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„Die Frage nach Standards stellt sich von selbst“ Die Vernetzung und die damit steigende Komplexität stellen Automobilhersteller vor immer größere technische Herausforderungen und zwingen sie damit auch zu neuen Kooperationen und Prozessen. ATZextra sprach mit Christoph Grote darüber, wie BMW sich in diesem Umfeld positioniert.
Dr. Christoph Grote (Jahrgang 1967) studierte von 1986 bis 1990
an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Cambridge University in England Physik. Ein erster Karriereschritt führte ihn zu McKinsey nach München, wo er von 1994 bis 1997 in der Beratung von Unternehmen eingesetzt war. 1997 wechselte Grote zur BMW AG und war dort bis 1999 Berater im Inhouse Consulting der Entwicklung. Von 1999 bis 2002 leitete er das Konfigurationsmanagement Plattform und Baukästen. 2002 bis 2004 war Grote als
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Leiter Lichttechnik, Heizung, Klimatisierung, physisches Bordnetz, Batterien und Brennstoffzellen sowie Cockpit tätig, ehe er von 2004 bis 2008 als Leiter Informations- und Kommunikationssysteme wirkte. Dem folgte von 2009 bis 2011 die Position des Leiters Strategie und Innovationen Gesamtfahrzeug, ab Ende 2011 die Geschäftsführung der BMW Forschung und Technik GmbH. Dr. Christoph Grote ist seit Mitte 2016 Bereichsleiter Entwicklung Elektronik in der BMW Group.
und etablierte Funktion Elektrik/Elektronik. Sollte man diese Funktionsbezeichnung um die Fahrzeug-IT und -Software ergänzen? GROTE _ Ich
bin ein Freund konservativer Funktionsbezeichnungen, aber Sie haben völlig recht: Künftige Fahrzeugfunktionen werden in immer größerem Umfang auf der Serverseite gerechnet werden. Mithilfe der Daten, die Fahrzeugsensoren produzieren, können wir frühzeitig mögliche Gefahren oder besondere Verkehrssituationen erkennen und nachfolgende Fahrzeuge informieren. Ein BMW wird somit „vorausschauen“ können und dadurch sicherer und effizienter fahren. Oder nehmen Sie das Beispiel Parken: Fahrzeuge sind die besten Sensoren, um ohne Hardwarekosten die Wahrscheinlichkeit zu vermessen, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmte Zeit einen Parkplatz zu finden. Auch das passiert Off-Board.
Wie verorten und gewichten Sie die Themenbereiche Software, IT, Datenmanagement und Daten-Security?
Software und Daten haben wir immer mehr in den Mittelpunkt unserer Innovationsgestaltung gerückt – mit jeweils eigenen Facetten und immer mehr als BMW Schlüsselkompetenz. Diesen Trend werden wir fortsetzen, beispielsweise für die Bereitstellung von Location-based Services, bei modernem, hochintegrierten Infotainment oder für automatisiertes Fahren. Auch wenn wir in dem Bereich massiv wachsen, die BMW Car IT gibt es seit bereits 16 Jahren. Security und Privacy sind integraler Bestandteil aller On- und Off-board-Funktionen. Wer versucht, Security erst im Nachgang in die Produkte zu integrieren, wird keinen Erfolg haben. Um softwarebasierte Produktfunktionen entwickeln und zum Beispiel als Dienste über die Cloud anbieten zu können, entwickeln wir gleichzeitig unsere technologische Kompetenz, unsere Entwicklungsprozesse und -methoden sowie die organisatorischen Rahmenbedingungen bei BMW ständig weiter. Die für solche Innovationen nötige Fahrzeugvernetzung kann nur vorangetrieben werden, wenn Datensicherheit als grund legendes Entwicklungsziel verankert ist. Wie teilen Sie sich mit Ihrem Kollegen Elmar Frickenstein, der den neugeschaffenen BeSonderheft für VDI-FVT
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reich Vollautomatisiertes Fahren und Fahrerassistenz leitet, die Verantwortungen?
Die technologischen und funktionalen Herausforderungen bei der Fahrerassistenz, in der wir momentan simultan Level 2 bis 5 entwickeln, ließen uns einen eigenen Bereich dafür gründen. Fahrerassistenz ist so anspruchsvoll, dass es als Teil der Elektronikentwicklung nicht mehr zu führen ist. Elmar
„Wir sehen Kooperationen als Notwendigkeit“ Frickenstein leitet diese Entwicklung stark funktionsgetrieben, während meine Rolle die Bereitstellung der richtigen Basistechnologien und die Integration in das Gesamtbordnetz ist. Sie haben die Zusammenarbeit mit dem Karten- und Locationsdienst Here geprägt, an dem BMW seit 2015 beteiligt ist. Wie weit sind die Überlegungen gediehen, den Dienst als eine Art Standard für den Austausch von Daten zwischen Fahrzeugen zu etablieren?
Wir sehen eine Notwendigkeit in Kooperationen, um eine gemeinsame Daten-
plattform aufzubauen und damit künftige Dienste sowie das Fahrerlebnis zu steigern und sicherer zu machen. Aber auch hochgenaue Echtzeitkarten, generiert aus Fahrzeugsensoren, bilden gemeinsam die notwendige Grundlage für zukünftiges autonomes Fahren. Die Open Location Platform von Here kann als geeigneter Katalysator dienen, die Interaktion von anonymisierten Daten verschiedenster Hersteller zu orchestrieren und Dienste zu bauen. Die Frage nach Standards stellt sich von selbst, da manche auf Flottendaten basierenden Dienste gar nicht durch eine Marke allein qualitativ gebaut werden können. Beispielsweise benötigt man für die Vorausschau von Wechselverkehrszeichen eine kontinuierliche Durchfahrung und Erkennung von Fahrzeugen, was ein einzelner Hersteller nicht gewährleisten kann. Ein ähnliches Prinzip gilt bei der Erkennung von lokalen Gefahren wie Glatteis oder Stauende. Wie passen Sie künftige Elektronikarchitekturen im Fahrzeug auf dem Weg zum automatisierten Fahren an?
Für uns steht die Mobilfunkverbindung zu BMW Servern im Zentrum der Car-toX-Vernetzung. Dabei sehe ich 4G- und 5G-Mobilfunk als die deutlich überlegene
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ATZextra _ Sie verantworten die klassische
Für Grote steht die Mobilfunkverbindung zu BMW Servern im Zentrum der Vernetzung
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Hochgenaue Karten werden einen essenziellen Beitrag zur Beherrschung des hochautomatisierten Fahrens leisten, ist Grote überzeugt
Technologie gegenüber 802.11p. Funktionen im Fahrzeug und in der Cloud können über Mobilfunk verbunden agiler entwickelt und gepflegt werden. Die Anbindung Dritter, etwa anderer Auto-mobilhersteller und deren Fahrzeugflotten, erfolgt dann ausschließlich über unsere Server. Diese Architektur erlaubt nicht nur eine schnelle Einführung der Car-to-X-Vernetzung mit entsprechendem Gewinn an Verkehrssicherheit und Effizienz, sondern auch eine End-to-End-Umsetzung von IT-Sicherheitsmechanismen. Welche Herausforderungen zählen Ihrer Meinung nach zu den größten, um die komplexe Vernetzung realistisch absichern zu können?
Der Schritt zum hochautomatisierten Fahren stellt insbesondere aufgrund des Wegfalls einer dauerhaften Überwa-
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chung durch den Fahrer eine große technische Herausforderung dar. Aufgrund dieser fehlenden Überwachung muss jeder Fehlerfall vom System selbstständig beherrscht werden. Hieraus ergeben sich enorme neue Herausforderungen an die Verfügbarkeit und an die Zuverlässigkeit eines hochautomatisierten Fahrsystems. Hochgenaue Karten unterstützen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen. Zum einen kann mit hochgenauen Karten der Vorausschau-Horizont über die Reichweite der Sensoren hinaus erhöht werden. Das ermöglicht es, Systemgrenzen und Situationen, die ein hochautomatisiertes Fahrzeug in äußerst seltenen Fällen nicht perfekt beherrscht, frühzeitig zu erkennen und entsprechend die Fahraufgabe rechtzeitig wieder an den Fahrer zu übergeben. Zum anderen wird die Zuverlässigkeit und Qualität der
Schätzung des Fahrzeugumfelds, das sogenannte Umfeldmodell, durch Verwendung von Kartenmaterial deutlich erhöht. Beispielsweise kann der exakte Verlauf von Fahrspuren aus einer Karte entnommen werden und die Fahrzeugposition anhand von in der Karte hinterlegten Landmarken exakt und zuverlässig bestimmt werden. Hochgenaue Karten werden einen essenziellen Beitrag zur Beherrschung der enormen Herausforderungen des hochautomatisierten Fahrens leisten. Gegenstand aktueller Forschung ist die Fragestellung, wie viel Information in der Karte hinterlegt werden muss. Hierzu muss der optimale Kompromiss zwischen der Qualität und Menge an Karteninformationen sowie der Anzahl und Güte der verwendeten Fahrzeugsensoren beziehungsweise der Intelligenz der Algorithmen gefunden werden.
Die deterministische Beherrschung von KI-basierten Algorithmen gehört sicher auch noch zu den Feldern, auf denen wir eine industrieübergreifende Methodenentwicklung brauchen. Mit Efficient Dynamics hat BMW Pionierarbeit geleistet, die Pkws energieeffizient zu gestalten. Funktionen für Fahrerassistenz und vollautomatisiertes Fahren erfordern eine sichere Energieversorgung. Kann sich das ergänzen?
Der effiziente Einsatz von (elektrischer) Energie hat bei BMW schon lange einen hohen Stellenwert und ist auch für die neuen Funktionen und Komponenten für das hoch- und vollautomatisierte Fahren eine verbindliche Entwicklungsvorgabe. Das gilt auch für die extrem rechenleistungshungrigen Fahrer-
„Alle Prozesse sind eng miteinander vernetzt“ assistenzfunk tionen. Umgekehrt bieten die Fahrerassistenzsysteme auch enorme Chancen: Besonders die serverbasierte Vorausschau, die sich aus Fahrerassistenzdaten speist, erlaubt signifikante Verbesserungen im vorausschauenden Energiemanagement. Das intelligente Last-Management aller Verbraucher und die sichere Bereitstellung der Energie für kritische Verbraucher sind eine synergetische Aufgabe in der EnBN-Entwicklung. Das ist für BMW kein Widerspruch. Die Komplexität der aktuellen Premiumfahrzeuge soll höher sein, als die des Spaceshuttles. Wie beherrscht BMW diese Komplexität von Technik und Prozessen?
Zunächst einmal ist es wichtig, eine klare Trennung zwischen sogenannten stabilen Komponenten und Schnellläufern sicherzustellen. Die Grundvoraussetzung dafür ist, das komplexe Gesamtfahrzeug in nachvollziehbare und klar abgetrennte Einzelbereiche zu zerlegen. Die einzelnen Bereiche werden dann von cross-funktionalen Teams mit Blick auf Hardware, zu realisierenden Funktionen und Diensten sowie die dafür benötigte Software bearbeitet und verantwortet. Alle Prozesse von der Architektur über die Entwicklung und Integration bis hin zur Absicherung sind in allen drei Sonderheft für VDI-FVT
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Segmenten – Hardware, Funktion und Software – eng miteinander vernetzt. Die einzelnen Teams tragen dabei für ihren Bereich und ihr Teilsystem jeweils die klare und eindeutige End-to-End-Funktionsverantwortung und zusätzlich die Systemintegrationsverantwortung, also die nahtlose Einbindung in das Gesamtfahrzeug. Sie stehen deshalb permanent in enger Abstimmung untereinander. Ganz wichtig ist die klare Partitionierung der einzelnen Systeme und das exakte Definieren der Schnittstellen. Dadurch lassen sich Komponenten einzeln, in Teil- und in Gesamtwirkketten entwickeln, validieren und integrieren. Dies wiederum ist für die Beherrschbarkeit wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen funktionalen Teil-Wirkketten im Gesamtsystem unabdingbar. Welche Rolle spielen Simulation und Test im Elektronik-Entwicklungsprozess?
Sie sind schlichtweg unerlässlich, um vor allem in der Integration und Absicherung mit „Continous Integration and Continous Delivery“ schnelle ReleaseZyklen von innovativen Diensten und Funktionen mit entsprechend hoher Qualität zu gewährleisten. Nur durch die Simulation können mögliche Streuungen des Fahrzeugs im Zusammenspiel mit seiner Umwelt erkannt, analysiert, beherrscht und abgesichert werden. Durch gleichzeitiges Erproben in der realen Umgebung können wir die Simulationsergebnisse auch im harten Alltagsbetrieb absichern und die Simulation weiter verfeinern. Herr Dr. Grote, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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INTERVIEW: Markus Schöttle
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