VERNE T ZUNG
Digitalisierung bringt mehr Güter auf die Schiene
© Wascosa AG
Der Schienengüterverkehr leidet unter rückständiger Technik der
AUTOREN
Güterwagen. Die Digitalisierung und Ausstattung mit elektrischer Energie wird den Güterwagen 4.0 zu einem Werkzeug für hochproduktive, umweltfreundliche Logistiklösungen machen. Prof. Dr.-Ing. Manfred Enning ist Inhaber des Lehrgebiets Bahnsystemtechnik an der FH Aachen.
SYSTEME MIT STÄRKEN UND SCHWÄCHEN
Vergleicht man den Transport auf der Schiene mit dem auf der Straße, so lassen sich die Bereiche eindeutig eingrenzen, in denen Lkw und Güterzug jeweils ihre Systemvorteile ausspielen. Beim Tausch der Ladegefäße an der Ladestelle liegt der Lkw vorn. Schienenfahrzeuge erfordern dagegen spezielle Fahrwege und spezielles Gerät. Während der Lkw nach der Beladung unmittelbar in den Hauptlauf übergeht und direkt sein Ziel ansteuert, erfährt der Güterwagen im sogenannten Einzelwagenverkehr (EWV) einen mehrstufigen Sammel- und Verteilprozess,
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damit der wesentliche Systemvorteil der Bahn – der Transport großer Mengen im geschlossenen Zugverband – zum Tragen kommt. Dieser ist aber beträchtlich: Ein Güterzuglokführer führt alleine die Ladung, für die auf der Straße circa 60 Lkw-Fahrer erforderlich wären und der Güterzug verbraucht dabei nur circa ein Viertel der Energie. Dies in Form von elektrischem Strom, den man prinzipiell CO2-frei produzieren kann [1]. ZUGBILDUNGSPROZESSE ZU AUFWENDIG
Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte Millionen Euro in die Moderni-
Prof. Dr. Raphael Pfaff ist Inhaber des Lehrgebiets Schienenfahrzeugtechnik an der FH Aachen.
sierung der Zugbildungsanlagen investiert wurden, sind die dort stattfindenden Prozesse bis heute sehr zeit- und personalkostenaufwendig. Dies liegt vor allem daran, dass Güterwagen ausschließlich manuell bedient werden.
Wenn ein Güterwagen im Hauptlauf den Zug wechseln muss, ist der Systemvorteil schnell verspielt. Der Wagenlauf wird zu lang, zu teuer und vor allem im bestehenden System kaum mehr planbar. Ein Zug, der seine maximale Zuglänge oder -gewicht erreicht hat, kann keine weiteren Wagen mitnehmen. Erst das neue Verfahren „Kapazitätsgeprüftes Netzwerk“ führt Reservierungen für Güterwagen ein und sorgt für stabile und planbare Wagenumläufe [2, 3]. Die Effizienzdefizite bei der Zugbildung sind die Ursache dafür, dass Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) gemeinsam mit ihren Kunden die Segmente Ganzzugverkehre (GZV) und Kombinierter Verkehr (KV) stark ausgebaut haben. Derzeit verteilt sich der Anteil des Schienengüterverkehrs (SGV) an der Gesamttransportleistung von gut 17 % gleichmäßig auf die drei Segmente Einzelwagen, Ganzzug und KV [6]. Letztere verzichten im Hauptlauf auf Sammeln und Verteilen, haben aber auch ihre spezifischen Grenzen. Ganzzüge erfordern dauerhaft ganze Züge füllende Mengen in einer Quelle/ Ziel-Relation. Tendenziell verschwinden durch die Deindustrialisierung und die Energiewende aber Ganzzugmengen. Die Verkehrsstatistik weist einen Rückgang der klassisch ganzzugaffinen Gütergruppen aus. Das Volumen des Kombinierten Verkehrs ist heute in Deutschland kaum mehr steigerungsfähig. Dies hat im Wesentlichen damit zu tun, dass ein KV-Terminal am Schnittpunkt leistungsfähiger Schienen-
und Straßenwege liegen muss und an diesen Orten die Ausbaumöglichkeiten sehr begrenzt sind. Hinzu kommt, dass die erzielbaren Erlöse für den KV-Betreiber vergleichsweise gering sind. Nur wenn es billiger und/oder schneller ist, wird ein Spediteur den teilweisen Transport mit der Bahn in Betracht ziehen. Der ungebrochene Lkw-Hauptlauf setzt die Maßstäbe und im KV wollen viele Akteure an den Erlösen partizipieren. PRODUKTIVITÄTSSCHUB
Ein zunehmender Teil der heutigen Güterwagenflotte verfügt bereits über Telematiksysteme. Zum einen sind dies Systeme, die Informationen (Ort, Zustand) über die Ladung sammeln und zyklisch oder bei kritischen Änderungen Nachrichten über Mobilfunk senden. Funktionen, die die logistischen Prozesse unterstützen, sind beim Lkw-Transport schon lange Standard. Zum anderen sind dies Systeme, die den Zustand von Wagenkomponenten überwachen. Sie sammeln zum Beispiel Daten über den Wagenlauf, Lagertemperaturen oder Stöße. Auf dieser Grundlage kann die für die Wartung verantwortliche Instanz (Entity in Charge of Maintenance, ECM) im Sinne des Condition Based Maintenance Prozesse optimieren [5]. Gemeinsames Merkmal bis heute ist, dass diese Systeme ohne externe Stromversorgung auskommen müssen. Sie arbeiten meist batteriegetrieben (Lebensdauer sechs bis acht Jahre) und nutzen daher die energiehungrige Mobilfunk-
schnittstelle extrem sparsam. Eine Kommunikation im Zugverband oder auch zwischen verschiedenen Systemen auf demselben Wagen ist nicht möglich. Damit erübrigt sich auch das Nachdenken über Standards. Hersteller rüsten Schienenfahrzeuge mit Systemen aus, die ausschließlich mit ihrer Zentrale kommunizieren. Desweiteren gibt es keinerlei Aktorik. Keine Funktion am Güterwagen kann aus der Ferne gesteuert werden. Zugautomatisierung ist im Güterverkehr so lange nicht möglich, wie das Dogma „Der Wagen darf nichts kosten“ beibehalten wird. Setzt man die Verfügbarkeit von Energie voraus, so kann der Güterwagen zu einem Ding im Internet-of-Things werden, das über eine digitale Identität verfügt, diese in der Cloud für autorisierte Nutzer verfügbar macht, mit anderen Dingen kommuniziert und vor allem kooperiert. BILD 1 zeigt Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man Wagen mit elektrischer Energie ausstattet und damit eine Grundfunktionalität aus Sensoren, Aktoren und Kommunikationskanälen realisiert. Über eine Kurzstreckenfunkverbindung können Wagen miteinander Daten austauschen. Da jeder Wagen weiß, in welchem Zustand er sich befindet, kann damit das Risiko sicherheitsrelevanter Störungen eliminiert werden. Lagerschäden kündigen sich zum Beispiel durch Temperaturerhöhung, Entgleisungen durch Vibrationen frühzeitig an. Eine nicht gelöste oder funktionsunfähige Bremse kann jederzeit identifiziert werden. Gleichzeitig kann über die-
Cloud
Lok Funk-Zugbus
Funk-Zugbus
Wagen „Intelligente“ Ladung
Wagen „Intelligente“ Ladung
„Dumme“ Ladung
„Dumme“ Ladung
Wagensteuerung/-zustand Ladungsdaten/-steuerung Sonderheft für VDI-FVT
2016|2017
Automatisierung Lokale Bedienung
BILD 1 Güterzug 4.0 (© Enning, FH Aachen)
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sen Funk-Zugbus die Vollständigkeit des Zugs geprüft und damit der nächste Schritt des europäischen Zugsicherungssystems ETCS zu Level 3 auch im Güterverkehr gemacht werden. BESCHLEUNIGTE BREMSPROBE
Noch größerer Nutzen kann bei den zeitund personalaufwendigen Zugbildungsprozessen erzielt werden. Die Schritte zur Vor- und Nachbereitung erfordern neben Kontrollen an den Wagen auch verschiedene Einstellarbeiten. Diese betreffen die Feststellbremse, Dynamik und Wirksamkeit der indirekten Bremse, Durchgängigkeit und Abschluss der Hauptluftleitung. Heute werden diese Arbeiten bei der Bremsprobe manuell ausgeführt und führen zu den unzumutbar langen Zeiten zwischen dem Lauf des letzten Wagens in ein Richtungsgleis und der möglichen Abfahrt des Zugs. Ein Güterwagen 4.0 kann – bis auf (vorerst) das mechanische Kuppeln – alle Aufgaben selbst übernehmen. Dazu benötigt er einige elektromechanische Stellantriebe und Elektroventile. Die Energie dazu bezieht er aus dem Bordnetz, BILD 2. Wenn nach abgeschlossener Zugbildung die Aktorik komplett abgeschaltet ist, verhält sich der Zug vollkommen normal im Hauptlauf. Das vereinfacht Sicherheitsnachweise erheblich. Eine weitere Möglichkeit sei hier nur kurz angedeutet: Ein Güterwagen 4.0 kann mit einem Rangierantrieb ausgestattet sein und Bestandteil einer umfassenden Prozessautomatisierung an der Ladestelle werden [4]. Auf die Energie- und Dateninfrastruktur des Güterwagen 4.0 kann auch der Transportkunde zugreifen und „intelligente Ladung“ über Zugbus und LokMobilfunk überwachen oder steuern. In Verbindung mit cloud-basierter Datenhaltung eröffnet dies eine ganze Welt neuer Dienstleistungen und Geschäftsideen für Eisenbahnverkehrsunternehmen und Wagenhalter. GEMEINSAME STANDARDS ERFORDERLICH
Gleichzeitig erfordert diese Vielfalt an Komponenten und Möglichkeiten eine Standardisierung, damit nicht weitere inkompatible Inseln entstehen. Die zu treffenden Vereinbarungen betreffen nicht nur naheliegende Aspekte wie Spannung,
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Laden extern
Mobilfunk, GNSS
CPU B
WLAN, BT
Speicher
RadsatzGenerator
CPU A
W2WKommunikation
BILD 2 Strom- und Datennetz sowie Kommunikationsschnittstellen des Güterwagen 4.0 (© Enning, FH Aachen)
Steckverbinder und Protokoll der Funkübertragung, sondern auch die Software des Wagens selbst. Wie bei Mobilfunkgeräten mit Android oder iOS wird auch hier die Kreativität der Anwendungsentwickler dadurch beflügelt, dass man auf hardwarenahe Funktionen in einer standardisierten und (je nach Geräteausstattung) konfigurierbaren Weise zugreift. Bestandteil des Vorschlags Güterwagen 4.0 ist daher die Konzipierung eines „Güterwagenbetriebssystems“ WagonOS. AUTOMATISIERUNG DER PNEUMATISCHEN BREMSE
Am Beispiel der Bremsprobe soll gezeigt werden, wie die konzipierten Bremsfunktionen des Güterwagens 4.0 die Effizienz steigern. Eine vollständige Bremsprobe ist am neugebildeten Zug sowie spätestens alle 24 Stunden durchzuführen und dauert für einen Zug mit 740 m Länge etwa 70 min. In Vorbereitung auf die Zerlegung der Züge in der Einfahrgruppe einer Zugbildungsanlage wird die Bremse an jedem Wagen ausgeschaltet und der Referenzdruckbehälter (A-Kammer) der indirekten Bremse entlüftet. Für die Zugbildung nach dem Ablaufvorgang ist es nötig, die Wagen mechanisch und pneumatisch zu kuppeln, was das Öffnen der Endabsperrhähne beinhaltet. Im Rahmen der Bremsprobe wird das Anlegen und Lösen der Bremse in den Wagen geprüft sowie die Bremsart eingestellt. Den Ablauf zeigt BILD 3. Die im Rahmen der Zugbildung und -vorbereitung notwendigen Bedienungen werden über Umstelleinrichtungen vorgenommen, die außen am Langträger sowie an der Pufferbohle angebracht
sind. Alle Umstelleinrichtungen sind frei zugänglich und damit nicht vor missbräuchlicher Bedienung geschützt. Da weiterhin die Bedienung zu allen Tageszeiten auch unter widrigen klimatischen Bedingungen vorgenommen wird, sind fehlerhafte Einstellungen nicht auszuschließen. Es ist möglich, die Umstelleinrichtungen und die Endabsperrhähne durch motorisch angetriebene bistabile Ventile zu ersetzen. Diese nehmen die notwendigen Einstellungen auf Grundlage einer Steuerung vor, beispielsweise über den oben genannten Funk-Zugbus oder über eine direkte Datenverbindung zur Cloud. Die Grundlage dieses automatisierten Bremssystems bildet das bewährte UICSteuerventil, das die Grundfunktionalität der indirekten Bremse umsetzt. Alle im Rahmen dieser Entwicklung vorgeschlagenen Automatisierungsfunktionen werden zu diesem Steuerventil hinzugefügt. Es ist vorgesehen, diese zusätzlichen Funktionen während der Fahrt im Hauptlauf abzuschalten und so mindestens das gleiche Sicherheitsniveau wie die derzeit im Betrieb befindlichen Güterwagen zu erreichen. Das Druckluftschema ist in BILD 4 dargestellt. Durch die weitgehende Entkopplung der Einstellungen der pneumatischen Bremse von Bedienelementen erhöht sich die Sicherheit vor unerwünschter Bedienung, da im Rahmen der Datenkommunikation eine Authentifizierung des Nutzers gegeben ist. Für den Betrieb des Güterwagens 4.0 auf einer Infrastruktur, die keine Möglichkeiten zur Kommunikation bietet, und zur Erhöhung der Verfügbarkeit, ist eine lokale Bedienung der Wagen nötig. Diese Bedienmöglichkeit wird durch Nahfeldkommunikation (NFC) geboten. Dazu
Zugvorbereitung
Zugschluss, Bremsen ein, Bremsstellung, Leer/Beladen, Zug sichern
Hauptluftleitung füllen
HL füllen (circa 10 bis 40 min)
Lösezustand überprüfen
Alle Bremsen gelöst
BILD 3 Ablauf einer vollständigen Bremsprobe (© Pfaff, FH Aachen)
Dichtheitsprobe
Druckabfall HL < 0,5 bar/min (Güterzüge) Druckabfall HL < 0,3 bar/min (Reisezüge)
Bremse anlegen
Absenkung HL um 0,8 bar
Bremszustand prüfen
Bremsbeläge liegen an Außenanzeigen zeigen „Bremsen“ an
gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Sicherheit gewährleisten. Die vorgeschlagene Automatisierung bietet neben dem Entfallen der manuellen Tätigkeiten in der Zugbildung und -vorbereitung sowie der Steigerung der Sicherheit gegen fehlerhafte und ungewollte Bedienung den Vorteil, die Bremse als Basiselement künftiger Entwicklungen nutzen zu können. Ein mögliches Szenario ist die Entwicklung einer automatischen Auflaufbremse, die die elektrische Feststellbremse sowie die Positionsbestimmung des Wagons nutzt. Solche Funktionen können von der Nutzergemeinde vergleichbar mit Apps entwickelt und vertrieben werden. CHANCEN NUTZEN
Bremse lösen
Lösezustand überprüfen
HL auf Lösedruck
Bremsbeläge liegen nicht an Außenanzeigen zeigen „Gelöst“ an
werden an den Orten der Umstelleinrichtungen NFC-Tags angebracht, die es erlauben, mit eigens dafür vorgesehenen oder universell einsetzbaren Geräten wie Smartphones, die Umstellung lokal vorzunehmen. Zur lokalen Bedienung eignen
sich Wearables, also an der Kleidung angebrachte Computer in der persönlichen Schutzausrüstung der Rangiermitarbeiter und Wagenmeister. Diese können durch haptisches Feedback und gewohnte Bedienhandlungen die Intuitivität bei
BILD 4 Druckluftschema der Bremse 4.0 (© Pfaff, FH Aachen)
Um die Güterbahn in die Lage zu versetzen, ihren Anteil am Verkehr im Zeitalter von Industrie und Logistik 4.0 zu steigern, muss ein Umdenken stattfinden. Digitalisierte Güterwagen 4.0, die sich untereinander und mit den umgebenden Logistikprozessen vernetzen und aktiv im Sinne des Internet-of-Things mitarbeiten, werden dem Einzelwagenverkehr aus der Krise helfen und gleichzeitig anderen Segmenten des SGV einen massiven Produktivitätsschub bescheren. LITERATUR [1] Schmied, M; Knörr, W: Carbon Footprint – Teilgutachten „Monitoring für den CO 2-Ausstoß in der Logistikkette“. Umweltbundesamt. Texte 29/2012. Online: https://www.umweltbundesamt.de/sites/ default/files/medien/461/publikationen/4306.pdf, aufgerufen am 30.9.2016 [2] Stuhr, H.; Bruckmann, D.: Zukünftige Entwicklung der Produktionstechnologie im Schienengüterverkehr In: ETR, Eisenbahntechnische Rundschau 59 (5), 268 –273 [3] Kapazitätsgeprüftes Netzwerk für bessere Planbarkeit und Transparenz. Online: http://www. dbcargo.com/rail-deutschland-de/products_services/netzwerkbahn.html, aufgerufen am 30.9.2016 [4] Baier, M; Daniel, A.; Enning, M: Fahrzeugtechnische Machbarkeitsstudie eines selbstangetriebenen Güterwagens für das System FlexCargoRail. In: ZEVrail, 2009 (133). [5] Gericke, C.; Hecht, M.: CargoCBM – An Algorithm for the Continuous Monitoring of the Wheel Profile Wear of Freight Wagons. COMDEM 2013, Helsinki, Juni 2013 [6] Statistisches Bundesamt, Fachserie 8, Reihe 1.1 08/2016
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Sonderheft für VDI-FVT
2016|2017
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