Michael Seitz, Stefan Jablonski
Evolutionäres Prozess-Engineering – der angemessene Grad an Prozessunterstützung Die Möglichkeiten der Verwendung von Prozessmodellen zur Unterstützung von Arbeitsabläufen sind vielfältig. Das Spektrum reicht von der Bereitstellung von Informationen, der Überwachung, Steuerung und Kontrolle von Aktivitäten bis hin zur Assistenz und Planung. Eine zunehmende Prozessunterstützung ist jedoch nicht automatisch mit einer Prozessverbesserung verbunden. Vielmehr müssen die angeforderten, modellierten und systemintegrierten Prozessinhalte exakt aufeinander abgestimmt werden. Der angemessene Grad an Prozessunterstützung lässt sich mithilfe eines Bewertungsmodells identifizieren.
Inhaltsübersicht 1 Das richtige Maß an Prozessunterstützung 2 Lösungsansatz auf Basis eines Reifegradmodells 2.1 Reifegradmodell 2.2 Zielsetzung 2.3 Instrument zur Bewertung der Prozessunterstützung 3 Praktischer Einsatz im Unternehmen 3.1 Bewertung der Güte des Prozesses 3.2 Aspektorientierte Gestaltung der Prozessunterstützung 4 Portfolio der Prozessunterstützung 5 Literatur
1
Das richtige Maß an Prozessunterstützung
Ein Prozess kann in Teilen oder vollständig unterstützt werden, indem bestimmte Aufgaben manuell, teilautomatisiert oder automatisiert ausgeführt werden. Einige Prozesse werden papierbasiert durch Formulare und Checklisten abgewickelt. Andere Prozesse benötigen Unter-
HMD 287
stützung an ihren Schnittstellen zur Kommunikation und Datenübermittlung. In einer definierten Aufbau- und Ablauforganisation wiederum können die Prozessschritte auch vollständig elektronisch und systemunterstützt abgearbeitet werden. Die Frage nach der idealen Prozessunterstützung ist facettenreich und daher nicht trivial. Sie muss sowohl in organisatorischer als auch technischer Hinsicht beantwortet werden. Eine rein organisatorische Unterstützung reicht oft nicht aus, jedoch beseitigt auch Technologie häufig strukturelle Probleme nicht [Becker et al. 2009, S. 2]. Integration und Automatisierung führen nicht per se zu den gewünschten Ergebnissen, denn nicht alle Prozesse benötigen bzw. eignen sich für eine aktive Steuerung durch ein Workflow-ManagementSystem (WfMS) [Mühlen 2005, S. 522]. In diesem Beitrag wird die organisatorische Unterstützung vorausgesetzt und nicht explizit behandelt, während die technische Unterstützung im Detail untersucht werden soll. Werden die Funktionalitäten der technischen Prozessunterstützung nicht auf die Erfordernisse der Arbeitsabläufe abgestimmt, können sie nur eingeschränkt Nutzen generieren. Fehler in diesem Zusammenhang verursachen mitunter hohe Kosten. Nicht korrekt ermittelte Prozesseigenschaften oder falsche Ziele und Anforderungen führen dazu, dass wichtige Funktionalitäten vernachlässigt oder gar unnötige implementiert werden. Wenn die Konsequenzen der Prozessunterstützung nicht präzise beurteilt werden, lassen sich Anpassungen an veränderte Bedingungen nicht bzw. nur mit hohem Aufwand umsetzen. Häufig ist ein nicht angemessener Grad an Prozessunterstützung Ursache dafür, dass die Prozessunterstützung entweder nicht praktikabel ist und von den Mitarbeitern nicht
93
Evolutionäres Prozess-Engineering akzeptiert wird oder der Prozess selbst verändert wird und dadurch seinen individuellen Charakter verliert. Eine Umfrage hat ergeben, dass 15% der Unternehmen ihre Prozesse im Nachhinein an neue Unterstützungssysteme anpassen. Nur 11% halten konsequent an ihren eigenen Prozessstrukturen fest [Neubauer 2009, S. 174 f.]. Um bei der Einführung oder Weiterentwicklung einer Prozessunterstützung den tatsächlichen Unterstützungsbedarf der Arbeitsabläufe möglichst präzise zu bestimmen und angemessen abzudecken, bedarf es einer geeigneten Methodik und eines systematischen Vorgehens.
2
Lösungsansatz auf Basis eines Reifegradmodells
Der Lösungsansatz zur Identifikation einer geeigneten Prozessunterstützung und Ermittlung eines angemessenen Unterstützungsgrads basiert auf einem Reifegradmodell (vgl. Abb. 1), mit dem die Inhalte des zu unterstützenden Prozesses aus drei verschiedenen Perspektiven zunächst unabhängig voneinander analysiert werden. Auf diese Weise kann ein entsprechender Reifegrad des Prozesses bestimmt werden.
2.1 Reifegradmodell Ein Reifegrad ist durch eine beliebige Kombination von Ausprägungen der Merkmale »Güte«, »Abbildung« und »Unterstützung« bestimmt. Die Güte bezieht sich auf den angeforderten Prozessinhalt und wird daran gemessen, inwieweit die Anforderungen der Prozessstrategie und des Qualitätsmanagements erfüllt werden. Zu Beginn eines Projekts wird z. B. anhand von Fähigkeitsgraden entsprechender Referenzmodelle wie CMMI bewertet, welche Anforderungen der Prozess erfüllen soll (angestrebte Güte), welche nicht relevant sind (Abgrenzung von der maximalen Güte) und welche Anforderungen bislang umgesetzt wurden (aktuelle Güte). Mit geeigneten Maßnahmen, z. B. einem
94
Folgeprojekt zur Erreichung einer Q-Zertifizierung, lassen sich neue Anforderungen schrittweise implementieren und die Güte erhöhen. Der Grad der Abbildung wird daran bewertet, inwieweit die im Prozess vorkommenden Objekte und Abläufe durch den modellierten Prozessinhalt abgedeckt werden. Von den definierbaren Sachverhalten und Vorgängen (maximale Abbildung) abzugrenzen sind die informellen, nicht explizit erfassbaren Inhalte (z. B. verbale Kommunikation) sowie Inhalte, deren formale Darstellung nicht wesentlich oder zu aufwendig ist. Umfang und Granularität der Modellierung sowie das geeignete Werkzeug müssen im Hinblick auf die anvisierte technische Implementierung und unter Berücksichtigung der Grundsätze der Relevanz und der Wirtschaftlichkeit [Becker et al. 1995] bestimmt werden (angemessene Abbildung). Je mehr Anforderungen von einem Prozess zu erfüllen sind (z. B. Kontrolle und Steuerung), desto mehr Objekte und Abläufe müssen in der Regel modelliert werden (z. B. Kompetenzen). Der Grad der Unterstützung orientiert sich am systemintegrierten Prozessinhalt bzw. an den Teilen des Prozesses, die von einem Unterstützungswerkzeug verwendet und von diesem systemgestützt ausgeführt werden. Erfolgt z. B. die Abstimmung und Zuweisung von Aufgaben manuell durch einen Teamleiter, ist dieser Aspekt nicht systemintegriert. Wird ein Koordinationsbedarf hingegen vom Unterstützungssystem selbstständig erkannt und dabei automatisch eine Aufgabe generiert, gilt dieser Aspekt als systemintegriert. Die Ausprägungen der Unterstützung und ihre natürliche Rangordnung sind in Abschnitt 2.3 erläutert. Durch Bewertung von Aufwand und Nutzen der Unterstützung kann der angemessene Unterstützungsgrad vom maximal möglichen Unterstützungsgrad abgegrenzt werden. Die Prozessunterstützung entwickelt sich evolutionär und orientiert sich an dem für angemessen befundenen Unterstützungsgrad (»Structure follows process«). Dieser Grad sollte nicht überschritten werden,
HMD 287
Evolutionäres Prozess-Engineering
Güte maximal
Evolution
angestrebt
aktuell
Angeforderter Prozessinhalt
Systemintegrierter Prozessinhalt angemessen
angemessen maximal
maximal
Unterstützung
Modellierter Prozessinhalt
Abbildung
Abb. 1: Reifegradmodell
da ansonsten der Prozess von der Unterstützung »gegängelt« und die Ausführung umständlich und teuer wird (»Process follows structure«).
2.2 Zielsetzung Ziel ist es nicht, die jeweils höchstmögliche Ausprägung jedes einzelnen Merkmals des Reifegradmodells zu erreichen, sondern die maximale Kompatibilität (»Fit«) zwischen den Merkmalsausprägungen herzustellen. Zwischen den Prozessinhaltsperspektiven bestehen deshalb einseitige und wechselseitige Beziehungen, mit denen bestimmte Ziele verfolgt werden: ! Effektivität: Das Prozessmodell soll die ange-
forderten Sachverhalte effektiv abbilden, sodass die Prozessstrategie wie gefordert umgesetzt werden kann. In der Praxis gelingt es häufig nicht, diesen Zusammenhang korrekt herzustellen.
HMD 287
! Vollständigkeit vs. Relevanz und Wirtschaft-
lichkeit: Einerseits muss das Prozessmodell für die systemintegrierte Verwendung vollständig und technisch interpretierbar definiert werden [Meerkamm 2012, S. 132]. Andererseits sollten die Inhalte nur insoweit modelliert werden, wie es für die Automatisierung nützlich, relevant und wirtschaftlich ist [Becker et al. 2009, S. 4 ff.]. Die Schwierigkeit besteht darin, den richtigen Kompromiss zu finden. ! Wertbeitrag: Der systemintegrierte Prozessinhalt ist abhängig vom angeforderten Prozessinhalt. Es ist die Aufgabe der Prozessunterstützung, die Umsetzung der Prozessstrategie zu vereinfachen. Um einen messbaren Nutzen im Alltag für alle Prozessbeteiligten zu generieren, ist u.a. ein erfolgreicher Veränderungsprozess notwendig.
95
Evolutionäres Prozess-Engineering
2.3 Instrument zur Bewertung der Prozessunterstützung Dem Instrument zur Bewertung der Prozessunterstützung liegt ein Prozessmodell zugrunde, das zur Modellierung und anschließenden Ausführung verwendet wird. Es wurde das aspektorientierte Prozessmodell (AOPM) ausgewählt (Details zu AOPM siehe [Jablonski 1994]), weil es alle wesentlichen Bestandteile eines Prozesses enthält und orthogonal abbildet. Auch in der betrieblichen Praxis ist es von Vorteil, bei der Modellierung von Sachverhalten aspektbezogen vorzugehen, z. B. Aufgaben und Verantwortlichkeiten unabhängig von Datenstrukturen und Schnittstellen zu definieren. Für jeden Aspekt1 wird das Spektrum von der manuellen, teilautomatisierten und automatischen Unterstützung mittels einer Reihe von Ausprägungen qualitativ beschrieben. Die Ausprägungen sind in Tabelle 1 ordinal mit zunehmendem Unterstützungsgrad von links nach rechts angeordnet. Bei jeder Ausprägung wird differenziert, ob sie sich auf eine externe (manuelle) oder interne (systemintegrierte) Unterstützung bezieht. ! Daten: Es wird unterschieden, ob die Daten
papierbasiert oder elektronisch erfasst, aufbewahrt und transferiert werden. Je nach Konfiguration entstehen möglicherweise Medien1. Der funktionale Aspekt ist für die Unterstützung unkritisch und wird deshalb nicht behandelt.
Aspekt Daten Operationen Organisation Verhalten
brüche (z. B. Einscannen zur elektronischen Übermittlung). Daten können unstrukturiert (z. B. als Bild oder Textdokument) oder strukturiert (z. B. als Formular oder Datensatz) vorliegen. In einem Prozess kann eine Nachweisführung durch Vorlage papierbasierter Prüfprotokolle ausreichend sein, während in anderen Prozessen aus Sicherheitsgründen elektronische Identifikation und Zeitstempel verlangt werden. Es ist zu bedenken, dass eine automatische Erfassung und Auswertung von Informationen wie z. B. Prozesskennzahlen nur mit strukturierten, elektronischen Daten (Logs) möglich ist. ! Operationen: Der operationale Aspekt gibt an, welche Werkzeuge (Applikationen) im Prozess eingesetzt und wie sie aufgerufen werden. Die Prozessteilnehmer können unterstützt werden, indem ihnen der Zugang zu den Werkzeugen erleichtert wird. Es wird differenziert, ob Werkzeuge manuell, unter Assistenz (z. B. Benutzerdialog mit Liste kompatibler Programme) oder automatisiert ausgewählt und aufgerufen werden. Zur Erfüllung und zum Nachweis von Qualitätsanforderungen kann es sinnvoll sein, die Verwendung von bestimmten Werkzeugen vorzuschreiben (z. B. sichere Verbindung oder digitale Signatur) bzw. zu automatisieren. Mit zunehmender Unterstützung erhöht sich der Modellierungsaufwand, weil den Prozessschritten geeignete Hilfsmittel zugeordnet, Schnitt-
Ausprägungen Extern (manuell) Intern (systemintegriert) Papierbasiert Elektronisch Unstrukturiert Strukturiert Unstrukturiert Strukturiert Automatischer Frei wählbar, manueller Aufruf Assistierter Einsatz Einsatz UnspeziAufgabe an Aufgabe an Aufgabe an Aufgabe an fiziert Nicht-Agent Agent Nicht-Agent Agent Pool an Abfolge der Unspezifiziert Ablaufbeschreibung Prozessschritten Prozessschritte
Tab. 1: Bewertungsinstrument für den Grad der Prozessunterstützung
96
HMD 287
Evolutionäres Prozess-Engineering stellen programmiert sowie deren Parameter versorgt werden müssen. ! Organisation: Die Festlegung von (personalen) Verantwortlichkeiten im Prozess kann unterstützt werden, indem für den oder die nächsten Prozessschritte Aufgaben generiert werden. Sie unterscheidet sich darin, ob die Zuweisung an eine Gruppe von Prozessteilnehmern (»Nicht-Agent« wie z. B. eine Abteilung oder Rolle) oder an einzelne Akteure (»Agent« wie z. B. Mitarbeiter oder Webservice) erfolgt. Die Beauftragung einer Gruppe ist meist flexibler und es ist z. B. nicht notwendig, Vertreterregelungen zu definieren. Mit der Auswahl einzelner Akteure ist wiederum eine höhere Transparenz gegeben, zumal der Prozess feiner geplant und ausgesteuert werden kann und die Anwendung bestimmter Kompetenzen sichergestellt und konkreter nachzuweisen ist. Die Zuweisung kann sowohl manuell (z. B. durch persönliche Absprache mit dem Vorgesetzten oder Projektleiter) als auch automatisch (z. B. Kanalisierung über eine Aufgabenliste im Firmenportal) erfolgen. ! Verhalten: Der verhaltensbezogene Aspekt bestimmt die Reihenfolge der Prozessschritte. Der Unterstützungsgrad hängt davon ab, inwieweit der Kontrollfluss vorgegeben wird. Die manuelle Unterstützung beschränkt sich auf eine (typische) Ablaufbeschreibung, die den Prozessteilnehmern als Information (Richtlinie) zur Verfügung gestellt wird. Die tatsächliche Art und Weise der Prozessausführung muss manuell kontrolliert und dokumentiert werden. Beim systemintegrierten Verhalten werden zwei Unterstützungsformen unterschieden. Zum einen kann durch das System ein Pool an Prozessschritten verwaltet werden, um kontextbezogen verfügbare und sinnvolle Prozessschritte vorzuschlagen. %ei individuellen und wissensintensiven Dienstleistungen mit vielen Ausführungsoptionen, wie etwa bei medizinischen Behandlungsprozessen, ist es z. B. sinnvoll, den Akteur
HMD 287
selbst entscheiden zu lassen, welchen Prozessschritt er als Nächstes ausführen möchte. Zum anderen kann das System die Abfolge der Prozessschritte fest vorgeben. Diese Variante bietet dem Prozessteilnehmer jeweils nur den nächsten möglichen Prozessschritt zur Durchführung an und ist u.a. bei standardisierten Prozessen wie Serienfertigung oder administrativer Sachbearbeitung geeignet. Mit dem vorgestellten Bewertungsinstrument ist es möglich, den Grad der Prozessunterstützung aspektbezogen zu klassifizieren und dabei den Modellierungsbedarf zu reflektieren.
3
Praktischer Einsatz im Unternehmen
Das Reifegradmodell kann in der Praxis kontinuierlich und systematisch angewendet werden, um zeitpunktbezogen angemessene Evolutionsstufen zu identifizieren sowie zeitraumbezogen notwendige Weiterentwicklungen und Anpassungen der Prozessunterstützung zu steuern.
3.1 Bewertung der Güte des Prozesses In einem ersten Schritt wird die Güte des Prozesses bewertet. Sie beinhaltet die Anforderungen, die an die Definition der Prozessmodelle (Abbildung) und deren Verwendung (Unterstützung) gestellt werden. Als Maßstab wird das in [Faerber 2010, S. 36 ff.] entwickelte abstrakte Qualitätsmanagementmodell (aQM2), basierend auf den in der Praxis weitverbreiteten Standards CMMI und ISO/IEC 15504, herangezogen. Es beinhaltet fünf Reifegradebenen RG1RG5, deren Erfordernisse in Anforderungen an die Prozessunterstützung und ihre Modellierung übersetzt werden. ! RG1 – Ausgeführter Prozess: Die Umsetzung
der Prozessschritte soll durch die entsprechenden Arbeitsergebnisse belegt werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Ausführung im Voraus geplant wird und auf welche Weise die Ergebnisse erstellt werden. Die Abbildung beschränkt sich deshalb auf eine ergebnis-
97
Evolutionäres Prozess-Engineering orientierte Modellierung. Eine passive Unterstützung ist an dieser Stelle ausreichend. Es sollten Informationen zu Verfahrensweisen und den erwarteten Arbeitsergebnissen bereitgestellt werden. ! RG2 – Gesteuerter Prozess: Der Prozess wird als Projekt geplant. Wenn die Ausführung vom Projektplan abweicht und die Prozessergebnisse gefährdet sind, soll steuernd eingegriffen werden. Dazu ist ein ablaufbezogenes Prozessmodell zu erstellen, das neben den Prozessschritten und deren Ergebnissen (Funktionen) einen (zeitlichen) Ablaufplan (Verhalten) sowie Ressourcen und Verantwortlichkeiten (Organisation) enthält. Es wird eine reaktive Prozessunterstützung benötigt, die die Durchführung der Arbeitsvorgänge überwacht, Planabweichungen erkennt und entsprechend kommuniziert. ! RG3 – Definierter Prozess: Der Prozess ist von einem etablierten Standardprozess abgeleitet, in dem Zuständigkeiten, die nötige Infrastruktur sowie Methoden zur Messung der Effektivität definiert sind. Während der Ausführung werden Daten gesammelt, die zur kontinuierlichen Verbesserung ausgewertet werden. Voraussetzung für die Orientierung an einem etablierten Standardprozess ist ein Referenzprozessmodell. Über die in RG2 abgebildeten Aspekte hinaus müssen auch die im Referenzprozess verwendeten Werkzeuge (Operationen) sowie Informationen und Dokumente (Daten) beschrieben werden. Um sicherzustellen, dass der Standardprozess eingehalten wird, ist eine aktive Prozessunterstützung erforderlich, die benötigte Dokumente und Applikationen bereitstellt sowie Termine und weitere Randbedingungen überwacht. ! RG4 – Überwachter Prozess: Es werden quantitative Ziele definiert, zu deren Überprüfung Daten an festgelegten Messpunkten im Prozess systematisch erfasst, gesammelt und statistisch ausgewertet werden. Abweichungen werden frühzeitig erkannt und behan-
98
delt. Für die Abbildung ergibt sich daraus die Anforderung, den Prozess so zu modellieren, dass ein Vergleich zwischen verschiedenen Prozessinstanzen auf Basis von Kennzahlen an festgelegten Messpunkten möglich ist2 (vergleichbares Prozessmodell). Des Weiteren sind Ausnahmen zu modellieren, um einer von den Zielen abweichenden Entwicklung mit geeigneten Maßnahmen entgegenwirken zu können. Für die Prozessunterstützung ergeben sich die gleichen Anforderungen wie bei RG3 (aktive Steuerung und Kontrolle). ! RG5 – Verbessernder Prozess: Im Einklang mit der Unternehmensstrategie werden systematisch strategische Ziele zur Prozessverbesserung formuliert sowie Verbesserungsmöglichkeiten erarbeitet und evaluiert. Erfolgreiche Verbesserungen werden nicht nur für die laufende Prozessinstanz umgesetzt, sondern auch in den Standardprozess integriert. Dazu muss die Abbildung ausdrucksstark sein und flexibel mit Änderungen umgehen können [van der Aalst & Jablonski 2000, S. 272 f.]. Sie sollte erweiterbar sein, damit das zugrunde liegende Prozessmodell effizient angepasst und neue Konstrukte und Methoden in die verwendete Modellierungssprache eingebracht werden können. Es ist eine kreative Prozessunterstützung erforderlich, die aufgezeichnete Istdaten (z. B. Fallbasis) auswertet und systematisch Vorschläge für Abläufe generiert und bewertet. Durch Bewertung nach aQM2 konnten »ideale« Reifegrade ermittelt werden (vgl. Tab. 2), deren Kombinationen aus Güte, Abbildung und Unterstützung zu den in Abschnitt 2.2 geforderten Zielen kompatibel sind und einer angemessenen Prozessunterstützung entsprechen. Passt der für einen konkreten Prozess ermittelte Reifegrad nicht zu einer dieser Kombinationen, sollte untersucht werden, ob die Abweichung 2. Vergleich Benchmarking als pragmatischer Ansatz für das Prozessdesign in [Meerkamm 2012, S. 62].
HMD 287
Evolutionäres Prozess-Engineering
Í Abbildung
Güte (aQM2) Ô
Unterstützung Î RG1 Passiv RG2 Reaktiv
RG1 RG1 Ausgeführt Ergebnisorientiert RG2 Ablaufbezogen RG3 Standardisiert RG4 Vergleichbar
RG3/4 Aktiv
RG5 Kreativ
RG2 Gesteuert
RG5 Erweiterbar
RG3 Definiert RG4 Überwacht RG5 Verbessernd
Tab. 2: Bewertung der Güte des Prozesses
ein Problem darstellt und durch entsprechende Anpassungen behoben werden kann.
3.2 Aspektorientierte Gestaltung der Prozessunterstützung In einem zweiten Schritt werden die Definition der Prozessmodelle (Abbildung) und die Verwendung der Prozessmodelle (Unterstützung) geplant. Dazu werden die Aspekte des Prozessmodells unter Einsatz des Bewertungsinstruments aus Abschnitt Instrument zur Bewertung der Prozessunterstützung in Abhängigkeit der Güte mit angemessenen Unterstützungsgraden ausgestaltet. Die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten werden jeweils an Fallbeispielen des Prozesses »Einkauf«, insbesondere bei den Schritten Disposition, Lieferantenauswahl und Bestellung, verdeutlicht. Unterstützung durch Information In RG1 genügen eine ergebnisorientierte Prozessmodellierung sowie eine passive Prozessunterstützung durch Information der Prozessteilnehmer über die durchzuführenden Schritte und die erwarteten Ergebnisse. Die Unterstützung des Einkaufsprozesses besteht darin, eine für alle Mitarbeiter zugängliche Ablaufbeschreibung im Unternehmensintranet bereitzustellen. Neben den Kontaktinformationen der für den Bestellvorgang verantwortlichen Person sind dort die Ergebnisse definiert, z. B. dass der Bedarfsträger in seinem Bestellwunsch Artikel, Bestellmenge und Liefertermin angeben soll oder dass ein Angebot, bestehend aus Lieferant,
HMD 287
Preis und Konditionen, vor der Bestellung von einem Vorgesetzten geprüft und freigegeben werden muss. Informationen müssen nicht zwingend elektronisch oder strukturiert zur Verfügung gestellt werden. Nachdem der Fokus auf den Prozessergebnissen liegt, ist es nicht erforderlich, den Kontrollfluss zu spezifizieren oder zur Laufzeit Aufgaben zuzuweisen. Applikationen (z. B. Tabellenkalkulation) sind frei wählbar. Die Initiative zur Bearbeitung erfolgt durch individuelle Absprache zwischen den Prozessteilnehmern. Der Unterstützungsgrad dieses Szenarios ist minimal, jedoch durchaus praxisrelevant. Er eignet sich u.a. für Anwendungsfälle mit niedrigem Risiko und minimaler Fehlerquote, wie z. B. sporadische Einkäufe von einzelnen Artikeln wie Fachliteratur oder Peripheriegeräte, bei denen sich die Kosten für eine umfassende technische Unterstützung aufgrund der geringen Häufigkeit und Komplexität in der Regel nicht rechtfertigen lassen. Unterstützung durch Überwachung In RG2 muss ein ablaufbezogenes Prozessmodell vorliegen, das eine Überwachung des Prozesses zur Laufzeit zulässt. Die aktive Steuerung bei Planabweichungen soll ermöglicht werden, muss aber nicht zwingend im Unterstützungssystem implementiert werden. Vielmehr ist dieser Reifegrad so zu interpretieren, dass entsprechende Gegenmaßnahmen nach menschlichem Ermessen ergriffen werden sollen. So besteht im Einkaufsprozess die Unterstützung darin, automatisch an Fristen und Termine zu erin-
99
Evolutionäres Prozess-Engineering nern, wie z. B. den spätesten Bestellzeitpunkt in Abhängigkeit der Wiederbeschaffungszeit sowie bei Überschreitung des vom Lieferanten zugesagten Liefertermins. Relevante Daten für die Überwachung müssen elektronisch vorliegen, um den Prozesskontext abgreifen und Planabweichungen melden zu können (z. B. zur Rückwärtsterminierung des Bestellzeitpunkts über gewünschten Liefertermin und Lieferdauer). Bei dieser reaktiven Form der Prozessunterstützung »entfällt [...] die Notwendigkeit, organisationsbezogene Inhalte [systemintegriert] zu berücksichtigen« [Jablonski 1997, S. 94]. In manchen Projekten erweist es sich sogar als hilfreich, den Unterstützungsgrad zu reduzieren und auf die Zuordnung von Aktivitäten zu Akteuren zu verzichten, wenn die strikte Aufgabenverwaltung durch einen elektronischen Workflow von den Teilnehmern im Prozessalltag als zu umständlich und unflexibel empfunden wird. Unterstützung durch Steuerung und Kontrolle RG3 impliziert eine aktive Prozesssteuerung auf Basis eines standardisierten Prozessmodells. Die Umsetzung sowie der Nachweis der Orientierung am Referenzprozess (zentraler Einkauf zur Bündelung von Bestellungen) sollten vom Unterstützungssystem erbracht werden, das das Geschehen aktiv bestimmt und den Prozessteilnehmern Listen von Aufgaben aus dem Pool an Schritten des Referenzprozesses (z. B. Bestellwunsch genehmigen, Angebote für Bestellanforderung einholen) sowie darin als »anerkannt« bzw. »zulässig« deklarierte Applikationen assistierend zur Auswahl stellt (z. B. zentrale Erfassung und Übermittlung von Bestellwünschen über elektronische Eingabemasken oder elektronischer Produktkatalog von Lieferanten mit Rahmenverträgen). Eine durchgängig elektronische Datenerfassung und -aufbewahrung von der Disposition bis hin zur Bezahlung ist auch im Sinne der in RG4 geforderten Sammlung von Messdaten erforderlich. Für die Analyse der Messdaten und den Vergleich der Prozessinstanzen nach RG4 müssen die Informa-
100
tionen außerdem strukturiert vorliegen (z. B. Klassifizierung der Lieferantenzuverlässigkeit nach Qualität und Pünktlichkeit). Unterstützung durch Assistenz und Planung RG5 erwartet konkrete Empfehlungen oder Verbesserungsvorschläge für den Prozessablauf auf Basis der analysierten Messdaten. Die Unterstützung durch Assistenz und Planung muss eine Abfolge von Prozessschritten generieren, Aufgaben konkreten Agenten zuordnen und Applikationen automatisch auswählen und aufrufen können. Im Einkaufsprozess ist eine solche Unterstützungsform z. B. zur maschinellen Disposition und automatischen Lieferantenauswahl geeignet. Durch Beobachtung der Lagerbestände und Analyse des Materialbedarfs in abgeschlossenen Prozessinstanzen kann das Unterstützungssystem den Bedarf erkennen, einen Prognosewert bilden und dem Prozessteilnehmer als günstige Bestellmenge vorschlagen. Ebenso ist es in der Lage, über einen elektronischen Marktplatz Angebote zu vergleichen und Lieferanten automatisch zu bestimmen, sodass die Bestellungen nach Preis, Liefertermin und anderen Kriterien optimiert und ggf. sofort übermittelt werden können. In einigen Projekten wird ein sogenanntes intelligentes System bewusst mit dem Ziel der automatischen Optimierung umgesetzt, um zeitkritische Aktivitäten auch unter Stress termingerecht und effizient erledigen zu können.
4
Portfolio der Prozessunterstützung
In Abbildung 2 sind zusammenfassend die aQM2-Reifegrade und die Gestaltungsmöglichkeiten der aspektorientierten Unterstützung in einem Portfolio, bestehend aus den Dimensionen »Verwendung« und »Ausführung«, eingeordnet. Die Dimension »Verwendung« unterscheidet die interne (systemintegrierte) Unterstützung und die externe (manuelle) Unterstützung. Mit der Dimension »Ausführung« wird die Unterstützung in Abhängigkeit davon, wel-
HMD 287
Evolutionäres Prozess-Engineering
Verwendung
intern
RG5 RG4 RG3
Assistenz und Planung Automatischer Einsatz von Operationen
Steuerung und Kontrolle
Abfolge von Prozessschritten
Assistierter Einsatz von Operationen Pool an Prozessschritten
Unstrukturierte Daten
Aufgabe an Nicht-Agent
Strukturierte Daten
Aufgabe an Agent
Überwachung
extern
RG2
Elektronische Daten
Papierbasierte Daten Ablaufbeschreibung
RG1
Information
flexibel
Ausführung
strikt
Abb. 2: Portfolio der aspektorientierten Gestaltung der Prozessunterstützung
chen Freiheitsgrad und wie viele Ausführungsmöglichkeiten sie den Prozessteilnehmern einräumt, als »flexibel« oder eher »strikt« charakterisiert. Ein Pool von Prozessschritten, aus dem der zuständige Mitarbeiter auswählen kann, bietet eine höhere Flexibilität als eine vorgegebene Abfolge der Prozessschritte. Werden dem Prozessteilnehmer eine Liste geeigneter Werkzeuge zur Auswahl gestellt, ergeben sich mehr Ausführungsmöglichkeiten als beim automatischen Aufruf von Applikationen. Schließlich impliziert die Zuweisung von Aufgaben auf Ebene der Nicht-Agenten (Rollen oder Abteilungen) einen höheren Freiheitsgrad als die direkte Zuweisung an Agenten. Die gestrichelte Linie kennzeichnet die jeweils von der aQM2-Reife abhängigen angemessenen Prozessunterstützungsgrade sowie deren evolutionäre Entwicklung. Sie dient als Orientierung bei der Gestal-
HMD 287
tung der technischen Unterstützung, insbesondere welche Aspekte und Informationen das Prozessmodell beinhalten sollte und ob die Detailtiefe im Hinblick auf eine manuelle oder systemintegrierte Verwendung ausgerichtet werden muss.
5
Literatur
[Becker et al. 1995] Becker, J.; Rosemann, M.; Schütte, R.: Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung. Wirtschaftsinformatik 37 (1995), 5, S. 435-445. [Becker et al. 2009] Becker, J.; Mathas, C.; Winkelmann, A.: Geschäftsprozessmanagement. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2009. [Faerber 2010] Faerber, M.: Prozessorientiertes Qualitätsmanagement. Gabler Verlag, Wiesbaden, 2010. [Jablonski 1994] Jablonski, S.: MOBILE: A Modular Workflow Model and Architecture. Proceedings
101
Evolutionäres Prozess-Engineering of the 4th International Working Conference on Dynamic Modeling and Information Systems. Delft University Press, 1994. [Jablonski 1997] Jablonski, S.: Workflow-Management. dpunkt.verlag, Heidelberg, 1997. [Meerkamm 2012] Meerkamm, S.: Ein Rahmenwerk für das Prozessdesign zur Identifikation, Klassifikation und Umsetzung von Anforderungen. Dissertation, Universität Bayreuth, 2012. [Mühlen 2005] Mühlen, M.: Workflow- und Prozessmodellierung bei einem Energieversorgungsunternehmen. In: Becker, J.; Kugeler, M.; Rosemann, M.: Prozessmanagement. SpringerVerlag, Berlin, Heidelberg, 2005. [Neubauer 2009] Neubauer, T.: An empirical study about the status of business process management. Business Process Management Journal 15 (2009), 2, pp. 166-183. [van der Aalst & Jablonski 2000] van der Aalst, W. M. P.; Jablonski, S.: Dealing with workflow change: identification of issues and solutions. International Journal of Computer Systems Science & Engineering 15 (2000), 5, pp. 267-276.
Dipl.-Wirtsch.-Inf. Michael Seitz PRODATO Integration Technology GmbH Hauptstr. 40 91054 Erlangen
[email protected] www.prodato.de Prof. Dr.-Ing. Stefan Jablonski Universität Bayreuth Lehrstuhl Datenbanken und Informationssysteme Universitätsstr. 30 95447 Bayreuth
[email protected] www.ai.uni-bayreuth.de
Seitz/Jablonski, Evolutionäres Prozess-Engineering – der angemessene Grad an Prozessunterstützung. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik, Heft 287, 2012, S. 93-102.
102
HMD 287