Distant Information Die komparatistische Bedeutung Miltons Von ANSELM HAVERKAMP (New York)
ABSTRACT Der Beitrag versucht eine Umfangsbeschreibung des wissenschaftshistorischen Paradigmas Milton: des Stellenwerts des Paradigmas Milton im Kanon der englischen Literatur, der komparatistischen Bedeutung dieses Paradigmas für die Entwicklung der neueren Literaturtheorie sowie einer paradigma-orientierten Revision der Literaturgeschichte. This article attempts to measure the extension and reach of Milton as a critical paradigm within English literary history; it endeavours to classify the importance of this paradigm for the development of recent critical theory and to assess the revisionary force of this theory.
Milton ist ein in Deutschland eigenartig unbekannter Autor und von vernachlässigenswerter Bedeutung, ein in dieser Vernachlässigung nahezu bewährter Autor, historisch geworden und vergessen samt seinem Nachfolger Klopstock und der erstaunlichen Wirkung, die beide einmal hatten. Im Gegensatz zu der historischen Erledigung beider steht die akute Lebendigkeit Miltons in Amerika, wie sie nicht nur die florierende akademische 'Milton-industry' bezeugt, sondern weit mehr noch die unübersehbare Präsenz dieses Autors in den öffentlichen Diskursen; ich erwähne nur die 'conversation of justice', die als epochemachendes politisches Prinzip von John Rawls bis hin zu Stanley Cavell und Richard Rorty den neopragmatischen Konsens in den Vereinigten Staaten bestimmt. 1 Rortys rhetorische Frage läßt keinen Zweifel: "What else would better fulfill the purposes we share with Sokrates, Milton, and Habermas?"2 Selbst wenn man der amerikanischen Bedeutung Miltons nur regionales In-
I Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome, Chicago 1990, xxxii, mit ständigem Bezug auf John Rawls, A Theory of Justiee, Cambridge, Ma. 1971. 2 Richard Rorty, Consequenees ofPragmatism, Minneapolis 1982, 174. Als loeus classieus zitiert Rorty in seinem Essay "The Priority of Democracy to Philosophy" Thomas Jefferson "in dem von Milton in den Aeropagitiea formulierten Wortlaut" in: Objectivity, Relativism, and Truth, Philosophical Papers 1, Cambridge 1991, 176.2 [dt. in: Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988, 112.2]. Siehe den Kommentar zu Miltons Areopagitiea bei Francis Barker, The Tremulous Private Body. Essays on Subjeetion, London 1984, 42: "Areopagitiea operates to call into being a new state-form, and to inscribe there a novel citizen-subject" - nicht ohne ungeahnte Kontrollinstanzen mit auf den Plan zu rufen, denen gegenüber Mißtrauen am Platz ist, zuletzt erläutert bei William Kolbrener, "Plainly Partial: The Liberal Areopagitica", English Literary History 60 (1993),57-78.
Die komparatistische Bedeutung Miltons
635
teresse zubilligen konnte, von komparatistischem Interesse wäre sie gleichwohl durch den exemplarischen Stellenwert des Paradigmas Milton in der Entwicklung der jüngeren Literaturtheorie, einem Paradigma durchaus in dem Sinne, den dies Wort seit Thomas Kuhns Structure of Scientific Revolutions in der Wissenschaftstheorie gewonnen und aus derselben rhetorisch-grammatischen Tradition bezogen hat, in der Milton als Paradigma seinen Ort hat. 3 Ich fange mit einer Skizze des Umfangs dieses Paradigmas an und lege dabei besonders auf die rhetorisch-poetischen Konturen Wert, die mit der rhetorisch-grammatischen Herkunft des Paradigma-Begriffs zu tun haben und der andauernden Aktualität dieser Tradition - nicht zuletzt, nämlich paradigmatisch, in der Literatur und ihrer Kritik. Milton als Gemeinplatz dieser Tradition des Gemeinsinns ist durch einen der Rhetorik konträren, in ihr über die Zeiten immer wieder mühsam entschärften, ihre Topoi bedrohenden und in ihnen raffiniert aufgehobenen Sachverhalt charakterisiert, den der Verspätung. Milton ist chronisch verspätet, seine Formen überholt, die Gattung des Epos ein monumentaler Anachronismus, und doch ist er der erste Dichter, der einen Königsrnord - die Hinrichtung Karls I. 1749 rechtfertigt und die Möglichkeit einer zivilen Regierung begründet, der erste, der ein ziviles Scheidungsrecht auf der Grundlage der 'conversation of justice' fordert. Die Umwandlung seiner Verspätung in Verfrühung, einer poetischen Verspätung in politische Verfrühung, ist der Grundzug seiner Rhetorik. Der rhetorische Terminus für diese Umkehrung ist die Metalepse, ihre Embleme sind das Teleskop und das Echo, der trügerische Nachklang des Vergangenen und die künstliche Sicht auf in der Ferne Verborgenes: 'speculative instruments' nicht eines theoretischen Programms, sondern einer Praxis des Lesens. 4 Entsprechend gehorchen die Paradigmen der 'neo-pragmatistischen' Wissenschaftstheorie eines Thomas Kuhn nicht der Logik der einen oder anderen Theorie, keiner Logik der Dichtung etwa, sondern der auf sich selbst gesetzten Pragmatik normaler Forschung. Im Spektrum solch normaler Forschung bezeichnet die Literaturwissenschaft den doppelten Grenzwert einer, der einzigen, in der Routine der allernormalsten Fortschreibung von Tradition unausgesetzt mit dem Bruch von Traditionen und der Innovation von Regeln befaßten Diszi3 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962, 1970. Paul Feyerabend, Against Method, London 1975, der Kuhns terminologische Wahl nicht unterschreibt, verzeichnet dafür im Sachregister unter dem Stichwort 'Rhetorik' lakonisch die Seiten 1-411, das ganze Buch also (revidierte dt. Ausgabe Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1976, 432). Kuhns Structure ist grammatisch motiviert; Feyerabends "anarchistische Erkenntnis-Theorie" rhetorischer Natur. Gleichwohl zitiert Kuhn - und wird deshalb hier zitiert - die Grammatik der Rhetorik, die er in den Dienst der Logik der Forschung nimmt, während Feyerabend ihre anarchische Kraft hervorkehrt. 4 l.A. Richards, Speculative Instruments, London 1955. Cavelliiest im Vorwort seiner Conditions Handsome and Unhandsome, xxxiii, Rawls Theory of Justice als Anleitung einer solchen Praxis.
636
Anse1m Haverkamp
plin. Die unklare, unmögliche, allenfalls selbst wieder heuristische Trennung von Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft, Erzähltheorie und Erzählforschung, Bauformen des Erzählens und Allegorien des Lesens, ist Ausdruck dieser notwendigen Doppelrolle der Praxis von Theorie, und die pragmatische Verlagerung von einer Typologie der literarischen Formen auf ihre exemplarische Situierung Teil einer wissenschaftstheoretischen Wende, die ihrerseits nicht ohne historischen Zusammenhang mit der rhetorischen Vergangenheit des Fachs ist. Erich Auerbachs figura, die über Dante hinaus in die irdische Welt der Mimesis gedacht ist, hatte davon eine Ahnung; die Metalepse Miltons ist im Gegenzug zu ihr entstanden; sie verkehrt das Paradigma, das wir Auerbach verdanken. 5 Es kommt nicht von ungefähr, daß das rhetorische Äquivalent zum grammatischen Paradigma, das Auerbachs figura darstellt, unter dem Einfluß seiner Schüler in Yale, insbesondere Geoffrey Hartmans, aber auch Harold Blooms und der Dante-Forscher John Freccero und Giuseppe Mazzotta, zum Paradigma einer von Augustinus über Dante auf Milton geführten literarischen Vorgeschichte der Dekonstruktion wurde. Die pragmatistische Paradigma-Gebundenheit der Dekonstruktion ist auf diese Weise ablesbar an der Reihe Milton, Dante, und Hölderlin, die Paul de Mans Einleitung in die Allegorien des Lesens als Paradigmen der Dekonstruktion aufführt, bevor er selbst sich Proust und Rousseau zuwendet, einer anderen nach-augustinischen Filiation, die über PortRoyal und Pascal führt. 6 Im Hintergrund zeichnet sich die Konfrontation der beiden antiken Paradigmen ab, die den Rahmen meiner Skizze sprengen, aber 5 Erich Auerbach, "Figura" (1939), jetzt in: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1962, 55-92, schreibt die Vorgeschichte seines älteren Buchs Dante als Dichter der irdischen Welt, Leipzig, Berlin 1929, systematisch fort. Daran knüpft die amerikanische Danteforschung von Charles S. Singleton, John Freccero, Giuseppe Mazzotta an. Cavell in Conditions Handsome and Unhandsome, XXX, versäumt es nicht, die dort geltend gemachte Bedeutung Dantes für den Begriff des 'return' zu erwähnen. Die generalisierte Anwendung Auerbachs, Mimesis, Bern 1946, heißt bei Geoffrey Hartman, Criticism in the Wilderness, New Haven 1980,235: "perhaps the only true literary history we have." Das 'true' bezieht sich auf 'literary': diese Geschichte der Literatur zeigt deren Wirklichkeitsbegriff als Variationen einer Figur auf. Ob nur einer, und als Entfaltung nur dieser einen Figur, ist die Frage. Siehe Hartmans Schülerin Jill Robbins, Prodigal Son/EIder Brother. Interpretation and Alterity in Augustine, Petrarch, Ka{ka, Levinas, Chicago 1991,4,19. 6 Paul de Man, Allegories of Reading, New Haven 1979, 17. Der implizite Bezug der Autoren Milton (Bloom und Hartman), Dante (Freccero und Mazzotta), Hölderlin (de Man) auf das gleichzeitig mit den Allegories of Reading erschienene Unternehmen Deconstruction and Criticism, New York 1979, liegt auf der Hand. Harold Blooms Beitrag zu diesem Band, "The Breaking of Form", ist die Kurzfassung seiner Map of Misreading, New York 1975. Geoffrey Hartmans Monographie Wordsworth, New Haven CT 1968, ist im Gegenzug zu der Milton-Lektüre Blooms zu lesen, wie aus seiner weiterführenden Ergänzung, The Unremarkable Wordsworth, Minneapolis 1989, XX, hervorgeht.
Die komparatistische Bedeutung Miltons
637
doch genannt gehören, des Augustinus und Ovids, der Transformations-Poetik der Metamorphosen und der Conversions-Poetik der Confessionen. An Ovid, so meine Hintergrund-Hypothese arbeitet sich Milton ab, während Bloom, im Widerspruch zu Auerbachs Augustinus verharrend und gegen seinen Dante anschreibend, ins Alte Testament ausweicht und den Jahwisten als ursprünglichsten aller Autoren ins Recht setzt gegen Miltons Gott.? I.
"While it must be admitted that Milton is a very great poet indeed, it is something of a puzzle to decide in what his greatness consists."8 Die Ambivalenz dieses ersten Satzes von T. S. Eliots Milton-Essay ist unüberhörbar; sie hält sich durch als ein einmal angeschlagener Ton, der Miltons Schicksal im 20. Jahrhundert durchzieht. "Milton" I endet mit dem vernichtenden Verdikt des Schadens, den Milton bis in die fortgeschrittene Moderne hinein angerichtet habe. Sein Einfluß zerstört Ansätze, an denen dem Dichter Eliot gelegen ist; die lange Vergessenheit der eben erst wieder entdeckten 'Metaphysical Poets' ist symptomatisch. Die Abwehr des Einflusses von Milton indessen, so stellt sich schon in Eliots eigenem Text heraus, ist selbst noch ein Einfluß Miltons. Eliots "Milton" I - das wird zum Thema von "Milton" II - beweist die Ambivalenz der Wirkung Miltons als das mächtigste Moment dieses Einflusses. Harold Bloom wird dies auf den treffenden, insbesondere Eliot treffenden Nenner von der 'anxiety of influence' bringen. Eliots eigene Lesart nimmt sich natürlich anders aus, als Abwehr einer kulturellen Bedrohung. Der Schaden, den Milton angerichtet habe, sei eine "dissociation of sensibi!ity", die bis heute nachwirke. "Keats and Shelley died", heißt es lakonisch über das Desaster der Zwischenzeit, "and Tennyson and Browning ruminated"9. Der 7 Siehe Harold Bloom, Ruin the Sacred Truth, Cambridge, Ma. 1989, gefolgt von The Book of ], New York 1991, als dessen unübertroffener Autor eine Frau postuliert wird. Damit antwortet Bloom bereits auf Reaktionen gegen die in seinem psychoanalytischen Schema der Anxiety of Influence, New York 1973, noch stillschweigend vorausgesetzten Gender-Implikationen der männlichen, gegen einen Vorläufer ödipal erstrittenen Autorschaft. Siehe die exemplarische, an der Rezeption Ovids orientierte Studie von Joan de Jean, Fictions of Sappho 1546-1937, Chicago 1990. 8 "Milton" I (1936), in: Selected Prose ofT.S. Eliot, ed. Frank Kermode, London 1975, 258-264, 258. Blooms Anxiety of Inf/uence spart sich den Hinweis auf den 'precursor' Eliot noch und bestätigt in dieser Verleugnung das Schema. Dafür hatte Blooms YaleDissertation, Shelley's Mythmaking, New Haven 1962, den romantischen Autor favorisiert, der Eliots Verdikt weitestgehend entging. 9 "The Metaphysical Poets" (1921), in: Selected Prose of T.S. Eliot, 59-67, 65. Eliots Aufsatz ist eine enthusiastische Rezension der von Herbert Grierson zusammengestellten Ausgabe der Metaphysical Poets, Oxford 1921. Der Name Milton ist nur am äußersten Rande vertreten, eine Tendenz, die sich in den späteren Ausgaben eher noch verstärkt, etwa der von Helen Gardner, The Metaphysical Poets, Harmondsworth 1955.
638
Anselm Haverkamp
Mangel an Sensibilität manifestiere sich in einem grundsätzlichen Verlust an visueller Bildlichkeit, der im tatsächlichen Erblinden des Dichters eine drastische Bestätigung gefunden hätte. Aber schon der Vergleich mit dem ebenso erblindeten Joyce, den Eliot heranzieht, macht offensichtlich, wie wenig es sich um eine bloße Abwertung Miltons handeln kann. Milton hat für Eliot in Joyce einen vergleichbar ungeheuren Nachfahren gefunden, der die Ausmaße des Problems Milton deutlich macht. In "Milton" 11 wird er Henry James und Mallarme hinzufügen, sich im wesentlichen aber an notorische Bemerkungen Dr. Johnsons anschließen und das nachgerade ausländische Idiom Miltons beklagen, den babylonischen Dialekt, der den Verlust an plastisch-visueller Sinnlichkeit als einen Mangel an heimischer Kompetenz, einer im Gegenteil unheimlichen Entfremdung beweist. In Rene Welleks und Austin Warrens Theorie der Literatur, einer der Gründungs urkunden des Fachs aus der Mitte der 40er Jahre, ist Eliots Urteil zu archetypischer Bedeutung erweitert. Dante und Shakespeare als Meistern einer umfassenden Bildlichkeit steht Milton gegenüber als Vertreter einer aufs Akustische geschrumpften, bloßen "auditory imagination"lO. Wellek und Warren wenden sich gegen die zu ihrer Zeit im englischen Kanon noch vorherrschende Tendenz, die ernst zu nehmende Geschichte der Literatur mit Milton überhaupt enden zu lassen und Späteres pauschal den Spezialisten des poetischen Verfalls und der Formen modernistischer Verkümmerung zu überlassen; sie übersetzen die Scharnierfunktion Miltons in einen nicht weniger grundlegenden Kontrast der Talente: neben dem "Adel des Auges" verlange das Ohr, ebenso perzeptiv, aber vernehmend statt bildend, ein gleiches Recht. Der historische Komprorniß dieses zur Typologie entschärften Paradigmawechsels vom Modell der visuellen zur akustischen Einbildungskraft hat nicht gehalten und halten können, hing doch der offene Horizont der Moderne daran. Ernst Robert Curtius hatte zur gleichen Zeit eine Geschichte des Verfalls der antiken Topoi entworfen, die als wirkungsmächtige Klischees die Moderne undurchschaut durchziehen.H Ihre geisterhafte Präsenz hat Frances Yates in einer viel bewunderten Studie, The Art of Memory, illuminiert, indem sie die in der Renaissance zum letzten Mal zur Blüte gebrachte Gedächtniskunst der
10 Rene Wellek and Austin Warren, Theory of Literature, New York 1942, Harmondworth 1963, 187-188, 198. Herkunft und Phänomenologie des alten Gemeinplatzes vom Vorrang des Auges hat zur selben Zeit Hans Jonas nach den platonischen Quellen beschrieben, "The Nobility of Sight", Philosophy and Phenomenological Research 14 (1953/ 54),507-519. 11 Ernst-Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, wogegen sich als Gegenmittel Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Archiv für Begriffsgeschichte 6, Bonn 1960, empfiehlt. Siehe Vf. "Einleitung in die Theorie der Metapher", in: Theorie der Metapher, Wege der Forschung 387, Darmstadt 1983, 1-27, hier: 22.
Die komparatistische Bedeutung Miltons
639
Antike in ihrer Vorläuferrolle für die Geschichte der romantischen Imagination geschildert hat. 12 Auf dem Umschlag trägt ihr Buch das emblematische innere Auge, das in der Metaphorik der Mnemotechnik das Gedächtnis als eine optische Begabung erscheinen läßt. Vor diesem Hintergrund hebt sich die Blindheit Miltons, die des blinden Homers nach innen gekehrtes Auge wieder wahr werden läßt, ab. Aber die Erfüllung des Prototyps vom blinden Sänger Homer steht bei Milton unter den entgegengesetzten Vorzeichen nicht innerer Bilder, sondern dessen, was die Poetik von Puttenharns Arte of English Poesie (1589) bis zu CampbeIls Philosophy of Rhetoric (1776) eine Katachrese nennt, so etwa John Hoskyns, der 1599 die Signifikanz dieses Tropus an der Wendung "a voice beautiful to his ears" erläutert (bei Camp bell ist auch das Gegenteil genannt, "melodious to the eye"). Miltons Imagination setzt diese Katachrese, das Zusammenstürzen von Bild und Ton voraus, sie ist keine der bloßen Bilder, sondern eine von Texten, der Intertextualität der Topoi, über deren archetypischurbildliche Qualitäten Curtius sich Illusionen machte, und deren buchstäbliche Bildlichkeit Frances Yates ein letztes Mal zu retten versuchte. So wie die großen scholastischen Systeme des Mittelalters die Form mnemotechnischer Apparate besitzen, so muß man sich Paradise Lost vorstellen als ein überdimensionales kulturelles Gedächtnis der literarischen Überlieferung. In der Tat ist wohl Miltons Gedächtnis seine erstaunlichste, im Interesse seines Genies gern übersehene Fähigkeit. Seit seinem 44. Jahr blind, schrieb er auswendig, also innerlich, komponierte und diktierte er aus dem Gedächtnis ein Riesenwerk, dessen hochkomplexe Verweisstruktur Generationen von Forschern ins Brot setzte. Sie kennen die Anekdote, daß er, wenn die Schreiber, die er beschäftigte (zeitweise seine beiden Töchter), des Morgens nicht zeitig zur Stelle waren, wie vor Schmerz schrie und verlangte, gemolken zu werden, weil er die Menge des über Nacht entstandenen Texts nicht länger an sich halten könne. Was Miltons dichterische Produktion bestimmt, ist keine Einbildungskraft, wie sie die Romantiker von ihm aus zweiter Hand und, wie Eliot klagt, als bloße Manier übernehmen, sondern eine raffiniert geschichtete Intertextualität, die ihre Topoi nach allen Regeln der rhetorischen memoria ordnet, und das heißt nicht plan wie die Versatz-Stücke in Curtius' Warenhaus der Motive, sondern figurativ doppelkodiert wie bei Cicero und Quintilian vorgesehen und bei Yates nachzulesen ist.
12 Frances Yates, The Art of Memory, Chicago 1966. Als Gegengewicht zu Yates' Präokkupation mit der Renaissance-Imagination ist Mary Carruthers, The Book of Memory, Cambridge 1991, zu lesen, das Augenmerk auf die ältere, mittelalterliche Lesekultur zurücklenkt. Siehe Vf. "Text als Mnemotechnik," in: Gedächtniskunst. Bild-RaumSchrift, hrsg. Anse1m Haverkamp, Renate Lachmann, Frankfurt a.M. 1991, Einleitung 7-15.
640
Anse1m Haverkarnp
Eliots 'anxiety of influence' bezeugt Widerstand gegen den Super-Topos Milton, eine Art Platzangst in der gewaltigen Ausdehnung des in Miltons Texten eröffneten Gedächtnisraums. Virginia Woolfs A Room of One's Own bezeugt zur gleichen Zeit einen tieferliegenden Grund für Eliots und seiner Mitbewerber um den Lorbeer der Moderne Angst vor "Milton's bogey".13 Bloom hat Eliots Ambivalenz zu einer Abwehrformation systematisiert, die nach dem Muster von sechs rhetorischen Figuren gebildet ist. Im Zusammenspiel dieser Tropen entsteht das, was Kuhn die 'disciplinary matrix' des Paradigmas Milton nennen würde. Bloom konstruiert sie vom durchschauten Ende der von Milton über die europäische Romantik sich erstreckenden Epoche her, vom nächsten Paradigma also, dem Freuds, das nach Bloom imstande ist, die rhetorische Formation in der psychoanalytischen aufzuheben. 14 Diese Aufhebung überschreitet die Bedeutung Miltons und tendiert dazu - wie könnte es anders sein - ihr zu widersprechen. Jenseits der von Milton so effektiv behaupteten, in Blooms Abwehrtropen eingeigelten männlichen Autorschaft lauert ihre Entmännlichung, die Joan DeJeans Fictions ofSappho und Sandra Gilberts und Susan Gubars Madwoman in the Attic gegen Milton und Bloom anstrengen. Was Sappho, die offenkundig eine 'anxiety' schon vor, wenn auch nicht für Milton selbst war, als untergründige Alternative ermöglicht, wird bei Milton-Leserinnen wie Mary Shelley und den Schwestern Bronte bis hin zu Virginia Woolf zur Entlarvung des Betrugs, den Milton als Name nicht des einen, sondern jeden Vaters darstellt. Die andere Seite des Einfluß-Schemas, die in der Ambivalenz verdeckt ihre Wirkung ausübt, ist die figurale Konstruktion, ihr Skopus die Metalepsis, 'master trope' der Erneuerung für spätgeborene Dichter. Sie wird von Puttenharn vor Milton und Johnson nach Milton als Teleskopie verstanden - was die katachretische Metaphorik des Visuellen für das Von-weitem-Hergeholte, Zitierte verschärft, das sie bezeichnet. Doch das Zitierte ist kein Gehörtes, sondern in Schrift Eingefrorenes, Gelesenes. Dr. Johnson war sich der Tücke der gemischten Metaphorik noch im Klaren; er spricht von der Brille der Bücher, durch die Milton alles gesehen habe, "through the spectacles of books"15. Er sah aber nicht wirklich, sondern er las, hatte gelesen, und zwar alles. Teleskopisch vergrößert bringe er die Bruchstücke der Sprachen zusammen in 'magical inter-
13 Virginia Woolf, A Room of One's Own, New York 1929, 118. Den Ort Virginia Woolfs in der Milton-Rezeption haben Sandra Gilbert, Susan Gubar, The Madwoman in the Attic, New Haven 1979, behandelt. 14 Harold Bloorn, The Anxiety of Influence und A Map of Misreading, gefolgt von dem Freud-Buch Agon, New York 1979. Siehe die Neueinschätzung Virginia Woolfs bei Perry Meisel, Myth of the Modern, New Haven 1985. 15 Sarnuel Johnson, "Life of Milton", in: Prefaces, Biographical and Critical to the Works of the English Poets (1779), hier nach: Milton, The Critical Heritage, hrsg. John Shawcross, London 1976,303.
Die komparatistische Bedeutung Mi/tons
641
action'.16 So die nach-romantische Hoffnung, die Angus Fletcher, ein anderer dezidiert Moderner, aus Puttenharns, "the Elizabethan subversive's," Poetik bezieht. Das Beispiel Johnsons war kein beliebiges; er schreibt an der zitierten Stelle seines "Life of Milton": "He expands the adventitious image beyond the dimensions which the occasion required. Thus, comparing the shield of Satan to the orb of the moon he crowds the imagination of the telescope" - einer teleskopischen Vergrößerung, deren Effekts wegen die Metalepsis bei Puttenharn "the farfetcher" heißtY Bloom, der Fletchers Hoffnung teilt, hat deshalb die Leistung Miltons in einer eher inkonsequenten Anwendung der eigenen Map of Misreading auf die Freisetzung von alten Schematen hin perspektiviert, die freilich nicht von alltäglichen, aber doch von tradierten Text-Wahrnehmungen befreie. Daß es so einfach nicht sein könne, hatte Eliot, sowenig er mit Miltons Katachrese zurechtkam, zu Recht bezweifelt. Worin aber besteht das Ärgernis, das der sprachlichen Teleskopie Miltons die Unnachahmlichkeit sichert, wenn es nicht die bloße Freisetzung des sprachlichen Materials sein kann? Das Problem versteckt sich in der Metalepsis, zu deren Irritation die formidable Metapher der Teleskopie erheblich beiträgt. Sie wird noch Benjamin und Lacan faszinieren. Denn die Metalepse ist eine strikt sprachliche, anti-bildliche Figur, und die Metaphorik des Echos, des sinnlosen Wieder-Hallens des lautlichen Spracheindrucks ist ihre Vorzugsgestalt. Sie ist die präzisere Metapher, nicht nur der Leere wegen, die sie mit-impliziert, sondern auch wegen der Entstehung der Täuschung, 'die sie benennt, denn das Echo schallt zurück. 18 Es ist die Figur einer Umkehrung, wie sie radikaler nicht gedacht werden kann und keineswegs aufgeht in willkürlicher Konfusion; das ist nur die spätere, selbst wieder undurchschaute Verkennung des eigenen Größenwahns kleinerer Poeten.
16 Angus Fletcher, Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, Ithaca 1964, 182-184, 328. Blooms Anknüpfung an Fletcher ist am besten bei lohn Hollander, The Figure of Echo: Milton and After, Berkeley 1981, nachzulesen. Fletchers Gegenzug zu Eliot, der seinerseits in "Mi/ton" II sich Dr. johnsons Einwände zu eigen gemacht hatte, ist offensichtlich. Den Einspruch der Mi/ton-Forschung gegen Eliot haben ungefähr gleichzeitig j.B. Broadbent, Some Graver Subject, London 1960, und Christopher Ricks, Milton's Grand Style, Oxford 1963, auf eine systematische, Broadbent auf eine stilistische, Ricks auf eine eher dubiose, 'expressive' Grundlage gestellt. 17 Fletcher, Allegory, 328, unterstreicht den durchgängig ironischen Charakter der Tropen bei Puttenharn, und das heißt hier abermals die vorromantische Rolle der optischen Verbildlichung der Metalepsis als teleskopischer Figur. Während Fletcher dies als ein bloß 'allusives' Verfahren unterschätzt, hatte j.B. Broadbent, "Milton's Rhetoric", Modern Philology 56 (1959), 224-242, Puttenharns Figuren in Miltons Texten die Anlage zu Widerspruch und Kontrast bestätigt. 18 Paul de Man, "Anthropomorphism and Trope in the Lyric", in: The Rhetoric of Romanticism, New York 1984,248, spricht vom Echo, Ovid zitierend, als bloßer "delusion of the signifier", die den Anthropomorphismus der Lyrik verkörpert. Siehe dazu Vf. Laub voll Trauer. Hölderlins späte Allegorie, München 1991,69.
642
Anse1m Haverkamp
Technisch beruht die Metalepse auf der in der Erwartung buchstäblicher Bilder vergessenen Kunst der doppelten Figuration, des 're-troping' nach Bloom. Nichts Neues gibt es unter der Sonne seit dem Fall, nur tropische Vorgaben, die der Umfigurierung harren, wie sie aus 'retropings' auch hervorgegangen sind. Unter ihnen ist die Katachrese diejenige Figur, die die Doppelung verleugnet und als Mißbrauch, abusio, verdammt. Puttenhams und Miltons Favorit für die Poetik, die Metalepsis, ist schon bei Quintilian am entgegengesetzten Ende der Skala der Figuren gelegen (lnstitutio oratoria, VIII, vi, 37). Nicht nur macht sie die Doppelung zur Regel, sie kehrt sie um und erhebt die Umkehrung zum Verfahren. Was späte Einsicht nötig hat, holt die Metalepse aus der Ferne heran und schmilzt es in teleskopischer Vergrößerung zusammen. Das Schema der Typologie, Auerbachs figura, kippt um, und das Alte Testament wird lesbar als Version des Neuen. Während die grammatische Einheit, in der sich all dies vollziehbar zeigt, Paradigma heißt und als eine grammatische Metapher für den Topos der memoria steht, deren Dichte Miltons Gedächtnis zugänglich macht und hält. Entscheidend für die Umbesetzung von Paradigmen bis hin zum Sprung der Paradigmawechsel - so läßt sich aus der Poetik für die Rhetorik der Forschung lernen - ist nicht so sehr eine Ausschöpfung bis zur Erschöpfung, wie sie bei Kuhn die Konstellation der Paradigmen umspringen läßt, sondern die in der Defiguration sitzende Latenz zur Re-figuration. Deshalb ist die Katachrese nur Grenzfigur und der Schrecken, der dahinter lauert, das Erhabene, eine ästhetische, die ästhetische Innovation. Burke zitiert Milton dort, wo sich die Bildlichkeit optisch auslöscht, wo die Pracht der herangezogenen Bilder bei der Annäherung an Gott erlischt in exzessiver Überbelichtung der Szene: "Dark with excessive light thy skirts appear" (III, 380).19 "Dark with excessive light" illuminiert das Versagen der Lichtmetapher in der Katachrese. Das Dunkel Miltons entsteht in Überbelichtung der aus der künstlichen Beleuchtung der Texte entwickelten Offenbarung. Der ex negativo provozierte Effekt ist eine Nachbildlichkeit, an der, wenn man sie bloß bildlich auffaßt, die unproportionale Sprache stört. Worunter Eliot zufolge die Romantik litt, und noch Geoffrey Hartmans Wordsworth, der die ästhetischen Möglichkeiten Miltons positiviert, ist aus dem Bann des Paradigmas Milton nicht so leicht zu erlösen. Er bleibt, sagt Hartman, The Unremarkable Wordsworth; seine ästhetische Wendung gegen Milton kommt ohne Milton nicht aus. Die englischen Nach-Miltone, angefangen mit Blake und Keats, bleiben, anders als das in der amerikanischen Milton-Wirkung möglich
19 Edmund Burke, A Philosophicallnquiry into the Origin of our ldeas of the Sublime and Beautiful (1757), hrsg. James T. Boulton, London 1958, 80 (misquoting "light" for "bright"). Über Milton zeigt sich, daß der gängige Eindruck, Burkes Essay "owes little or nothing to L[onginus]", in: On the Sublime, hrsg. D.A. RusselI, Oxford 1964, xiv (Einleitung Russells), trügt.
Die komparatistische Bedeutung Miltons
643
ist, nach Visionären einer neuen, 'unmediated vision' und Melancholikern des erneuten 'vanishing' aller 'aesthetics' zu unterscheiden. 20 Worauf es ankommt in der Geschichte der Forschung nach Kuhn, die exemplarische, zur 'normalen' Praxis der Forschung gefestigte Anwendung von Theorie, die zu Paradigmen geronnen, die Geschichte der Forschung deklinierbar macht, hat ihr geheimes Paradigma in der Intertextualität der Nach-Miltonischen Poetik. Das ist Rorty in seiner Neueinschätzung des Neopragmatismus nicht verborgen geblieben; in seinen Consequences of Pragmatism stellt er "Kuhn's romantic philosophy of science" und "Bloom's philosophy of romantic poetry" parallel nebeneinander und beruft sich dabei auf Emerson, Blooms amerikanischen Milton: "The pragmatist reminds us that a new and useful vocabulary is just that", schreibt Rorty, "not a sudden unmediated vision of things or texts as they are."21 Milton selbst hatte nicht gezögert, eine zusätzliche Vorrichtung ins Spiel zu bringen, um das Problem des refigurativ zu Erreichenden zu lösen und es auf der Höhe der erhaben aporetischen Defiguration, seiner Entbildlichung im Erhabenen, umschlagen zu lassen in hiesiges politisches Leben: das Epos. Es ist ein Ärgernis geblieben, das Milton mit einer unplausibien Mythologie belastet hat (so Voltaire trotz Bodmers Verteidigung), einem geschichtsphilosophisch überholten Schema (so Schelling) und einem obendrein fragwürdigen Publikumserfolg (so Dr. Johnson). Vor allem William Empson, der Ambiguitätsforscher, hat die Vorwandhaftigkeit des Epischen bei Milton erkannt und Paradise Lost als Inszenierung einer heteronomen Sprachbabylonik analysiert, als kontrapunktisch komponiertes Arrangement von 'double plots' und 'counter-plots'22. Die epische Stimme Miltons ist danach nurmehr abstrakter Träger und Ver20 Northrop Frye, Fearful Symmetry, Princeton 1947. Geoffrey Hartman hat in seiner Yale-Dissertation, The Unmediated Vision von 1954, revised edition New York 1966, die Karriere dieses ästhetischen Gemeinplatzes in Valery gipfeln lassen; Carol Jacobs, Uncontainable Romanticism, Baltimore 1989, dagegen die Gegendarstellung der Ästhetik als 'vanishing aesthetics' bei Wordsworth beginnen lassen. Aus der bei Emerson einsetzenden amerikanischen Milton-Rezeption ragen Whitman und Stevens heraus, auf die sich Harold Bloom konzentriert hat, The Visionary Company, New York 1970; sowie Wal/ace Stevens, New Haven 1976. 21 Consequences of Pragmatism, 153, mit implizitem Bezug nicht nur auf die mit Cavell geteilte Emerson-Lektüre Blooms, sondern auf Hartmans frühe Unmediated Vision und Blooms Eliot-Lektüre. Siehe Hartmans späte Essays Minor Prophecies: The Literary Essay in the Culture Wars, Cambridge, Ma. 1991, Introduction "Pastoral Vestiges", 6. 22 William Empson, Some Versions of Pastoral, London 1935, Harmondworth 1966, überführt seinen Begriff des 'double plot' von Shakespeare auf Milton über das Zitat der Teleskopie-Diagnose Johnsons. Geoffrey Hartman schließt daran seine Vorstellung von "Milton's Counterplot" (1958) an, in: Beyond Formalism, New Haven 1970. An Empson's Analyse der 'double plots' hatte Fletcher angeknüpft, während Wellek und Warren den durch Empson bestimmten Stand der Dinge referiert hatten. Siehe Vf. "Miltons Counterplot. Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637", DVjs 63 (1989),608-627.
644
Anse1m Haverkamp
stärker der teleskopisch eingefangenen und herausvergrößerten Szenen aus einem literarischen Gedächtnis, das zum neuen Grundmythos arrangiert wird. Teile des Arrangements, vor allem die Inszenierung des in der Gefallenheit mitimplizierten Lesers, des 'guilty reader' von Henry James' Romanen und Stanley Fish's rhetorischer Analyse in Surprised by Sin, beweisen die andauernde Aktualität auch der mythischen Konstruktion von Paradise Lost. 23 Aber sie verstellen nicht von ungefähr die in der Episierung verschliffenen und schließlich verlorengegangenen Konturen der im engeren Sinne poetischen Konstruktion. Die Verschleifung äußert sich nicht nur, oder nur oberflächlich, als wachsendes Mißverständnis. Sie ist das Oberflächen-Symptom einer systemischen Ausreizung der disziplinären Matrix und spielt sich, figural gesprochen, zwischen 'Defiguration' und 'Refiguration' des Paradigmas ab. Beide Möglichkeiten der Ausschöpfung des paradigmatisch Möglichen will ich abschließend an zwei exemplarischen Momentaufnahmen im Rezeptionsschicksal Miltons illustrieren.
11. Ausgerechnet Klopstock, der auch von den Engländern als epischer Nachfolger Miltons anerkannt und dann allerseits als sein quasi schlechteres episches Selbst verworfen worden ist, hat hier eine Antwort parat. Winfried Menninghaus hat in einem bemerkenswerten Alleingang ganz gegen die Trends der in Sachen Klopstock wahrhaftig nicht sehr präsenten Forschung die Leistung der Poetik Klopstocks restituiert, und was bei dieser nachgerade archäologischen Grabung unter den Ruinen des Klopstockschen Ruhms herausgekommen ist, macht zum ersten Mal paradigmatische Qualitäten sichtbar. Menninghaus reserviert ihm einen Platz als Vorläufer von Novalis, im Vorlauf also zum frühromantischen Paradigma. Das verträgt sich nicht nur gut mit dem Paradigma Milton, es verspricht eine Vergleichbarkeit mit eben jenen englischen Romantikern, die Eliot unter Miltons ungutem Einfluß sieht. Klopstock radikalisiert eine rhetorisch-poetische Crux, die im Paradigma Milton nicht zu solcher Zuspitzung geführt worden ist. Er tut es in dem, was Menninghaus seine "Metaphysik der Bewegung" nennt, die Zuspitzung des unbildlichen, akustischen Moments zur absoluten Priorität der "metrischen Bewegung der Worte"2\ 23 Stanley Fish's Titel Surprised by Sin. The Reader in Paradise Lost, Berkeley 1967, antwortet auf C.S. Lewis' Titel Surprised by Joy, in dem sich die Milton-Lektüre von dessen Preface to Paradise Lost, Oxford 1942, niederschlägt. Fish's These vom impliziten Sünder ist von Wolfgang Iser, Der implizite Leser, München 1972, nach den puritanischen Wurzeln für die Geschichte des englischen Romans verallgemeinert worden. Darin trifft er sich mit C.S. Lewis' verallgemeinernder Analyse von Paradise Lost als 'secondary epic'. 24 Winfried Menninghaus, "Klopstocks Poetik der schnellen Bewegung", Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie, Frankfurt a.M. 1989, Nachwort: 309. Schon Klopstocks frühe Lyrik neigt bei aller Belehtheit zu diakritischen Grenzphänomenen, insbeson-
Die komparatistische Bedeutung Miltons
645
Miltons Musikalität, Funktion seines blinden Zurechtfindens im literarischen Gedächtnis, das in seiner tatsächlichen Blindheit zur vollen Entfaltung kam, kennt eine ähnliche Priorität der Bewegung, aber es ist die Losgelöstheit von jeder anderen linguistischen Funktion, auf die Klopstock hinauswill. Nicht daß bei Milton etwas anderes zählte als die lautliche Entfaltung der Verse; auch Milton ist an nichts anderem so interessiert. 25 Aber das Metrum ist für ihn kein vollständiger Maßstab, mit dem dem Laut der Worte beizukommen wäre; im Gegenteil, was bei Milton nach der Ausschaltung der unmittelbaren Bildlichkeit in der Teleskopie der figuralen Konstellationen, und das heißt an Echos der metaleptischen Doppelkonstellationen übrigbleibt, ist auch metrisch doppelkodiert. So wie sich in dem Palimpsest, das Paradise Lost ist, die intertextuellen Verweise vielstimmig und gegenläufig äußern, so tun es die Metren. Es gibt Stellen bei Milton, wo im fortlaufenden epischen Ton Sonette nicht nur eingelegt erscheinen, sondern sich mit anderen Formen kontrapunktisch überschneiden. Klopstock kann solche Spaltungen und Überlagerungen im Metrum aus guten Gründen nicht zulassen. Indem er die Rhetorik der Figuren radikal bis an die Grenze ihres metrischen Stellenwertes treibt und damit alle Gegenstände und Anlässe zweitrangig werden läßt, ersetzt er nicht nur - und zersetzt er nicht nur, wie Paul de Man in den Allegorien des Lesens sagt - die Rhetorik der Persuasion; er stellt sie auf andere Füße, Versfüße. Wo üblicherweise Figuren dem Zweck der Überredung aufhelfen sollen, da herrscht bei Klopstock der aller solcher ornamentalen Hilfsmittel entlastete pure Rhythmus, der unvermittelt in die Seele eingreift und sie, seelenverwandt, wie es die rhetorische Ideologie von alters will, bewegt. Solche "autonome Evokation" der Passionen aus ihrer adäquaten Repräsentation in der Bewegung der Worte nennt Klopstock 'Darstellung' (im Gegensatz zu den Darstellungsbegriffen der Zeit). Aber das ist nicht alles; sie eröffnet den Raum einer "Theorie des Wortlosen", das auf dem Rücken solcher Darstellung, im Zug der Wortbewegung einzieht ins Gedicht und aus der lacuna der entleerten Figur die Arabeske einer Nullfigur beschwört. Ich halte bei dieser Vorstellung einen Augenblick inne und halte fest, was im Verhältnis zu Milton passiert. Klopstock naturalisiert Miltons Rhetorik; er schreibt der 'Natur der Poesie' zu, was bei Milton ihrer Tradiertheit, dem kulturellen Gedächtnis der Tradition zukommt und den mehr oder minder souveränen Umgang mit ihm ausmacht. Die Unmittelbarkeit, mit der nach Klopstocks Wünschen die Metren rhythmisch in der schönen Seele Anhalt und dere im Mittel der zitierten, im Zitat stillgelegten Prosopopeia; siehe Vf., "Fest/Schrift. Festschreibung unbeschreiblicher Feste; Klopstocks Ode von der Fahrt auf der Zürcher See", Poetik und Hermeneutik XIV (1989),276-298. 25 Siehe F. T. Prince, The Italian Element in Milton's Verse, Oxford 1954, der mit der doppelsprachigen Versanlage Miltons das akustische Analogon zum 'double plot' Schema nachgewiesen hat. Leider hat er das mögliche Zusammengehen seiner Analysen mit denen Empsons in Seven Types of Ambiguity, London 1930, New York 1947, nicht gesehen.
646
Anse1m Haverkamp
Korrespondenz finden, ist bei Milton wie bei Cicero Inbegriff des persuasiven Erfolgs (Ciceros De oratore XXX). Nicht diese wird bei Klopstock eigentlich zerstört, sondern die Vehikel der figuralen Vermittlung und was sie über ihre unmittelbare Mittelhaftigkeit hinaus transportieren. Dies ehedem Transportierte, tropologisch Vernetzte "wandelt" nun wortlos einher im Gedicht. Menninghaus macht sich ein unübertreffliches Zitat Klopstocks zu eigen, dessen Suggestion ich mich nicht entziehen kann, von dem "Wortlosen", das "in einem guten Gedicht umher [wandelt], wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter". Es wandeln diese Götter zwar auch, und von wenigen gesehen, in Miltons Paradies umher, aber nicht wortlos, sondern in der Tarnung paradiesischer, ungetrübter Tropen. Während Klopstock in der Tat einen Vorgeschmack vom Ghost Dance späterer Medien vermittelt und der Halluzination medialer Vernetzungen. Ihm selbst indessen liegt nicht an diesem Effekt, der ihm im Messias auch ordentlich daneben gegangen wäre, sondern am Schweigen der Wortlosigkeit im bloßen, noch der Musik entbehrenden Tanz, lautlosem Tanz auf dem Eis. Miltons Musikalität ist weniger transzendental, als es die in puren Figuren aufs Eis gezeichnete Metrik Klopstocks will. Auch sie war lange unspielbar und operierte hart am Rande realisierbarer Auffassungen. Sein spätes Drama Samson Agonistes, den in Paradise Lost geschaffenen Grundmythos in sich zusammenstürzen lassend, ist allenfalls Einstein-on-the-Beach-haft vorstellbar und transportiert doch ganz das politische Ärgernis des unmöglichen alten Mannes, der Milton werden mußte, die Historizität der rhetorisch manipulierbar gewordenen Zeit in den Tropen und Figuren einer ganz und gar nicht se renen Szene. "These are the days my friends" ist der unendliche Refrain der Einsteinschen Muse, für den Samsons Selbstmord immer schon ein Ende bereit hatte. Das HBomben Szenario on the Beach war für Miltons Menschheit von Anfang an und immer neu der Fall; es war ablesbar und absehbar seit Samsons Katastrophe. 26 Das Supplement, das Samson Agonistes zu Paradise Lost nachliefert, den Widerruf, den dieser Samson als Komplement zu Paradise Regained bildet, überflutet dramatisch das geschichtstheoretische Szenario des EposP 26 Philip Glass, Robert Wilson, Einstein on the Beach, New York 1976, 1984, 1992. Vermittelnd zwischen Milton und Einstein steht Samuel Beckett's Endgame, wie Cavell es gelesen hat, zuletzt in Conditions Handsome and Unhandsome, 130f.; zuvor in Must we mean what we say?, Cambridge 1976, 133-38. 27 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, hat diese Logik dem Dunkel ihres Funktionierens bei Rousseau entrissen; Paul de Man, Derrida rezensierend in "The Rhetoric of Blindness", in: Blindness and Insight, New York 1971, Minneapolis 1983, hat dieselbe Logik als Rationalisierung des defigurierenden Moments der Texte verstanden. Sie ist Teil der vom Vf. an Miltons Samson Agonistes erläuterten "Gerechtigkeit der Texte", Poetik und Hermeneutik 15 (1993), 17-27; ausführlicher "All Passion Spent: The End. Samson Agonistes oder: Das Ende der Gerechtigkeit", Poetik und Hermeneutik 16 (1994),267-282.
Die komparatistische Bedeutung Miltons
647
III.
Paradise, not yet lost, wir befinden uns im IV. Buch. Eva, dem Adam eben frisch aus der Rippe geschnitten, noch bevor sie seiner gewahr wird, entdeckt den Himmel gespiegelt im Wasser eines Sees und, indem sie sich über den Spiegel des Wassers beugt, sich selbst: As I bent down to look, just opposite, A Shape within the wat'ry gleam appear'd Bending to look on me, I started back, lt started back, but pleas'd I soon return'd, Pleas'd it return'd as soon with answering looks (IV, 461-65) Göttliche Offenbarung unterbricht in der Folge den aus Ovid herbeizitierten narzißtischen Moment und verwandelt ihn in sokratische Selbsterkenntnis: unter der Platane aus Platons Phaidros erblickt sie ihn, Adam, zum ersten Mal, der von ihrem Bericht geschmeichelt und von ihrer Gestalt berückt (in dieser Reihenfolge) ganz unreflektiert "Smil'd with superior Love, as Jupiter" (499). Der männliche Narziß Ovids im III. Buch der Metamorphosen erliegt seiner Selbstliebe, ohne sie je durchschaut zu haben; so auch Adam, dem dies hier an der Wiege gesungen wird, so wie es dem Narcissus Ovids prophezeit war durch den in der Bisexualität erfahrenen Tiresias. (Darauf verweist die Erwähnung Jupiters an dieser Stelle)/8 Adam erliegt der göttlich inspirierten Appellqualität Evas. Es bedarf nichts als der geringfügigen Intrige eines eifersüchtigen Teufels. Der Plot von Paradise Lost beruht zu großen Teilen auf solchen Beispielen von "adventurous Eve's" unfreiwilliger kognitiver Überlegenheit, in der Miltons Gott das Risiko des Falls eingegangen ist, ihn quasi programmiert hat. Catherine Belsey hat in ihrer glänzenden Einarbeitung dieses Motivs in das Paradigma Milton die Doppelsprachigkeit des Texts auf eine witzige Schlußfolgerung gebracht: "God ought to have thought of that. It would have made all the difference in the world."29 Gott hat aber nicht daran gedacht, daran zu denken. Der mit Gottes Hilfe durchschaute Narzißmus bleibt Evas und Gottes Geheim-
28 Die geschlechterpolitischen Implikationen des Echo-Narcissus Topos sind inzwischen von Gayatri Chakravorty Spivak, "Echo", New Literary History 24 (1993), 17-43, ausführlich behandelt worden, einschließlich der paradigmakonformen Komplizität der Versionen Freuds mit Milton (hier: 24); des letzteren nach lohn Brenkman, "Narcissus in the Text", Georgia Review 30 (1976), 293-327. 29 Catherine Belsey, lohn Mi/ton. Language, Gender, Power, Oxford 1988, 66-67. ]oseph Wittreich, Feminist Mi/ton, Ithaca NY 1987, bestätigt sowohl die Tendenz der von Gilbert und Gubar geschriebenen Rezeptionsgeschichte, zeigt aber auch, wie bruchlos sie in Forschung über- und in ihr weitergeht. Evas Narzißmus war vor Belsey exemplarischer Gegenstand von Christine Froula, "When Eve Reads Milton: Undoing the Canonical Economy", Criticallnquiry 10 (1983).
648
Anse1m Haverkamp
nis bei Milton. Im Gegenteil, in ungerührter Behauptung seiner Schöpferkraft, die Miltons Satan zum Vorschein zwingt, bleibt Gott Herr der Dinge, indem er die menschliche Komödie der Geschlechterdifferenz als gerechte Strafe, ist man versucht zu sagen: als schlechte Mimesis seiner Macht, in Zahlung nimmt - und Eva zahlt durch ihr besseres Wissen wie Adam durch seine narzißtische Befangenheit im Unwissen, die ihn in seiner 'superiority' bestärkt. "What is strange", schreibt Belsey, "is that God apparently learns nothing from the event. After the fall he simply reinstates the same patriarchal relation wh ich brought it about."30 Genauer gesagt, er nimmt sie in Kauf zu seiner höheren Ehre, und der Autor Milton folgt ihm darin in seiner notorischen Misogynie zur höheren Ehre der eigenen Autorschaft. Gleichzeitig ist aber klar, daß der Autor Milton in Wahrnehmung dieser Autorschaft Gott hinterrücks die Verantwortung tragen läßt nicht für den Fall natürlich, aber für den Trick, der sie möglich macht und das Wissen Evas durch das eigene Mitwissen ausgleicht und zum Geheimnis der eigenen auktorialen Rolle macht. Hier ergibt sich der Ausblick auf den rhetorisch entscheidenden Trick der Inkorporation weiblichen Wissens durch auktoriale Männlichkeit, wie er von Miltons Meisterschüler in der neuen Gattung des Romans, einem weiteren Adepten Ovids, nämlich Samuel Richardson in Clarissa entwickelt werden wird. 31 Mit anderen Worten, nicht Gott begründet in Paradise Lost die patriarchalischen Verhältnisse, sie stellen sich postlapsarisch, nach dem Fall, her; er läßt sie einreißen als Figur der postlapsarisch verderbten Mimesis an seine Macht. Sie sind eine Funktion seiner Macht, und Miltons Autorschaft zehrt von dieser Macht, indem er Anteil an ihr nimmt, seinen Anteil von ihr nimmt über die dichterische Metamorphose Ovids, die den Transfer der Gegenübertragung, der männlichen 'anxiety of influence' auf die göttliche Einrichtung der Geschlechter, Evas Klugheit mit anderen Worten, möglich macht. Das böse Erwachen Adams behauptet Priorität vor der frühen Erkenntnis Evas (Metalepsis) und versichert sich im Autor Milton der Komplizenschaft des Gottes, der Anlaß zu solcher Autorschaft gibt und Miltons Text die Priorität über Ovids vorchristliche Erkenntnis gibt (Metalepsis). Aber, so Catherine Belsey mit Recht, "all of it can be read, sometimes in spite of itself." 30 Belsey, John Milton, 105. Eine Idee von der "Satanic dimension of justifying the ways of God to men", die der romantischen Rezeption Miltons Rechnung trägt, findet sich inzwischen ausgeführt bei Victoria Kahn, "Allegory and the Sublime in Paradise Lost", John Milton, ed. Annabel Patterson, Longman Critical Readers, London 1992, 185-201. 31 Barbara Vinken, Unentrinnbare Neugierde: Die Weltverfallenheit des Romans Richardsons Clarissa und Laclos' Liaisons dangereuses, Freiburg i.B. 1992, in Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte Ovids für Richardson und den englischen Roman. Die Patenschaft Ovids für Miltons 'satanic heroic mode', beispielsweise in Barbara KieferLewalskis Topologie Paradise Lost and the Rhetoric of Literary Forms, Princeton 1985, 71-75, verdeckt diese wirkungs mächtige Pointe zugunsten Adams Interessenblindheit.
Die komparatistische Bedeutung Miltons
649
In der Konsequenz einer solchen analytischen Lektüre Miltons liegt die 'conversation of justice' zwischen den Geschlechtern, gerechte Gegenseitigkeit, die Milton in den 'divorce tracts' als Grundlage aufgeklärter Verständigungs-Verhältnisse einklagt. Sie rekuperiert ein paradiesisches Moment in differenz-vergessenen Zeiten, so wie Ovids Metamorphosen für Milton die Unerlöstheit solcher Zeiten in dieser Welt lesbar gehalten hatten. Ovid ist der Vorläufer, dem Milton über die Zeitenwende antwortet; sein 'master trope' der Metalepsis ist das Echo des Echos, das in den Metamorphosen Ovids Narcissus vergeblich vernimmt und nicht zu verstehen mag. Der Schatten Ovids ist umbra und figura Miltons, beides aber nur die optische Metapher dieses akustischen Echos, dessen Nachhall Ovids wichtigster Schüler im 19. Jahrhundert, Baudelaire, in durchaus Miltonischer Manier im Namen desselben Ovide anruft, "Oh vide", die Leere im "eau vide", im leeren Spiegel des Wassers, auf dessen Oberfläche Klopstock den Eistanz plante. Nachbemerkung: Der vorstehende Text ist der auf einen deutschen Vortrag kondensierte, für ein deutsches Publikum zugeschnittene Grundriß meiner New Yorker Milton-Vorlesung; der Stil des mündlichen Vortrags ist weitgehend beibehalten, aber ergänzt um Hinweise zu Stand und Geschichte der Forschung, die im Laufe des Semesters zu entfalten waren. Die komparatistische Bedeutung Miltons ist mit einer zusätzlichen Metalepsis verbunden: der Verkehrung der Rezeptionsperspektive vom Land der größten MiltonNähe, Amerika, auf ein Land der größten Milton-Ferne, Deutschland, und beider unterschiedliche Vorstellungen vom Kanon der europäischen Literatur.