Z Außen Sicherheitspolit (2011) 4:295–311 DOI 10.1007/s12399-011-0173-z E s s ay s
Der Wandel des internationalen Systems und die deutsche Sicherheitspolitik Stephanie Willmann · Matthias Wolfram
Zusammenfassung: Welche Entwicklungen werden das internationale System verändern? Welche Bedeutung hat dies für die internationale Politik und die deutsche Sicherheitspolitik? Der Artikel beleuchtet diese Fragen durch eine Betrachtung zentraler Machtverschiebungen und ihrer Auswirkungen auf die internationale Ordnung, Staatlichkeit und Institutionen. Er kommt zu dem Schluss, dass sich mittelfristig eine stark heterogene und eher unordentliche internationale Ordnung entwickeln wird. Daraus ergeben sich Legitimitätsverluste für Institutionen, die durch den Bedeutungszuwachs nicht staatlicher Akteure und fragiler Staaten besonders betroffen sind. Schlüsselwörter: Internationales System · Multipolarität · Nichtpolarität · Deutsche Sicherheitspolitik · Fragile Staatlichkeit · Nato
The Changing International System and German Security Policy Abstract: Which developments will shape the international system? How will these developments affect international politics and German security policy? This article investigates these questions by delineating major power changes and their effects on the international order, statehood, and global institutions. The article examines salient shifts in international power and posits that a heterogeneous and rather messy new international order will arise. As a consequence, legitimacy deficits will undermine those key institutions that are particularly vulnerable to two developments: the rise of non-state actors and the simultaneous increase in failing states. Keywords: International System · Multipolarity · Nonpolarity · German Security Policy · Fragile States · Nato Online publiziert: 30.03.2011 © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011 Der Artikel gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autoren wieder. Stephanie Willmann ist Referentin für Kommunikation und Militärstrategie bei Rheinmetall. Zuvor arbeitete sie am Zentrum für Transformation der Bundeswehr. Matthias Wolfram ist Stabsoffizier der Bundeswehr. Dr. S. Willmann () Rheinmetall AG, Rheinmetall Platz 1, 40476 Düsseldorf, Deutschland E-Mail:
[email protected] M. Wolfram Führungsakademie der Bundeswehr, Manteuffelstr. 20, 22585 Hamburg, Deutschland E-Mail:
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1 Einleitung Obwohl es inzwischen als Allgemeinplatz gilt, dass das internationale System im Umbruch begriffen ist, lohnt es sich gerade wegen des Mangels an einer problemrelevanten Aufarbeitung dieses Wandels, diejenigen strukturellen und institutionellen Veränderungen nachzuzeichnen, die das neue internationale System charakterisieren werden. Im Folgenden sollen allerdings nur Entwicklungen herausgestellt und bewertet werden, die einen mittelbaren oder unmittelbaren Bezug zur Gestaltung der deutschen Sicherheitspolitik bzw. zur künftigen Rolle der Bundeswehr aufweisen. Zuerst werden deshalb die als klassisch geltenden, sicherheitspolitischen Faktoren Machtverschiebungen, Ordnung, Institutionen und Staatlichkeit untersucht, da die sich hier schon jetzt abzeichnenden außerordentlichen Veränderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit konkrete Auswirkungen auf die zukünftige Bundeswehr nach sich ziehen werden. Des Weiteren fungieren die vier Faktoren hier als Messlatten des Umbruchs, da sich mithilfe dieser Begriffe der globale Wandel veranschaulichen lässt und somit analysiert werden kann. Letztendlich bilden diese vier Kriterien einen Satz an aussagefähigen Parametern für den Bereich der internationalen Politik, die sich zwar faktorinhärent entwickeln, einander bedingen und verändern, die aber für jedwede Ausprägung deutscher Sicherheitspolitik in Abstufungen bestimmend sein werden. In einem zweiten Schritt werden dann die Veränderungen der genannten systemischen Faktoren auf die nationale Ebene Deutschlands projiziert: Das heißt, dass die mit den globalen Entwicklungslinien einhergehenden, spezifisch deutschen Problemstellungen, die in Zukunft den nationalen Bestand an sicherheitspolitischen Herausforderungen prägen, näher betrachtet werden. Im Lichte der Globalisierung und der damit einhergehenden Vernetzung wird die gesamtstaatliche oder in Extremfällen die gesamtgesellschaftliche Reaktion auf außenpolitische Herausforderungen voraussichtlich auch in der Zukunft ein zentrales Thema vorausschauender Sicherheitspolitik sein. Daher wird darüber hinaus das gegenwärtig populäre Thema des comprehensive approach bzw. der Vernetzten Sicherheit aufgegriffen, um aufzuzeigen, wie sich die globalen Veränderungen im Speziellen auf die deutsche Politik auswirken und dort eine Anpassung einfordern. Der Versuch, zukünftige Entwicklung zu analysieren, ist in jedem Fall eine reizvolle, aber auch oft ambivalente Herausforderung. So wichtig Vorstellungen bezüglich des zukünftigen sicherheitspolitischen Umfeldes für die Ausrichtung von Organisationen und Staaten sind: Eine sichere Prognose zukünftiger Trends bleibt bei allem methodischen Fortschritt aufgrund der komplexen sozialen Systeme, die im Fokus der Betrachtung stehen, unmöglich. Unter der Beachtung des Grundsatzes, dass die Zukunft unbestimmt ist und es vielfältige mögliche Entwicklungspfade gibt, lässt sich dennoch eine – zwangsläufig subjektive, aber begründete und nachvollziehbare – Gewichtung der möglichen Optionen vornehmen. Diese wird je nach Perspektive nicht von allen Betrachtern geteilt werden. Doch gerade die Reflexion und Diskussion über diese möglichen zukünftigen Entwicklungen sind für die Erarbeitung einer Strategie von grundlegender Bedeutung. Diese Debatte zu beleben, ist daher das Ziel des vorliegenden Artikels. Als Bezugspunkt für die hier betrachteten Entwicklungen wird das Jahr 2025 genutzt. Es bildet einen nützlichen Kristallisationspunkt für die zu analysierenden Entwicklungen und liegt bereits zahlreichen entsprechenden Zukunftsstudien zugrunde.
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2 Machtverschiebungen im internationalen System Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes befindet sich das internationale System im Wandel. Die Veränderungen der Machtverteilung zwischen den großen Mächten verschieben dabei die vermeintlich trägen Pfeiler des internationalen Systems. Daher ist die Frage berechtigt, von woher und wohin verschiebt sich eigentlich „die“ Macht? Wo findet Machtauflösung statt, wer profitiert davon und gibt es in der Folge wieder eine Gegenmachtbildung? Die heutige Ausgangsposition ist zunächst schnell ausgemacht: Entgegen der landläufigen Einschätzung, die häufig ein vermeintlich unipolares System feststellt, befinden wir uns gegenwärtig in der Phase eines „multipolaren System[s] mit unipolarem sicherheitspolitischen Kern“ (Masala 2008, S. 22). Die USA nimmt in dieser Konstellation aufgrund ihrer herausragenden militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten eine durchaus außerordentliche, jedoch keine alles bestimmende Position ein. Die immerhin besondere Rolle der USA, die dazu führte, dass manche die letzte Dekade als sogenannten „unipolaren Moment“ interpretierten, wird sich jedoch grundlegend wandeln: Geht man von einem relativen Charakter von Macht aus, dann verschiebt sich Macht im internationalen System grundlegend. Die USA verliert Macht und büßt dabei ab einem bestimmten Punkt ihre „besondere“ Rolle ein. Kurz gesagt: Im internationalen System wird die von manchem als Hegemon überhöhte USA erheblichen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gestaltungsraum einbüßen. Stattdessen wird der Aufstieg der sogenannten BRIC-Staaten, dabei vor allem jener Indiens und Chinas, zu in einigen Bereichen konkurrierenden Großmächten das internationale System der Zukunft kennzeichnen (UK Ministry of Defense 2010). Das liegt nicht nur an den wirtschaftlichen, Prestige- und soft-power-Verlusten der USA, sondern insbesondere auch am gestiegenen innen- und außenpolitischen Selbstbewusstsein und der damit einhergehenden Ambitionen der BRIC-Staaten (Roberts 2008, S. 12). Basierend auf ihrer steigenden wirtschaftlichen und politischen Macht fordern diese ganz bewusst eine Anpassung des internationalen Systems, seiner Regeln und seiner veralteten Institutionen an ihre sich neu herausschä Macht wird in Anlehnung an Cox und Jacobson (1974, S. 3–4) als Fähigkeit eines Akteurs verstanden. Macht kann in Einfluss umgewandelt werden, wobei es im Belieben des jeweiligen Akteurs steht, seine Macht überhaupt, nur in Teilen oder ganz zur Beeinflussung anderer Akteure oder Situationen einzusetzen. Die Beschreibung des internationalen Systems als „uni-multipolar“, geprägt von Samuel Huntington (1999, S. 35–49) wurde von zahlreichen Autoren aufgegriffen. Eine darauf aufbauende Darstellungsform ist das von Joseph Nye entwickelte dreidimensionale Schachbrett, das auf militärischer und ökonomischer Ebene sowie jener der soft power jeweils unterschiedliche Ausprägungen des internationalen Systems sieht (vgl. Nye 2002, S. 39–40). Es beinhaltet jedoch in seinem Kern die gleiche Aussage: Das System ist multipolar und beinhaltet mehrere Dimensionen. Die Bezeichnung umfasst die vier größten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China. Die Analyse des britischen Think Tanks DCDC weist zu Recht darauf hin, dass dies aufgrund der immensen Herausforderungen, vor denen China in den kommenden Jahren steht, langfristig nicht zwangsläufig eintreten muss. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit des chinesischen Aufstiegs aus heutiger Sicht als sehr hoch einzuschätzen.
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lende Rolle ein (Sewall 2008, S. 92). Ausdruck der Umverteilung von Macht ist auch die Bildung regionaler Machtblöcke wie etwa durch Brasilien und Russland, zumal beide danach streben, ihr Einflussgebiet zu erweitern oder zumindest ihre Region gegen andere Einflüsse abzugrenzen (Khanna und Rusi 2008). Die Bildung der Shanghai Cooperation Organization (SCO) ist in diesem Zusammenhang ein besonders offensichtliches Beispiel der Versuche, einen Gegenpol zu westlich geprägten internationalen Organisationen und der Dominanz der internationalen Beziehungen durch die USA und ihren Partnern aufzubauen. Betrachten wir die vier genannten Staaten jedoch aus wirtschaftlicher Perspektive, zumal hier der Ursprung ihres Aufstiegs liegt, gilt es zu beachten, dass viele Schwellenländer noch am Anfang einer Entwicklung hin zu einer global integrierten Ökonomie stehen (Wilson und Purushothaman 2003). Der wirtschaftliche Transformationsprozess, dessen erfolgreiches Durchlaufen die Basis der angesprochenen politischen Ambitionen für die nächsten Jahrzehnte darstellt, ist aber empirisch betrachtet auch immer wieder Auslöser gefährlicher Instabilitäten, was jegliche Vorhersage erschwert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Aufstieg der BRIC-Staaten nicht ohne Hindernisse sein wird: So gehören beispielsweise Rezessionen zu marktwirtschaftlichen Systemen, in denen Erwartungsbildung eine herausragende Rolle spielt, dazu. In globalisierten Ländern besteht ein Grundvertrauen in die Wirtschaft, das dazu führt, dass Rezessionen selten eine Systemkrise hervorrufen. In Schwellenländern gibt es dieses Grundvertrauen jedoch noch nicht. Stattdessen streiten dort die politischen Kräfte auf einer weitaus grundsätzlicheren und oft auch radikaleren Ebene. Wirtschaftskrisen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft können hier durchaus zum Ausgangspunkt schwerer politischer Verwerfungen führen. In jedem der BRIC-Staaten gäbe es heute hierfür Anzeichen. Zudem darf die Zusammenfassung der vier Staaten in einer Kategorie nicht täuschen: Sowohl Ausgangspositionen und fundamentale Parameter als auch Perspektiven und Risiken divergieren zwischen den verschiedenen Staaten der Gruppe teilweise erheblich. Dennoch scheinen sie aus heutiger Sicht die bedeutendsten Gewinner der Machtverschiebungen zu sein.
Alle BRIC Staaten fordern eine Adaption oder Akkommodation des internationalen Systems, wenn auch in unterschiedlichen Maße und mit durchaus abweichenden Präferenzen bezüglich des Weges dorthin, z. B. kooperativ oder auch auf Kosten anderer. Diese Adaption ist aus der Sicht der BRIC verständlich und notwendig, um den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg zu konsolidieren und gegebenenfalls weiter zu ermöglichen, da aus dem Aufstieg neue Interessen und Verpflichtungen entstanden sind. Die SCO wurde 2001 durch Russland, China, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan als Erweiterung des Shanghai-Five-Mechanismus mit dem Ziel der Vertrauensbildung und Verbesserung der Zusammenarbeit gegründet. Trotz einer Ausweitung der Kooperation auf die Bereiche Sicherheit, Handel und Wirtschaft konnte sie bis heute allerdings nur wenige Projekte konkreter Zusammenarbeit verwirklichen. Die beispielgebenden Prognosen für die langfristige Einschätzung des Aufstiegs der BRICStaaten von Goldman Sachs wurden von zahlreichen anderen Analysten bestätigt oder übernommen, darunter beispielsweise offizielle amerikanische Quellen wie die Trendstudie des nationalen Rates der Nachrichtendienste (U.S. National Intelligence Council 2008; U.S. Joint Forces Command 2008).
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3 Eine neue internationale Ordnung – Erfordernis neuer Institutionen? Insgesamt können wir also im internationalen System sich neu ausprägende Knotenpunkte von Macht identifizieren, die eine neue internationale Ordnung bedingen werden. Wenn der Aufstieg „neuer“ Großmächte auch nicht immer ohne Hürden verlaufen wird, so gilt es doch mindestens, die veränderte Rolle der USA und die systemische Aufwertung anderer Staaten wahrzunehmen. Darüber hinaus ist die rein durch militärische, wirtschaftliche oder politische Machtverschiebungen hervorgerufene zukünftige Konstellation konstruktiv, systemisch und institutionell zu verarbeiten. Was heißt das? Es bedeutet, dass sich die altbewährten internationalen Institutionen – wie die Vereinten Nationen oder der Internationale Währungsfonds (IWF) – an den gewachsenen Einfluss neuer Machtpole anpassen und sie diese mit den eigenen Strukturen in einen neuen Einklang bringen müssen. Ansonsten droht der Legitimitätsverlust multilateraler Institutionen weiter voranzuschreiten; im extremsten Fall werden sie als überflüssig wahrgenommen werden. Die „alten Institutionen“ werden in einem solchen Szenario nämlich nicht mehr die systemische Realität und neue Machtverteilung widerspiegeln, sondern sie sind durch die Reflexion der überholten und längst nicht mehr gültigen Machtstrukturen zu Illegitimität und mangelnder Durchsetzungskraft verdammt. Viele Beobachter halten dies aufgrund der anachronistischen Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats bereits heute für gegeben (Varwick 2004, S. 37; Auswärtiges Amt 2010). Die noch nicht dauerhaft im Rat vertretenen Schwellenländer Indien und Brasilien, aber auch zahlreiche andere Kandidaten auf einen dauerhaften oder ständigen, rotierenden Sitz weisen immer wieder auf die weit zurückliegende historische Grundlage seiner Besetzung, deren Veränderung und die daraus resultierende notwendige Vergrößerung des Rates hin. Inwiefern die durch die heute faktisch überholte Vergabe der ständigen Ratssitze infrage gestellte Legitimität des Gremiums seiner Durchsetzungskraft tatsächlich schadet, ist allerdings schwer zu ermessen. Eine allgemein akzeptierte, repräsentative Sitzverteilung jedoch würde unzweifelhaft seine Beschlüsse stärken. Es ergibt Siehe oben. Außerdem: Die Umstellung zentralistischer Volkswirtschaften auf marktwirtschaftlich organisierte Globalisierungsgewinner wird sicherlich nicht ohne Krisen ablaufen. Gerade die Integration in den internationalen Finanzmarkt bedarf großer Umsicht, Erfahrung und auch Zeit. Gleichzeitig drängen Lobbygruppen und durch globale Medien angespornte Bevölkerungen auf schnelle Erfolge und immer mehr Freiheiten. Regierungen stehen unter dem Druck, in relativ kurzer Zeit Märkte freizugeben, über deren Regulierungsmöglichkeiten und Gefahren sie nur wenig wissen können. Dieses Spannungsfeld wird gerade für die BRIC-Staaten die größte Herausforderung bis 2025 bleiben, auch wenn dies ihren Aufstieg nicht dauerhaft unterminieren wird. Auch das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass der UN-Sicherheitsrat durch seine mangelnde Repräsentativität ein Legitimationsproblem besitzt. Für eine Reform des Gremiums wurden in den letzten Jahren zahlreiche Vorschläge gemacht und im Zuge der Diskussionen um eine gerechte, den weltpolitischen Gegebenheiten angemessene Vertretung der Staaten auch eine große Zahl von Veröffentlichungen getätigt. Siehe zur Reformdiskussion nach dem letzten gescheiterten Anlauf einer Erweiterung der Weltorganisation 2005 zusammenfassend Varwick und Zimmermann (2006). Hinter dem Ruf nach Annpassung stehen dabei zumeist handfeste Interessen: Viele der Kritiker der Ratszusammensetzung erwarten sich von der Erweiterung einen eigenen ständigen Sitz in dem Gremium.
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sich somit die Herausforderung, die neue internationale Ordnung so zu gestalten, dass sich in dieser der Aufstieg der neuen Mächte widerspiegelt, damit diese die vorherrschenden internationalen Regeln und Institutionen als legitim und als ihren eigenen Interessen förderlich ansehen. Einen ersten Schritt hin zu einer solchen Entwicklung hat die Runde der G8 bereits vollzogen. Mit ihren ersten Treffen im Format G20 hat sie gezeigt, dass die Bedeutung weiterer Staaten erkannt worden ist. Auch wenn die Erweiterung der Runde anlassbezogen aufgrund der globalen Finanzkrise erfolgte, für deren Lösung eine Einbeziehung weiterer Staaten wie China zwingend notwendig war, werden die betreffenden Staaten eine weitere Einbeziehung in Entscheidungen einfordern und einer Rückstufung der Institution kaum zustimmen. Gleichzeitig entsteht jedoch dasselbe Dilemma, dem der UN-Sicherheitsrat unterliegt: Diejenigen Nationen, die relativ an Macht verlieren und von anderen Staaten überholt werden, halten an ihren Privilegien und herausgehobenen Positionen in den multinationalen Entscheidungsgremien fest. In Anbetracht der steigenden Zahl der Teilnehmer wäre in vielen Gremien eine Anpassung der Verfahrensregeln notwendig, um auch unter diesen Bedingungen eine effektive Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Wie schwierig sich dies gestaltet, zeigen die Diskussionen um Abstimmungsmodalitäten und Stimmengewichtungen im UN-Sicherheitsrat oder auch in den Gremien der Europä ischen Union im Zuge ihrer Erweiterung. 4 Die Problematik neuer Institutionen am Beispiel einer „Allianz der Demokratien“ Eine starke Strömung in den USA hat in den letzten Jahren immer wieder eine wirklich globale, neue Institution im Sinne einer „Allianz der Demokratien“ mitsamt dem Konzept einer konditionalen Souveränität gefordert (Slaughter und Ikenberry 2006, S. 8; Daalder und Lindsay 2007). Eine derartige Allianz hätte als Durchsetzungsorgan zunächst eine globale Nato zur Grundlage (Rudolf 2008, S. 5). Trotz des Politikwechsels der USA nach der Präsidentenwahl von 2008 lohnt dieser Gedanke eine nähere Betrachtung. Mit einer solchen Allianz wäre zwar ein neues institutionelles Gebilde entstanden, dass beispielsweise (und wie von diesen Staaten auch gewünscht) die neuen Mächte Brasilien und Indien adäquat einbindet und ihren Aufstieg anerkennt. Zugleich würde aber eine insider-outsider-Problematik entstehen, die eine spaltende und sogar konfrontationsfördernde Wirkung im internationalen System zur Folge hätte, da sich Staaten wie Russland und China wohl kaum mit einer so global institutionalisierten responsibility to protect und damit einer limitierten und konditionalen Souveränität identifizieren würden. Genau hier besteht das Dilemma: Im Jahr 2025 sollten sich also einerseits bestehende internationale Regeln und Institutionen an die neue Systemlage angepasst haben und damit die neue Machtverteilung mit den ordnungspolitischen Strukturen in Einklang bringen. Andererseits wird eine solche Adaption, die zudem für das Überleben bewährter Institutionen notwendig ist und die Ausprägung des internationalen Systems mit seinen Arbeitsmechanismen in Einklang bringt, mit deutlichen Machtverlusten derjenigen verbunden sein, die eigentlich eine führende Rolle bei der Umgestaltung übernehmen müssten. Für die USA wären beispielsweise einerseits eine Weiterentwicklung des von ihr etablierten
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instrumentellen – das heißt, für sie nützlichen – Multilateralismus (Braml 2009), etwa in einer globalen Allianz der Demokratien, vorteilhaft, da sie so weiterhin internationale Politik maßgeblich gestalten könnten. Die USA würden ihre Machtverluste durch Kosten- und Lastenverteilung ausgleichen, während sie von der Zuverlässigkeit und den Legitimationsbeiträgen der (Vertrags-)Partner profitieren würde. Andererseits würde eine solche neue globale Sicherheitsinstitution zwar die Legitimität globaler Interventionen beinahe garantieren, eine globale Allianz würde aber qua ihrer Größe und Abstimmungsverfahren die Handlungsfähigkeit der USA einschränken, da sie sich bei der Auswahl an Interventionen und deren Durchführungsmodi dem (Mehrheits-)Votum der anderen Mitglieder beugen müssten. Da für die USA Koalitionen von Willigen bzw. Fähigen größere Flexibilität und – zumindest kurzfristig – Effektivität mit sich bringen, werden die bewährten Pfeiler des instrumentellen Multilateralismus wohl erheblich geschwächt werden. Konkret bedeutet dies am Beispiel der Nato, dass diese aus US-amerikanischer Sicht ihre einmalige transatlantische Sicherheitsfunktion verlieren wird, falls sie sich nicht doch als verlässlichere und langfristig effektivere, da legitimere Alternative zu Ad-hocKoalitionen bewährt. Bevor wir diesen Punkt aus deutscher Sicht noch einmal aufgreifen, ist im Folgenden auf eine weitere Neuerung in der Struktur des internationalen Systems einzugehen. 5 Die Rolle und Stellung nicht staatlicher Akteure Wie wird das internationale System im Jahr 2025 also voraussichtlich aussehen? Die Frage kann nicht zufriedenstellend beantwortet werden, wenn nicht zuvor eine weitere Gruppe benannt wird, die von einem Machtverlust staatlicher Akteure per se profitiert: Es handelt sich um die nicht staatlichen Akteure. Die Aufwertung nicht staatlicher Akteure im internationalen System ist dabei nicht voreilig als ausschließlich negative Entwicklung einzuordnen. Vielmehr bietet sie sowohl Vorteile als auch Nachteile: Durch ihre sehr viel größere Flexibilität aber auch die Besonderheiten ihrer Verfassung erweitern nicht staatliche Akteure die Bandbreite der verfügbaren Handlungsoptionen in der Interaktion von Akteuren im internationalen System. Die Schaffung zusätzlicher Möglichkeiten ist systemisch betrachtet zweifelsohne auch in Teilen ein Gewinn. Die fehlende Rechenschaftspflicht und die problematischen Verantwortlichkeiten sowie die bisher ungenügende Anpassung des internationalen Rechtsrahmens, aber auch der politischen Strukturen stellen jedoch zunächst einen mitunter gravierenden Nachteil dar. Sie eröffnen im ungünstigsten Fall ein Vakuum, in dem nicht staatliche Akteure oftmals ungehindert und unkontrolliert eigenen Zielen nachgehen können. Dabei stehen ihnen durch die voranschreitende Demokratisierung von Informationen und Wissen sowie die Proliferation von Hochtechnologie und globalen Freizügigkeiten im Rahmen der Globalisierung zahlreiche Mittel zur Verfügung, um Staaten in Einzelbereichen auf Augenhöhe begegnen und herausfordern zu können. Die weitere Entstehung nicht staatlicher Akteure und ihre Einmischung nicht nur in nationale, sondern ebenfalls in internationale Politikprozesse wird aber nicht mehr aufzuhalten sein und ist auch in Zukunft ein fester Bestandteil der globalen Entwicklung. Daher wird die bis 2025 weiter gestiegene politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche
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und militärische Relevanz nicht staatlicher Akteure von den Nationalstaaten in politischen Entscheidungen voraussichtlich mit größerer Selbstverständlichkeit und Übung berücksichtigt werden, da nur die substanzielle Anerkennung der gesteigerten Relevanz von nicht staatlichen Akteuren erfolgreiches Regieren auf nationaler wie internationaler Ebene ermöglicht. Hierbei darf nicht nur reaktiv agiert werden – das heißt, dass als Reaktion auf diese an sich unübersichtliche Entwicklung die viel beschworenen Schnittstellen zwischen allen relevanten staatlichen und nicht staatlichen Stellen zu schaffen und zu pflegen sind. Darüber hinaus müssen schon bei der ersten Analyse von Problemen in beinahe jedem Bereich die Rollen nicht staatlicher Akteure mit einbezogen, berücksichtigt und dementsprechend aktiv in Planungen und Lösungen integriert werden. Somit wird die frühestmögliche proaktive Auseinandersetzung mit und Integration von nicht staatlichen Einflüssen zu einer der wichtigsten erfolgsentscheidenden Determinanten in sämtlichen Bereichen internationaler und nationaler Politik werden. Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass Staaten und nicht staatliche Akteure gleichberechtigt auf einer Stufe anzusiedeln sind. Vielmehr ist eine grundsätzlich zurückhaltende Entwicklung zu erwarten, bei der Staaten nicht staatliche Akteure immer dann heranziehen, wenn sie einen Nutzen für die Problemlösung erbringen können. Dies würde dennoch zu einer schrittweisen Ausweitung der Einbeziehung führen, wobei Staaten voraussichtlich versuchen werden, sich einen strukturellen Vorsprung vor den nicht staatlichen Akteuren zu erhalten. Somit ergibt sich insgesamt eine graduell sehr unterschiedliche, selektive Aufwertung nicht staatlicher Akteure, die jedoch in einigen Bereichen weitreichende Formen annehmen wird. In einzelnen Fällen werden nicht staatliche Akteure Lücken und Nischen besetzen, die Staaten nicht ausfüllen können oder wollen. Dieser Trend ist schon heute deutlich.10 In einigen Bereichen wird es schließlich aber auch zu einem kompetitiven oder konfrontativen Ringen um Macht und Einfluss zwischen beiden Gruppen von Akteuren kommen. In bestimmten Situationen sind nicht staatliche Akteure dabei aufgrund ihrer grundsätzlich größeren Flexibilität Staaten gegenüber im Vorteil: Sie sind weniger an Konventionen und Regelungen gebunden, organisatorisch flexibler und meist weniger einem Publikum rechenschaftspflichtig, was sie zu kurzfristigen Strategie- oder Taktikwechseln befähigt. Auf globaler Ebene folgt daraus aber, dass Nationalstaaten im Jahr 2025 nicht mehr die einzigen und schon gar nicht immer wichtigsten Akteure auf dem internationalen Parkett sein werden. Statt dessen wird die relative Machtverschiebung hin zu den nicht staatlichen Akteuren dazu führen, dass ein immer breiter werdendes Spektrum an unterschiedlichsten nicht staatlichen Akteuren eine immer größer werdende Bandbreite an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Fragen entscheiden oder zumindest beeinflussen wird. Aufgrund der Minderung der vormalig herausragenden Rolle der (weiterhin wichtigen) Nationalstaaten wird das internationale System im Jahr 2025 also von einer komplexen Melange an nicht staatlichen und staatlichen Akteuren geprägt sein. Deshalb kann nicht von einem multipolaren System ausgegangen werden, das ausschließlich von 10 Dies reicht von privaten Militärfirmen, die durch Staaten anstelle regulärer Streitkräfte eingesetzt werden, über Firmen die offiziell im Staatsdienst stehen und in unruhigen Gebieten wie dem Nigerdelta selbst für die Aufstellung von Sicherheitskräften sorgen bis hin zu Unternehmen, mit der Erlaubnis zur Aufstellung eigener paramilitärischer Kräfte (vgl. Financial Times Deutschland 2007; Rosenau et al 2009, S. 15).
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ganz bestimmten Staaten oder Gruppen von Staaten beherrscht wird. Stattdessen wird das multipolare System entscheidend von nicht staatlichen Akteuren ergänzt und mitgeprägt werden, die von Machtverschiebungen zwischen einzelnen staatlichen Akteuren aber auch von der Erosion staatlicher Macht an sich profitieren. Das internationale System wird sich infolgedessen strukturell durch eine außerordentliche Vielschichtigkeit und Heterogenität der Akteure (bestehend aus Staaten und unterschiedlichsten einzelnen und kooperierenden nicht staatlichen Akteuren) auszeichnen, was auch als „Nichtpolarität“ (Haas 2008, S. 44–56) bezeichnet werden kann. Die darin implizite Aufwertung nicht staatlicher Akteure und die Folgen der Reduzierung von Staatlichkeit sollen im folgenden Abschnitt behandelt werden. 6 Reduzierte Staatlichkeit Der Verlust an Staatlichkeit wird oft als eine Folgeerscheinung der häufig fälschlicherweise zunächst nur als wirtschaftlich begriffenen Globalisierung verstanden. Er wird auf internationaler Ebene besonders dadurch verdeutlicht, dass Staaten im Alleingang ihre wirtschaftlichen, aber eben auch viele ihrer ordnungs- und sicherheitspolitischen Interessen oft kaum mehr durchsetzen und konsolidieren können. Zudem bringt die immer stärkere Vernetzung der Welt ein Phänomen zum Vorschein, das bisher weniger stark beachtet wurde und weniger von Bedeutung war: die häufig unvollständige Herrschaft von Regierungen über das ihnen offiziell unterstehende Territorium. Oft als schwache oder prekäre Staatlichkeit zugespitzt, täuscht ein großer Teil der öffentlichen Diskussion darüber hinweg, dass dieses Phänomen weder neu ist noch die betroffenen Staaten einheitlich als gescheitert angesehen werden können (Nagl und Stange 2009, S. 3). Vielmehr existiert auch hier eine Bandbreite an Zuständen, von denen das völlige Scheitern eines Staates nur einen Endpunkt und damit einen Extremzustand darstellt (Patrick 2006, S. 30; Zartmann 2009, S. 3). Das Einsetzen von Staaten als zentraler und völkerrechtlich letztlich einzig verantwortlicher Instanz negierte oder überdeckte jedoch die Existenz von starken und historisch gewachsenen Strukturen auf regionaler oder lokaler Ebene, die in vielen Gebieten eine überaus hohe Bedeutung für das tägliche Leben der Bevölkerung besitzen. Dies war und ist in vielen der betroffenen Staaten zunächst eine Binnenproblematik. Die Koexistenz von verschiedenen Hierarchien und Regierungsstrukturen führt dabei letztlich zu einer Parallelwelt oder bestenfalls einer Aufgabenteilung, in der lokale oder regionale Strukturen einen Teil der anfallenden Schutzfunktionen und Fürsorgeaufgaben wahrnehmen, während staatliche Institutionen die Vertretung nach außen und die Organisation von Außenkontakten leisten. Als Beispiel einer solchen Parallelität von Strukturen kann aus aktuellem Anlass Afghanistan herangezogen werden. Während es dort mit wenigen Ausnahmen eine Regierung gab, die beanspruchte, das Land auf der Weltbühne zu vertreten, überließ diese viele soziale und gesellschaftliche Bereiche den Stämmen und ihren Führern, die viele nach westlichem Verständnis staatliche Funktionen übernahmen. War dies im Regelfall unproblematisch, so birgt es dennoch den Keim für eine transnational und international relevante Problematik in sich: Die Aufteilung der Macht und die schwindende Fähigkeit
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zur Steuerung und zum Eingriff durch den Staat durchtrennen die Verbindung zwischen dem offiziellen Träger der Verantwortung und dessen Interventionsmöglichkeiten. Dies ermöglicht die Entstehung eigenständiger Entwicklungen auf regionaler oder lokaler Ebene, auf die der eigentlich verantwortliche Staat keinen Einfluss mehr hat. Vor allem die Gründung von Nationalstaaten und die Festlegung staatlicher Grenzen während der Kolonialzeit hat die Illusion einer in gleichrangige Einheiten aufgeteilten Welt erschaffen. Einige dieser Staatsgebilde waren und sind jedoch kaum mehr als eine teilweise oder gänzlich unausgefüllte Hülle, die dem Anspruch eines funktionalen Staatswesens nie entsprechen konnten. Sie jedoch als funktionierende Staaten zu behandeln, führt zu einer mitunter realitätsfernen Erwartungshaltung an sie, die zu einer wenig hilfreichen Ausrichtung eigener Politik führt. So lange es aus dem Territorium der betreffenden Staaten heraus allerdings nicht zu bedeutsamen Interaktionen mit der Außenwelt kam, war eine solche Dysfunktionalität für die internationale Gemeinschaft nicht von Belang. Die im Zuge der Globalisierung immer enger werdende Vernetzung der Welt führt jedoch zu einer potenziell deutlich erleichterten und damit häufig stark steigenden Interaktion zwischen Akteuren auch in bisher wenig erschlossenen und abgelegenen Regionen oder Staaten (Haas 2010). Mobiltelefone, das Internet und Satellitenkommunikation sowie der Ausbau von Infrastruktur und entsprechende Erleichterungen im Waren- und Personenverkehr binden bisher entlegene Regionen in die globalisierte Welt mit ein und katapultieren vorher weitgehend bedeutungslose Gebiete und Akteure in den Kreis international relevanter Größen. Dies ermöglicht Akteuren mit divergierender Auffassung ihrer rechtlichen und funktionalen Bedeutung eine Teilnahme an und Einflussnahme auf internationale Prozesse und kann damit in letzter Konsequenz die Errichtung einer nicht anerkannten und strukturell nicht vorgesehenen, konkurrierenden Entität auf dem Territorium eines bestehenden Staates befördern. Neben diesen schwachen Staatsgebilden ist zudem eine weitere Entwicklung zu beobachten, in der staatliche Interessen in Teilbereichen gar nicht mehr durchgesetzt werden sollen: Von bestimmten Staaten wird ganz bewusst eine gezielte Vernachlässigung von Räumen betrieben, um sich auf als strategisch wichtiger wahrgenommene Gebiete zu fokussieren. Durch die gezielte Nutzung von Entwicklungshilfe, aber auch von nicht staatlichen Hilfsorganisationen lagern sie staatliche Funktionen vor allem in Bereichen der Wohlfahrt bewusst aus. Auch Kernaufgaben des Staates wie die Ausübung des Gewaltmonopols und die Durchsetzung von Sicherheit werden in einigen Staaten bewusst Milizen und anderen nicht staatlichen Organisationen übertragen. Die von außen wahrgenommene Schwächung des Staates wird damit in einigen Fällen rational kalkuliert als Mittel der Politik eingesetzt (Weber 2008, S. 17). Auch für diesen Mechanismus ist eine Fortsetzung zu erwarten, die ebenfalls zu einer Aufwertung der Rolle nicht staatlicher Akteure führt. In den Regionen, in denen Staaten vermehrt ihre verschiedenen Kernfunktionen nicht oder nicht mehr erfüllen können oder wollen, scheint es somit beinahe natürlich, dass nicht staatliche Gruppen dieses Vakuum verstärkt ausnutzen, indem sie schlichtweg die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Sicherheit und anderen an sich staatlichen Leistungen stillen und folglich die unterschiedlichsten Macht-, Schutz-, Governance- und Kontrolllücken füllen (Sewall 2008, S. 84). Der Anspruch des Staates auf die Ausübung der
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Staatsgewalt wird dabei an der Effektivität seiner Aufgabenerfüllung gemessen. Ist diese mangelhaft, verliert er seine Rolle an den effektivsten Wettbewerber. Hierbei wird deutlich, dass es sich vor Ort zunächst um einen internen Wettbewerb um Legitimität handelt (Wilson 2009a, S. 15–16). Durchsetzten werden sich auf lokaler und regionaler Ebene die Gruppen, die in den Augen der Bevölkerungen als effektiv in der vormals staatlichen Funktionserfüllung angesehen werden und damit als legitime Träger der Herrschaft gelten. In den diversen Räumen fragiler Staatlichkeit gewinnen daher diejenigen Gruppen, die als legitimere, effektivere, beziehungsweise „nützlichere“ Konfliktpartei erscheinen, die Unterstützung der Bevölkerung. Damit vergrößert und festigt diejenige nicht staatliche Entität ihre Macht, die die politischen Fragen besser prägt, die Gruppen und Kräfte um sich herum nachhaltiger mobilisiert und die Probleme der Bevölkerung besser löst.11 Somit kommt es nicht nur zu einer Erosion von staatlicher Macht, die zu einem gesteigerten Kooperationsbedürfnis der Staaten führt, sondern unter Umständen auch zu dem Entstehen neuer Akteure innerhalb der Territorien von Staaten. Der Verlust an Staatlichkeit und die Entstehung von Räumen mit begrenzter oder fragiler Staatlichkeit oder neuen Mächten gewinnt jedoch in Anbetracht der kausalen Relation zwischen den Räumen fragiler Staatlichkeit, der Proliferation nicht staatlicher Akteure und der Quasi-Globalisierung von Sicherheitsrisiken eine erhöhte Bedeutung: Viele nicht staatliche Akteure florieren und profitieren nämlich genau von den Bedingungen, die aus Räumen fragiler, umstrittener oder begrenzter Staatlichkeit resultieren. Die Möglichkeiten des schnellen globalen Personen- und Güteraustausches sowie die weltumspannende Vernetzung der Informationsinfrastruktur führen auch tendenziell zu einer globalen Reichweite von Risiken und Bedrohungen. Attacken auf und über das Internet, das Erzeugen von Kaskadeneffekten und die Potenzierung von Wirkungen durch die Verbreitung von bestimmten Informationen und Propaganda lassen sich potenziell über weite Entfernungen ausführen; die globale Transportinfrastruktur ermöglicht das Erreichen von Orten rund um den Globus mit verhältnismäßig geringen Mitteln innerhalb kürzester Zeit. Von der Vorbereitung eines Anschlages in entlegensten Räumen fehlender Staatlichkeit bis zur Ausführung in einer modernen Metropole vergehen unter Umständen nur wenige Stunden. Die Ausweitung staatlicher Autorität durch nation building oder state building kann aufgrund der erforderlichen enormen Aufwendungen keine Lösung für nicht nur punktuelle und lokal begrenzt fehlende Staatlichkeit bieten. Die laufenden Stabilisierungseinsätze westlicher Nationen verdeutlichen unmissverständlich die hohen monetären, aber auch politischen Kosten der grundsätzlich kaum kurzfristig zu erreichenden Stabilisierung von Krisenregionen. Daher erscheinen vergleichbare uni- oder multilaterale Stabilisierungsinitiativen kaum als realistisches Mittel zur Zurückdrängung der Erosion an
11 Dies spiegelt auch die Mechanismen von Aufstandsbewegungen wider. Ihr prinzipiell geografisch begrenzter Fokus weitet sich heute unter den Bedingungen der Globalisierung und der Vernetzung von Staaten erheblich aus und zieht auch entfernte Akteure, die ein Interesse an Stabilität in der betreffenden Region haben, mit ein. Die Möglichkeiten der Globalisierung erzeugen dabei aber auch ein Interventionspotenzial auf Gegenseitigkeit: Auch nicht-staatliche Akteure können dabei in der geografischen Arena ihres Kontrahenten Einfluss ausüben.
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Staatlichkeit auf breiter Front. Schlüssige Anzeichen für eine Umkehr der Globalisierung sind zudem nicht auszumachen.12 Daher ist davon auszugehen, dass Räume begrenzter Staatlichkeit in der Zukunft (zumindest) fortbestehen und dass von ihnen auch weiterhin eine ganze Reihe schwer einzuhegender Bedrohungen ausgehen werden: Diese regionalen Krisenherde werden dann wie bisher als Rückzugsgebiete dienen und in Folge der dort zunehmenden staatlichen Ohnmacht die Entfaltung bzw. Ausbreitung nicht staatlicher Gewaltakteure fördern. Diese terroristischen oder kriminellen Gruppierungen bedrohen unter Umständen die interne und/oder externe, also gegebenenfalls sogar die globale Sicherheit – beispielsweise dann, wenn solche Gruppierungen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen. Damit wird die an sich innerstaatliche Kondition, die wir prekäre oder schwache Staatlichkeit nennen, zu einem der Hauptprobleme internationaler Sicherheitspolitik: Interne, also innerstaatliche Sicherheitsbedrohungen werden externalisiert, und die Legitimitäts- und Handlungsverluste von Staatlichkeit werden durch nicht staatliche Akteure absorbiert und kompensiert. Genauer gesagt wird die regionale und in Teilen sogar globale Externalisierung der Sicherheitsdefizite in Räumen begrenzter Staatlichkeit also im Wesentlichen von nicht staatlichen Akteuren vorangetrieben werden, was aber nicht ausschließt, dass sich auch staatliche Akteure aus Eigeninteresse daran beteiligen. Sie können unter Umständen ein Interesse daran haben, nicht staatliche Akteure für Ihre Zwecke einzuspannen und diese zur Herausforderung von staatlichen Kontrahenten nutzen. Auch eine Proliferation von Nuklearwaffen bzw. eine Unterstützung des Bemühens gewaltbereiter nicht staatlicher Akteure, diese zu akquirieren, ist dabei denkbar. 7 Die deutsche Perspektive Die hier prognostizierte Externalisierung von ursprünglich innerstaatlichen Sicherheitsrisiken und Unsicherheiten verdrängt durch ihre globale Dimension voraussichtlich rein auf das deutsche Einzugsgebiet wirkende Bedrohungen in ihrer Bedeutung. Vor allem auch deshalb, da aus heutiger Sicht auch mittelfristig kein Staat und keine Staatenallianz fähig und gleichzeitig willens scheint, Deutschland anzugreifen. Jedoch muss auch bedacht werden, dass die internationalisierten und globalen deutschen Interventionen sehr wohl Reaktionen – etwa in Form von Vergeltungsschlägen eben jener erwähnten nicht staatlichen Akteure – erzeugen könnten. Selbst eine weitgehend passive deutsche Unterstützung entsprechender Interventionen kann daher bereits eine Bedrohung begründen, die durch ihren nicht staatlichen Charakter tendenziell weniger schwerwiegend, dabei aber auch weniger eindeutig zu erkennen und zuzuordnen sein würde. Deutschland hat, nicht zuletzt als Import- und Exportnation, vor dem Hintergrund einer enger zusammen12 „Worst-case“-Szenarien wie beispielsweise ein baldiges Überschreiten des Peak Oil, der maximalen globalen Ölfördermenge, dem eine massive Umstellung der Weltwirtschaft mit Einschränkungen des Güter- und Personenverkehrs und damit möglicherweise eine „Deglobalisierung“ folgen würde, mögen als weniger wahrscheinlich anzusehen sein, wären im Falle Ihres Eintretens jedoch ein Trendbruch (vgl. Curtis 2009), der bei extremem Verlauf eine weitgehende Revision bisheriger Einschätzungen notwendig machen würde.
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rückenden Weltgemeinschaft allerdings ein erhebliches Interesse an einer stabilen internationalen Umwelt sowie an förderlichen Bedingungen für den weltweiten Handel. Eine Verringerung eigener Beiträge durch eine Lastenteilung, aber auch die Notwendigkeit der Einbindung der Einflusspotenziale von Partnern rückt dabei multilaterale Lösungen von Problemen im internationalen System in den Fokus. Das Vermeiden von Gefahrensituationen durch Nichtbeteiligung an internationaler Krisenbewältigung und Konfliktbearbeitung ist daher keine realistische Option deutscher Sicherheitspolitik. Insgesamt lässt sich in Bezug auf die Problematik von Staatszerfall, Machtauflösung und Externalisierung von internen Sicherheitsrisiken auf eine zukünftige Verknüpfung deutscher Interessen mit globalen Interessen schließen (Fröhlich 2008, S. 16). Außenund sicherheitspolitische Entscheidungsprozesse werden somit durch die übergeordnete Beförderung des globalen „Gemeinwohls“ geleitet werden (Bundesministerium der Verteidigung 2006, S. 14), das in vielen Fällen mit originären deutschen Interessen kongruent ist. Dies ist besonders deswegen der Fall, da die Gefahren, die von prekären Staaten ausgehen können – gerade wenn sie Nuklearwaffen besitzen – nicht erst dann wirksam bekämpft werden dürfen, wenn ein scheiternder Staat endgültig zerfallen ist und gewaltbereite nicht staatliche Akteure international terroristisch agieren. Stattdessen wird sich Deutschland unter dem Gesichtspunkt einer effizienten und damit vorausschauenden Sicherheitspolitik auch in Ländern außerhalb des Nato-Bündnisraums – wo also keine Beistandsverpflichtung vertraglich bindet – engagieren müssen, um frühzeitig Gefährdungen nicht nur Deutschlands, sondern der Staatengemeinschaft zu begegnen. Für die Zukunft heißt das also kurz zusammengefasst, dass sich der Einsatzradius deutscher Außen- und Sicherheitspolitik aller Voraussicht nach weiter ausweiten wird, da die Gefahren, die sich aus weiter entfernten Räumen begrenzter Staatlichkeit ergeben, wohl zahlreicher und substanzieller gestalten werden, als jene, die vom unmittelbaren Umfeld des heutigen Bündnisgebietes ausgehen. Im Hinblick auf die steigende Relevanz und Wirksamkeit nicht staatlicher Akteure und die in Teilbereichen schwindende Bedeutung von staatlichen Organen muss über fallbezogene Ad-hoc-Konzepte hinausgegangen werden und über grundlegende Veränderungen in der Handlungsfähigkeit deutscher Außenpolitik nachgedacht werden. Die absehbar wiederkehrende Konfrontation mit selbstbewussten nicht staatlichen oder staatsähnlichen Akteuren verlangt deren Berücksichtigung und damit die Weitung des Fokus politischer Konzepte. Die Erarbeitung von Handlungsoptionen darf nicht auf die möglicherweise kaum handlungsfähigen oder handlungswilligen staatlichen Akteure beschränkt sein. Somalia, aber auch weniger spektakuläre Fälle von reduzierter Staatlichkeit sollten dabei als mahnendes Beispiel der begrenzten Nützlichkeit der Fokussierung auf staatliche Organe und der Notwendigkeit einer Berücksichtigung zusätzlicher Akteure dienen. Das globalisierte und vielschichtige Spektrum an Gefährdungen bewirkt, dass Sicherheit im Jahr 2025 nicht mehr unilateral gewährleistet werden kann. Da die Bandbreite von bedrohlichen Sicherheitsgefährdungen – von der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologie über den international agierenden, auf Massenwirkung abzielenden religiösen Terrorismus bis hin zu einem weniger wahrscheinlichen Angriff eines anderen Staates – von Deutschland nicht autonom abgewendet werden kann, wird folglich auch weiterhin eine multilaterale Ausrichtung die deutsche Sicherheitspolitik kennzeichnen müssen. Diese Einsicht überrascht zwar kaum, unterstreicht aber die
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Abhängigkeit Deutschlands vom Funktionieren multilateraler Institutionen wie der Nato und der EU. Wenn hier postuliert wird, dass Deutschland auch in Zukunft seine weitgehend global gewordenen Interessen primär durch EU und Nato verfolgt, dann werden gleichzeitig die Probleme für die Nutzbarkeit der multilateralen Plattformen offenbar und zwar sowohl im Hinblick auf ihre intraorganisatorische Verfasstheit also auch bezüglich ihrer quasi-extern wirkenden Effektivität. 8 Folgerungen für die Nato Aus transatlantischer Perspektive basieren der interne konzeptionelle Konsens und die tatsächliche Schlagkraft der Allianz darauf, dass die Nato-Mitglieder in Zukunft wieder eine (sicherheits-)politische Handlungseinheit werden und darüber hinaus den Nutzen der Nato als hoch einstufen (Banusiewicz 2010). Die zahlreichen divergierenden Interessen vor dem Hintergrund stark unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Verfasstheit, aber auch sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen und daraus erwachsenden Vorstellungen von Bedrohungen und möglichen Handlungsoptionen auf einheitliche Ziele zu bündeln, wird ohne konkrete Gefahrenlage auch weiterhin eine enorme Herausforderung darstellen. Die leistungsabhängige Legitimität des bewährten Bündnisses ist aber bereits heute umstritten: Die multilaterale Institution wird weiterhin mit den bereits erwähnten informellen Zweckbündnissen der Willigen in einem Konkurrenzkampf stehen oder selbst zu einer nur noch selektiv genutzten und dabei nur von Teilen ihrer Mitglieder unterstützten Allianz werden, die nur noch einem Werkzeugkasten gleicht, dem die gerade notwendigen Geräte entnommen werden. Angesichts der bisweilen sehr negativen Perzeption dieser Entwicklung lässt sich jedoch zu ihrer Einordnung auf die friedenssichernden Einsätze der Vereinten Nationen verweisen, die durch die Rekrutierung ihrer Truppen von jeher eine Koalition interessierter und williger Staaten darstellen. Der Blick auf die derzeitigen Einsätze der Nato weist auch für das in Zeiten des Ost-West-Konfliktes in der Regel geschlossen agierende nordatlantische Bündnis bereits in diese Richtung: Nicht alle Mitglieder nehmen teil, Beiträge der Teilnehmer sind mitunter marginal. Offensichtlich ist es die nicht von allen Mitgliedern geteilte Einschätzung der zu wahrenden Interessen, die zu einem sehr unterschiedlichen Engagement führt. Bei den zu erwartenden Herausforderungen der Zukunft wird sich dies zumindest mittelfristig für die Nato kaum ändern, auch wenn im Prozess der Entwicklung eines neuen strategischen Konzeptes bereits deutlich auf die Notwendigkeit einer klaren gemeinsamen Aufgabenbestimmung hingewiesen wird (Nato 2010, S. 19). Die großen Differenzen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, die auf deren sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen, geografischen Lagen und Umfeldbedingungen beruhen, können kaum zu einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse führen. Die politische Interessenkongruenz zwischen den USA und europäischen Staaten wird zukünftig ebenfalls nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden können. Der Bedeutungszuwachs außereuropäischer Akteure wird den Fokus der USA immer weiter von Europa weg in andere Weltregionen lenken. Daraus folgt, dass sich erstens die politische Legitimität der Allianz und zweitens
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das für die Nato unabdingbare Engagement der USA aus der Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Allianz ergeben. An dieser Stelle wird ein leicht pessimistischer Ausblick kontrovers bleiben: Der Nato wird es vermutlich nicht gelingen, sich an die Anforderungen zukünftiger, insbesondere irregulärer Kriege (Wilson 2009b, S. 14–23), hinreichend anzupassen. Aufgrund daraus resultierender Misserfolge im Einsatz wird sie ihre Attraktivität bzw. ihre Nutzbarkeit als sicherheitspolitisches Instrument einbüßen und so zuerst für die USA und in der Folge schließlich auch für Deutschland an Bedeutung verlieren (Masala 2008, S. 23). Insbesondere die Anpassung an mehrdimensionale Bedrohungen, etwa durch die Umsetzung des Konzepts des comprehensive approach (CA), wird ausschlaggebend sein bei der Bekämpfung gewaltbereiter nicht staatlicher Akteure. Bisher ist diese als unbefriedigend – weil noch nicht hinreichend vernetzt – zu bewerten. Jedoch wird die Umsetzung des CA auf deutscher wie auch auf transatlantischer Ebene wohl daran scheitern, dass es der Allianz nicht gelingt, den politischen Anforderungen des Konzeptes zu entsprechen. So werden vor allem die unterschiedlich verfassten politischen Systeme eine Implementierung des theoretisch richtungsweisenden Ansatzes verhindern: Während außenpolitisch stärker zentralistisch organisierten Staaten wie den USA oder Frankreich eine Umsetzung aufgrund ihrer einfacheren Koordination von Politikbereichen leichter fallen sollte, ist gerade bei stärker dezentralen Regierungssystemen eine zielgerichtete Zusammenarbeit strukturell erschwert und kann nicht als zwangsläufig vorausgesetzt werden. Aber auch zwischen den Staaten sowie bei Einbeziehung nicht staatlicher Akteure werden die unterschiedlichen politischen Ziele und inhaltlichen Auffassungen einen einheitlichen vernetzten Ansatz der Sicherheitspolitik nur schwerlich Wirklichkeit werden lassen. Eine Veränderung dieser Grundlage würde sowohl innerstaatliche Reformen als auch zwischenstaatliche Veränderungen erfordern. Dies bedeutet, dass auch noch im Jahr 2025 der CA voraussichtlich im Wesentlichen auf pure Verfahrensfragen reduziert bleiben wird. Somit werden die notwendigen, primär zu beantwortenden Fragen nach politischen Zielen ungelöst bleiben, weil es unverfänglicher scheint, sich mit Verfahren statt mit politischen Inhalten zu beschäftigen. Bedenkt man jedoch, dass ohne die eindeutige Formulierung eines vor Ort erreichbaren politischen Ziels keine noch so eingeübte Umsetzung des CA im Einsatz zum Erfolg führen kann, dann wird das Problem der Nato deutlich: Die Formulierung von machbaren politischen Zielen für Einsätze setzt mehr als zivil-militärische Koordination voraus, sondern benötigt inhaltliche Einigkeit und Führung. Unabhängig von ihren derzeitigen Einsätzen ist jedoch auch für die Nato zu überprüfen, welche Auswirkungen der Bedeutungsgewinn nicht staatlicher Akteure angesichts der nicht in jedem Fall vorhandenen ordnungspolitischen Autorität von Staaten für das Bündnis hat. Die durch letzteres entstehenden Freiräume für nicht staatliche oder staatsähnliche Akteure können unter bestimmten Rahmenbedingungen ein erhebliches Destabilisierungspotenzial beinhalten, das auch für die nordatlantische Allianz mittelbar oder unmittelbar relevant ist. Vor dem Hintergrund der Kosten für die derzeit laufenden Einsätze erscheint die Erstellung langfristig tragfähiger Konzepte zum Umgang mit dem beschriebenen Phänomen von hoher Bedeutung für eine problemorientierte, relevante Positionierung des Bündnisses für die nahe Zukunft.
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Sicher absehbar und weniger umstritten ist aus heutiger Sicht, dass sich die sicherheitsrelevanten und für Deutschland unabdingbaren multilateralen Institutionen wie die Nato gegenwärtig an einem Scheideweg befinden. Es mag unangenehm sein, sich ein Szenario 2025 mit einer „zahnlosen“ Nato vorzustellen, die nur noch als großes Sammelbecken fungiert; jedoch kann aus heutiger Sicht davon ausgegangen werden, dass die Nato ihre zahlreichen internen Konflikte nicht so wird lösen können, dass sich konzeptionell und organisatorisch eine ausreichend belastbare Kohäsion und Schlagfertigkeit herausbildet, um gegen informellere Ad-hoc-Strukturen bestehen zu können. Damit wird sie sich auf die reine kollektive Verteidigung des Bündnisses zurückziehen, die jedoch mangels konkreter Bedrohung für die Sicherheitspolitik der Mitglieder eine nachrangige Rolle einnimmt. 9 Schluss Zusammenfassend kann also resümiert werden, dass die beschriebenen relativen Machtverschiebungen im internationalen System einen als außerordentlich zu bezeichnenden Wandel einleiten. Das sicherheitspolitische Umfeld wird systemisch von einem nicht polaren und äußerst heterogenen internationalen Überbau geprägt. Der Prozess des Wandels führt zu Asymmetrien im internationalen System und daraus resultierenden Instabilitäten sowie einem hohen Anpassungsdruck sowohl bezüglich der ordnungspolitischen Strukturen als auch der bewährten Institutionen, solange diese noch die alten Muster und Machtverteilungen widerspiegeln. Literatur Auswärtiges Amt. (2010). Reform des Sicherheitsrates. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/ Aussenpolitik/InternatOrgane/VereinteNationen/ReformVN/ReformSR-Fragen.html. Zugegriffen: 1. März 2010. Banusiewicz, J. (2010). NATO must adapt to shifting security challenges, Clinton says. U.S. Armed Forces Press Service. http://www.defense.gov/news/newsarticle.aspx?id=61281. Zugegriffen: 19. Okt. 2010. Braml, J. (2009). Im Westen nichts Neues? Aus Politik und Zeitgeschichte, 15–16, 15–21. Bundesministerium der Verteidigung. (2006). Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin: Bundesministerium der Verteidigung. Cox, R., & Jacobson, H. (1974). The anatomy of influence. London: Yale University Press. Curtis, F. (2009). Peak globalization: Climate change, oil depletion and global trade. Ecological Economics, 69(2), 427–434. Daalder, I., & Lindsay, J. (2007). Democracies of the World, Unite. The American Interest online. http://www.the-american-interest.com/article.cfm?piece=220. Zugegriffen: 20. Mai 2010. Financial Times Deutschland. (2007, Juli 5). Gazprom bekommt eigene Armee. http://www.ftd. de/politik/international/:Gazprom%20Armee/222143.html. Zugegriffen: 20. Jan. 2011. Fröhlich, S. (2008). Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU. Aus Politik und Zeitgeschichte, 43, 15–21. Haas, R. (2008). The age of nonpolarity. What will follow U.S. dominance. Foreign Affairs, 87(3), 44–56.
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