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Elektrotechnik & Informationstechnik (2017) 134/2: 212–220. DOI 10.1007/s00502-017-0486-2
Fahrdynamische Grundlagen der energieeffizienten Antriebsauslegung für elektrische Schienenfahrzeuge des Nahverkehrs M. Glasl
Am Beispiel einer konkreten Straßenbahn wird untersucht, welchen Einfluss die Auslegung des Antriebs auf den für die Traktion aufgewendeten Energiebedarf hat. Es zeigt sich, wie bestimmend im Nahverkehr die fahrdynamischen Anforderungen für den Energieverbrauch sind. Neben einer energieoptimierten Auslegung aller Antriebskomponenten sind adäquat zur jeweiligen Transportaufgabe vorgegebene fahrdynamische Anforderungen für die Energieeffizienz eines elektrischen Schienenfahrzeuges bestimmend. Schlüsselwörter: Schienennahverkehr; Energieeffizienz; Antriebsauslegung; fahrdynamische Anforderungen
Driving dynamic principles on the energy efficient dimensioning of the traction drive of electrical light rail vehicles. Using a concrete electric tramway as an example, the influence of the drive dimensioning on the energy demand of the traction drive is investigated. It becomes apparent how determining the dynamic performance requirements are for the energy demand of light rail vehicles. Beside energy efficient dimensioning of all drive chain components the energy efficiency of an electrical light rail vehicle is highly determined by the dynamic performance requirements which have to be chosen adequately according to the particular transportation task. Keywords: light rail traffic; energy efficiency; drive chain dimensioning; driving dynamics requirements
Eingegangen am 7. Oktober 2016, angenommen am 6. Februar 2017, online publiziert am 6. März 2017 © Springer Verlag Wien 2017
1. Einleitung und Problemstellung Der Energiebedarf eines Schienenfahrzeuges im Nah- und Fernverkehr setzt sich zusammen aus der für die Erbringung der Traktionsaufgabe erforderlichen Antriebsenergie, dem Energiebedarf der Hilfsbetriebe und Nebenverbraucher (Lüfter, Kompressoren, Pumpen, etc.) sowie der für die Klimatisierung (Heizen im Winter, Kühlen im Sommer) benötigten Energie. Bei modernen Schienenfahrzeugen kann dabei der Energiebedarf für Hilfsbetriebe und Klimatisierung bis zu 30 % betragen [1]. Die vorliegende Arbeit befasst sich ausschließlich mit dem für die Traktion aufgewendeten Energiebedarf. Da im Fern- und Güterverkehr der Zug über große Distanzen mit weitgehend konstanter Geschwindigkeit fährt und wenige Anfahr- und Bremsvorgänge erforderlich sind, ist hier der Traktionsenergiebedarf vom Fahrwiderstand des Zuges bestimmt. Dieser ist von der Zugmasse und der Fahrgeschwindigkeit, sowie der Streckentopologie (Steigung, Gefälle, Kurven, etc.) abhängig [2]. Die der Bewegung entgegenwirkende Fahrwiderstandskraft wird bei Fahrt mit konstanter Geschwindigkeit von den Traktionskräften kompensiert, welche die Antriebe an den Rad/Schiene-Kontakten erzeugen. Der Zug beschleunigt, wenn die Traktionskraft die Fahrwiderstandskraft übersteigt bzw. verzögert, wenn sie kleiner wird oder als Bremskraft der Bewegung entgegen wirkt. Beim Beschleunigen wird dem Zug Energie zugeführt, die als kinetische Energie in der bewegten Masse gespeichert bleibt. Ein bedeutender Teil dieser Energie kann von modernen Traktionsantrieben beim Bremsen genutzt werden, indem sie in das Netz rückgespeist
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(rekuperiert) wird, oder einen am Fahrzeug mitgeführten Energiespeicher auflädt ([3–6]). Triebzüge des Nahverkehrs und Straßenbahnen sind geprägt von ihren kurzen Haltestellenabständen und relativ langen Fahrgastwechselzeiten. Die Antriebe von Nahverkehrstriebfahrzeugen müssen daher ein hohes Beschleunigungs- und Verzögerungsvermögen aufweisen. Zwischen den Anfahr- und Bremsvorgängen verbleiben hier nur kurze Abschnitte mit annähernd gleichbleibender Geschwindigkeit (Beharrungs- oder Rollphasen). Das Beschleunigungsund Verzögerungsvermögen bestimmt die Auslegung des Antriebs und der Bahnenergieversorgung [7]. Die Nutzung der kinetischen Energie beim Bremsen hat einen großen Einfluss auf den Energiebedarf des Bahnsystems ([8, 9]). Aus den fahrdynamischen Anforderungen an das Fahrzeug ergibt sich die an den Triebrädern umzusetzende mechanische Leistung. Sie muss vom Antriebsstrang möglichst energieeffizient bereitgestellt werden. Alle Komponenten des Antriebs (Transformator bzw. Drossel des Eingangskreises, Traktionsumrichter, Fahrmotoren, Getriebe) werden vom Systemlieferanten spezifiziert und aufeinander abgestimmt. Die Komponenten werden von den Herstellern ausgelegt und im Rahmen der Spezifikation in Hinblick auf eine hohe Energieeffizienz optimiert. Der Traktionsenergiebedarf eines Schienenfahrzeuges ist zu einem bedeutenden Anteil von der Betriebsweise des Antriebs und
Glasl, Markus, Voith Digital Solutions Austria GmbH & Co KG, Linzer Straße 55, 3100 St. Pölten, Österreich (E-Mail:
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Fahrzeugs bestimmt. Durch eine intelligente Antriebssteuerung werden die Antriebskomponenten in energieeffizienten Arbeitspunkten betrieben. Beispielsweise kann durch Abschaltung von Antrieben oder Flussabsenkung [10] im Teillastbetrieb Energie gespart werden. Mit energiesparender Fahrweise lässt sich der Traktionsenergiebedarf der Fahrzeuge maßgeblich senken [11], wobei durch die gegenseitige Abhängigkeit der auf der Strecke verkehrenden Fahrzeuge auch der Infrastruktur und Betriebsführung des Bahnsystems eine wesentliche Rolle zukommt [12]. Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, die Bedeutung der fahrdynamischen Anforderungen für den Traktionsenergiebedarf eines Nahverkehrstriebfahrzeuges aufzuzeigen. Die geforderten fahrdynamischen Eigenschaften bestimmen unmittelbar die an den Rädern zu übertragende Leistung, die vom Antrieb möglichst energieeffizient zu erbringen ist. Das bedeutet, dass die fahrdynamischen Anforderungen den Traktionsenergiebedarf maßgeblich bestimmen. Sie legen den Rahmen fest, innerhalb dessen der Antrieb optimierbar ist. 2. Methodik Im Folgenden werden die wesentlichen Einflüsse der fahrdynamischen Anforderungen auf den Energieverbrauch ausgehend von der neuen Niederflur-Straßenbahn Škoda ForCity Smart Artic [13] der Verkehrsbetriebe von Helsinki (HKL) untersucht. Dieser dreiteilige 27 m lange Einrichtungs-Triebzug mit vier angetriebenen Drehgestellen bietet Platz für mehr als 200 Personen, davon 70 Sitzplätze und wird vom finnischen Hersteller TransTech gebaut. Der komplette Antriebsstrang vom Stromabnehmer bis zum Radsatz wurde von Voith geliefert. Als Herz des Antriebs fungiert der bei Voith in St. Pölten, Österreich, entwickelte und gebaute Traktionsstromrichter EmCon DI1000-5AR. Das Fahrzeug verfügt in seiner derzeitigen Ausführung über keinen Energiespeicher. 2.1 Berechnungswerkzeug Alle in dieser Arbeit gezeigten Berechnungen wurden mit der in MATLAB® programmierten Voith Auslegungssoftware für Schienenfahrzeugantriebe erstellt. Mit diesem Programm – einer Eigenentwicklung von Voith – wird der Traktionsantrieb dimensioniert und die Basisdaten für die Spezifikation der Antriebskomponenten ermittelt. Es berechnet die Fahrdynamik und dient der Optimierung des Zusammenspiels zwischen Stromrichter, Energiespeicher und Motor. Über das elektrische und thermische Verhalten erfolgt die Verlustberechnung der Hauptkomponenten (Stromrichter, Energiespeicher, Motor, Getriebe) und es wird der Energieeinsatz über Auslegungsfahrzyklen und Streckenfahrten berechnet. 2.2 Auslegung des Antriebs Bei der Antriebsauslegung ist zunächst aus den fahrdynamischen Anforderungen ein Verlauf für die Zug-/Bremskraft (Z) in Abhängigkeit der Geschwindigkeit (v) – das sogenannte Z–v-Diagramm – zu berechnen, mit dem alle Anforderungen erfüllbar sind. Im Allgemeinen ergeben sich dabei mehrere realisierbare Varianten, aus denen ein Z–v-Diagramm mit dem geringsten Energieverbrauch, bzw. dem größten Potential für energiesparende Fahrweise, gewählt wird. 2.2.1 Fahrdynamische Anforderungen Die Helsinki Verkehrsbetriebe haben wegen der spezifischen Eigenschaften des Streckennetzes mit engen Kurven und extremen Steigungen sowie der besonderen klimatischen Bedingungen einen dreiteiligen Mittelflur-Straßenbahnzug mit Niederflureinstiegen und vier angetriebenen Drehgestellen mit durchgängigen Radsatzwellen ausgeschrieben [13].
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Tab. 1. Daten der Artic Straßenbahn im Vergleich zur VDV 150 Typenempfehlung VDV 150 [14] Hochflur
VDV 150 [14] Niederflur
Artic Straßenbahn
27 m 2.65 m ≤1000 mm
21 m 2.4 (2.3) m ≤350/300 mm
27.6 m 2.4 m ≤520 mm
25 m
18 m
15 m
Fahrgastzahl
34.4 to (≤480 kg/m2 ) 70 (4 P/m2 )
21.2 to (≤420 kg/m2 ) 115 (4 P/m2 )
Sitzplatzanteil
45 %
45 %
41.6 to (628 kg/m2 ) 174 (4 P/m2 ) 200 (5 P/m2 ) 42 %–50 % 74/14 (fest/klappbar)
Fahrzeuglänge Fahrzeugbreite Fußbodenhöhe über SO Kleinster Gleisbogenradius Leergewicht
Die Hauptdaten des Fahrzeugs sind in Tab. 1 zusammengefasst. Hinsichtlich der fahrdynamischen Anforderungen (Tab. 2) folgt die Spezifikation weitgehend der Typenempfehlung VDV 150 [14] des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). 2.2.2 Zugkraft-Geschwindigkeits-Diagramm Aus jeder der fahrdynamischen Anforderungen (Tab. 2) lässt sich ein Z–v-Verlauf berechnen, der mit minimaler Zug-/Bremskraft bzw. Leistung die Anforderung gerade erfüllt (Abb. 1). Dabei wird grundsätzlich von einem Geschwindigkeitsbereich mit konstanter Zug/Bremskraft, einem konstanten Leistungsbereich (Z ∼ 1/v) und einem Bereich mit Z ∼ 1/v2 ausgegangen. Der mindestens erforderliche Zug-/Bremskraftverlauf (in Abb. 1 fett gezeichnet) wird bei der Artic Straßenbahn durch die geforderte mittlere Beschleunigung ≥0.8 m/s2 von 0 bis 70 km/h, sowie durch die mittlere Verzögerung 1.07 m/s2 aus 70 km/h bestimmt. Das Ergebnis zeigt einen Widerspruch in den fahrdynamischen Anforderungen auf. Um mit einer maximalen Momentanbeschleunigung von 1.3 m/s2 eine mittlere Beschleunigung von 0 auf 70 km/h ≥ 0.8 m/s2 zu erzielen, ist eine Leistung von 700 kW am Rad erforderlich. Um bei einer Netzspannung von 670 V die zusätzlich spezifizierte Netzstromgrenze von 850 A nicht zu übersteigen, muss die Leistung am Rad auf 475 kW reduziert werden. Die mittlere Beschleunigung ≥ 0.8 m/s2 von 0 auf 70 km/h steht im Widerspruch zu der geforderten Netzstrombegrenzung! 2.2.3 Antriebstopologie, Antriebskomponenten Das gefundene Z–v-Diagramm ist mit einer geeigneten Antriebstopologie (Zahl der angetriebenen Achsen, Motoren, Stromrichter) zu realisieren, woraus sich die Anforderungen an die einzelnen Antriebskomponenten ergeben. Auch hier gibt es eine Vielzahl von realisierbaren Konfigurationen und Komponentenauslegungen, die in Hinblick auf eine möglichst hohe Energieeffizienz des gesamten Antriebsystems optimiert werden können. Bei der Artic Straßenbahn wurde wegen der hohen Verfügbarkeitsanforderungen eine 100 % Motorisierung mit vier angetriebenen Drehgestellen ausgeführt. Bei Ausfall eines Drehgestells kann das Z–v-Diagramm von den verbleibenden Drehgestellen noch uneingeschränkt erbracht werden. Damit kann das Fahrzeug im Passagierbetrieb verbleiben und der Fehler wird am Ende des Tages über Nacht behoben. Bei zwei ausgefallenen Drehgestellen wird das Fahrzeug eingezogen, es kann aber mit den verbleibenden Antrieben aus eigener Kraft die Strecke räumen.
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Tab. 2. Fahrdynamische Anforderungen der Artic Straßenbahn im Vergleich zur VDV 150 Typenempfehlung
Maximalgeschwindigkeit Ruck (Anfahren u. Bremsen) maximale Beschleunigung maximale Verzögerung (Betriebsbremse) mittlere Beschleunigung 0–70 km/h Restbeschl. bei 70 km/h in der Ebene Netzspannung (600 V Netz / EN50163) Maximaler Netzstrom Raddurchmesser (neu/abgefahren) Größte Streckensteigung mit v = 40 km/h Betriebsbremse (mittlere Verzögerung) aus 70 km/h aus 60 km/h aus 50 km/h aus 40 km/h Dauerbetrieb bei 2/3 Beladung: Fahrzeit (ohne Halt) für 600 m / 70 km/h für 850 m / 70 km/h
Artic Straßenbahn
VDV 150 [14], BOStrab [15]
80 km/h ≤1.2 m/s3 ≥1.2 m/s2 1.0 bis 1.3 m/s2 ≥0.8 m/s2 ≥0.5 m/s2 670 V 850 A 680/620 mm 81 h 1.07 m/s2 1.06 m/s2 1.03 m/s2 0.95 m/s2
– <1.3 m/s3 ≤1.3 m/s2 ≤1.3 m/s2 – – – – – – 1.07 m/s2 1.06 m/s2 1.03 m/s2 0.95 m/s2 ≤52 s ≤65 s
Abb. 1. Bestimmung des erforderlichen Z–v-Diagrammes aus den fahrdynamischen Anforderungen; Zugkraft für Restbeschleunigung bei 40 km/h/81 h bzw. 70 km/h/0 h: ( ) mittlere Beschleunigung/Verzögerung: ( )
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Abb. 2. Fahrzeit (links) und mechanischer Energiebedarf am Rad (rechts)
Tab. 3. Verifikation des berechneten Traktionsenergiebedarfs vom Netz aufgenommene Energie ohne Rückspeisen
kWh
kWh/km
Berechnet Gemessen
67.49 66.49
4.218 4.156
2.3 Energiemessung am Fahrzeug Der Traktionsenergiebedarf der Artic Straßenbahn war im Rahmen der Angebotsphase für einen kompletten Umlauf auf der Linie 4 des HKL Streckennetzes zu berechnen und wurde im Liefervertrag verbindlich zugesichert. Im Zuge der Typtests des Fahrzeuges wurde der Energiebedarf im realen Straßenbahnbetrieb auf der 16 km langen Strecke verifiziert (Tab. 3). Mit der sehr guten Übereinstimmung wurde die Berechnungsmethode durch Messung im realen Straßenbahnbetrieb verifiziert. 3. Diskussion 3.1 Haupteinflussgrößen In den folgenden Unterabschnitten werden die wesentlichen Einflussgrößen auf den Traktionsenergiebedarf diskutiert. Dabei wird die Artic Straßenbahn als ein Beispiel herangezogen. Die Aussagen sind jedoch nicht auf Straßenbahnen beschränkt, sondern können auch auf U-Bahnen und Nahverkehrstriebzüge übertragen werden. 3.1.1 Haltestellenabstand Abbildung 2 zeigt wie die Fahrzeit und der mechanische Energieumsatz am Rad vom Haltestellenabstand abhängen. Unter 400 m Hal-
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teabstand wird die maximale Geschwindigkeit 70 km/h noch nicht erreicht (Spitzfahrten). Zu beachten ist der große Anteil der Haltezeit in den Stationen (Fahrgastwechsel), insbesondere bei den für Straßenbahnen typischen kurzen Haltestellenabständen von 300 bis 850 m. Hier wird der überwiegende Anteil der am Rad umgesetzten Energie in die kinetische Energie des Fahrzeuges gesteckt. Sie überwiegt bei weitem den zur Überwindung des Fahrwiderstandes erforderlichen Energiebedarf. Mit steigendem Haltestellenabstand nimmt die Bedeutung der kinetischen Energie ab. 3.1.2 Fahrgeschwindigkeit In Abb. 3 ist der Energiebedarf für Fahrten der Artic Straßenbahn zwischen zwei Haltestellen in der Ebene bei variierender maximaler Fahrgeschwindigkeit dargestellt. Als Parameter der Kurvenschar wurde der Haltestellenabstand zwischen 50 m und 2000 m variiert. Im linken Bild ist die vom Netz bezogene Energie dargestellt. Das mittlere Bild zeigt den Nettoenergiebedarf unter der Annahme, dass das Netz beim Bremsen 100 % der rückspeisbaren Energie (Wrekup ) aufnehmen kann. Im rechten Bild ist die Fahrzeit dargestellt. Der Energiebezug aus dem Netz steigt mit der Geschwindigkeit v quadratisch an, entsprechend der quadratisch mit v zunehmenden kinetischen Energie ( 12 mv 2 ). Wenn das Netz beim Bremsen die rückspeisbare Energie aufnehmen kann, kann bei hohen Geschwindigkeiten ein erheblicher Teil rückgespeist werden. Die Kurven weisen ein ausgeprägtes Minimum auf, das bei Haltestellenabständen zwischen 600 und 800 m knapp unterhalb von 20 km/h Maximalgeschwindigkeit liegt, dabei aber unattraktive Fahrzeiten zur Folge hätte. Mit steigender Maximalgeschwindigkeit steigt der Energiebedarf stark an und der dafür erzielte Fahrzeitgewinn sinkt.
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Abb. 3. Energiebedarf in Abhängigkeit der Fahrgeschwindigkeit v Max bei variierendem Haltestellenabstand
3.1.3 Fahrzeugmasse Die Abhängigkeit des Energiebedarfes von der Nutzlast mNutz ist in Abb. 4 für drei Haltestellenabstände dargestellt. Im linken Bild ist die vom Netz aufgenommene Energie dargestellt, im mittleren Bild der Energiebedarf wenn das Netz die beim Bremsen rekuperierte Energie zu 100 % aufnehmen kann. Das rechte Bild gibt die Fahrzeit wieder. Zwischen den Halten wird mit einer Maximalgeschwindigkeit von 70 km/h gefahren. Die Artic Straßenbahn verfügt über Beladungssensoren, so dass die Zugkraft proportional zur Beladung angehoben wird. Damit ergibt sich eine weitgehend von der Beladung unabhängige Fahrzeit. Die lineare Abhängigkeit von der Nutzlast erklärt sich aus der proportional mit der Masse steigenden kinetischen Energie. 3.1.4 Z–v-Diagramm und Fahrweise Die gleiche mittlere Beschleunigung von 0 auf 70 km/h lässt sich mit unterschiedlichen Z–v-Diagrammen realisieren, indem man die Anfahrzugkraft ZA zwischen 60 und 95 kN erhöht und jeweils die maximale Leistung so reduziert, dass die mittlere Beschleunigung bis 70 km/h 0.895 m/s2 beträgt. In Abb. 5 ist mit den durchgezogenen Kurven für die drei Haltestellenabstände 300 m, 600 m und 850 m dargestellt, welcher Energiebedarf und welche Fahrzeit sich für diese unterschiedlichen Auslegungen ergeben. Der Energiebedarf ändert sich dabei nur geringfügig (insbesondere wenn maximale Rekuperation angenommen wird). Es zeigt sich aber, dass mit steigender Anfahrzugkraft die Fahrzeit um etwa zwei Sekunden abnimmt. Wird auf diesen Fahrzeitgewinn verzichtet und die Strecke mit reduzierter Beharrungsgeschwindigkeit (vMax < 70 km/h) befahren, so ergeben sich die in Abb. 5 punktiert dargestellten Verläufe. Zug-
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kraftkurven mit hoher Anfahrzugkraft erzielen während der Beschleunigung einen Fahrzeitgewinn, der sich für eine energiesparende Fahrweise mit abgesenkter Beharrungsgeschwindigkeit vor dem Bremsvorgang nutzen lässt. Eine noch höhere Energieeinsparung kann erzielt werden, wenn anstelle der Beharrungsfahrt der Antrieb abgeschaltet wird und das Fahrzeug gebremst durch den Fahrwiderstand ausrollt, bevor der nächste Halt angebremst wird. In Abb. 5 sind die entsprechenden Verläufe als gestrichelte Linien gezeichnet. Zugkraftkurven mit hoher Anfahrzugkraft und reduzierter Maximalleistung weisen bei gleicher mittlerer Beschleunigung ein höheres Potential für energiesparende Fahrweise auf als Zugkraftkurven mit konstanter Zugkraft bis zur Beharrungsgeschwindigkeit. 3.1.5 Nutzung der Bremsenergie Wie ein Vergleich der obigen Diagramme ohne und mit 100 % Rückspeisen zeigt (Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5), kommt dem Rückspeisen der kinetischen Energie beim Bremsen im Nahverkehr eine erhebliche Bedeutung bei der Einsparung von Traktionsenergie zu. Für die Auslegung der Fahrzeugantriebe bedeutet dies, dass die Betriebsbremsungen zur Gänze mit der rückspeisefähigen elektrodynamischen (E-) Bremse erfolgen sollen. Die mechanischen Bremssysteme (elektrohydraulisch, Schienenbremse) sollen nur als Haltebremse sowie als redundante Ersatzbremse und für Schnell- und Notbremsungen, nicht aber im normalen Betrieb zum Einsatz kommen. Rekuperation der kinetischen Energie setzt voraus, dass das speisende Netz die rückgespeiste Energie aufnehmen kann. Bei Gleichstrombahnen ist dies wegen der nicht rückspeisefähigen Gleichrichter-Unterwerke nur gegeben, wenn ein anderer Zug im
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Abb. 4. Energiebedarf in Abhängigkeit der Nutzlast mNutz bei variierendem Haltestellenabstand
Abb. 5. Energiebedarf bei variierendem Z–v-Diagramm und energiesparender Fahrweise
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Abb. 6. Energiebedarf bei 100 % aufnahmefähigem Netz in Abhängigkeit des Netzwiderstandes für ein Fahrzeug mit und ohne Energiespeicher (Super-Kondensator – SCap)
gleichen Speiseabschnitt zeitgleich Leistung aus der Oberleitung aufnimmt. Für die Höhe des Rückspeisegrades ist zudem der Abstand zwischen den beiden Zügen bedeutend. Mit steigender Distanz steigt der Spannungsabfall an der Oberleitung. Der bremsende Zug darf in einem Netz mit 600 V Nennspannung die Spannung an der Oberleitung nur bis zum Wert Umax2 = 750 V anheben. Steigt die Netzspannung über 750 V, so muss der Bremssteller die Spannung begrenzen, und Energie wird im Bremswiderstand thermisch umgesetzt. In Abb. 6 ist der Traktionsenergiebedarf der Artic Straßenbahn für einen 600 m / 70 km/h Fahrzyklus abhängig vom Netzwiderstand als gestrichelte fette Line dargestellt. Die durchgezogene fette Linie beinhaltet zusätzlich zum Traktionsenergiebedarf des Fahrzeuges die Verluste in der Oberleitung. Mit steigendem Netzwiderstand (entsprechend einer größeren Distanz zum nächsten Verbraucher) steigt der Traktionsenergiebedarf erheblich, weil Bremsenergie über den Bremssteller thermisch umgesetzt werden muss. Typische Werte für den Netzwiderstand von zwei- und eingleisigen Straßenbahnstrecken liegen zwischen 70 und 180 m/km [16]. Mit einem am Fahrzeug mitgeführten Energiespeicher [4] kann dieser Problematik entgegengewirkt werden. Einerseits ist damit immer ein Energieaufnahmevermögen im Rahmen der installierten Speicherkapazität gegeben, andererseits werden der Netzstrom und damit die Verluste in der Oberleitung gesenkt. Die in Abb. 6 dünn eingezeichneten Kurven zeigen das Energiesparpotential auf, das sich für die Artic Straßenbahn abhängig vom Netzwiderstand ergäbe, wenn der Antrieb mit einem Energiespeicher aus Superkondensatoren mit einer Speicherkapazität von 4 × 0.54 kWh ausgerüstet wäre. 3.2 Fahrbetrieb in der Praxis Die Antriebssteuerung der Artic Straßenbahn zeichnet im Betrieb statistische Informationen zum Fahrbetrieb im Liniennetz von Hel-
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sinki auf. Dabei werden Häufigkeitsverteilungen diverser Signale im Betrieb ermittelt. Abbildung 7 zeigt eine Auswertung für sechs Signale, aus denen sich folgende, für Straßenbahnen nicht untypische Aussagen ablesen lassen: • Die Artic Straßenbahn fährt nie schneller als 50 km/h, die Höchstgeschwindigkeit 80 km/h des Fahrzeuges wird bei weitem nicht ausgenutzt. • 90 % aller Haltedistanzen (einschließlich der verkehrsbedingten, z. B. Ampelhalte) sind kürzer als 500 m. Sieht man von häufigen „Stop & Go“ Halten kürzer als 100 m ab, die durch Verkehrsstaus bedingt sind, ist eine Haltedistanz von etwa 300 m am häufigsten. • Die Fahrhebelauslenkung zeigt, dass selten die maximale Zugkraft und Bremskraft angefordert wird. Energetisch ist das beim Bremsen positiv, da kleinere Rückspeiseleistungen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit vom Netz aufgenommen werden können. Hingegen wird das Energiesparpotential einer möglichst raschen Anfahrt zur Erzielung einer zum Rollen nutzbaren Fahrzeitreserve nicht ausgeschöpft. • Die Leistungsfähigkeit des Antriebs wird selten genutzt, selbst die reduzierte Leistung zufolge der Netzstromgrenze von 850 A wird selten angefordert. 4. Conclusio Mit den fahrdynamischen Anforderungen wird in der Spezifikation eines neuen Triebfahrzeuges ein Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen der Fahrzeugbauer und der Antriebshersteller den Antrieb optimieren können. Durch die geforderte Leistungsfähigkeit – insbesondere die Fahrgeschwindigkeit und Transportkapazität – wird der Energiebedarf des Fahrzeuges maßgeblich bestimmt. Wegen der langen Lebensdauer eines Schienenfahrzeuges ist es nachvollziehbar, dass Anforderungen in Hinblick auf zukünftig erwartete Entwicklungen und Leistungssteigerungen hoch angesetzt
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Abb. 7. Histogramme aus dem praktischen Fahrbetrieb
werden. Es sollte dabei aber beachtet werden, dass mit hohen – eventuell überzogenen – Leistungsanforderungen Freiheitsgrade zur energetischen Optimierung des Systems eingeschränkt werden. In den beschränkten Einbauräumen für die Traktionsausrüstung lassen sich mit hochausgenutzten Komponenten immer leistungsstärkere Antriebe realisieren. Selbst mit effizienten Komponenten und sehr guten Wirkungsgraden wird sich der Energiebedarf nur unwesentlich senken lassen, wenn die geforderte Leistung gleich bleibt oder gar steigt. Alternativ könnte bei einer bedarfsorientierten Beschränkung der Leistungsfähigkeit im gleichen Einbauraum ein Antrieb mit geringerer Leistung und verbesserter Energieeffizienz realisiert werden. Literatur 1. Richter, G., Struckl, W. M. (2014): EcoTram – Evaluierung von Energiesparmaßnahmen bei Straßenbahnen unter realen Betriebsbedingungen. In ZEVrail 138, Tagungsband Graz 2014. 2. Schaefer, H. H. (1988): Vergleich der Zugwiderstandsformeln europäischer und außereuropäischer Eisenbahnen. Elektrische Bahnen, 86(2). 3. Riegel, B. (2009): Energiespeicher: Schlüsseltechnik für die Elektromobilität – Entwicklungstrends bei Energiespeichern. Der Nahverkehr (7–8). 4. Haumer, P., Glasl, M. (2014): Innovative Traktionsantriebe mit SupercapEnergiespeicher für LRVs, Vortrag bei der 42. Tagung „Moderne Schienenfahrzeuge“ an der Technischen Universität Graz, veröffentlicht. In ZEVrail 138, Tagungsband Graz 2014.
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5. Klausner, S., Lehnert, M. (2008): Betriebsspezifische Auslegung von Energiespeichern für Straßenbahnen. Elektrische Bahnen, 106(5). 6. Lehnert, M., Klausner, S. (2009): Auslegung und Steuerung mobiler Traktionsenergiespeicher. Elektrische Bahnen, 107(9). 7. Biesenack, H., Hofmann, G. (2006): Energie- und Leistungsbedarf elektrischer Bahnen. In H. Biesenack et al. (Hrsg.), Energieversorgung elektrischer Bahnen (S. 17–42). 1. Aufl. Wiesbaden: Teubner Verlag. ISBN-10 3-519-06249-6. 8. Graßmann, S. (2016): Traktionsenergiebilanz und Energierückspeisung im DB-Netz im Jahr 2015. Elektrische Bahnen, 114(6). 9. Behmann, U. (2009): Rückspeisen von Bremsenergie bei der DB. Elektrische Bahnen, 107(1–2). 10. Schulz, S., Müllner, F., Neudorfer, H., Tissen, D., Schülting, L. (2016): Wirkungsgradoptimiertes Zusammenspiel von Wechselrichter und Asynchronmotor für StraßenbahnTraktionsanwendungen. E&I Elektrotech. Inf. Tech., 133(2). 11. Behmann, U. (2015): Energiesparendes Fahren im Spannungsfeld zwischen Informatik und Realität. Elektrische Bahnen, 113(11). 12. Bosch, J. (2014): Pünktlichkeit spart Energie – Modellierung von Einflussfaktoren auf den Bahnenergiebedarf. Elektrische Bahnen, 112(10). 13. Majer, Z., Schambach, D. (2016): Niederflur-Drehgestell-Straßenbahn ForCity Smart Artic Helsinki. Elektrische Bahnen, 114(8–9). 14. VDV Schrift 150 (1995): Typenempfehlung Stadtbahn-Fahrzeuge, Richtlinie des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Schienenfahrzeugausschuß, 04/1995. 15. BOStrab (2008): Technische Regeln Bremsen (TR Br), Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen. (BOStrab). 16. Biesenack, H., George, G., Hofmann, G., Schmieder, A., et al. (2006): Energieversorgung elektrischer Bahnen. 1. Aufl. Wiesbaden: Teubner Verlag. ISBN-10 3-51906249-6.
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Autor Markus Glasl Studium der Elektrotechnik am Institut für Regelungstechnik an der Technischen Universität Wien. Zehnjährige Tätigkeit als Entwicklungsingenieur bei ELIN EBG Traction GmbH in Wien, seit 2007 bei Voith St. Pölten zuständig für die System- und Regelungstechnik von elektrischen Traktionsantrieben.
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