich erfolgreich etabliert. Das Beispiel der Avantgarde verdeutlicht vor allem, dass die Diskussion von Techniken und Formen der neuen Medien in Kontrast zu bestehenden Medienformen erfolgen muss, anstatt sich lediglich mit Neuheit im Sinne eines Bruchs mit vorangegangenen Referenzpunkten zu befassen. Die revolutionierenden Kräfte der Avantgarde lassen sich daher am besten beschreiben als eine Tendenz der Erneuerung, die der Verfestigung, Erstarrung und Stabilisierung in allen Bereichen der Kultur entgegen arbeitet. Als eine genuin destabilisierende Kraft bevorzugt die Avantgarde neue Technologien, um ihre Ziele zu erreichen (beispielsweise durch den Einsatz von Massenmedien) und um die Veränderung ästhetisch zu gestalten, das heißt, vom Gewohnten mit neuen Materialien und Formen abzuweichen. Wie die Geschichte der europäischen Avantgardebewegungen belegt, kooperiert die Avantgarde zuweilen mit politischen Kräften und Parteien in der Überzeugung, die revolutionäre Umwälzung tatsächlich herbeiführen zu können. Auch wenn sie hierbei die reale Macht des Politischen missversteht, verliert die Avantgarde dennoch nicht ihre konzeptuell privilegierte Position als Gegenkraft in der herrschenden Kultur. Grundsätzlich gilt es, die
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Idee von Avantgarde im Verständnis eines dynamischen Konzepts zu stärken. Dieses Begriffsverständnis lässt sich im Prinzip auf alle radikalen Entwicklungen anwenden, die sich für eine Veränderung in Kunst und Politik einsetzen. Wenn also die Idee des Neuen in bezug auf die Digitalisierung in Anspruch genommen wird, ist an die Wechselbeziehung von analog und digital zu erinnern, so dass der Anbruch des Neuen nicht als isolierter Moment erscheint. Ein vergleichender Diskurs des ›Alten‹ und ›Neuen‹, des ›Analogen‹ und ›Digitalen‹, verhilft zum besseren Verständnis der Koexistenz und Assimilation verschiedener Medien und dramatisiert nicht das ›Vorher‹ und ›Nachher‹. Denn umgekehrt würde das Modell der Ablösung und Ersetzung von Medien durch Medien gewiss die Perspektive auf die Medienentwicklung in der Diskussion verengen und vor allem solche Aspekte beschneiden, die die Beschaffenheit der Interrelation und Transformation zwischen verschiedenartigen Medien erhellen. Angesichts des geschilderten Sachverhaltes ist es keineswegs erstaunlich festzustellen, wie Begriffsverständnisse zu einem wichtigen Diskussionspunkt für die Theorien der Medien geworden sind, vor allem wenn Relationen und Differenzen zwischen historisch verschiedenen Medien bestimmt werden sollen. Dass es gar nicht so viel Neues in gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit neuen Technologien zu berichten gibt, wird vor allem evident, wenn verschiedene Medien auf einer historischen Ebene verglichen werden. Denn was das Neue in der Digitalisierung und eine gegenüber dem Bisherigen möglicherweise revolutionierende Verschiebung konstituiert, entsteht aus der Weiterbearbeitung, Transposition oder Transformation von Elementen, die in vorangegangenen Technologien entwickelt worden sind. Die Herausforderung des Digitalen, wie sie in der Umgestaltung und Neuformulierung von ästhetischen Ausdrucksformen und ihren Funktionen in den Künsten vorliegt, beruht im wesentlichen auf einem dialektischen Verhältnis zwischen analogen und digitalen Medien. Unter diesem Gesichtspunkt macht eine Beschäftigung mit künstlerischen Vorgehensweisen Sinn, bei denen der Gebrauch von digitalen Techniken und Verfahren dazu dient, Elemente aus vorangegangenen Medienkünsten zugänglich zu machen, zu verbinden und zu einer neuen Form zu transformieren. Vor allem in den visuellen Künsten, insbesondere in bezug auf das Bild, lässt sich feststellen, daß aus der Gegenüberstellung von analogen und digitalen Verfahren durch die Möglichkeiten digitaler Bildprozesse eine grundlegende Verschiebung in der Konzeption der Einheit von Bild bewirkt wird. Das Ergebnis der Verschiebung durch digitale Technologien ist vor allem sichtbar, wenn die Überschreitung der Grenzen zwischen den Einzelmedien wie Malerei und Film, Fernsehen und Video in intermedialen Formen zum Ausdruck kommt. Die verschiedenen Verfahren der Vermischung lassen sich begrifflich als Kollision oder Transformation fassen. Beispielsweise liegt eine Kollision vor, wenn Elemente des Bewegtbildes (Film) und des statischen Bildes (Fotografie) miteinander in der Form eines
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weiteren Mediums, in einem computererzeugten Bild, kontrastiert sind, so dass sich eine bildinterne Spannung aus den divergenten Dynamiken ergibt. Weiterhin bezeichnet die Transformation eine neue sichtbare Form, hervorgegangen aus der Verknüpfung und Kollision von solch differenten Elementen. Das angeführte Modell der Revolutionierung aus der Avantgarde, wie es im Hinblick auf die Implementierung von neuen Technologien zur Debatte steht, erfordert also eine genauere Untersuchung der spezifischen Einflüsse, die neue Medien auf bereits vorhandene Medien ausüben und vice versa. Wenn folglich das Konzept der Avantgarde an die neuen Medien angelegt wird, ermöglicht dies eine Redefinition des Digitalen im Begriffsverständnis der Transformation und überlässt somit die Festsetzung eines Bruchs und die Behauptung des Neuen anderen Diskursen, die der rhetorischen Fragestellung nachgehen, ob von einer digitalen Revolution die Rede sein kann. Abweichend bevorzuge ich hier mit Bezug auf das revolutionäre Konzept namens Avantgarde die Beantwortung der Frage: Gibt es eine digitale Ästhetik? Diese Perspektive bietet die Möglichkeit zur Beurteilung von Transformationsprozessen in digitalen Künsten in Entsprechung zu analogen Medien und sie erlaubt, die Wechselbeziehungen und Unterschiede zwischen diesen beiden Medienformen zu diskutieren.
III. Auf dem Gebiet der Digitalisierung, die sich, ausgehend von Computertechniken, zu einem umfassenden Kulturphänomen entwickelt hat, dürfen die technischen Implikationen nicht übersehen oder unterbewertet werden, die maßgeblich die neuen Formen der Produktion und Distribution bestimmen. Der Informatiker Wolfgang Coy präzisiert die Bedingungen: »Alle schriftlichen, optischen und elektrischen Medien können mit Mikroelektronik und Computertechnik letztlich zu einem allgemeinen digitalen Medium verschmelzen.« (Coy 1995, S. 53) Im Geltungsbereich des Digitalen, so Coy, stellt der Computer nur einen Baustein für die Entstehung weiterer neuer Hypermedien dar. Ausgehend von dem allgemeinen Verständnis, dass die nicht-sequentielle Struktur im Hypermedium multidimensionale Verknüpfungen und Interaktivität anzeigt, liegt die Besonderheit der Hypermedien in der Zugänglichkeit verschiedener Medien, was nicht auf derselben Transformationskategorie beruht, wie dies für die Analogmedien von grundsätzlichem Belang ist. Im Digitalen sind verschiedene Medien innerhalb derselben technischen Struktur integriert, hingegen bedeutet die Verbindung von verschiedenartigen Medien im Analogen einen Transformationsvorgang. Deutlicher noch formuliert der Medientheoretiker Friedrich Kittler die Strukturbedingungen des Digitalen, denn Digitalität bedeutet für ihn die Option der Simulation in zwei Richtungen, nämlich als Bestätigung oder als Verneinung von etwas, das präsentiert, also gegeben ist. Kittler reserviert den
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Begriff Simulation für die Kennzeichnung der Manipulation unter Computerbedingungen, denn hier ist nicht nur die Negation möglich, vielmehr auch die Manipulation der Negation, was die Möglichkeiten der Affirmation in den Analogmedien erweitert, die ihrerseits an das Faktische, und das heißt an die ›Arbeit der Fiktion‹ gebunden sind. Erst mit der Entstehung des digitalen Codes, so Kittler, wird es möglich, die Negation zu manipulieren, so dass die Simulation im Digitalen beides enthält: Affirmation und Negation. »Während Affirmieren nur bejaht, was ist, und negieren nur verneint, was nicht ist, heißt simulieren, was nicht ist, zu bejahen, und dissimulieren, was ist, zu verneinen. [...] Unter Computerbedingungen wird es also machbar, maschinell zu affirmieren, was nicht ist: Siegeszug der Simulation.« (Kittler 1989, S. 64f) Auf der Basis von Algorithmen werden somit durch die Negation alle Verbindungen möglich gemacht. Hinsichtlich der Beurteilung digitaler Ästhetik in der Kunst gilt es daher, die Tatsache anzuerkennen, dass diese grundlegende technische Voraussetzung gerade die Simulation von solchen Transformationsprozessen ermöglicht, die in den analogen Medienkünsten aufgetreten sind. Unter diesen Bedingungen lässt sich die Verschiebung im Digitalen sichtbar machen im Vergleich von zwei gegensätzlichen Faktoren, und zwar einerseits Affirmation und andererseits Simulation, welche Affirmation und Negation optional enthält. Denn die Simulation im Digitalen verfügt aufgrund der medienspezifischen Omnidirektionalität über die Möglichkeit, beide Richtungen darzulegen, so dass hierdurch die Differenz von analog und digital deutlich hervortritt. Entscheidend ist, dass die Verschiebung von analogen zu digitalen Medienbildern im digitalen Zustand von prozessualisierten Bildtypen präsentiert wird. Die Differenz zwischen diesen beiden Typen von Medien kann innerhalb der Struktur von Digitalmedien und gegenüber dem Hintergrund der Analogmedien deshalb aufgezeigt werden, weil sie von ihrem technischen Stand her auf Simulation beruhen. Anders formuliert: Die dialektische Wechselbeziehung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Verhältnis von analog und digital stellt nicht länger eine Problematik der Transformation dar, sondern das Wechselverhältnis selbst ist auf der Ebene des Digitalen enthalten. Genauer: es ist in der Simulation präsent, und diese Verschiebung bezeichnet schließlich die Veränderung von analog zu digital. Die Verschiebung kann mittels Simulation in den digitalen Künsten zur Sichtbarkeit gelangen, und dies stellt ein Merkmal von Avantgarde dar. Die angewandten Mittel der Darstellung sind Kennzeichen einer digitalen Ästhetik. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Avantgardefunktion im Bereich der Simulation dort vorzufinden ist, wo auf der Basis des Digitalen eine Umstrukturierung von vorhandenen Modellen der Interrelation zwischen verschiedenen Medien vorgenommen wird. Darüber hinaus erhält die doppelte Struktur der Simulation das avantgardistische Konzept der Innovation aufrecht, denn das Neue, das heißt die Möglichkeit der Negation, ist deutlich in einem mediengeschichtlichen Zusammenhang verankert, der durch
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die Bedingungen der Affirmation in Analogmedien definiert ist. Schließlich erlaubt die technische Implementierung der Simulation auch ein Verständnis des Digitalen als einer revolutionierenden Technologie mit dem Zusatz, dass darin ein Konzept von Umwälzung angelegt ist, das aus der Tradition der Avantgarde hervorgeht.
IV. Die Beschreibung einer avantgardistischen Qualität in den digitalen Künsten setzt also die Befragung von experimentellen, revolutionierenden Verfahren voraus, die in der Geschichte der Avantgarde entwickelt worden sind. Ausgehend von der weithin akzeptierten Auffassung, dass die europäischen Avantgardekünste die Techniken der Montage und Collage in die Kunst eingeführt und den Bereich dessen, was als Kunst definiert war, vor allem durch den Gebrauch von Film und filmverwandten Verfahren und die Indienstnahme der massenmedialen Verbreitungswege erweitert haben, können wir für die Gegenwart die Diskussion anschließen, ob die ästhetischen Implikationen der Avantgarde, wie sie in den zusammengesetzten Formen der Montage und Collage vorliegen, in den digitalen Künsten eine Fortsetzung finden. Die Collage bedeutet vor allem das Hineinschneiden und das Ausschneiden und Weglassen durch Schnitt, gleichfalls das Hinzufügen und Übereinanderlegen von Elementen, die ursprünglich keinen gemeinsamen Zusammenhang aufweisen. Das wesentliche Kriterium der Collage zeichnet sich durch die Kombination von heterogenen Elementen zu einer neuen formalen Einheit aus, welche ihre Bruchstückhaftigkeit mitteilt. Die Collage mit ihren Verfahren der Einfügung und Schichtung ist in der Bildenden Kunst eingesetzt worden, um die geschlossene Oberflächenstruktur der Malerei aufzubrechen und hierdurch die avantgardistische Vorstellung der Fragmentierung und Simultaneität zu realisieren. Hiervon unterschieden steht die Entwicklung der Montage zunächst im Dienst der Verknüpfung von fragmentarischen Elementen in einer linearen Struktur, welche parallele Aktionen in der Zeit auszudrücken erlaubt. Die Montage hat eine zweifache Aufgabe: Sie trennt und verbindet verschiedene Elemente in einem raum-zeitlichen Kontinuum. Die Montage ist vorwiegend im Medium Film als Ausdrucksform entwickelt, um die Anordnung von Bildern und Narration in einer linearen Art und Weise zu strukturieren. Wichtiger fast noch: Der Futurist Filippo T. Marinetti erkennt im zusammengesetzten Charakter des Films das künftige Medium der Avantgarde, und das futuristische Manifest von 1916 bestätigt dem Film die Fähigkeit, die Brücke zwischen und zu allen Künsten zu schlagen. Film als Kunst ist zu einem Hauptanliegen im Konzept der Avantgarde geworden und findet eine Parallele in der Vorstellung, dass die Avantgarde sich insbesondere im Gebrauch avancierter Technologien mitteilt, wie Film, Zeitung, Radio und anderen aufkommenden Massenmedien. Mit Blick auf die hauptsächlichen
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Anliegen der Avantgarde können die digitalen Künste dahingehend befragt werden, welche Konzepte und ästhetischen Vorgehensweisen weitergeführt worden sind. Man wird eine Vorstellung gegenwärtiger Avantgarde nicht unbedingt im Bereich des experimentellen Films oder der Filmkunst aufrechterhalten, in dem sie sich historisch entwickelt hat. Hinweise auf gegenwärtige Elemente von Avantgarde sind vielmehr dann aufzuspüren, wenn die Untersuchung sich mit den Phänomenen der Überschneidung und Durchmischung von Kunst und Kommerz auseinandersetzt, beispielsweise mit Werbung. Was im besonderen den Film und filmverwandte Praktiken anbelangt, sollte dennoch nicht vernachlässigt werden, dass der Film eine exponierte Position bei der Artikulation avantgardistischer Konzepte innehat. Daher gilt, vor historischem Hintergrund, meine besondere Aufmerksamkeit der Analyse von digital prozessualisierten Filmbildern, bezogen auf die Weiterverwendung von spezifisch avantgardistisch ausgewiesenen Techniken wie Collage und Montage. Um diese Überlegungen zu veranschaulichen, werde ich abschließend einige Beispiele der experimentellen und kommerziellen Nutzung von Avantgardetechniken vorstellen. Für die Bestimmung der Avantgardefunktion von digitalen Künsten schlage ich vor, filmische Prozesse in analogen und in digitalen Medien miteinander zu vergleichen, was auch die prominente Rolle des Films in der Geschichte der Avantgarde erhellt. Zudem benötigt die Debatte von Kontinuitäten und Diskontinuitäten die Festlegung einer Vergleichsebene, welche die Erkenntnis von Gemeinsamkeiten möglich macht. Die folgenden Beispiele basieren in erster Linie auf Film als Vorbedingung oder Ausgangspunkt, so dass die tatsächliche Verschiebung gegenüber rein filmischen Verfahren in dieser Verankerung besonders deutlich wird. Hinzu kommt die Überlegung, dass die Vergleichbarkeit der Elemente gegeben sein muss, die in einer komparativen Analyse aufeinander bezogen werden sollen. Ich gehe absichtlich nicht auf CD-Rom oder Internet ein, denn dies würde die Einführung einer weiteren und anders gearteten Vergleichsebene erforderlich machen.
V. Im ersten Beispiel gibt das Videoband DAS DURACELLBAND (D, 1980) einen Einblick in den künstlerischen Gebrauch von Montage im elektronischen Medium. Basierend auf der Intervallfunktion im Film, steht das Videoband deutlich in der Tradition des experimentellen Films, der in der Intervallmontage politisch und ästhetisch provozieren will. Von Bruch verschränkt einen Werbetrailer für Duracell-Batterien mit Aufnahmen von Fliegerangriffen und Opfern von Hiroshima, so dass das Intervall einen neuen Kontext herstellt, wobei der Schlagrhythmus von Bild und Ton das Maschinelle in beiden Vorgängen unterstreicht. Hier handelt es sich um die Weiterführung
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von Avantgardetechniken des Films im Video, denn der Montage kommt in diesem Videoband die Funktion der Provokation zu, vergleichbar dem ästhetischen Schock der frühen Avantgarde. Demgegenüber gibt der Werbefilm COCA COLA COMMERCIAL von Michel Gondry (F, 1996) ein überzeugendes Beispiel für die Verbindung von analogen und digitalen Techniken auf der Ebene der Simulation, wie sie von Friedrich Kittler beschrieben worden ist. In einem experimentellen und kommerziellen Gebrauch von Avantgardetechniken sehen wir die Drehbewegung eines Springers auf einem Snowboard, der sich innerhalb derselben Bildeinheit vorwärts und rückwärts im Sprung bewegt, während gleichzeitig die Umgebung auf diesem Bild still zu stehen scheint. Der Webeclip arbeitet mit fotografischen Bildern, die mit einer Still Camera und extremem Weitwinkel aufgenommen und derart gemorpht worden sind, dass zeitliche Verzögerungen in beide Richtungen auftreten, vorwärts und rückwärts. Das Morphing zwischen verschiedenen Bildpositionen auf der Zeitachse suggeriert Bewegung innerhalb des Bildes, die tatsächlich nie als reale Bewegung stattgefunden hat. Morphing ist also eine Technik der Simulation, weil Teile des Bildes in zwei verschiedene Richtungen verändert werden, so dass verschiedene Momente in der Zeit, vorher und nachher, innerhalb einer einzelnen Bildeinheit aufeinandertreffen, was faktisch nicht möglich ist, aber durch die Negation bewerkstelligt werden kann. Dass dies im analogen Bild, das auf der affirmativen Repräsentation beruht, nicht darstellbar ist, kennzeichnet die Differenz zur Simulation im Digitalen, denn hier bedeutet, wie bereits gesagt, die Affirmation auch die Präsentation dessen, was negiert wird. Negation im vorliegenden Beispiel bezeichnet das simulierte Bewegungsbild, welches kein Bewegtbild ist, sondern vielmehr das Resultat von Morphing. Innerhalb desselben einzelnen Bildes und nicht, wie im Film, zwischen zwei oder mehreren Bildern simuliert Morphing demnach die Funktionsweise der Montage: zu verbinden und zu trennen. Ein weiteres Beispiel bieten die Computerarbeiten von Bériou. Seine Computeranimation DIGITALINE (F, 1990) basiert auf fotografischen Bildern und arbeitet mit Collagetechniken, Ausschnitten und Einfügungen, wodurch ein Effekt der Vervielfältigung von filmischer Animation entsteht. Im Grunde wiederholt Bériou in dieser und in anderen Arbeiten filmische Verfahren mittels digitaler Techniken und erzielt visuelle Ergebnisse von bildlicher Dichte und Überlagerung. In ähnlicher Weise verdeutlicht Anna Henckel-Donnersmarck mit BUSBY (D, 1997) die Möglichkeiten der digitalen Vervielfältigung von avantgardistischen Verfahren des Films. Durch Isolierung und im Prinzip endlose Vervielfachung eines einzelnen Gestaltungselements, hier ist es die Hand, entsteht ein visuelles graphisches Muster, das an Oskar Fischingers Realisationen von visueller Musik ebenso erinnert wie an die ornamentalen Figurationen in Busby Berkelys Chorus Lines aus seinen Filmen der vierziger Jahre. Im Grunde genommen werden die digitalen Techniken dazu verwandt, Formen
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vorangegangener Medienästhetik komplexer weiterzuführen, was die Überschreitung der linearen Anordnung in Richtung auf hypermediale Strukturen des Non-Sequentiellen präfiguriert. Anstelle einer Schlussfolgerung möchte ich das Argument hervorheben und unterstreichen, dass digitale Ästhetik eine Verschiebung anzeigt, aber keinen Bruch mit analogen Verfahren. Im Gegenteil, analoge Techniken sind viel mehr integriert als dass sie ausgeschlossen wären, wenn digital prozessualisierte Bilder als Avantgarde angesehen werden können. Was sich ändert und als Verschiebung festzuhalten ist, betrifft die Darstellungsformen von Zeit und Raum, die in den technischen Analogmedien anderen Voraussetzungen unterliegen als in den Digitalmedien, wo ihre Realisierung eine optionale Möglichkeit der Simulation ist.
Summary Is there an Avant-garde in Digital Arts? Taking as a starting point the shift in the arts that is caused by new technologies, this paper opens the question how we may consider the aesthetics of digital arts. The shift in digital arts is often described in terms of rupture, break, and revolution, whereas the reference to the underlying concepts is not so clear. For the better understanding of the type of revolutionary implications in digital arts I propose to refer to the concept of the avant-garde. I will describe the revolutionary concept of the avant-garde arts and discuss whether developments in new media arts that make use of computer technologies can be named avant-garde. Thereby we should remember that the model of revolution that is at stake in implementing new technologies calls for a closer examination of the influences that new media have on existing media and vice versa. Thus, the concept of the avant-garde when applied to new media allows for a re-definition of the digital in terms of transformation and leaves the notion of rupture and novelty to those who like to address the rhetorical question if there is a digital revolution? Differently, I would prefer to respond to the question: »is there a digital aesthetic?«
Literatur Coy, Wolfgang: »Die Turing-Galaxis – Computer als Medien,« in: Dencker, Klaus Peter (Hg.): Weltbilder, Bildwelten. Interface 2, Hamburg 1995. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino, Frankfurt am Main 1991, Zehntes Kapitel, S. 335ff. Hermand, Jost: »Das Konzept ›Avantgarde‹«, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.): Faschismus und Avantgarde, Königstein/Ts. 1980.
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Kittler, Friedrich: »Fiktion und Simulation«, in: Ars Electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989. Spielmann, Yvonne: Eine Pfütze in bezug aufs Mehr. Avantgarde, Frankfurt a.M. u. a. 1991.