DIE NATLIRWISSENSCHAFTEN Dreizehnter Jahrgang
I x. September x925
Heft 37
Felix Klein 1). Von R. COIJt~ANT, G6ttingen. Als am Abend des 22. Juni sich die Kunde verbreitete, FELIX KLEIN sei tot, da ffihlten wir alle: eine Epoche in der Geschichte der Mathematik ist abgeschlossen. KLEIN war die beherrschende Figur dieser Epoche. Er ist weft mehr gewesen als ein fiberragender Gelehrter und ein groBer Organisator, seine Wirksamkeit und Bedeutung ist langst nicht mit der Summe seiner Leistungen ersch6pft. Nein, es ist daraber hinaus die machtvolle, iiberlegene, umfassende Pers6nlichkeit, welche dutch die Reinheft und Kraft ihrer Lebensffihrung nnd das Gleichgewicht zwischen bewuflter Gestaltung des Lebens und naiver v611iger Hingabe an die Aufgaben des Augenblicks berufen war, auf breiter Front zu fiihten und die Bahnen der Entwicklung zu bestimmen. Diese Pers6nlichkeit miissen wir zu erfassen suchen, wenn wir uns heute vergegenw~rtigen wollen, was FELIX KLEIN fiir die Wissenschaft und ihre Geltung im weitesten Sinn bedeutet hat. In bescheidenen Verh~ltnissen als Sohn eines Rentmeisters 1849 zu Dfisseldorf geboren, st~hlte der reichbegabte Knabe friihzeitig Willen und Arbeitskraft unter der strengen Zueht des attpreu13ischen Vaterhauses und der kaum minder strengen eines humanistischen Gymnasiums rein philologischhistorischer PrAgung, welches fiir heutige Zeiten fast unglaubliche Anspriiche an den FleiB seiner Z6glinge stellte. Bald erwacht in dem Knaben der inhere Drang, seiner einseitigen Schulausbildung ein Gegengewicht in naturwissenschaitlicher 1Richtung zu geben. Anregungen mannigfacher Art fehlen nicht, und so kann er 1865 mit i61/~ Jahren wohlvorbereitet an die Universit~t Bonn gehen, um Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren. Von vornherein war der junge Student eifrig darauf bedacht, sein Studium aui gentigend breiter Basis anzulegen, um der klar erkannten Gefahr Iriihzeitiger Spezialisierung zu entgehen; nnd dieses Hinausstreben aus den Fesseln engen Fachwissens ist fiir ihn auch sparer immer Lebenselemerit geblieben. Neben den beschreibenden Naturwissenschaften und der Physik t r i t t zun~chst die Mathematik ganz in den Hintergrund. B e t iiberaus kfimmerliche mathematische Betrieb, der damals in Bonn herrsehte, vermochte dem jungen Feuerkopf wenig zu bieten. Mit 17 Jahren, Ostern 1866, linden wit KLEIN Ms Assistenten y o n PLUCKER, dem er bei der Vorbereitung seiner Vorlesung fiber Experimentalphysik und daneben bei seinen Untersuchungen zur Liniengeometrie hilft. Sein Ziel ist, ,,nach Ertangung der notwendigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisse sieh aui das Gebiet 1) Ged~chtnisrede, gehatten am 31. 7- 25 in G6ttingen. Nw. ~925.
der Physik zu spezialisieren". Da stirbt PLOCKER im Jatire 1866; dem jungen, kaum 19 j Ahrigen KLEIN f~tllt die Aufgabe zu, die nachgelassenen geometrischen Untersuchungen yon PLUCKER herauszugeben. Er promoviert zun~chst mit einem selbstgew~hlten Thema aus der Liniengeometrie. Dann sucht er Anfang 1869 als geeignetste St~ttte ffir die Bearbeitung des Pliickerschen Nachlasses G6ttingen auf, wo sich um CLEBSCH, einen der bedeutendsten Mathematiker und gl~nzendsten Lehrer jener Zeit, ein reger wissenschaftlicher Kreis versammelt hatte. Hier land KLEIN mehr Anregung nnd Befriedigung als in dem etwas versteinerten Betriebe der Physik, dessen lViittelpunkt WILHELM WEBER war. Trotz dem giinstigen Boden, den KLEIN in G6ttingen tfir seine Entwicklung antraf -- zeitlebens h a t ffir ihn das Aufnehmen und Geben im pers6nlichen wissenschaftlichen Verkehr die denkbar gr6Bte Rolle g e s p i e l t - - , litt es ihn nicht lange hier. Er wollte sich irei yon allen Einfifissen und Bindungen der Schulen seinen Weg selbst suchen und seinen Gesichtskreis erweitern, solange er sich noch jung und aufnahmei~hig ffihlte. So ging er schon im Herbst 1869 nach Berlin, wo er wiederum mannigfache Anregung unter seinen Studiengenossen land, aber m i t den dortigen gl~nzenden Vertretern der Mathematik, WEI~RSTRASS und K U M MER, nicht recht in K o n t a k t kam. t i i e r in Berlin entsteht die erste groBe seiner Inathematischen Leistungen. Als er yon einem Freunde zum ersten Male yon der ihm his dahin ganz unbekannten Nicht-Euklidischen Geometrie h6rt, sieht er sofort mit genialer Intuition, dab diese m i t einer scheinbar ganz anderen Sache, der sogenannten MaBbestimmung y o n CAYLEY, aufs engste zusammenh/~ngen mfisse. Diese Art des Forschens, das Zusammensehmelzen nnd Kombinieren scheinbar auseinanderliegender Gebiete, ist immer typisch flit KLI~INS Denkart geblieben. Typisch blieb aueh das unglaublich rasche Auinehmen Iremder Ideen, die instinktsichere intuitive Erfassung ihres wesentlichen Kernes und die Fahigkeit ~n[e das ]3edfirfnis, das Neugelernte sofort seinem eigenen Gedankenkreise einzugliedern und ffir neue Forschungsarbeit, oft mit durchschlagendem Erfolg, auszunutzen. Mit seiner neuen Idee hat KLIglN kein Glfick bei den maBgebenden Berlinern Mathematikern. Als er seine Gedanken in einem Seminarvortrag entwickelt, wird er yon WEIERSTRASS ablehnend kritisiert. Es war das erstemal in KL~INS Leben, wo seine anschaulich-intuitive Grundauffassung der Dinge mit der abstrakt-kritisch eingestellten herrschenden Richtung zusammenstieg. H e u t e sind die gl~tnzenden Arbeiten, mit denen KLEIN bald darauf 97
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seine Ideen zur Nicht-Euklidischen Geometrie entwickelte, Allgemeingut geworden, weft fiber den engen Kreis der Spezialmathematiker hinaus. Erst durch KLEIN" ist die Nicht-Euktidische Geometrie ans einer entlegenen Grenzprovinz der Mathematik zu einem organisch aufs engste mit den Zentren verbundenen Gebiete geworden, bequem zug~ngItch ohne schwierige Vorbereitung und Ausrfistung. Abet damals geh6rte schon ein ungew6hnliches MaB yon Selbst/indigkeit und Z~higkeit dazu, gegen den Strom der verbreiteten Vorurteile anzusehwimmen. I m Sommer 1870 fiihrt die Wanderschaft KLEIN mit seinem neugewonnenen Freunde SOPHUS LIE nach Paris, wo besonders die pers6nliche Berfihrung mit dem Geometer G. DARBOUX und mit CAMILLE JORDAN Yon entscheidendem EinfluB auf sein sp~teres Lebenswerk gewesen ist, Eben erschien JORDANS umfangreiches Werk fiber Substitutionen und algebraische Gleichungen. Vierzig Jahre vorher hatte EVARISTE GALOIS, einer der genialsten und auch menschlich interessantesten K6pfe unter den Mathematikern der Neuzeit, im Begriffe der Gruppe den Schlfissel zu den tiefsten Geheimnissen der algebraischen Gleichungen gefunden. Die knappen Darstellungen in seinen wenigen, abet ungeheuer inhaltreichen Arbeiten, und v o r altem in einem erschfitternden Abschiedsbriefe, den er 2oj~hrig, am Vorabend eines t6dlichen DuelIs, an einen Freund schrieb, waren lange unwirksam geblieben. JORDANS 13uch machte zmn ersten Male die Gedanken yon GALOIS einem etwas gr613eren Kreise zug~inglich. KLEIN"und LIE stfirzen sich mit leidenschaftlichem Eifer auf das schwierige und ihnen zun~chst fast unverstlindliche Werk; sie fiihlen, dab hier unermeBliche Sch~tze zu heben sind. Als KLEIN nach einem Aufenthalt yon 2~/2 Monaten infolge des Kriegsausbruches Paris verlassen mug, triigt er den Stein der Weisen mit sich: er h a t den Gruppenbegriff aufs tiefste erfaBt, den Wegweiser, der ihn hinfort mit mafehlbarer Sicherheir auf seinem wissenschaftliehen Lebenswege weiterffihrte. Ein so v o m Tatendrang erffillter Jtingling wie KLEIN konnte es :fern v o m Kriegsschauplatz nicht aushalten. Aber nach kurzer Hetfert~tigkeit m u g er typhuskrank zurfickkehren und geht dann, langsam genesen, Anfang 1871 nach G6ttingen, wo er sich habilitiert, znnfi.chst noch immer mit dem 131icke auf die Physik als Endziel. Erst als er im Herbst 1872, ein Dreiundzwanzig]~hriger, durch den Einflul3 seines Lehrers und v/iterlichen Freundes CLEBSCI~ nach Erlangen in eine ordentliche Professur ffir Mathematik berufen wird, ist die Entscheidung endgfiltig ffir die Mathematik gefallen. Aus dem blfihenden mathematischen Leben in G6ttingen sieht er sich pl6tzlich in eine wissenschaftliche Ein6de versetzt, ohne Anregungen, ohne die notwendigsten Arbeitsmittel, ohne Studenten. Von seinen zwei Zuh6rern bleibt der eine nach der ersten Stunde, der andere nicht viel sp~iter weg. Und nun greift zum zweiten Male schicksalhaft der Tod eines nahen Menschen ein. CLEBSCH stirbt
[ Die Natur[wissenschafter~
ganz pl6tzlich am 7- November; die erlesene Schar seiner Schfiler erkennt freiwillig den jfingeren KLEIN ats ihren neuen Ffihrer an und folgt ihm nach Erlangen. So groB ist schon jetzt sein Ansehen bet, den W'issenden, dab man in G6ttingen ihn als Nachfolger yon CLEBSCH in Betracht zieht. Abet zum Glfick ffir ihn scheitert die ]gerufung, wie es. scheint, well der 23j~hrige einem ~lteren F a c h genossen ,,zu gefAhrtich" war. So durfte KLEIN iul Kreise weniger Schiller einige Jahre in verhMtnism/iBiger Ruhe sein retches, Arbeitsprogramm verfolgen, das er soeben in ether groBartigen Antrittsrede entwickelt hatte. Dieses sogenannte ,,Erlanger Programm" mit dem Titel: ,,Vergleichende Betrachtungen fiber neuere geometrische Forschungen" ist vielleicht die einfluBreichste und meistgelesene mathematische A b handlung der letzten 60 Jahre geworden. Seit E n d e des 18. Jahrhunderts hatte die Geometrie in Frankreich nnd Deutschland einen auBerordentlichen Aufschwung genommen. Neben der alten Elementargeometrie und der analytischen Geometrie h a t t e sicb eine groBe Anzahl geometrischer Betraehtungsweisen entwickelt, die unvermittelt nnd ohne gegenseitige Verbindung nebeneinanderstanden und in deren Gewirr sich auch der Kenner kaum noch zurechtfinden konnte. KLEIN empfand das ]3edfirfnis, in dieses Chaos ein einheitlich ordnendes Prinzip hineinzutragen, und er h a t diese Anfgabe fiir das Gesamtgebiet der Geometrie in denkbar vollst/~ndigster ~Veise gel6st. Der Zauberstab, mit dem KLEIN hier Ordnung schuf, war der Gruppenbegrifl. Er erlaubt, jede Klasse geometrischer U n t e r suehungen, wie euklidische und Nieht-Euklidische Geometrie, projektive Geometrie, Linien- und Kugelgeometrie, RIEMANNsche Geometrie und Topologie, als Invariantentheorie gegenfiber e i n e r vorgegebenen Gruppe yon geonletrischen T r a n s formationen aufzufassen. Das Erlanger Programm stellt ffir die Geometrie ein Prinzip yon ordnender Kraft dar, wie es das periodische System der Elemente ffir die Chemie ist. Noch heute kann keine geometrische Theorie als abgeschlossen gelteu, wenn sie nicht deutlich ihre Stelle im Rahmen des Erlanger Programmes aufzuweisen vermag. Ffinfzig Jahre sparer erlebte KLEIN noch dieGenugtuung, dab er, am Abend seines Lebens, ganz wesentlich zur KI~rung der mathematischen Grund-lagen der Relativit~tstheorie beitragen konnte, indem er nur seine alten Gedanken aus dem Erlanger Programm sinngem/iB auf die neuen Fragen anznwenden brauchte. In den Erlanger Jahren sehen wir KLEIN intensty an der Ausarbeitung seiner Gedanken tAtig. Der Kreis der Untersuchungen debut sich bald fiber die eigentliche Geometrie hinaus. Das K6nigreich, in welches die Gruppentheorie tlineingeffihrt hatte, bot reiehstes Arbeitsfeld. W/ihrend LIE die Gebiete zu erschlieBen begann, wo die kontinuierlichen Gruppen herrschen, wandte sich KLEIN der Dom~ne der diskontinuierlichen Gruppen zu. E s entstehen die Untersuchungen' fiber die Gruppen,.
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die zu den regut~iren I46rpern geh6ren, tiefe atgebraische Zusammenh~inge enthtillen sich, und gleichzeitig b a h n t sich KLEIN allm~ihlich den ~Veg znm Verst~indnis der RiE~IaN~schen Funktionentheorie, ein Weg, der ihn sp~iter zur H6he seines wissenschaftlichen Erfolges filhren sollte. Als 1875 ein Ruf an die Mtinchener technische Hochschule KLEIN in einen gr6Beren und a nspruchsvolleren Wirkungskreis versetzt, entwickeln sich alle diese Arbeiten welter. KLEIN selbst sagt, dal3 er in seinen lVItinchener Jahren den Grund zu den meisten seiner sp~iteren Untersuchungen gelegt hat. Als natiirliche Fortsetzung der trilheren algebraischen Untersuchungen entstehen die Arbeiten zur Theorie der elliptischen Funktionen nnd der Modulfunktionen, in denen KLEIN sich zu jener Auffassung des RIEMANNschen Ideenkreises dnrchringt, welche ftir sein sp~iteres Schaffen richtunggebend geblieben ist. Auch hier bew~ihrt sich wieder die ordnende Kraft der Gruppentheorie wie im Erlanger Programm. Alle diese Arbeiten sind wie wenig andere charakteristisch ffir KLEINS Arbeitsweise des Verbindens und Verschmelzens weit auseinanderliegender Gedankenkreise: znr Funktionentheorie treten Algebra, Invariantentheorie, Gruppen- und Zahlentheorie ilnd Geometrie. Daneben begann er schon bier in der Organisation des Hochschulunterrichtes eine grol3ziigige nnd intensive T/itigkeit zu entfalten nnd Vorbildliches zu schaffen. Neben planm~iBig ausgestalteten Vorlesungen fiir Ingenieure h~ilt er Speziatvorlesungen auf h6ehstem Niveau, in denen er eine Reihe hervorragender Schiiler wie HURWlTZ und DYcK heranzieht. Von besonderer Bedentnng aber filr sein sp~iteres Leben und die Erweiterung seines Gesichtskreises wurden die nlannigfaehen lBeziehungen sachlicher nnd pers6nticher Art, die er in Miinchen zur Technik gewann. h n Jahre 188o vertauscht KLEIN seine Miinchener S t e l h n g m i t einer Professur ffir Geometrie in Leipzig. E r k o m m t dorthin, 33j~hrig, auf der H6he seiner wissenschaftlichen Entwiektung. Von Anfang all sieht er seine Stellung ats Geometer nicht in dem hergebrachten engherzigen Sinne an. E r sagt dariiber: ,,tch habe das "~Vort Geometrie nicht einseitig ats die Lehre yon den r~umlichen Objekten, sondern als Denkweise aufgefaBt, die in allen Gebieten der Mathematik mit Vorteit zur Geltung gebracht werden kann. Ich habe delnentsprechend meine Leipziger Professur trotz mannigfachen Widerspruches mit einer Vorlesung fiber geometrische Funktionentheorie begonnen." Mit roller tgraft warf er sich auf die Aufgaben des mathematischen Universit~itsunterrichtes, den er im Sinne seiner auf Weite des Blickes zielenden Ideen einrichtet. Das Schwergewicht seiner TXtigkeit aber lag in seiner produktiven wissenschaftlichen Arbeit. I m m e r mehr ftihlte sich KLEIN in den Bann yon I~IEIVIANNS geometrisch-funktionentheoretischem Gedankenkreis gezogen. RIE~A~N, dieser
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unvergteichliche mathematische Genius, hatte sein stilles, ganz nach innen gerichtetes kurzes Gelehrtendasein zu Ende gelebt, noch bevor KLEIN das erstemal nach G6ttingen kam. Seine genialen Gedankenreihen, dazu bestimmt, die Tragpfeiler filr die 3~athematik und mathematische Physik der Zukunft zn werden, blieben halb verstanden und ohne rechte Wirkung. Man bewunderte zwar die glXnzenden neuen ]Resultate, konnte sich aber mit den neuen fremdartigen 3lethoden nicht recht befreunden. Auch in der YVissenschaft hat das Grofle und Echte oft nicht aus sich selbst heraus die Kraft, sich die t3ahn zu brechen. Die wenigen unmittelbaren Freunde und Schiller yon t~IEMANN waren nicht die Pers6nlichkeiten, um RIEMANNS Verm~tchtnis zur Geltung zu bringen. Da t r i t t FELIX lh~LEINauf den Plan. Seine expansive Natur schien zwar nach ihrer ganzen Anlage grundverschieden yon dem Wesen des stillen mathematisehen Heiligen. Aber in der Tiefe der Seele war es ihm doch, wenigstens bei der intuitiven Erfassnng geometrischer Zusammenh~inge kongenial. lZLI~IN wird der leidenschaftlichste nnd erfolgreiehste Apostel des RIEMANNschen Geistes, dell er mit unwiderstehlicher Gewalt immer mehr zu unbedingter Herrschaft ftihrt, gegeniiber einer mehr kritisch eingestellten, ftir die Freiheit der Entwicklung nicht gefahrtosen mathematischen Geistesrichtung. %¥enn die Mathematik yon heute mit ruhiger Selbstverst/indlichkeit auf RIEMANN weiterbauen kann, so gebiihrt dafilr KLEIN das gr6flte und entscheidende Verdienst. Es ist wnnderbar, wie KLEIN diesen Umschwung erreichte. Niemand hatte RIESIANNS funktionentheoretische Gedanken so tier erfaflt wie er. So konnte er selbstXndig diese Ideenwelt in Zusammenhang bringen mit vielen lockenden Fragen und Vorstellungen aus anderen Gebieten der Mathem a t i k und der Anwendungen und in seinen gI~inzenden Abhandlungen, Biichern und Vortesungen einem gr6Beren Kreise zug~inglich machen. Den inneren Schwnng abet zu dieser T~itigkeit nahm er aus dem begliickenden GefiihI, selbst Ms Entdecker nnd Vollender die RIEMAN~schen Gedanken ein groBes Stiick weiter fiihren zu diirfen. Was I~LEIN hier geleistet hat, insbesondere m i t seiner Theorie der automorphen Funktionen und der Uniformierung ist ohne Zweifel der Gipfel seiner eigenen produktiven Tittigkeit gewesen und h a t ihn zu einer tt6he der mathematischen Konzeption geIiihrt, die weder er selbst noch einer seiner Nachfolger auf diesem Gebiete jemals wieder erreicht hat. Die T~tigkeit auf dem Arbeitsfelde der geometrischen Funktionentheorie ist so entscheidend und eharakteristisch fiir KLEINS ganzes Schaffen, dab wir versuchen miissen, sie uns etwas genauer zu vergegenw~irtigen. W~ihrend WEIERSTRASS die Theorie der Fnnktionen einer komplexen Ver/inderlichkeit auf dem Begriffe der Potenzreihe aufgebaut hatte und dadurch zu einem wunderbar geschlossenen und in sich gefestigten, aber ein wenig engem Bau gelangt war, hatte RIEMANN in
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seiner Dissertation und spgter in anderen groBartigen Arbeiten die Grundlagen der Funktionentheorie auf mehr anschaulichen m i t der Physik zusammenhgngenden Vorstellnngen errichtet. Es ist die Theorie des Potentiales und der Str6mungen inkompressibler Fluida, deren Difierentialgleichungen nnmittelbar das F u n d a m e n t der RIEMAI~Nschen FunktioI~entheorie bilden. Ebenso eng ist der Zusammenhang m i t einem aus der Kartographie wohl bekannten Probleme, dem der konformen, d. h. in den kleinsten Teilen ahnlichen Abbildnng eines Gebietes auf ein anderes. Bei RIEMAI~N selbst t r a t die physikalisch-anschanliehe Grnndlage seiner Ideenbildnngen in den Publikationen nicht so deutlich hervor, ja es ist fiberhanpt fraglich, wie weft sie bewuBt ffir ihn eine Rolle gespielt hat. Kein Wunder, dab beim Erscheinen seiner Dissertation znngchst die Wirkung ausblieb! Diese Arbeit soll auch WEIERSTRASS zuerst ein Buch mit sieben Siegeln gewesen sein, wghrend bezeichnenderweise HELMHOLTZ sie anscheinend ohne Sehwierigkeiten aufgefaBt hat. Ein weiterer Umstand erschwerte das Vordringen der RIEMANNschen Gedanken: Wichtige grnndlegende S~tze, die sogenannten Existenztheoreme, fanden sich in 1RIEMANNSArbeiten mit genialer Intuition hingestellt, und wnrden zum F u n d a m e n t der weiteren EntwickIung gemacht; aber es fehlte der bfindige scharie mafllematische Beweis. Hier setzte m i t Nachdruck die WEIERSTRASssche Kritik ein. Bei dem ungeheueren Einflul3, den %VEIERSTRASS auf seine Zeit hatte, war es nur natfirlich, wenn die RI~MANNsche Gedankenrichtung bei manchen Kreisell in Verruf kam und die jungen I~rXite fast ausnahmslos sicl~ yon ihm abwandten. Es ist nun KLXlNS erstes Verdienst, dab er die bei RIt~MANN unsichtbar, ja vielIeicht unbewuBt zugrunde liegenden physikalischen Vorstellungen aus sich heraus erfal3te und souvergn handhaben und weiterfiihren lernte. Er zog sie aus dem Dnnkel hervor und hatte den Mut, sie bei seinenVer6ffentlichungen geradezu zum Leitgedanken zu machen. So schuf er etwas, was man gelegentlich nicht als mathematische Physik, sondern als physikalische Mathematik bezeichnet hat. KLEIN erzeugt sich seine Funktionen, indem er ein Stiick der Ebene oder einer beliebigen Fl~che mit einer leitenden Schicht bedeckt denkt und an einzelnen Stellen Pole elektrischer Batterien aufsetzt, bzw. andere elektromotorische Kr~ifte anbringt. Der Str6mungszu~ stand, der sich einstellt, reprXsentiert dann eine ganz bestimmte Funktion eines komplexen Argumentes. AlIe Existenztheoreme, der berfihmte RIEMANNsche Abbildnngssatz, die Theorie der Al3ELsehen Integrale nnd weiteres mehr wird yon diesem auch ffir die Anwendungen so iiberaus wichtigem Gesichtspunkt aus unmittelbar verst~ndlich und durchsiclatig; Mles tritt in einen zwangsl~tnfigen Zusammenhang zueinander. Ebenso einfach und zwangsl~ufig ergibt sich fiir KLLIN die Ausgestaltung des ~egriffes der RIEMANNschen Fl~ichen, mit denen RI]~MANN den Verlauf der
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Funktionen im groBen in so vollkommener Weise zu erfassen vermocht hat. Von hier aus zu den automorphen Funktionen ist IlUr ein Schritt. Schon bei den elliptischen Funktionen und vor allem bei den Modulfunktionen h a t t e KLEIN, wie seine Vorg~nger, erkannt, dab die geometrischen Symmetrieeigenschaften der Gebiete, weldm Trager der betrachteten Str6mnngen sind, sich in ahnlichen Symmetrieeigensehaften der zugeh6rigen analytischen Funktionen widerspiegeln. Der Ausdruck einer solehen Symmetrie ist aber immer eine Gruppe, und so ist die Briicke zur Gruppentheorie geschlagen. Man braucht nur geometrische Gebiete mit neuen Symmetrieeigenschaften aufzusuchen und die zugeh6rigen Str6mnngen oder Funktionen zu betrachten, nnd hat die grol3artige Theorie der antomorphen Funktionen in den Hgnden. Indem man systematisch zu jeder Funktion diejenigen zugeh6rigen RIEMANNschen Flgchen baut, welche die vollkommenste krystallartige Symmetrie besitzen, gelangt man schlieBlich zu der herrlichen Konzeption der KLLINschen Uniforlnisierungstheoreme, welche die Wechselbeziehungen der gefundenen Einsichten vollst~ndig Mar stellen. ~vVenn aueh die eben geschilderten Gedankenggnge nicht in allen F.inzelheiten der historischen Entwicklung bei KL~ZlN entsprechen, so ist doch dieses Schalten nnd \Valten und Bauen init dem wunderbaren Material Ausdruck seines innersten %Vesens. Er nahm die Gedanken und Vorstellungen, die sich ihnI darboten, begierig und tatenfroh auf. Seine Grundfrage war nicht: wie beweise ich alas? sondern: was tue ich damit ? Daher hat er der groBen offenen Frage nach den Beweisen ffir die RIEMAN~schen nnd dann ftir seine eigenen Existenztheoreme kein besonderes aktives Interesse zugewandt. Ganz im Unterschied zu dem vollstXndig anders gearteten H. A. SCHWARZ, der, angeregt durch WLIERSTRASS, als erster die einfachsten der RI~7.MANNschen Existenzs~itze beweisen und die Grundlagen ftir die spiitere Ausdehnung dieser Beweise schaffen konnte. h n Augenblick des h6chsten wissenschaftlichen Erfolges ereilt KLI~:IN sein tragisches Schicksal. W~ihrend er, ermfidet yon jahrelanger ~betarbeitung nnd belastet mit den Pflichten seines Amtes, den einsamen ~Veg zum Gipfel seiner Gedankenwelt schreitet, 16st sich aus dem Nebel eine Gestalt, die m i t nngebroehener Jugendirische demselben Ziele zueilt. Es ist }{ENRY POINCAI~£, sicher einer der genialsten Mathematiker des 19. Jahrhunderts, damals noch ein unbekannter kleiner Gelehrter aus der Iranz6sisehen Provinz, welcher lni?c unglaublicher Schnelligkeit, zum Tell yon KLEIN setbst angeleitet, sich in den RIE~ANNschen Gedankenkreis hineindachte. KLEIN vervielfacht seine Anstrengungen. Ein leideuschaftlicher WiRe befiehIt ibm, er muB der erste am Ziel sein. Es gelingt; fast gleichzeitig kommen beide an, abet KLEIn hat immerhin einen Vorsprung behalten. Doch wlihrend sich POINCAR$; frischen Mutes zu neuen Zielen
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m i t ungeminderter Kraft wendet, bricht KLEIN ersch6pft zusammen. Er mul3 einen nnerh6rten Preis ffir die fibermenschliche Anstrengung zahlen, eine jahrelange seelische und k6rperliche Depression 1/ihmt seinen Flng, nnd wie er selbst sagt, das eigentliche Zentrum seiner wissenschaftlichen Produktivit~t bleibt fiir den Rest seines Lebens zerst6rt, wenn auch die Fiille und Tiefe der sp/iteren wissenschaftlichen Arbeiten gegen diese Auffassung zu zeugen schein%. KLEIN ist 33 Jahre alt, als er diesen Zusammenbruch seiner produktiven Jugendkraft erlebt. Und nun k o m m t die wunderbare Wendung. Dieser gebrochene Mann lebt weitere 43 J a h r e und entfaltet nach den verschiedensten Seiten als Forscher, Lehrer und Organisator eine beispiellose st/~ndig wachsende Wirksamkeit, bei welcher seine innerste Natur, die des Ffihrers und Menschen der T a t vielleicht iiberhaupt erst zur vollen Auswirkung gelangt ist. E r beginnt in der Zeit schwerster Depression, ;,urn eine leichte Arbeit zu haben", mit der Niederschrift seines bertihmten Buches fiber das Ikosaeder, ein Werk, in welchem das Grundthema der endlichen Gruppe durch die Gebiete der Algebra, Funktionentheorie und Geometrie in immer neuen Variationen erklingt. Es beginnt jetzt die Zeit der mehr systematischen breit angelegten DarsteIlungen unter starker Heranziehung yon Hilfskr/~ften. So entstehen in den n~chsten Jahrzehnten in der Zusammenarbeit mit FRICKE die groBen Werke fiber Modulfunktionen und automorphe Funktione.n und sp/iter das Buch yon KLEIN und SOMMERFELD fiber die Theorie des Kreisels, sowie das Buch yon POCKELS fiber die Differentialgleichung der Schwingungen und das yon B6C~ER fiber die Reihenentwicklungen der Potentiattheorie. Zwei ~iuBere Ereignisse befreiten ihn yon den Nachwirkungen der akuten Depression. Zuerst eine Berufung nach Amerika, die zwar nach tangem Schwanken abgelehnt wurde, ihn aber mit der Aussicht auf umfassende Wirksamkeit in einem m/ichfig aufstrebenden Lande an seinem Lebenszentrum, dem WiIlen zur Tat, packte. Und dann, im Jahre 1886, die Berufung nach G6ttingen. Es war ein Gliick ffir KLEIN und die ~Vissenschaft, dab bier in G6ttingen zun~chst H. A. SCHWARZdas Recht des Alteren gettend machte und KLEIN Yon den Elementarvorlesungen und vielen Kursusvorlesungen ausschloB. So mul3te und konnte KLEIN seine ganze Kraft einem h6heren Unterrichtsbetriebe in Seminaren nnd Vorlesungen zuwenden, wie er in seiner GroBartigkeit nnd Wirksamkeit wohl einzig dasteht. In einer Reihe yon formvotlendeten Vorlesungen fiber immer neue T h e m a t a schfittete er eine unerh6rte Ffille der Irnchtbarsten Gedanken und reichsten Anregungen fiber seine H6rer aus. Es gibt wohl keinen Mathematiker der Welt, welcher nicht wenigstens mittelbar durch diese sp/iter als Autographien verbreiteten Vorlesungen KLEINS Schtiler geworden ist und m~ichtige Impulse yon ihm elnpfangen hat.
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Von fiberall her aus der ganzen Welt str6mten i b m jetzt die H6rer zu und trugen dann Ms Lellrer an Universit~ten und Hochschulen seine Gedanken und die yon RIEMANN in die Welt hinaus, oft beschenkt m i t Ideen, auf denen sie ihre ganze sp/~tere Lebensarbeit errichten konnten. Charakteristisch ifir diese Vorlesungen und ffir den KLEINschen Geist fiberhaupt, ist der hinreiBende Schwung yon universeUer wissenschaftlicher Gesinnung, die sich fiberalt offenbart. ~3berall werden die gloBen Zusammenh~nge aufgezeigt, fiberM1 erscheint die ~Vissenschaft als ein Organismus, der sich nicht willkfirlich zerlegen und unterteilen 1ABt, wenn er wahrhaft leben soll. So bildeten und bilden diese KLEINschen Vorlesungen ein bitter notwendiges Gegengewicht gegen die Tendenz der Zeit zur Spezialisierung und Verkn6cherung der Wissenschaft. Neben dieser ~rirksamkeit, welche yon einer Reihe yon Publikationen fiber die verschiedensten Fragen der Mathematik and mathematischen Physik begleitet ist, finder KLEIN noeh die Zeit und Kraft, in tliglichen stundenlangen intensiven Besprechungen and in Seminaren die wachsende Zahl seiner Spezialschiiler zu eigener Produktion anzuleiten, mit k6niglicher Freudigkeit aus dem Schatze seiner Ideen spendend und immer init nnfehlbarer Sicherheit den Schiiler auf den Punkt weisend, welcher dessen Eigenar% am besten entsprach. Als 1892 SCHWARZnach Berlin geht, nnd KLEIN in G6ttingen freie Hand bekommt, beginnt eine neue Periode seines Schaffens, eine Periode, in welcher die organisatorische Bet~tigung mehr und mehr in den Vordergrund tritt. Nicht als ob die groBartige Wirksamkeit in Vorlesungen a n d Seminaren anfgeh6rt h~tte~ I m Gegenteil, der S t r o m dieser Vorlesungen fliefJt weiter, gespeist aus dem unersch6pflichen Reservoir, welches in den vergangenen Jahrzehnten geffilltworden war, A b e r d e n H a u p t t e i l seiner KrMte verwendet er jetzt, um das groBe Ziel zu verwirklichen, welches ibm seit seiner Knabenzeit erst unbewuBt, dann immer klarer und klarer vorgeschwebt h a t t e : In breiter Linie die organische Einheit der Wissenschaft herzustellen, daffir zu sorgen, daB das Band zwischen der Mathematik a n d den Anwendungen in Physik, Teehnik und anderen Zweigen wieder enger geknfipft wfirde, die Mathematik yon dem Schicksal zu retten, dab sie sich aus dem allgemeinen Kulturzusammenhange 15st and zu einer Privatangelegenheit eines engen Kreises mehr oder weniger sonderbarer Spezialisten wird. Das W o r t ,,Organisieren" bedeutet ffir KLEIN nicht Herrschen um der Macht willen; es war ffir ihn Symbol einer tiefen Einsicht und \%Teisheit, der Einsicht in den wahrhaft organischen Zusammenhang der Wissenschaften, der :Einsicht in das Wesen geschiehtlichen Werdens, mit seiner r~tselhalten l~Iischung yon Zufall und Notwendigkeit, dem die Wissenschaft wie alles lebendige ]~berpers6nliche unterworfen ist. ,,Es wurde mir immer deutlieher, dab durchVernachl~ssi-
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gung dieser weiten Ausblicke auch die rein wissenschaftliche Forschung selbst leiden mtisse, dab sie sich durch AbschluB yon der vielseitigen lebelidig pulsierenden allgemeinen geistigen Entwicklulig wie eine der Sonne entzogene Kellerpf[anze zur Verktimmerung verurteile." Unternehmungen yon groBem Wurf ergaben sich auf der Linie dieser Bestrebungen. Zun~chst wurde der mathematische Uiiterricht an der Universit~t in einer ftir lange Zeit mustergiiltigen ~Veise organisiert. KLEIN, der die Gefahren der yon ihm betriebenen inehr enzyktop~dischen Unterrichtsmethode f~r die Mehrzahl der Studierendeli Wohl kannte, sorgte dafiir, daB, ohne Rticksicht auf seine eigene Bequemlichkeit, neben ibm M~nher berufen wurden, welche nicht die extensive, sondern die intensive Forschungs- undLehrmethode vertraten. KLEIN ging welter. Er h a t die geschichtliche Bedingtheit aller uliserer Unterrichtseinrichtungen und die zwingende Notwendigkeit einer organischen \¥eiterentwicklung klar erkannt. U m diese in geordnete und sachgemXBe t3ahlien zu lenken, benutzte er die internationaIe mathematische Unterrichtskommission, ein weitverzweigtes Unternehmen mit denl Ziele, atte mathematischen Unterriehtseinrichtungen der Kulturl~tnder in ihrer historischen EntwickIung zu studieren, yon der elementarsten Schule bis zur h6chsten Unterriehtsform an den Universit~teli. KLEIN war durchaus die Seele des Unternehmens, dessen v6tliger Abschlul3 durch den Krieg verhindert wurde. Aber es bleibt KLEINS Verdienst, wenn der mathematische Unterricht an unseren Schulen aus eilier gewissen Stagnation zu neuem Leben erwacht ist und wenn die Hochschullehrer sich wieder darauf besinnen, dab sie IIicht nur Spezialaufgaben, solidern allgemeine Kulturaufgaben zu erfallen haben. Der sieghafte Grundgedanke der KI,EINschen Unterrichtsreform ist: Die 2vlathematik muB auch auf der Schule aus ihrer Isolierung herausgefiihrt und in lebendigen Zusammenhang mit anderen Interessen geriickt werden. Sie daft nicht blog formales Bildungsmittel bleiben, sondern sie inul3 gerade auch denen, deren Lebensweg sp~ter in ganz anderer Richtung geht, eine Handhabe bieten zmn Verst~ndnis der uns umgebenden Welt, soweit MaB und Zahl in ihr herrscheli. Hieraus ergibt sieh yon selbst die Forderung: Erziehung zum funktionalen Denken, Sch~Lrfung des t31ickes ftir die Anwendungen, l)berbriickung der Kluft zwischen Schulm a t h e m a t i k nnd Hochschulmathematik. Der Zusammenfassulig der mathematischen Wissenschaften als solcher diente das Riesenunternehmen der groBen lmathematischen EnzyklopAdie. t l i e r ist die Leistung yon KLEIN, der wiederum durchaus die Seele der Sache war, dem gew6hnlichen 3/Ienschen beinahe unfaBbar. Mehr als IOO l~itarbeiter, altes Gelehrte, aIso Menschen mit Eigenwillen ulid Eigensim~, oft auch mit einer groBen Dosis yon Unzuverl~ssigkeit und Unpiinktlichkeit, zu sammeln, zu leiten, anzutreiben und wirklich dieses ungeheuere Sammehverk in brauchbarer
Die Naturwissenschaften
abgerundeter Form endlich nach Jahrzehnten zustande zu bringen, dazu w~re kein anderer f~hig gewesen. Auch die Herausgabe der Werke yon GAuss, dem 3/[anne, dessen Universalit~Lt ftir KLEIN stets das grofle Vorbild gewesen war, hat KLEINS Tatkraft viel in Anspruch genommen. Wenn er an RIEMANN mit einer beinahe z~rtlichen Liebe und Verehrung hing, beugte er sich in schrankenloser, aber ktihter Bewunderung vor deln allumfassenden Genius yon GAuss. Dieses Klassikers X¥esensart war der seinen ,,romantischen" fremd. W~hrend GAuss sorgsam das Gertist zerst6rte, bevor er den geschlossenen ]3au seiner Theorien enthiitlte, war es KLt~INS Lebensbedtirfnis, seinen Sctxttlern und jedem, der wollte, die leitenden Ideen rtickhaltlos klarzulegen und oft die Ausfiihrung des ]3aues anderen H~Lnden zu iiberlassen. So hatte es ftir KLEI.~" auch einen eigenen Reiz, den GAussschen t3auplXnen IIachznspiiren ulid nicht zu ruheli, bis er wuBte, wie das Gertist ausgesehen h a t und anfgefiihrt worden ist. E r hat durch diese Arbeit galiz wesentlich zuln wirklichen Verstandnis yon Gauss beigetragen lind viele seiner Leistungen iiberhaupt erst in die richtige historische Perspektive gebracht, wenn er auch die Vollelidung seines Planes einer wissensehaftlichen Gaut3biographie nicht mehr erlebte. Ffir uns in GSttingen aber wohl die wichtigste organisatorische Leistung yon KLEIN ist die Verbindung der Wissenschaft mit den Kreisen der Industrie und tiberhaupt des Vv~irtschaftslebens, welche KLLIN gegen mannigfache starke Hindernisse in z~ihem Ringen durchgesetzt hat. Die erste Anregung zu diesen PlXnen brachte er aus Amerika Init, wo er im Jahre 1893 als Kommissar des preu13ischen I~ultusministers gewesen war. Er hatte mit offenen Angen die gewaltigen materiellen und ideellen Triebkr~fte des Landes erfa13t, ganz im Gegensatz zu manchen Reisenden, welche in ihrem Europ~erhochmut nur das Negative sehen wollen. Es war nicht leicht, die Widerst~nde zu iiberwinden, welche KLEIN in der H e i m a t vorfand. Engherzige Kollegen hatten F u r c h t : die 1Reinheit der Wissenschaft schien ihnen bedroht, ,,die leise Musik der Naturgesetze k6nnte durch die TrompetenklXnge der technischen Erfolge gest6rt werden". Auch yon aul3en kam der Widerstand. Die technischen Hochschulen liefen Sturm gegen die vermeintliche gef~hrliche Konkurrenz in G6ttingen. Das Kultusministerium z6gerte. Aber schliel31ich gelang es doch. Mit den Ingenieuren war Frieden geschlossen, der \¥iderstand der Kollegen war verstummt. Das preuBische Kultusministerium, dessen groBztigiger vorurteilsffeier Wirksamkeit die Wissenschaft seit mehr Ms IOO Jahren so ~ e l zu verdanken hat, t r a t aus seiner reservierten Haltung heraus. Es wurde damMs praktiseh yon FRIEDRICI-t ALTHOFF beherrscht, einem Verwaltungsbeamten gr613ten AusmaBes, der mit schwungvolier Energie KLEINS Plane aufnahm und bis zuletzt aufs entschiedenste gef6rdert hat.
Heft 37. ] ~ i . 9. 1925 J
COURANT : FELIX
Gemeinsam mit dem werbekr~ftigen Herrn H. v. B6TTINaER gelang es KLEIN, in der ,,G6ttinger Vereinigung zur F6rderung der angewandten Mathematik und Mechanik" einen erlesenen Kreis yon Ffihrern des Wirtschaftslebens mit seinen nAheren G6ttinger Fachkollegen zusammenzubringen; nach und nach wurden in G6ttingen neue Institute geschaffen, deren Zweck die Pflege der angewandten Wissenschaft ist, angewandte Mathematik, angewandte Mechanik mit Hydrodynamik und Aerodynamik, angewandte ElektrizitXt, Geophysik, mathematische Statistik. KLEIN begnfigte sich dabei nicht m i t einer bloBen Begrfindung der neuen Institute, sondern er setzte seine volle Kraft ein, um diese Institute und die neugewonnenen Kollegen in engste Wechselbeziehung mit dem fibrigen wissenschaftlichen Leben an der UniversitXt zu bringen. So hielt er gemeinsam mit den Vertretern .der angewandten F/~ctIer eine Reihe yon Seminaren ab, oft fiber ibm scheinbar ganz fern liegende Themata, aber immer durch die Raschheit seiner Auffassung, den Reichtum seiner Ideen und die Lebendigkeit seines Interesses anregend und anfeuernd. Auf diese A r t ist KLEIN Ifir unsere Universit~t der Begrfinder und Erhalter ihrer Weltgeltung in den mathematisch-physikalischen Disziplinen geworden und ffir Deutschland der Pionier des Gedankens, dab die M~nner der Wirtschaff mit denen der Wissenschaft bei der Pftege der wissenschaftlichen Aufgaben zusammenwirken mfissen. Als nach dem Kriege die G6ttinger Vereinigung aufgeI6st werden muflte und in die Notgemeinschaft bzw. die HELMI-IOLrzgesellschaft aufging, da konnte KLEIN ohne ~Vehmut seine Zustimmung geben. Denn er durffe die neueren gr613eren und umfassenderen Organisationen Ms Kinder seines Geistes und als legitime Nachfolger der G6ttinger Vereinigung ansehen. Von den mannigfachen sonstigen organisatorischen BetXtigungen erwXhne ich nur noch die vorbildliche Leitung der mathematischen Annalen, deren Seele er schon seit seiner Erlanger Zeit war, die intensive TXtigkeit als Mitglied des Preul3ischen Herrenhauses und die Reorganisation der GSttinger Gesellschaft der Wissenschaiten. I m Jahre 1911 erleidet KLEIN einen neuen Zusammenbruch. Das lVlaB der Arbeit war zu groB gewesen. Er t~Bt sich emeritieren, um sich yon der anstrengenden bis zuletzt glgnzenden Vorlesungst~ttigkeit zurfickzuziehen und sich ganz den organisatorischen Arbeiten zu widmen. Wieder riittelt den Tatmenschen ein ~ul3eres Ereignis auI, der Krieg, dessen militArische und politische Entwicklnng er m i t gr6Btem Interesse verfolgt. E r n i m m t die VorlesungstXtigkeit wieder ant, allerdings nnr in seiner Wohnnng fiir einen Meinen Kreis auserw~hlter Kollegen und reifer anderer Zuh6rer. VeranlaBt dureh den Plan, ffir ein gr613eres Sammelwerk eine Gesamtdarstellung der Entwicklung der Mathematik im 19. J a h r h u n d e r t zu schreiben, trggt er in den ersten Kriegsjahren tortlaufend fiber ausgew~hlte geschichtliche Fragen vor. Diese Vortr~ge, in Schreibmaschinenschrift
KLEIN.
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vielfach verbreitet, sind wie die vollendete sfiBe Frucht der KLEINschen Altersweisheit. Der tiefe historische Sinn, die unvergleichliche Lebendigkeit der Darstellung, die Lebensfiille der aufgezeigten V~Techselbeziehungen zwischen der Mathematik und anderen geistigen Str6mungen, die unendliche 13berlegenheit des Standpunktes, welche aus diesen Vortr~gen uns entgegenweht, finden wohl sonst nirgends ihresgleiehen ill der Geschichtsschreibung einer ~Vissenschaft. KLEIN schob die Ausfiihrung dieses groB angelegten Pubtikafionsptanes auf, als im Jabre 1918 seine Freunde eine Gesamtausgabe seiner AbhandIungen anregten und die XuBeren M6glichkeiten daffir nach vergebtichen anderweifigen Versuchen trotz der Scbwere der Zeit durch den SPRIN~Rsehen Verlag gegeben wurden. I m Jahre 1923 erschien nach ftinfjXhriger intensiver Arbeit der dritte und letzte Band seiner Ausgabe, die in ihrer Art ein Meisterwerk ist. Es ist kein bloB mechanischer, vielleicht hie and da berichtigter Abdruck der frfiher erschienenen Arbeiten; sondern jede einzelne Abhandlung ist durch ausffihrliche Kommentare und Noten in den historischen Rahmen ihrer Entstehung gestellt, und so gibt diese Gesamtausgabe yon selbst ein gut Teil der Geschichte der ?¢[athematik der letzten 5° Jahre wieder. Man kann diese drei B~nde nicht aus der Hand legen, ohne einen fiberw~ltigenden Eindruck yon der Ffitle und Vielseitigkeit der produktiven wissenschafflichen T~tigkeit KLEINS mitzunehmen. Mit der Heransgabe der Abhandlungen ffihlte KLEIN sein Lebenswerk vollendet. Der Vv'unsch, das fertige I~rerk noch zu sehen, hatte den Lebenswillen in dem gebrochenen K6rper aufrechterhatten. Zwar ergriff er sofort neue Aufgaben, die Vorbereitung seiner autographierten Vorlesungelt und seiner geschichtlichen Vortr~ge flit den Druck. Aber er t a t diese Arbeit in dem Bewul3tsein, dab ihre endgfiltige Ausffihrung in andere HAnde gelegt werden mfisse. Bis zuletzt seiner Arbeit treu, ist er sanft und leise kampflos dahingegangen. Sein Leben war wirklich in sich vollendet. Was war das Geheimnis dieser Pers6nlichkeit und ihrer Wirkung ? Er h a t die groBe Macht fiber die Menschen besessen, well er geistige 13berlegenheft verband mit einer dienenden Sachlichkeit, weil er nie etwas Ifir sich selbst, stets alles fth- seine Ziele tat, well man in der majest~tischen Wfirde seines ~Vesens hie eine Spur yon Eitelkeit und Selbstfiberhebung herausfiihlen konnte. Es fehlte ihm nicht an echtem Humor, dem Anzeichen wahrer geistiger Freiheit. Aber alles dies wird fiberstrahlt yon dem Zauber seines ~Vesens, der magnetischen Kraft, m i t der er jeden, auch %Viderstrebende, zwang, ibm Mitarbeiter zu werden und Gefolgschaff zu leisten. Sein Leben war erfiillt yon der Kraft des Denkens und dem Willen zur Tat, beide beflfigelt durch eine geniale Phantasie, welche framer neue und neue Entwfirfe gestaltete. Er war ganz der Typus des Weisen und Herrschers, wie ihn PLATO in seinem
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TRENDELtgNBUP,.G: Zur Physik der Kl~nge.
Staate gezeichnet hat. In anderen L~indern oder zu anderen Zeiten hiitte ihm gewiB eine gl~nzende Laufbahn Ms Staatsmann oder Politiker often gestandeii. Die Leistungen, die er vollbracht hat, sind in ihrer Vielseitigkeit und Ffille fast iibermenschlich. Nur durch eiserne Zucht und entsagungsvolle Strenge tier Lebensffihrung konnte KLEIN das erreichen. Jede Minute war der systematischen Arbeit gewidmet, ein musterhafter Ordnungssinn verhiitete jeden Zeitverlust. Die Freuden des gew6hnlichen Menschen g6nnte KLEIN sich nicht. Seine Spazierg~nge und seine vielen Reisen dienten weniger der Erholung als dem Gedankenaustausch mit anderen. Ibm, der einen offenen, empf~nglichen Sinn fiir alles GroBe uiid Echte besaB, war es nicht gegeben, beim GenuB der Kunst oder Musik yon seiner Arbeit auszuruhen. Auch mag es sein, dab er in den Jahrzehnten der angestreiigtesten Arbeit fiir die Anfrechterhaltung rein menschlicher Beziehniigen zu der/vIenge der Fernerstehenden nicht framer die Kraft aufbringen konnte. Zwar seine n~ichsten Angeh6rigen und die groBe Zahl seiner Schiiler verloren hie das Geftihl, dab hinter dieser unerbittlichen naiven Sachlichkeit ein giitiger Mensch stand. Abet mancher, der ihn IIur als Organisator kennenlernte, und mit dem er keineii seelischen Kon.takt gewanii, empfand vielleicht sein Wesen als zu hart und gewaltsam; so h a t KLEIN sich manct lmal Widerst~inde und Hemmungen draul3en geschafien, die ibm viel Kr/~fte verzehrteii und welche eine weichere Hand leicht iiberwunden h~tte. Sein Leben volter Erfotge und Ehren war IIieht ohiie Tragik. Ich meine nicht die ~ugere Tragik, die der Krieg tiber unsere Zeit gebracht hat; wunderbar hat er sich damit abgefunden. Aber
Die Naturwissenschaften
viel schwerer wiegt die Tragik, welche in seiner wissenschaftlichen Veranlagung begriindet war. Ihm, dem die Kraft der Synthese, der Kombination in einem so auBerordentlichen MaBe vertiehen war, stand nicht in derselbeii St~rke die andere mathematische Grundkraft zur Verfiigung, die zur eindringenden tiefbohrenden Aiialyse. Sein intuitives Verst~ndnis auch Itir die ibm fernst liegenden abstraktesten Teile der Mathematik war erstaunlich. Aber der Sinn ffir die exakte Ausgestaltung im einzelnen und die Versenkung in ein Einzelproblem fehlte ihm. F.r war wie ein Flieger, der hoch fiber die Lande braust, IIeue Gebiete, herrliche lockende Landschaften entdeckt und fibersieht und der doch mit seiner Maschine nicht landen kann, um wirklich Besitz zu ergreifen, zu ackern nnd zu ernten. KLEIN, dessen Seele stets nach der Bertihrung m i t der \¥irklichkeit lechzte, h a t diesen tier innerlichen Zwiespalt getragen, vielleieht seiner Tragweite nicht roll bewut3t. Abet ich glanbe fast, dab hier eine der Ietzten Ursacheii seines entscheidenden Zusammenbrnches zu suchen ist. KLEIN hat sicherlich empfunden, dab gerade seine groBartigsteii wissenschaftlichen Sch6pfungen im Grund nur gigantische Eiitwfirte waren, deren Ausftihrung er anderen H~nden iiberlassen mugte. Wenn wir uns auch dieser Grenze yon KLEINS Pers6nlichkeit bewuBt werdeii, so k6nnen wir doch nicht dankbar genug ttir das alles sein, was er uns gewesen ist. Er war eine Kfinstleriiatur, weiiiger ein Zeichner mit scharf umreiBendem Stilt, mehr wie ein groBer Baumeister oder Plastiker, erfiillt yon der Leidenschadt des Handelns, des Gestaltens. Die letzte Quelle seiner wunderbaren Kraft abel" blieb die Liebe und Treue zu der Wissenschaft, auf der er sein Leben aufgebaut hat.
Zur Physik der Kliinge i). Die stimmhaften Konsonanten. (Mitteilung aus dem Forschungslaboratorium Siemensstadt.) Yon ~FERDINAND TRlgNDI~LENBURG, Berlin. I n einer friiheren Arbeit~) habe ich fiber die objektive Aufzeichnung yon Kl~ingen berichtet, die ich mittels des Kondensatormikrophons nach H. tZlEC-GERdurchftihrte. ~Vir konnten eine Reihe yon Fragen ld~ixen, welche fiir die Fernmeldetechnik, insbesondere fiir die klanggetreue Aufnahme, Weiterleitung und Wiedergabe yon grundlegender Bedeutuiig sind. Die weitgetlende Aufl6sung der aufgezeichneten Sprachkliinge gestattete uns, auch Schliisse auf die Entstehung dieser Laute zu ziehen. So erwiesen sich z. B. die gesuiigenen Vokale als streng periodische akustische Vorg~Lnge, in der Periode des Grundtones, eine Periode war der andex) Siehe Die Natu~wissenschaften x2, 661. I924. ~) Ygl. Wiss. Ver6ffentl. a. d. Siemens-Konzern III, 2, I924, S. 43 u. ff. ,,Objektive Klangaufzeichnung mittels des Kondensatormikrophons". Natw. x2, tteft 33- I924 ,,Zur Physik der Kli~nge".
ren selbst in ihrer feinsteI1 Struktur identisch. Aus der Periodizit~it der Vokalbilder liel3 sich die Richtigkeit der von HELMHOLTZ aufgestellten Vokaltheorie folgern: Das Stimmband erzeugt einen Klang, dessen Grundton die musikalisch definierte Tonh6he ist. Dieser Klang ist reich an Obert6nen, die dem Kehlkopf vorgelagerte Mundh6hle greift diejenigen Obert6ne verstgrkt heraus, welche ihrer eigenen Resonanz am nlichsten liegen, uiid strahlt sie besonders krgftig in die Umgebung ab. Die Tonh6he der Eigenresonanz der Mundh6hle ist durch diejenige Muiidstellung definiert, welche Itir den betreffenden VokM charakteristisch ist; so entspricht jedem Vokal ein bestimmter, Lind in seiner absoluten H6he fester Toiibereich, der Formant. Sgmtliche VokalM~inge, lassen sich in der eben skizzierten VVeise Ms erzwungene Schwingungen