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Psychogene Stimmstörungen – Teil 2
Die optimale Therapie ist interdisziplinär und ganzheitlich W ol fgan g a nge r s tein
Zur Behandlung psychogener Stimmstörungen kommen sowohl symptomorientierte als auch kausale Therapieansätze in Betracht. Um ein optimales Therapieergebnis erzielen zu können, ist eine enge interdisziplinäre Kooperation zwischen Phoniatern, Logopäden und Psychotherapeuten erforderlich.
Stimmprovokation bei psychogener Aphonie Ebenso wichtig ist die Stimmprovokation, die stets eine fachärztliche (und somit keinesfalls eine logopädische oder psychotherapeutische!) Aufgabe ist: Bei psychogenen Aphonien sollte die Behandlung möglichst in der ersten Sitzung zum Erfolg, d.h. zur stimmhaften Phonation, führen. Der Patient darf nicht weggehen, ohne zumindest kurzzeitig mit Stimme gesprochen zu haben. Fehlschläge bei versuchter Stimmprovokation oder gar nicht stattfindende Stimmprovokation können den Patienten weiter verunsichern und damit die Aphonie psychisch fixieren (Wendler et al. 2005). Die symptomorientierte Behandlung im Sinne einer Notfall-Intervention sollte also unbedingt einer kausalen Therapie vorangehen, nicht umgekehrt (Böhme 2003, Nawka et al. 2008)! Oberstes und erstes Behandlungsziel muss nämlich
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rimäre ärztliche Aufgabe ist die Aufklärung des Patienten hinsichtlich der Harmlosigkeit der vorliegenden Stimmstörung (Böhme 2003). Anhand einer Videodokumentation der endoskopischen Larynxbefunde soll der Patient zunächst beruhigt werden, insbesondere müssen Bedenken hinsichtlich einer Krebsgeschwulst ausgeräumt werden. Für den Patient ist es sehr wichtig, vom Facharzt zu erfahren, dass der Kehlkopf organisch völlig unauffällig ist (kein Tumor, insbesondere keine Krebserkrankung, keine Lähmung, keine Entzündung) und somit beste Voraussetzungen für eine normale, ungestörte Stimmgebung bestehen.
Einer psychotherapeutischen Mitbetreuung stehen viele Patienten mit psychogenen Stimmstörungen anfangs skeptisch gegenüber.
die Wiederherstellung der Stimme sein (Waldersee 2002). Denn der Patient geht wegen Aphonie zum Phoniater oder HNOArzt, er kommt nicht primär wegen der zugrundeliegenden Ursachen oder Triggersituationen. Daher erwartet er zunächst die Beseitigung des stimmlichen Symptoms Aphonie, nicht jedoch eine primäre psychotherapeutische Aufarbeitung der Ursachen und Triggersituationen. Im Gegenteil: Viele aphone Patienten stehen einer psychotherapeutischen Mitbetreuung anfangs sehr skeptisch bis ablehnend gegenüber und müssen vom Phoniater oftmals erst in langen Gesprächen von der Notwendigkeit einer begleitenden Psychotherapie überzeugt werden. Ich erkläre solchen Patienten, dass eine „ganzheitliche Therapie“ neben der Stimme als körperlichem Symptom unbedingt auch die zugrunde liegen-
de Stimmung als seelische Ursache dieses Symptoms miterfassen muss. Die moderne „ganzheitliche Behandlung“ berücksichtigt den ganzen Menschen mit seinen Stimmungen und Gefühlen, nicht nur ein einziges Organ wie den Kehlkopf oder ein einziges Symptom wie die Stimme. Erst so „verpackt“ akzeptieren Patienten mit psychogener Stimmstörung eine zusätzliche Psychotherapie als bereicherndes Angebot zur Komplettierung der organ- und symptombezogenen reinen Stimmbehandlung. Die große Mehrheit der Patienten mit psychogenen Dysphonien hat keine gravierenden Persönlichkeitsstörungen, lediglich eine kleine Minderheit leidet unter tiefgreifenden emotionalen Konflikten (Schalén et al. 1992). Daher ist Psychotherapie erfahrungsgemäß nur selten erforderlich. Das Zurückholen der Stimme ist somit einHNO-Nachrichten
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Herzrhythmusstörungen, Panikreaktionen und Hautverbrennungen führen kann. Hingegen ist die endolaryngeale Faradisation, bei der die laryngeale Epiglottisfläche mit einigen wenigen Stromimpulsen von sehr geringer Stärke gereizt wird, eine anerkannte und effiziente Methode zur Therapie psychogener Aphonien (Bigenzahn et al. 1986). Gelegentlich angewendet wird noch das Auslösen des Hustenreflexes durch Wasserapplikation in die Trachea mittels einer Kehlkopfspritze. Auf diese Weise kann stimmhaftes Husten provoziert werden, jedoch sind Nebenwirkungen wie Aspiration, akute Dyspnoe und Panikreaktionen zu beachten. Heutzutage werden meist wenig belastende Suggestiveingriffe angewendet, mit denen der psychogen aphone Patient gewissermaßen „überrumpelt“ wird (Böhme 2003, Nawka et al. 2008). Solche Überrumpelungsmethoden haben ihre Berechtigung, da sie „dauerhaft Erfolg versprechend“ sein können (Heinemann 1983) im Sinne einer langfristig weitgehend ungestörten Stimmgebung. Patienten mit
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deutig eine fachärztliche Aufgabe und nicht Aufgabe von Logopäden oder Psychotherapeuten! Welche symptomorientierten Stimmprovokationsmaßnahmen stehen nun bei psychogener Aphonie zur Verfügung? Noch bis vor gut 30 Jahren wurde die Stimme provoziert durch invasive und gefährliche Maßnahmen, die heute nur noch von historischem Interesse sind: So wurde beispielsweise eine Kugelsonde (Muck´sche Kugel; Muck 1916) in die Glottis eingeführt. Die Muck´sche Kugel (Abb. 1) erzeugte naturgemäß Erstickungsgefühle mit Angstschreien, so dass die Stimme quasi mit aller Macht „erzwungen“ wurde. Zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen (u.a. Verletzungen der Pharynxwände, Traumatisierung von Kehlkopfstrukturen wie z.B. Aryknorpel-Luxationen, Vagusreflexe mit Bradyarrhythmien, Panikreaktionen) haben dazu geführt, dass die Muck´sche Kugel heutzutage nicht mehr verwendet wird. Gleiches gilt für Reizstromapplikation auf die Halshaut mit forcierter Stärke, was zu Muskelschmerzen,
Abb.1: Die quälende Therapie mit der Muck‘schen Kugel zur Provokation der Stimme ist heute Gott sei Dank kein Thema mehr.
psychogenen Stimmstörungen sind erfahrungsgemäß sehr suggestibel und sprechen daher meist gut an auf Suggestiveingriffe. Folgende Überrumpelungstechniken haben sich bei psychogener Aphonie praktisch bewährt: Anzeige
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Während der Lupenlaryngoskopie wird der Patient beiläufig aufgefordert, /hi/ oder /hä/ zu phonieren (Nawka et al. 2008) mit der Begründung, dass eine Stimmlippenlähmung als Ursache der Aphonie ausgeschlossen werden muss. Weiterhin möglich ist die Stimmprovokation über Husten (Waldersee 2002, Wendler et al. 2005) oder Räuspern, was ja bei psychogenen Aphonien beides stimmhaft möglich ist (Böhme 2003, Nawka et al. 2008). Dabei wird der Patient vom untersuchenden Arzt aufgefordert, sich kräftig zu räuspern und danach abzuhusten unter dem Vorwand, die Stimmlippenebene sei völlig verschleimt und der Arzt müsse ja bei der Kehlkopfuntersuchung einen guten Einblick auf die Stimmlippen erhalten. Die Bildung von Frikativen (z.B. /f/ oder /w/) mit den Lippen kann als Ablenkungsmanöver bei der Stimmprovokation eingesetzt werden, da hier der glottische Tongenerator nicht zur Stimmerzeugung benötigt wird (Böhme 2003, Waldersee 2002). Ähnliches gilt für die Bildung eines stimmhaften /s/ mit der Zungenspitze (Waldersee 2002). All diese Techniken können evtl. mit dem sog. Flatau-Handgriff kombiniert werden (Nawka et al. 2008). Dabei wird der Zungenrücken des Patienten mit dem Mittelfinger der rechten Hand des Arztes vorsichtig nach unten gedrückt, während die linke Hand des Arztes die Hinterwände des Schildknorpels vorsichtig umfasst und etwas zusammendrückt. Gleichzeitig soll der Patient husten, sich räuspern oder phonieren. Dieser Flatau-Handgriff dient der Verbesserung der taktil-kinästhe| Tabelle Therapeutische Ansätze bei psychogenen Stimmstörungen 1. symptomorientiert —— Aufklärung,—Beruhigung —— Stimme—provozieren —— Phonationsübungen —— Resonanzübungen —— Atemübungen —— Entspannungsübungen —— physikalische—Maßnahmen 2. kausal —— Exploration—und—Aufarbeitung—der—Ursachen
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tischen Wahrnehmung für Zungenrücken- und Larynxbewegungen. Stimmprovokation ist auch möglich durch die sog. Kehlkopf-„Massage“ (Waldersee 2002), wobei das äußere Kehlkopfgerüst intensiv palpiert sowie vorsichtig manuell hin- und herbewegt wird. Dabei wird dem Patient vom Arzt suggeriert, dass durch derartige Kehlkopf-Massagen Muskelverspannungen gelöst werden können, sodass eine entspanntere Stimmgebung möglich sei. Auch der Lombard-Effekt (Lombard 1911) kann zum „Wiederholen“ der Stimme verwendet werden: Dabei werden beide Ohren mit Audiometerrauschen oder Lärmtrommeln vertäubt, während der Patient zählt. Weil die auditive Kontrolle über die eigene Stimme fehlt (Ausschaltung der akustischen Rückkopplung), normalisiert sich die Stimme oftmals und wird dabei gleichzeitig lauter (Böhme 2003, Nawka et al. 2008, Wendler et al. 2005). Weiterhin lässt sich die Stimme provozieren durch Touchieren der Stimmlippen und der Rachenwände mit auffällig riechenden und auffällig aussehenden Flüssigkeiten, beispielsweise mit gefärbten ätherischen Ölen („Sänger-Öl“). Lokalanästhesie des Larynx (Böhme 2003, Nawka et al. 2008, Waldersee 2002, Wendler et al. 2005) mit örtlichem Betäubungsspray kann die Stimme ebenfalls wiederholen, da die sensible Wahrnehmung bzw. die kinästhetische Rückkopplung im Bereich der Stimmgebungs- und Resonanzorgane ausgeschaltet wird. Stimmverbesserung bei psychogener Dysphonie Wenn bereits stimmhafte Phonation vorhanden ist, sind weitere Übungen zur Kräftigung der Stimme und zur Verbesserung der Stimmqualität angezeigt. Diese können sowohl unter phoniatrischer als auch unter logopädischer Anleitung erfolgen. Hier bieten sich insbesondere Phonationsübungen an. Das sind Summ- und Brummübungen mit Konsonant-Vokal-Verbindungen wie /ma/ oder /mo/ (Böhme 2003, Nawka et al. 2008). Auch Übungen zur Lautstärkeregulation der Stimme (leise, mittellaute, laute Phonation) sind sinnvoll. Bei Tonhalteübungen sollen vorgegebene Vokale möglichst lange gehalten werden, optimalerweise mit konstanter Lautstärke und konstanter Tonhöhe. Bewährt haben
sich auch Hörübungen zur Verbesserung des auditiven Feedback für die eigene Stimme (kurze/längere Phonationsdauer, hohe/ tiefe Stimme, laute/leise Stimme, stimmhafte/stimmlose Phonation). Derartige Übungen zur Verbesserung von Belastbarkeit und Qualität der Stimme lassen sich mit visuellen Biofeedback-Techniken sinnvoll kombinieren (Böhme 2003), wobei entweder ausgewählte Computer-Software-Programme (Matern et al. 2000) oder aber Videoaufnahmen des eigenen Kehlkopfes während der Stimmübungen (Nekahm et al. 1999) eingesetzt werden können. Ein solches visuelles Biofeedback ist deshalb so wichtig, weil viele Stimmpatienten eine gestörte akustische Wahrnehmung ihrer eigenen Stimme aufweisen und daher von der optischen Darstellung erheblich profitieren können. Die gestörte akustische Wahrnehmung der eigenen Stimme lässt sich durch auditives Biofeedback (Tonaufnahmen: Wann war die Stimme höher/ tiefer, lauter/leiser, besser/schlechter?) trainieren. Eine solche Schulung der auditiven Stimmwahrnehmung dient der Phonationskontrolle. Falls erforderlich, kann die zu hohe mittlere Sprechstimmlage durch den sog. Bresgen-Handgriff abgesenkt werden: Mit der flachen Fingerkuppe wird dabei vorsichtig auf den Schildknorpel des Patienten gedrückt, zunächst durch den Finger des Therapeuten, später mit dem eigenen Finger des Patienten. Dadurch werden diejenigen Muskeln entspannt, welche die Stimmlippen anspannen (M. vocalis; M. cricothyreoideus/anticus). Der sanfte Druck des Fingers senkt den Muskeltonus und damit die Stimmfrequenz vorsichtig ab. Zur Kräftigung der Stimme und somit zur Verbesserung der Stimmqualität bieten sich auch Resonanzübungen, Atemübungen und Entspannungsübungen an. So kann man zur Aktivierung der Brustresonanz das Sternum während der Phonation rhythmisch beklopfen (Waldersee 2002). Die Patienten sollen dabei z.B. /ma/ oder /mo/ phonieren oder aber laut zählen und gleichzeitig die Vibrationen der Thoraxwand mit ihrer flach aufgelegten Handinnenfläche erspüren (Waldersee 2002). Derartige Resonanzübungen dienen der Verbesserung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung für die Brustresonanz, sie bezwecken eine klangvollere, sonore Stimmgebung. HNO-Nachrichten
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Bei den Atemübungen stehen das Erlernen der thorako-abdominalen Mischatmung sowie der Abbau der kosto-klavikulären Hochatmung im Vordergrund, möglichst kombiniert mit visuellem Biofeedback (z.B. Übungen stehend vor dem Spiegel oder Übungen im Liegen mit Büchern auf der Bauchdecke zur Verbesserung der visuellen Eigenwahrnehmung für Ein- und Ausatmung). Weiterhin sind Nasenatmungs- und Mundschlussübungen angezeigt: Die Patienten sollen bewusst mit geschlossenem Mund durch die Nase einatmen und danach bewusst durch den Mund ausatmen. Durch derartige Atemübungen soll eine atemrhythmisch angepasste Phonation angebahnt werden mit dem Ziel, Atmung und Stimmgebung physiologisch zu koordinieren. Die funktionelle Stimmtherapie beinhaltet somit Atemübungen, Vokalisation, Artikulation von Silben sowie den Einsatz auditorischer, visueller und taktilkinästhetischer Feedback-Mechanismen (Schalén et al. 1992). Als Entspannungsübungen kommen Jacobson´sche Muskelrelaxation und/
oder Autogenes Training in Betracht (Böhme 2003). Auch der beschriebene Bresgen-Handgriff dient der Relaxation: Er entspannt diejenigen Muskeln, die die Stimmlippen anspannen. Unterstützend sind physikalische Maßnahmen zum Feuchthalten der Atemwege, z.B. regelmäßige transorale Warminhalationen mit Sole (Salzwasser) und Salbei im Wechsel, Luftbefeuchter an Heizungen und auf Fensterbänken sowie ausreichende Flüssigkeitszufuhr zum Befeuchten der oberen Luftwege. Die relative Luftfeuchtigkeit in Arbeits- und Wohnräumen der Patienten sollte 60 bis 70% betragen, um ein Austrocknen der Atemwege zu verhindern. Die Patienten müssen bezüglich dieser Umgebungsbedingungen ausführlich unterrichtet werden. Eine derartige stimmhygienische Beratung soll die Patienten motivieren, in eigener Initiative Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Stimme zu ergreifen. Die Patienten sollen durch physikalische Maßnahmen zum Feuchthalten der Atemwege selbst mithelfen, ihre Dysphonie zu lindern.
Die symptomorientierten Therapieansätze bei psychogenen Stimmstörungen beinhalten somit fachärztlich-phoniatrische und logopädisch-stimmtherapeutische Maßnahmen unter ständiger Einbindung und Motivation der Patienten, die selbst auch etwas für ihre Stimme tun müssen. Kausale psychotherapeutische Behandlungsstrategien Kausale Behandlungsstrategien dienen der Exploration und Aufarbeitung möglicher Ursachen und Triggersituationen. Sie sollten Psychotherapeuten (Psychosomatikern, Psychologen, Psychoanalytikern oder Psychiatern) vorbehalten bleiben. Auch hier ist die Eigeninitiative der Patienten sehr wichtig, denn sie müssen von sich aus zu einer Psychotherapie motiviert sein. Es macht wenig Sinn, die Patienten einfach dort anzumelden oder sogar mit sanftem Druck dorthin zu schicken. Vielmehr müssen Patienten mit psychogenen Stimmstörungen sich selbst aktiv um psychotherapeutisch-psychosomatische Mitbetreuung kümmern und bemühen. Sie sollen Eigeninitiative und Eigenverantwor-
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tung zeigen. So können sie mithelfen, mögliche Ursachen und auslösende Ereignisse ihrer Stimmstörung zu erkennen und aktiv anzugehen. Die wesentlichen infrage kommenden psychotherapeutisch-psychosomatischen Techniken sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Gesprächstherapie (z.B. Klient-zentrierte Gesprächstherapie nach C.R. Rogers und sog. „verbale Interventionen“)
Der Therapeut fungiert primär als aufmerksamer, vorurteilsfreier, empathisch mitfühlender Zuhörer, so dass der Patient frei und ungezwungen über seine Gefühle und Probleme berichten kann. Dabei beobachtet der Therapeut das Verhalten, die Haltung, die Gestik, die Mimik, die Atmung, die Stimme und das Auftreten des Patienten. Er achtet insbesondere auf Anzeichen innerer Anspannung. Durch einfühlsame, vorsichtige Einwürfe, Bemerkungen oder kurze Fragen versucht er, Informationen über Vorerkrankungen und deren Behandlung, über die Stimmstörung und ihre Behandlung, über das private und berufliche Umfeld sowie über eventuelle interpersonelle Konflikte zu erhalten. Das Gespräch wird so zunehmend in Richtung der Stimmproblematik fokussiert. Patient und Therapeut erlangen interagierend immer mehr Einsichten in Ursachen und auslösende Faktoren der Dysphonie. Der Patient wird angeleitet, die mit seiner Stimmstörung zusammenhängenden Probleme und Konflikte allmählich selbst zu erkennen (Schalén et al. 1992). Verhaltenstherapeutische Interventionen
Der Patient kann gezielt darüber beraten werden, wie er Ursachen und Triggersituationen für die Stimmproblematik angehen kann. Dabei kommt es zunächst darauf an, dass derartige Ursachen und Triggersituationen vom Patient frühzeitig erkannt und möglichst vermieden werden. Später kann für den Fall, dass der Patient mit Ursachen oder auslösenden Situationen seiner Stimmstörung konfrontiert werden sollte, dann an Deeskalations- und Konfliktlösungsstrategien gearbeitet werden. Sowohl in der Gesprächstherapie als auch bei verhaltensmodifizierenden Interventionen spielen die Phänomene der „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ eine wichtige Rolle in der Arzt-Patient-Be-
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ziehung (Behrendt 2002). „Übertragung“ bedeutet in diesem Zusammenhang: Wie wirkt die Stimme des Therapeuten auf den Patient? Was bewirkt die Stimme des Therapeuten beim Patient? „Gegenübertragung“ bedeutet in diesem Zusammenhang: Wie wirkt die Stimme des Patienten auf den Therapeut bzw. auf das soziale (berufliche und private) Umfeld des Patienten? Was bewirkt die Stimme des Patienten beim Therapeut bzw. im sozialen (beruflichen und privaten) Umfeld des Patienten? Prognose Ob die Stimmgebung bei psychogenen Dysphonien dauerhaft ungestört bleibt, oder ob mit Rückfällen zu rechnen ist, hängt von diversen Faktoren ab: — Bei einer physiologischen Schonhaltung ist die Prognose wesentlich besser als bei einer konversionsneurotischen Fehlhaltung. — Die Prognose ist umso besser, je schneller die Stimme wiederkommt, und umso schlechter, je länger die Stimme wegbleibt (psychogene Fixierung bei lang anhaltender Aphonie!). — Je effizienter die primäre Stimmprovokation, desto besser die Prognose. Je mehr Fehlschläge bei Stimmprovokationsversuchen, desto stärker und tiefer ist die Aphonie psychisch fixiert und desto schlechter die Prognose. — „Zur Festigung der wiedergewonnenen Stimmfunktion sowie zur Funktionskorrektur“ ist „eine logopädische Stimmübungsbehandlung prognostisch günstig“ (Bigenzahn et al. 1986). Allerdings „ist nicht in jedem Fall eine Stimmtherapie oder eine psychotherapeutische Behandlung indiziert“ (Waldersee 2002). — Bei Konversionsneurosen ist die Prognose der Stimmrehabilitation besser, wenn die Patienten zur kontinuierlichen psychotherapeutisch-psychosomatischen Mitbetreuung motiviert werden können. Je — größer die Somatisierungstendenz (d.h. je mehr psychosomatische Konversionssymptome vorliegen), desto schlechter die Prognose. Je geringer die Somatisierungstendenz (d.h. je weniger psychosomatische Konversionssymptome auftauchen), desto besser ist die Prognose. Medikamentöse Therapieversuche, vor allem eine Überbehandlung mit Antibiotika oder Antiasthmatika, sollten bei Patienten
mit psychogenen Stimmstörungen unbedingt vermieden werden (Schalén et al. 1992). Denn Medikamentengaben verstärken die Somatisierungstendenz und vermindern so die Motivation zu psychotherapeutisch-psychosomatischer Mitbetreuung (Schalén et al. 1992). Ebenso kann durch Injektionsbehandlung der Stimmlippen die Somatisierungstendenz verstärkt und eine konversionsneurotische Aphonie provoziert werden (Bergmann et al. 2000). Schlussbetrachtungen Abschließend bleibt zu sagen, dass der Larynx ein hochkomplexes Organ ist, das mittels der Stimme sehr sensibel auf emotionale Veränderungen reagiert. Die Stimme wird durch unsere Gedanken und Gefühle sowie durch berufliche und private Beziehungen zu anderen Menschen (Angehörigenberatung bei Patienten mit psychogenen Stimmstörungen!), d.h. durch unsere Umgebung, beeinflusst. Sie funktioniert gewissermaßen als „emotionales Barometer“, denn die Stimme zeigt Hochs und Tiefs unserer Stimmungen an. Die Stimme ist gewissermaßen „der Spiegel der Seele“. Die Aufgabe der Stimmtherapeuten besteht darin, diese Zusammenhänge zu erkennen und den stimmgestörten Patienten sowie ihrer privaten und beruflichen Umgebung bewusst zu machen, um die Patienten sowie ihre Angehörigen und Kollegen stimmlich und stimmungsmäßig optimal im Sinne einer ganzheitlichen Behandlung zu betreuen. Dabei spielt der ständige Austausch in einem interdisziplinären Behandlungsteam (Phoniater, Psychotherapeuten/Psychosomatiker, Logopäden) eine entscheidende Rolle (Behrendt 2002, Bergmann et al. 2000, Bigenzahn et al. 1986, Heinemann 1983), denn nur die kontinuierliche Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen ermöglicht eine optimale Betreuung von Patienten mit psychogenen Stimmstörungen. Literatur Der Beitrag inklusive Literatur ist als PDF-Datei unter www.springermedizin.de/ hno-nachrichten abrufbar
Prof. Dr. med. Wolfgang Angerstein Selbständiger Funktionsbereich für Phoniatrie und Pädaudiologie Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf E-Mail:
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