Jörn von Lucke
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment Der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien hat in den vergangenen Jahren bereits zu substanziellen Veränderungen in Staat und Verwaltung geführt. Dies wird sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. Zunehmend verändern Rechner und Rechnernetze das Regieren und das Verwalten. Anwendungsfelder, Entwicklungstrends und Brennpunkte des »eGovernment« stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages, in dem auf die besondere Rolle der Wirtschaftsinformatik als Wissenschaft in diesem Forschungsfeld eingegangen werden soll.
Inhaltsübersicht 1 eGovernment 2 Anwendungsfelder in Staat und Verwaltung 3 Stand und Trends des eGovernment in Deutschland 4 eGovernment und die Wirtschaftsinformatik 5 Geeignete Methoden der Wirtschaftsinformatik 6 Erforderliche Beiträge der Wirtschaftsinformatik 7 Offene, interdisziplinäre Forschung 8 Literatur
1
eGovernment
Da sich in Deutschland die Verwendung des englischen Ausdrucks »Government« als Synonym für das Regieren und Verwalten kaum durchgesetzt hat, ist es nicht verwunderlich, dass mit den Begriffen »Electronic Government« oder »eGovernment« zunächst vollkommen unterschiedliche Ideen und Konzepte verbunden wurden. In den vergangenen Jahren haben zwei Definitionen das Verständnis von eGovernment in Deutschland entscheidend geprägt [Lucke 2008, S. 38 ff.]:
HMD 265
Nach der Speyerer Definition wird unter »Electronic Government« die mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien durchgeführte Abwicklung jener geschäftlichen Prozesse über nicht traditionelle elektronische Medien verstanden, die im Zusammenhang mit dem Regieren und Verwalten (Government) stehen. Bei eGovernment geht es sowohl um Prozesse innerhalb des öffentlichen Sektors als auch um jene zwischen diesem und der Bevölkerung, der Wirtschaft und dem Dritten Sektor (Non-Profit-Organisationen (NPO) / Nichtregierungsorganisationen (NGO)). Aufgrund der technischen und organisatorischen Entwicklung wird angenommen, dass diese Prozesse künftig sogar vollständig elektronisch durchgeführt werden können, sodass Medienbrüche in Abläufen entfallen. Die Speyerer Definition umfasst in ihrem Anspruch sowohl die kommunale Ebene, die Landesebene, die Bundesebene sowie die supranationale Ebene. Eingeschlossen ist der gesamte öffentliche Sektor, bestehend aus Legislative, Exekutive und Judikative sowie öffentlichen Unternehmen [Lucke & Reinermann 2000]. Der Fachausschuss Verwaltungsinformatik der Gesellschaft für Informatik definiert in seinem Memorandum »Electronic Government« als die Durchführung von Prozessen der öffentlichen Willensbildung, der Entscheidung und der Leistungserstellung in Politik, Staat und Verwaltung unter intensiver Nutzung der Informationstechnik. Eingeschlossen sind in dieser ebenfalls gebräuchlichen Definition auch die zahlreichen Hilfs- und Managementprozesse sowie die Prozesse der politischen und finanziellen Rechenschaftslegung [GI & VDE 2000]. eGovernment wird von beiden Definitionen als ganzheitlicher Ansatz verstanden, der das gesamte soziotechnische System beschreibt
7
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment und die Verwaltungsstrategie, die Verwaltungsprozesse und die Verwaltungsorganisationsformen umfasst [Wimmer 2002, S. 8; Scheer et al. 2003, S. 32]. Im Gegensatz zu anderen Interpretationen beschränken sich diese beiden Definitionen nicht nur auf das Internet oder das World Wide Web (WWW). eGovernment kann moderne elektronische Medien wie die TCP/IPNetzwerke (Internet, Intranet oder Extranet) nutzen. Denkbar wäre auch eine Abwicklung über andere elektronische Datennetze und -dienste (Onlinedienste, Mehrwertdienste, SMS, WAP, i-mode, mobile Datendienste, interaktive Digitalfernsehdienste), über Sprachtelekommunikationsnetze (Callcenter, IVR-Systeme) oder mithilfe von elektronischen Offlinelösungen (Disketten, CD-ROM, DVD, Blu-ray Disc, USB-Sticks). Diese Auslegung beinhaltet eine Erreichbarkeit des öffentlichen Sektors über alle verfügbaren elektronischen Medien im Sinne einer allgegenwärtigen Verwaltung (»Ubiquitous Government«). Der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in Staat und Verwaltung besitzt viele Facetten. Beispielhaft sei an die Bereitstellung von internen und externen Informationen und an die Verarbeitung dieser Informationen in Entscheidungsprozessen zu denken. Die Kommunikation zwischen Menschen im Vorfeld und im Rahmen dieser Prozesse, die Übermittlung der Ergebnisse und die sichere Abwicklung rechtsverbindlicher Geschäftsvorgänge zählen ebenso dazu. Auch die Verknüpfung von Abläufen und die Ermöglichung gemeinschaftlichen Arbeitens über Entfernungen hinweg kommen in Betracht [GI & VDE 2000; Lucke & Reinermann 2000]. eGovernment beinhaltet Mechanismen zur Information, Kommunikation und Transaktion. Elektronische Informationsdienste (eInformation) stellen Zielgruppen zweckorientiert aufbereitete Informationen zum Abruf bereit. Hierzu zählen etwa Bürger-, Touristen-, Wirtschafts-, Gremien- und Fachinformationssysteme. Entsprechende Systeme entwickeln sich
8
zunehmend von statischen Informationssammlungen zu dynamischen Wissenssystemen. Elektronische Kommunikationsdienste (eCommunication) eröffnen Dialogmöglichkeiten und bieten die Basis für digitale Partizipation. Einzelne Personen oder Gruppen können untereinander Nachrichten und Dokumente austauschen. Dies ermöglicht Beratungen, erleichtert eine Zusammenarbeit und hilft bei der Entscheidungsvorbereitung. Elektronische Transaktionsdienste (eTransaction) ermöglichen eine sichere Abwicklung rechtsverbindlicher Geschäftsvorfälle im Rahmen mehrstufiger Wertschöpfungsketten zwischen allen beteiligten Kommunikationspartnern. Sie gelten als zentrale Komponente für das elektronische Regieren und Verwalten, da Information und Kommunikation eigentlich bloß ihrer Vorbereitung dienen. Ergebnisse elektronisch durchgeführter Transaktionen gelten als dauerhaft gesichert. Im öffentlichen Sektor umfassen elektronische Transaktionsdienste die Antragstellung und Antragsaufnahme, Registrierung und Bestellung, Bearbeitung und Bescheiderteilung, Zustellung und Lieferung, Zahlung und Nachkontrolle. Das Ergebnis dieser Transaktionen sind Verwaltungsbescheide und Zulassungen, Lizenzen und Genehmigungen, aber auch elektronische Verwaltungsdienstleistungen und -produkte öffentlicher Stellen sowie Ansätze zum elektronischen Gesetzesvollzug, soweit dies technisch möglich und rechtlich zulässig ist. Idealtypisch sind diese elektronischen Informations-, Kommunikations- und Transaktionsdienste vollständig in die Geschäftsprozesse von Regierung und Verwaltung (Exekutive), in die demokratischen Prozesse der öffentlichen Willensbildung, Entscheidung und Rechenschaftslegung (Legislative) und in die gerichtlichen Prozesse der Justiz (Judikative) eingebunden. Software zum Dokumentenmanagement, zur Vorgangsbearbeitung und zur Kollaboration, ergänzt um Fachverfahren und elektronische Register der öffentlichen Hand, sollten für einen schnellen Zugriff auf alle relevanten
HMD 265
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment Verwaltungsdatenbestände und Anwendungen sorgen. Über elektronische Medien wie das Internet oder die Verwaltungsdatennetze sind diese Systeme miteinander vernetzt und prinzipiell auch für Mitarbeiter anderer Verwaltungsbehörden, für Bürger und für Unternehmen zugänglich. Dies eröffnet vollkommen neue Ansatzmöglichkeiten für Wertschöpfungsketten im öffentlichen Sektor. So können bestehende Systeme geöffnet, mit anderen Fachverfahren verknüpft und zu neuen Abläufen zusammengeführt werden. Gleichzeitig ließen sich neue und weitaus effizientere Abläufe konzipieren und die Transparenz von Staat und Verwaltung erhöhen [Lucke 2003, S. 24 ff.]. eGovernment kann auch als systemprägende Verwendung digitalisierter Informationen bei der Wahrnehmung von öffentlichen Aufgaben verstanden werden. Eine solche Interpretation ist ebenfalls umfassend und vielschichtig, schließt die beiden obigen Definitionen ein, unterscheidet sich jedoch wesentlich durch das einen anzustrebenden Zustand bezeichnende Merkmal »systemprägend«, durch eine Fokussierung auf die Aufgaben statt auf die Abläufe und durch den Verzicht auf die Einschränkung des Bezugsrahmens auf Regieren und Verwalten, die als zu einengend aufgefasst werden könnte [Müller 2004, S. 6]. Interessanter und zukunftsweisender als Definitionen sind die dahinter liegenden Visionen von eGovernment:
! eGovernment als eine Vision des Regierens und Verwaltens im Informationszeitalter [Lucke 2003, S. 24 ff. und S. 63 ff.] ! eGovernment als eine Vision von nahtlosen, sicheren Kommunikations- und Informationsinfrastrukturen für eine verwaltungsebenen- und organisationsübergreifende Zusammenarbeit aller Akteure [Quandel & Tschichholz 2002, S. 6] ! eGovernment als Ausgangspunkt für eine »eGovernance«-Vision zur Neugestaltung von Lebensbereichen in Staat und Verwaltung, Wirtschaft und Drittem Sektor in der In-
HMD 265
formationsgesellschaft [Reinermann & Lucke 2002, S. 11 ff.] ! eGovernment als Ausgangspunkt für eine »Public eGovernance«-Vision zur Erneuerung und Neugestaltung von Staat und Verwaltung in der Informationsgesellschaft [Reinermann & Lucke 2002, S. 13 ff.] eGovernment ist sicherlich auch mehr als eine schnell umsetzbare Verwaltungsreform oder eine kurzlebige Modernisierungserscheinung. eGovernment wird eine andauernde Modernisierung und Transformation von Staat und Verwaltung bewirken, die Exekutive, Legislative und Jurisdiktion bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nachhaltig verändern und zu einer intensiven behörden-, gebietskörperschaftsund verwaltungsebenenübergreifenden Zusammenarbeit auffordern. Solange der technologische Fortschritt durch höhere Rechenleistungen, Datenverarbeitungs- und Datenübertragungsleistungen immer neue Einsatzfelder eröffnet, wird dieser Modernisierungsprozess auch noch nicht abgeschlossen sein [Lucke 2008, S. 40 f.].
2
Anwendungsfelder in Staat und Verwaltung
Da das Aktivitätsspektrum von Staat und Verwaltung sehr breit gefächert ist, erstrecken sich die Ansätze des eGovernment über viele Anwendungsfelder. Regieren und Verwalten umfasst sowohl demokratische Formen des Umgangs miteinander als auch die Bereiche der Politik, der Gesetzgebung, der Regierung als Exekutive und der Verwaltung als Administration sowie das Justizwesen. Die Einsatzbereiche von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien in Staat und Verwaltung sind dabei divergent. »eGovernment« fungiert als Klammer für viele heterogene Anwendungsbereiche im öffentlichen Sektor. Für die politischen Akteure ist der Einsatz der neuen Medien von besonderem Interesse. Vor allem die Bedeutung des Internets und des
9
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment interaktiven Digitalfernsehens für Politik und demokratische Willensbildung wird in den kommenden Jahren in dem Maße weiter zunehmen, wie diese in der Bevölkerung weite Verbreitung finden und dazu auch genutzt werden dürfen. Über entsprechende Angebote kann eine enge Einbindung der Bürger und ihrer Interessenverbände in die politischen Prozesse des Regierens und Verwaltens, in die Parlamente, in Gesetzgebungsverfahren und in die Vollzugsüberwachung erreicht werden. Neuartige Web 2.0-Ansätze wie öffentliche Diskussionsforen, politisch ausgerichtete Portale und Videokanäle setzen ihre eigenen Akzente, von denen insbesondere Politiker und Parteien, Bürgerinitiativen, NGOs, politische Stiftungen, Think Tanks und Medien profitieren möchten. Die zunehmende Bedeutung der neuen Medien bei Wahlkämpfen unterstreicht dies seit über einem Jahrzehnt. Denkbar wäre auch der Einsatz von eGovernment für eine effiziente Abwicklung von Wahlen und Abstimmungen. Die damit verbundenen Chancen und Risiken sollten im Vorfeld aber genau abgewogen werden. Einsatzpotenziale für moderne Informations- und Kommunikationstechnologien bestehen zudem im Gesetzgebungsverfahren. Mit ihnen lässt sich die Effizienz der legislativen Abläufe erhöhen und die Transparenz insgesamt steigern. Insbesondere Experten, Interessierte und betroffene Bürger und Unternehmen können in parlamentarische Entscheidungsprozesse enger eingebunden werden. Abgeordnete und deren Mitarbeiter profitieren von schnelleren Informations- und Interaktionsmöglichkeiten. Dies wird durch Informations- und Kommunikationssysteme ermöglicht, die eine schnelle und weite Verbreitung redaktioneller Inhalte gestatten und über die Interessenvertreter, Parlamente und Gremien erreicht werden können. Für Bürger von Interesse sind zudem Angebote zur elektronischen Einreichung von Petitionen und Beschwerden.
10
Staatsoberhäupter und Regierungen profitieren von modernen IT-Systemen, wenn durch sie die Informationsbasis verlässlicher und die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit gestärkt wird. So können mithilfe von eGovernment-Anwendungen Informationen gesammelt, Nachrichten ausgetauscht, Kontakte intensiviert, Entscheidungen vorbereitet und Alternativen ausgewertet werden. Kommunikationsnetzwerke stellen einen schnellen und abhörsicheren Datenaustausch zwischen Ministerien und Staatskanzleien sicher. Regierungschefs, Ministerien und Staatsoberhäupter nutzen das Internet und die darauf aufsetzenden Text-, Audio- und Videodienste zur Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnet der öffentlichen Verwaltung reichhaltige Potenziale zur Effizienzsteigerung und zur Kostensenkung. Mit ihrer Hilfe können viele Verwaltungsleistungen zeitlich und räumlich unbegrenzt angeboten werden. Zugleich lässt sich das Angebot qualitativ deutlich verbessern, sodass eine umfassende Beratung und Betreuung der Bürger unter Berücksichtigung individueller Bedürfnisse erreicht werden kann. Bei der Erbringung von Verwaltungsleistungen profitieren Hoheitswie Leistungsverwaltung von der erhöhten Flexibilität durch rechnergestützte Vorgangssysteme, mit deren Hilfe die unterstützenden Prozesse kostengünstiger als über papierbasierte Verfahren erbracht werden. Zunächst ist das Internet zur Information, zur Auskunft und zur Beratung von Bürgern und Unternehmen eingesetzt worden. Zunehmend sorgen leistungsfähige Portale dafür, dass auch Leistungs- und Genehmigungsanträge, Meldungen und Beschwerden elektronisch über das Internet eingereicht und beschieden werden können. Verwaltungsintern arbeiten Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltungen bereits seit vielen Jahren mit einer Vielzahl von elektronisch erbrachten Fachverfahren. Anwendungsfelder finden sich in allen Verwaltungsbereichen.
HMD 265
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment Informations- und Kommunikationstechnologien helfen darüber hinaus auch bei der Modernisierung des Justizwesens. Durch einen gezielten Einsatz lassen sich Justizverfahren effizienter gestalten und deren Transparenz erhöhen. Die größten Einsatzpotenziale für elektronische Anwendungen liegen im Aufbau von Justiznetzwerken und darauf aufsetzenden Prozessketten, im Gerichtswesen und in den Justizbehörden. Erwähnenswert sind Justizportale, die elektronische Bereitstellung von Rechtsquellen sowie der Zugriff auf von Gerichten geführte Register wie etwa das Grundbuch oder das Handelsregister [Lucke 2003, S. 63 ff.].
3
Stand und Trends des eGovernment in Deutschland
Mit Blick auf die skizzierten Anwendungsfelder wird klar, dass der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien in vielerlei Hinsicht bereits Einfluss auf Staat und Verwaltung genommen hat. In den vergangenen Jahren wurden insbesondere durch neuartige technische Möglichkeiten vielfältige Veränderungen angestoßen. Hervorzuheben ist die weite Verbreitung, die das Internet in Verwaltung, Wirtschaft und Bevölkerung mittlerweile erreicht hat. So hat die elektronische Post (E-Mail) als Kommunikationsmedium gegenüber dem Brief, dem Telefax und Telefonaten enorm an Bedeutung gewonnen. Die meisten Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst verfügen über einen internet- und E-Mail-fähigen Rechner an ihrem Arbeitsplatz, über den sie kommunizieren, recherchieren und dessen Anwendungen sie nutzen. Bürokommunikationssoftware mit Textverarbeitung und Tabellenkalkulation haben Schreibmaschinen, Matrizen und Telex verdrängt. Viele Behörden und nahezu alle Gebietskörperschaften in Deutschland (Bund, Länder und Kommunen) verfügen über einen eigenen webbasierten Auftritt im Internet. Teilweise sind diese Angebote bereits in mehr-
HMD 265
kanalfähige Portalsysteme eingebunden, die eine Wiederverwendung der aufbereiteten Informationen und Anwendungen für die parallel unterhaltenen elektronischen, sprachtelefonischen, persönlichen und schriftlichen Zugänge ermöglichen. Öffentliche digitale Mobilfunkdienste und interaktive Digitalfernsehdienste, Call- und Communication Center, Bürgerämter sowie Nachbarschaftsläden wären in ihrer heutigen Form ohne eGovernment nicht vorstellbar. Behörden- und Gebietskörperschaftsportale prägen zunehmend das Erscheinungsbild der Verwaltung nach außen. Für Außenstehende nicht sichtbar sind in den Rechenzentren der öffentlichen Verwaltung Anwendungssysteme auf leistungsfähigen Großrechnern und Servern installiert und in Betrieb genommen worden, mit deren Hilfe die politisch vorgegebenen Fachaufgaben erfüllt und Register betrieben werden. Neben der Vielzahl eingesetzter Fachverfahren werden auch Dokumentenmanagement- und Vorgangsbearbeitungssysteme zur elektronischen Bearbeitung von Dokumenten, Vorgängen und Akten unterhalten. Diese Systeme eröffnen vereinfachte Auskünfte zum Verfahrensstand und eine rasche Akteneinsicht. Suchmaschinen und Business Intelligence erleichtern die Suche und die Auswertung nach relevanten Informationsbeständen und ermöglichen Prognosen. In Deutschland wurden mit den Programmen Bund.online 2005 und E-Government 2.0 des Bundes, der verwaltungsebenenübergreifenden Strategie Deutschland-Online und den eGovernment-Programmen der Bundesländer viele Vorhaben angestoßen. Wegen ihrer großen Akzeptanz aus der Vielzahl aller Projekte hervorzuheben sind die elektronische Fahrplanauskunft und das Fahrkartenbuchungs- und -reservierungssystem der Deutschen Bahn AG, die Zoll-Auktion.de und die Anwendungen zum Wunschkennzeichen. Auskünfte und nationale Fahrkarten der Deutschen Bahn können über ein Portal (www.bahn.de) bestellt, bezahlt und bezogen werden. Reisende drucken sich die als
11
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment PDF-Dokument erzeugte Fahrkarte mit Reservierungsdaten und zweidimensionalem Scanprofil aus. Bei der Kontrolle im Zug erfassen die Schaffner das Ticket, validieren seine Gültigkeit und die des dazugehörigen Identifikationsdokuments und entwerten die Karte. Die ZollAuktion bietet Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden eine gemeinsame Auktionsplattform, über die sie Dienstfahrzeuge, Rechner, Fundsachen und Sonstiges versteigern können. In vielen Kommunen vereinfachen und ermöglichen Anwendungen zum Wunschkennzeichen den Bürgern die Suche nach einem zu ihnen passenden Kennzeichen für ihr Kraftfahrzeug, während die Verwaltung vom Auswahlprozess stark entlastet wird. Erwähnenswert sind darüber hinaus das verwaltungsebenenübergreifend angelegte Verwaltungsportal Servicebw.de (www.service-bw.de) des Landes BadenWürttemberg, die zahlreichen virtuellen Polizeiwachen und der vollständig elektronische Handel mit Emissionszertifikaten. Mit den Standards und Architekturen für eGovernmentAnwendungen (SAGA) wurden vom Bund wichtige infrastrukturelle Grundlagen gelegt. Wie in der Wirtschaft, so sind auch in der öffentlichen Verwaltung nicht alle anspruchsvollen IT-Vorhaben von Erfolg gekrönt. Misserfolge, Fehlstarts und Verzögerungen bei wichtigen IT-Projekten mit nationaler Bedeutung erzeugen in der Presse und in der Bevölkerung jedoch Unbehagen und berechtigte Kritik, da diese überwiegend aus Steuermitteln finanziert werden und eine Steuerverschwendung befürchtet wird. Größtenteils handelt es sich bei vielen dieser Vorhaben um durchaus ambitionierte eGovernment-Projekte, für die bisher kaum Erfahrungswerte und ausgereifte Systemlösungen vorliegen. Nicht immer lassen sich Konzeptions- und Umsetzungsprobleme, Widerstände und eine unzureichende Ressourcenausstattung mit einem Projektmanagement und einem Projektcontrolling in den Griff bringen. Eskalieren Konflikte bis in die politische Ebene und kreiden die Rechnungshöfe
12
Fehlentwicklungen an, so werden sie von der Presse aufgegriffen, öffentlich diskutiert und politische Konsequenzen gefordert. In Deutschland sind in diesem Zusammenhang Fiscus, der virtuelle Arbeitsmarkt der Bundesagentur für Arbeit, INpol.neu, der virtuelle Marktplatz Bayern und der Start von Toll Collect zu nennen. Mit der Fiscus GmbH wollten die Steuerverwaltungen der Länder mit Beteiligung des Bundes gemeinsam Software für die Verwaltung der Finanzämter entwickeln und so eine elektronische Steuererklärung ermöglichen. Trotz Reorganisation scheiterte dies, sodass die Fiscus GmbH aufgelöst wurde. Mit dem virtuellen Arbeitsmarkt sollte 2003 eine neue Vermittlungsplattform für die Bundesagentur für Arbeit geschaffen werden. Die Kosten des Projekts stiegen überraschend rapide an, während die neu programmierte Plattform zunächst kaum verbesserte Funktionalitäten enthielt. Das seit 1993 entwickelte INpol.neu der Sicherheitsbehörden sollte die verschiedenen Fahndungssysteme der Länder und des Bundes vernetzen. Aufgrund seiner extremen Komplexität und gravierender Programmfehler musste der erste Start 2001 rasch abgebrochen werden. Erst 2003 wurde es erfolgreich in Betrieb genommen. Das Unternehmen Virtueller Marktplatz Bayern GmbH scheiterte mit dem Aufbau eines öffentlichen elektronischen Marktplatzes für Bayern, nachdem es erhebliche Verstimmungen mit den Kommunen und der Lokalpresse nach Abschluss der Ausschreibung gab, sodass sich die Eigentümer Siemens und die SAP AG nach erheblichen Verlusten von ihrem Engagement zurückzogen. Das Konsortium Toll Collect GmbH hat im Auftrag der Bundesregierung ein System zur Einnahme der Lkw-Maut auf deutschen Autobahnen aufgebaut. Der Vertrag selbst wurde zwei Tage vor der Bundestagswahl 2002 mit anspruchsvollen, politisch motivierten Zielen verkündet. Die Erfüllung der Vorgaben führte zu ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen dem Kunden und den Lieferanten. Der ursprüngliche Start-
HMD 265
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment termin zum 31. August 2003 konnte aus technischen Mängeln an den Bordcomputern und Fehlern bei den einzelnen Komponenten nicht eingehalten werden, in dessen Konsequenz dem Bund hohe Einnahmeausfälle beschert wurden. Zum 1. Januar 2005 startete das System in einer abgespeckten Form, bei der die Software für die Lkw-Bordcomputer nicht automatisch aktualisiert werden kann. Durch die Mautausfälle entstand dem Bund zunächst ein Schaden in Höhe von rund 3 Milliarden Euro. Seit dem Start im Januar 2005 bewährt sich das System jedoch in der Praxis [König 2005, S. 241 f.]. Ingesamt ist es erforderlich, für ein erfolgreiches eGovernment sowohl aus den Erfolgen als auch aus den Misserfolgen zu lernen und Konsequenzen für künftige Vorhaben zu ziehen. Dies gilt insbesondere für jene Themen und Trends, die in den kommenden Jahren zu erheblichen Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung führen werden: mobiles eGovernment, sicheres eGovernment, eInclusion, ePartizipation, Web 2.0, Prozessketten, eGovernance, Shared Services, Portale und Dienste statt Software (siehe dazu [FeGZ 2007; BITKOM 2008]). Gegenwärtig werden gleich mehrere verwaltungsebenenübergreifend angelegte Bereiche umfassend vor- und aufbereitet, um Risiken und Problemen frühzeitig begegnen und diese beseitigen zu können. Mit großem Engagement werden derzeit in Deutschland der elektronische Personalausweis und ein sicheres Identitätsmanagement lanciert. Mit dem zunächst als Bürgerportal gestarteten Vorhaben DE-Mail soll zudem eine sichere Kommunikation gewährleistet werden. Um die Erreichbarkeit der öffentlichen Verwaltung insgesamt zu verbessern, werden mit dem Aufbau des verwaltungsebenenübergreifend angelegten Bürgertelefons D115 die Grundlagen für eine bundesweite Vernetzung kommunaler Callcenter gelegt. In den ersten Pilotregionen setzen die Lösungen auf ausgereiften eGovernment-Systemen auf. Parallel dazu und infolge der bis Ende 2009 um-
HMD 265
zusetzenden EU-Dienstleistungsrichtlinie wird es Unternehmern und Freiberuflern nachhaltig erleichtert, sich niederzulassen und Dienstleistungen anzubieten. Bestehende Formalitäten und behördliche Abläufe zur Aufnahme und Erbringung von Dienstleistungen durch moderne Informations- und Kommunikationstechnologien müssen im Vorfeld hinterfragt werden. Informationen zu allen relevanten Verwaltungsleistungen sind künftig elektronisch, bürgerverständlich und mehrsprachig aufzubereiten. Einheitliche Ansprechpartner unterstützen Dienstleistungserbringer bei der Suche nach den zuständigen Behörden bundesweit und stellen eine Bearbeitung von Anträgen binnen einer vorgegebenen Frist sicher. Dies zwingt die Verwaltung zu einer nachhaltigen Vernetzung ihrer heterogenen Systeme und Behörden, wozu sich derzeit die von der Wirtschaftsinformatik konzipierten serviceorientierten Architekturen und der Ansatz eines nationalen eGovernment-Servicebusses am besten eignen.
4
eGovernment und die Wirtschaftsinformatik
Die Wirtschaftsinformatik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die ihre Wurzeln sowohl in den Wirtschaftswissenschaften, insbesondere der Betriebswirtschaftslehre, als auch in der Informatik hat. Bei ihr handelt es sich um eine eigenständige, auf Wirtschaft und Verwaltung bezogene, anwendungsorientierte Informatik, die neben der Rechtsinformatik, der Verwaltungsinformatik, der Medieninformatik, der Sportinformatik, der medizinischen Informatik und der Bioinformatik steht. Aus Sicht der Informatik ist sie die Wissenschaft, die sich mit dem Entwurf, Betrieb und ökonomischen Einsatz von Informations- und Kommunikationssystemen in Organisationen der Wirtschaft und Verwaltung beschäftigt. Dazu ist sie auf Kenntnis, Weiterentwicklung und Anwendung von Methoden der Projektorganisation, der Istanalyse, der
13
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment Informationsbedarfsplanung, des Systementwurfs, der Alternativenbewertung, des Software Engineering und der Implementierung von Neuerungen angewiesen. Als Teilbereich der Wirtschaftswissenschaften strebt sie grundsätzliche Erkenntnisse und Regelungen für Unternehmen an, die sich aus dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien ergeben können. Dementsprechend beschäftigt sie sich mit der informationstechnikgestützten Gestaltung von unternehmerischem Handeln, wobei auf Erkenntnisse und Methoden der Sozialwissenschaften, insbesondere Soziologie und Psychologie, sowie anderer Wissenschaften wie der Systemtheorie und der Nachrichtentechnik zurückgegriffen wird. Somit ist sie auch eine spezielle Organisationslehre, die auf organisationstheoretischer Grundlage arbeitet, Methoden der Organisationsanalyse auf Unternehmen anwendet und einen fundamentalen Organisationsaspekt behandelt. Ausgehend von konkreten Situationen und Aufgabenstellungen einerseits und generellen Problemlösungskonzepten der Informatik andererseits sollen auf der Grundlage organisationstheoretisch gestützter Ziele, Verfahren und Methoden Problemlösungen gefunden werden, die in einer optimalen Zuordnung von Aufgaben und Methoden beziehungsweise Systemen bestehen (in Anlehnung an [Lucke 2008, S. 15]). Durch seine bewusste Ausrichtung auf Wirtschaft und Verwaltung ist auch eGovernment ein Forschungsthema für die Wirtschaftsinformatik. Im Mittelpunkt steht dabei weniger die einfache Übertragung IT-gestützter betriebswirtschaftlicher Konzepte, Theorien, Methoden, Werkzeuge und Anwendungen auf die öffentliche Verwaltung, die sich in der Verwaltungspraxis ohne weitere Anpassungen oft nur unzureichend bewähren. Viel mehr geht es der Wirtschaftsinformatik um die besonderen Anforderungen von Unternehmen, wenn diese mit Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung kommunizieren oder, wie beispielsweise bei der digitalen Betriebsprüfung, gemeinsam in kom-
14
plexe Informations- und Kommunikationssysteme eingebunden sind. Insofern – und alles andere als überraschend – gibt es in diesem Bereich vielfältige Überschneidungen mit der wissenschaftlichen Disziplin der Verwaltungsinformatik, was zu einer interdisziplinären Bearbeitung förmlich auffordert.
5
Geeignete Methoden der Wirtschaftsinformatik
Bei der Wirtschaftsinformatik handelt es sich um eine sehr praxisorientierte Wissenschaft. Sie lässt sich den Ingenieurwissenschaften und den Geisteswissenschaften gleichermaßen zuordnen. Bedingt durch die verschiedenen Wissenschaftstraditionen bedient sie sich verschiedener Methoden zur Erkenntnisgewinnung, die auch im Kontext von eGovernment Verwendung finden: Zur Konzeption neuartiger IT-Systeme, die für den künftigen Einsatz gedacht sind und die selbst Grundlage für eine Reorganisation von Unternehmen sein können, wird normativgestalterisch vorgegangen. Gestaltung wird dabei als kreativer Schaffensprozess verstanden, bei dem eine Sache verändert wird und dadurch eine bestimmte Form annimmt oder ein bestimmtes Erscheinungsbild verliehen bekommt. Im Rahmen der Systementwicklung müssen Visionen, Konzepte, Pflichtenhefte und Prototypen entwickelt werden. Prototypen helfen, Vorabversionen eines Anwendungssystems zu entwickeln und zu evaluieren. Dabei kann explorativ zum Nachweis der Tauglichkeit von Spezifikationen und Ideen, evolutionär zur schrittweisen Erweiterung der Funktionalität oder experimentell zur anschließenden umfangreichen Analyse vorgegangen werden. Zur Implementierung dieser oft sehr innovativen Systeme wird auf Vorgehensstrategien und -modelle sowie Referenzmodelle zurückgegriffen. Ihre Programmierung erfolgt mithilfe von Programmiersprachen, die auf Basis axiomatischer Modelle entwickelt wurden.
HMD 265
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment Empirisch-analytische Methoden können zur Beschreibung, zur Erklärung, zur Folgenabschätzung und zur Wirkungsforschung verwendet werden. Mit deskriptiven Analysen lassen sich beschreibende Abbildungen der Erkenntnisobjekte, etwa bereits eingesetzter IT-Systeme, anfertigen. Erklärende Aussagen stellen über die beschreibenden Aussagen hinaus die Bedingungen, Ursachen, Wirkungen und sodann erkannten Gesetzmäßigkeiten des Erkenntnisobjekts fest. Dabei kann es sich auch um Vermutungen handeln, die durch Beobachtungen und Experimente zu bestätigen sind. Hierzu eignen sich auch Simulationen und Planspiele. Fallstudien ermöglichen Einzelfallanalysen. Mit der Technikfolgenabschätzung sollen die Auswirkungen des Einsatzes von Informationstechnik auf die Organisation, die Aufgabenerledigung und die Umwelt der Unternehmen vor einem Einsatz untersucht werden, damit frühzeitig auf Risiken und unerwünschte Entwicklungen reagiert und gestaltend eingegriffen werden kann. Sie kann auch während und nach der Implementierung durchgeführt werden. Nach der Implementierung eignen sich empirisch-analytische Methoden, um die Akzeptanz und die Wirkungen des eingesetzten IT-Systems zu messen und um Anregungen zu seiner Weiterentwicklung zu gewinnen. Für die Aufgaben des Systembetriebs, der Systemwartung und der Systemablösung werden wiederum technisch-handwerkliche Methoden verwendet. Hermeneutische Methoden eignen sich für die historische Betrachtung der Einführung von IT-Systemen in Wirtschaft und Verwaltung, aber auch für die Umsetzung von Gesetzen, Verordnungen und Verträgen mithilfe von Informations- und Kommunikationssystemen. Auslegungen und Interpretationen sind wertvolle Methoden, um den Sinn der juristisch geprägten Texte in all seiner Totalität, Komplexität und Vielschichtigkeit zu ermitteln und um eine adäquate Umsetzung zu erreichen. Die grammatikalische Auslegung orientiert sich dabei am
HMD 265
Wortsinn, die systematische Auslegung an der anvisierten Gesamtsystematik, die historische Auslegung am Gesagten oder Gewollten und die teleologische Auslegung am Ziel und Zweck. Als ursprüngliche Handlungswissenschaft will die Wirtschaftsinformatik somit nicht nur Erkenntnisobjekte beschreiben, erklären und beobachten, sondern diese auch und vor allem aktiv gestalten. Die Wirtschaftsinformatik als Wissenschaft verfolgt somit gleichermaßen beschreibende, erklärende und gestalterische Erkenntnisinteressen aus einer objektiven Perspektive. Systematisch und mit Methoden erzielte Erkenntnisfortschritte tragen zur Weiterentwicklung dieser wissenschaftlichen Disziplin bei (in Anlehnung an [Lucke 2008, S. 15 f.]).
6
Erforderliche Beiträge der Wirtschaftsinformatik
Die Wirtschaftsinformatik kann aus ihrem Wissenschaftsverständnis heraus wertvolle Beiträge zur Weiterentwicklung von eGovernment liefern, die in dieser Form und in der erforderlichen Qualität von anderen Wissenschaften nur partiell, kaum oder gar nicht erbracht werden können. Insbesondere lassen sich bewährte Theorien und Methoden der Wirtschaftsinformatik auf die öffentliche Verwaltung übertragen und an ihre besonderen Anforderungen anpassen. So liegen die inhaltlichen Stärken der Wirtschaftsinformatik im Informationsmanagement, bei organisationsbezogenen und verwaltungsebenenübergreifenden Informationssystemen, bei der Entwicklung und dem Management entsprechender Informationssysteme, bei Daten- und Wissensmanagementsystemen sowie bei Methoden und Modellen der Entscheidungsunterstützung. Insofern sollte die Wirtschaftsinformatik als Wissenschaft in der Lage sein, substanzielle Beiträge zum Informationsmanagement von Staat und Verwaltung zu liefern. So können etwa der Wert des Produktionsfaktors Information für den öffentlichen Sektor bestimmt sowie Infor-
15
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment mationsbedarfsanalysen, Informationsversorgungsstrategien, Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und ein Risikomanagement konzipiert werden. Für Interoperabilität und eine globale Vernetzung von Verwaltungen sind offene Standards erforderlich, die auf die Besonderheiten des öffentlichen Sektors eingehen. Zudem lassen sich Methoden wie ITIL, Vorgaben zum Datenschutz und zur Datensicherheit, zu Architekturen und zum Prozessmanagement so anpassen, dass Anwendungssysteme und Rechenzentren auch im öffentlichen Sektor erfolgreich und wirtschaftlich betrieben werden können. Die Informationsmodellierung bietet Modellierungsmethoden, eine Metamodellierung, die Methodenkonstruktion und Ansätze für Referenzmodellierung, die sich für den Einsatz in der Verwaltung eignen. Darüber hinaus sollte die Wirtschaftsinformatik Methoden und Werkzeuge liefern können, mit denen behördeninterne und behördenübergreifende Informationssysteme aufgebaut werden. Insbesondere lassen sich Konzepte wie Enterprise Resource Planning (ERP), Supply Chain Management (SCM), Customer Relationship Management (CRM), Product Lifecycle Management (PLM), Handels- und Ladensysteme, Auktionssysteme, Ausschreibungssysteme, Marktplätze, Zahlungsverkehrssysteme und Führungsinformationssysteme auf die öffentliche Verwaltung übertragen. Wichtige Beiträge kann die Wirtschaftsinformatik zur Konzeption, zur Implementierung und zum Management von Informationssystemen in Staat und Verwaltung bereitstellen. Vorhandene Erkenntnisse zum Management des Lebenszyklus von Informationssystemen und des organisatorischen Wandels werden in der Verwaltung benötigt. In diesem Zusammenhang ist etwa an Analysen zur Akzeptanz von eGovernment-Anwendungen bei Bürgern, Unternehmen und Verwaltungsmitarbeitern, an Geschäftsmodelle und an Marketingmaßnahmen zu denken. Erfahrungen zu Vorgehensmodellen für eine System-
16
entwicklung, zum Projektmanagement, zur Problemanalyse, zur Softwareentwicklung, zur Programmierung, zum Testen, zur Auswahl, Anpassung und Einführung von Standardanwendungssoftware, zur Systemintegration und zur Systemmigration lassen sich auch in der Verwaltung wieder aufgreifen. Die Wirtschaftsinformatik liefert zudem die Grundlagen für ein effizientes Daten- und Wissensmanagement des öffentlichen Sektors. Aufsetzend auf bewährten Datenmodellen und Datenbanksystemen müssen logische Datenmodelle und Datenbankschemata, XMLSchnittstellen, Metadatenmodelle und Ontologien erarbeitet werden. Zunehmend gewinnen Content-Management-Systeme und ContentSharing-Verbünde im öffentlichen Sektor an Bedeutung. Data Warehousing, Methoden der teilautomatisierten Datengewinnung, -analyse, -generierung und -präsentation (Business Intelligence) und des Wissensmanagements steuert die Wirtschaftsinformatik ebenfalls bei. Daneben kann die Wirtschaftsinformatik ausgewählte Methoden und Modelle zur Entscheidungsunterstützung so aufbereiten, dass sie bei der Entscheidungsfindung staatlicher Stellen Berücksichtigung finden können. Dies können mathematisch-statistische Modelle und Methoden sein, Modelle und Methoden des Operations Research zur Simulation und zur Optimierung sowie Modelle und Methoden der künstlichen Intelligenz. Zu letzteren zählen evolutionäre Algorithmen, künstliche neuronale Netze, Fuzzy-Systeme, Expertensysteme und Agententechnologien. In Betracht kommen auch Hilfsmittel für das strategische Management in Politik und Verwaltung, etwa Risikoanalysen, die Balanced Scorecard oder für ein Szenariomanagement. Teils wurden entsprechende Beiträge mit Blick auf Staat und Verwaltung bereits erarbeitet und publiziert, teils wird derzeit an entsprechenden Fragestellungen noch geforscht und teils haben sich die Akteure in Deutschland noch nicht mit diesen Fragestellungen aus-
HMD 265
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment einandergesetzt. Bedauerlicherweise fehlt es der Wirtschaftsinformatik in Deutschland noch an einer gemeinsamen strategischen Herangehensweise zur raschen Schließung dieser Lücken. Zugegebenermaßen stand dies bisher noch nicht im Mittelpunkt der Aktivitäten der Wissenschaftler und Praktiker, die sich im Rahmen der Gesellschaft für Informatik im Fachbereich Wirtschaftsinformatik in einem eigenen Arbeitskreis mit eGovernment auseinandersetzen. Leider arbeiten auch nur einige Akteure im interdisziplinär angelegten Fachausschuss Verwaltungsinformatik des Fachbereichs Informatik in Recht und Verwaltung (RVI) mit. Versuche, Wissenschaftler, Praktiker und Politiker der Verwaltungs- und Wirtschaftsinformatik über andere interdisziplinär angelegte Plattformen zu bündeln und zu binden, etwa das Hochschulkolleg E-Government der AlcatelLucent-Stiftung, das Fraunhofer eGovernmentZentrum oder der ISPRAT-Verein, waren aufgrund divergierender Interessen und unterschiedlicher Schwerpunkte bisher nur begrenzt erfolgreich.
7
Offene, interdisziplinäre Forschung
Die öffentliche Verwaltung ist durch die vielen Akteure auf internationaler, nationaler, subnationaler und lokaler Ebene sehr vielschichtig. Bei ihr handelt es sich nicht um ein statisches Gebilde mit fest zugewiesenen Aufgaben, sondern um das sich immer wieder dem Wandel der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und neuen Vorgaben anzupassende administrative System der öffentlichen Hand. Ihr Aufgabenspektrum ist daher nicht konstant, sondern unterliegt Veränderungen und erfährt durch eGovernment derzeit einen ganz eigenen Modernisierungsschub. Aus diesem Rahmen heraus ergeben sich Notwendigkeiten, sich mit Fragestellungen interdisziplinär auseinanderzusetzen. Dies gilt insbesondere für jene Komplexe, zu denen bisher keine Lösungsskizzen vorliegen, da sie weit
HMD 265
jenseits bisheriger Überlegungen liegen. Im Jahr 2009 wären in diesem Zusammenhang exemplarisch die vielfältigen Fragestellungen zur Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie, des Bürgertelefons D115, des elektronischen Reisepasses und des elektronischen Personalausweises zu nennen. Ebenso wird ein Bündel interdisziplinär angelegter Methoden und Werkzeuge benötigt, die sich aus den bestehenden Ansätzen der einzelnen Wissenschaften weiterentwickeln und zur Lösung offener Fragen maßgeblich beitragen. Zu denken ist an gemeinsame Dienste (Shared Services), IT-Governance, Portale, Prozessmanagement, Fallmanagement, Wissensmanagement oder Dokumentenmanagement. Flankierend sollte auf eine Begleitforschung gesetzt werden, die sich um ein Monitoring der laufenden Forschung und Entwicklung zu eGovernment im nationalen und internationalen Bereich kümmert und eine Vernetzung der Akteure fördert. So kann verhindert werden, dass die eGovernment-Forschung in Deutschland ein Flickenteppich aus teilweise ambitionierten, jedoch überwiegend isolierten, zum Teil auch widersprüchlichen und sogar miteinander inkompatiblen Projektideen bleibt. Zudem sollte, trotz der berechtigten Zweifel der politisch und verwaltungspolitisch Verantwortlichen, auf eine interdisziplinäre Missmanagementforschung zu eGovernment gesetzt werden. Dies würde dazu beitragen, dass die Verantwortlichen aus einmal begangenen Fehlern lernen und sich Fehler nicht an anderer Stelle wiederholen. Für das Regieren und Verwalten im Informationszeitalter ist es wichtig, dass die sich aus den Informations- und Kommunikationstechnologien ergebenden Gestaltungspotenziale für Staat und Verwaltung benannt, konkretisiert und bewertet werden, um dynamisch an Umsetzungen und Veränderungen heranzugehen. Die Wirtschaftsinformatik kann gemeinsam mit der Verwaltungsinformatik, der Informatik, der Verwaltungsökonomie, dem Marketing, der Politikwissenschaft, den Rechtswissenschaften
17
Beiträge der Wirtschaftsinformatik zum eGovernment und den anderen Verwaltungswissenschaften hierzu wertvolle Beiträge liefern. Wissenschaftler sollten nicht nur beschreiben und erklären, sondern sich mit dringend zu lösenden praktischen Fragestellungen anliegensadäquat und mit wissenschaftlicher Genauigkeit auseinandersetzen, Optionen aufzeigen und mutige Gestaltungsvorschläge erarbeiten. Ein gemeinsamer interdisziplinärer Ansatz kann sich dabei als Schlüssel für eine erfolgreiche Umsetzung erweisen. Viele Fragestellungen sind heute nicht mehr mono- oder multidisziplinär zu erörtern, sondern interdisziplinär von Wissenschaftlern unterschiedlicher Wissenschaften und mit deren jeweiligen Methoden zu bearbeiten.
8
Literatur
[BITKOM 2008] BITKOM: Web 2.0 für die öffentliche Verwaltung – Grundzüge, Chancen, Beispiele und Handlungsvorschläge. Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V., Berlin, 2008. [FeGZ 2007] Fraunhofer eGovernment Zentrum: Aktuelle Trends im E-Government und Vorschläge zum Programm »E-Government 2.0«. Fraunhofer-Gesellschaft e.V., München, 2007. [GI & VDE 2000] Fachausschuss Verwaltungsinformatik der Gesellschaft für Informatik e.V. und Fachbereich 1 der Informationstechnischen Gesellschaft im VDE: Electronic Government als Schlüssel zur Modernisierung von Staat und Verwaltung. Gesellschaft für Informatik und Informationstechnische Gesellschaft im VDE, Bonn, Frankfurt, 2000. [König 2005] König, Wolfgang: Toll Collect als Forschungsgegenstand. In: Wirtschaftsinformatik, 47. Jahrgang, Heft 4, Vieweg Verlag, Wiesbaden, 2005, S. 241-242. [Lucke 2003] von Lucke, Jörn: Regieren und Verwalten im Informationszeitalter. Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 156, Duncker & Humblot Verlag, Berlin, 2003. [Lucke 2008] von Lucke, Jörn: Hochleistungsportale für die öffentliche Verwaltung. Schriftenreihe Wirtschaftsinformatik, Band 55, zugleich Habilitationsschrift an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Josef Eul Verlag, Lohmar, Köln, 2008.
18
[Lucke & Reinermann 2000] von Lucke, Jörn; Reinermann, Heinrich: Speyerer Definition von Electronic Government. Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Speyer 2000. Online: www.foev-speyer.de/ruvii/SP-EGov.pdf; Zugriff am 03.12.2008. [Müller 2004] Müller, Horst: eGovernment 2004 – Zeit zum Paradigmenwechsel – Erwartungen – Potenziale – Strategien. Müller + Fortmühler GbR Administrative Management and Consulting (ADMAC), Goldkronach, 2004. Online: www.admac-consult.de/download/eGovernment 2004.pdf; Zugriff am 03.12.2008. [Quandel & Tschichholz 2002] Quandel, Gudrun; Tschichholz, Michael: Monitoring E-Government – Das Jahrbuch für Deutschland 2002/ 2003. Fraunhofer eGovernment Zentrum, Berlin, 2002. [Reinermann & Lucke 2002] Reinermann, Heinrich; von Lucke, Jörn (Hrsg.): Electronic Government in Deutschland, Ziele – Stand – Barrieren – Beispiele – Umsetzung. Speyerer Forschungsbericht, Band 226, Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Speyer, 2002. [Scheer et al. 2003] Scheer, August-Wilhelm; Kruppke, Helmut; Heib, Ralf: E-Government – Prozessoptimierung in der öffentlichen Verwaltung. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 2003. [Wimmer 2002] Wimmer, Maria: Integrated service modeling for online one-stop Government. In: EM – Electronic Markets – The International Journal of Electronic Commerce & Business Media, 12. Jahrgang, Band 3, St. Gallen, 2002.
Prof. Dr. Jörn von Lucke Zeppelin University Friedrichshafen Deutsche Telekom Institute for Connected Cities (TICC) Am Seemooser Horn 20 88045 Friedrichshafen Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme ELAN Kaiserin-Augusta-Allee 31 10589 Berlin
[email protected] www.fokus.fraunhofer.de
HMD 265