Schwerpunkt | Interview
Fintech – ein Weckruf für die Finanzindustrie? Die Fintech-Evolution hat in den vergangenen Jahren zu einer Vielzahl innovativer Startup-Unternehmen geführt. Gleichzeitig sind etablierte Banken und Versicherungen gefragt, sich gegenüber den Veränderungen zu positionieren. Um die Bedeutung des Fintech-Phänomens bezüglich seiner möglichen Besonderheiten und Implikationen genauer zu erfahren, liefert das Interview zum Schwerpunktheft „Fintech“ die Sicht eines Fintech-Startup-Unternehmens einerseits und diejenige eines traditionellen Bankunternehmens andererseits. Im Gespräch diskutieren dazu Sebastian Herfurth als Gründer von Friendsurance, einem Startup der Versicherungsbranche, und Stephan Schneider, langjähriger Bereichsleiter bei der Commerzbank, die wiederum den main incubator gegründet hat. Das Gespräch führten Rainer Alt und Dieter Ehrenberg Fotos: Franziska Werner
18
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
Schwerpunkt | Interview
Wie haben Sie die Fintech-Entwicklung (mit-)erlebt? Herfurth: Ebenso wie viele andere haben wir Fintech gemacht, bevor es dafür ein Wort gab. PayPal ist Fintech, keine Frage, und deutlich älter als jede Wortkreation. Ich kann mit diesem Wort Fintech nicht unbedingt etwas anfangen. Es ist ein nettes Label, aus dem sich nun auch das Schlagwort InsurTech entwickelte. In der Tat gab es im Versicherungsbereich deutliche Verzögerungen und wir waren im Bereich Fintech und Versicherungen einer der ersten mit einem ganz anders gedachten Modell. Wir haben nicht nur eine kleine Veränderung im System, sondern machen mit unserer Peer-toPeer-Versicherung ein ganz anderes Modell. Wir haben das erlebt, was jeder erlebt, wenn er fremd in einer Branche ist und dort dennoch etwas verändern will. Anfangs sind wir auf große Skepsis gestoßen. Es gab sogar einige aus der Branche, die versucht haben, uns zu bekämpfen, mit allen lauteren und unlauteren Mitteln. Heute erkennen auch die großen Versicherungen, dass wir einen Mehrwert für Kunden und Versicherungen schaffen – und kooperieren mit uns. Schneider: Für die Bankenwelt war die Fintech-Entwicklung eine interessante Erfahrung. Wir wurden häufig an das Zitat „Banking is important, banks are not“ von Bill Gates aus den 1990er-Jahren erinnert. Vor der Finanzkrise haben die Banken diese Aussage ebenso wie die gesamte FintechSzene nicht ernst genommen. Sie haben sich lange darauf verlassen, dass sie den Kundenzugang haben und durch regulatorische Rahmenbedingungen wie etwa die Banklizenz oder das Bankgeheimnis geschützt sind. Nach dem Kreditwesengesetz sind klassische Bereiche wie das Kreditgeschäft, Anlagegeschäft, Kontoverwaltung, Zahlungsverkehr in wichtigen Teilen auf die Banken beschränkt. Ich glaube aber, dass sich die Banken ihrer eigenen Defizite durchaus bewusst geworden sind. PayPal war ein solcher Weckruf im Bereich des Zahlungsverkehrs, dessen neue Entwicklungen die Banken verschlafen haben. Nach dem Kreditwesengesetz darf PayPal natürlich keine Konten führen, das machen weiterhin die Banken. Jedoch laufen die Transaktionen über PayPal ab und PayPal generiert darüber auch Gebühren. Im
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
19
Schwerpunkt | Interview
Dr. Stephan Schneider ist Bereichsleiter Corporate Banking, internationale & Konzernprojekte und Regulatorik bei der Commerzbank AG.
Grunde genommen kann ein Kunde von der Bank entkoppelt werden, indem sich der Dienstleister mit einem intelligenten, flexiblen, angenehmen Service zwischenschaltet. Was macht Fintech für Sie aus? Schneider: Wenn man sich die Bankorganisation ansieht, dann muss man zunächst feststellen, dass an vielen Stellen Banken Expertenkulturen und keine Teamstrukturen sind. Experten leben von ihrem Alleinstellungsmerkmal und die Geschäftsbereiche arbeiten dadurch nicht unbedingt immer zusammen. Das führt teilweise zu redundantem Arbeiten, statt sich mit dem Nachbarn abzustimmen. Zudem diskutieren bei wirklich innovativen Ideen sofort der Rechtsbereich, der Compliance-Bereich, der Datenschutzbeauftragte usw. mit und diese geben erst einmal zu Bedenken, warum etwas nicht geht. Innovationsförderung in klassischen Bankorganisationen ist oft recht schwierig. Deshalb haben wir einen Ausbruch gewagt, wir haben eine Inkubatoren-Tochter in Frankfurt, den „main incubator“ gegründet, die selbst innovative Ideen verfolgen möchte, welche die Bank nur schwierig umsetzen kann. Sie bietet gleichzeitig auch Partnerschaft und Hilfen für Startups, um einfach zu integrierten Geschäftsmodellen zu kommen. Das ist vor drei Jahren geschehen und mittlerweile den Kinderschuhen entwachsen. Insgesamt eine höchst spannende Geschichte! Herfurth: Viele Fintechs – uns eingeschlossen – nutzen eine Chance, die darin liegt, dass sich die etablierten Versicherun-
20
gen und Banken in der Vergangenheit und bis heute kaum um den Kunden gekümmert haben. Man hat sich hinter Datenschutz und Regulierung versteckt und nicht den Mehrwert für den Kunden gesucht. Gerade Regulierung schafft auch die Grundlage für Kundenschutz und wir haben die Erfahrung gemacht, dass Regulatoren keine Probleme mit kundenfreundlichen Lösungen haben. Rechtlich gibt es selten Barrieren. Aber gerade Konzerne haben interne Probleme mit der Fehlerkultur. Karriere macht, wer keine Fehler macht. Wer aber keine Fehler macht, kann auch nicht etwas großartig Innovatives schaffen, weil dies notwendigerweise auch mit Fehlern verbunden ist. Hier sehe ich einen zentralen Unterschied zu dem, was wir und viele neue Unternehmen machen. Wir haben einfach eine ausgeprägte Fehlerkultur – wer also bei uns keine Fehler macht, der macht auch nichts und muss sich eigentlich einen anderen Job suchen. Wodurch unterscheiden Sie sich weiter von traditionellen Unternehmen? Herfurth: Ein wichtiges Element ist die Kundenorientierung. Wir suchen ständig nach Mehrwert für die Kunden und klären die Ideen anschließend mit den Regulatoren. In der Vergangenheit hat dies zu zahlreichen Innovationen geführt, die nicht von etablierten Spielern mit viel Kapital und vermeintlichem jahrzehntelangem Branchenwissen stammten. Wir beobachten, dass gerade diese Unternehmen sich unsere Leistungen anschauen und teilweise auch kopieren. Das ist einer-
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
Schwerpunkt | Interview
Dr. Sebastian Herfurth ist Gründer und Geschäftsführer der Friendsurance/Alecto GmbH.
seits ärgerlich, andererseits eine großartige Bestätigung. Die Bedeutung von Innovation in den etablierten Versicherungsunternehmen ist weiterhin dramatisch. Wenn eine Versicherung für ihre Innovationen weniger ausgibt als für den Fuhrpark ihres Vorstandes, dann ist das ein Problem. Ich kann eigentlich nur von Kundenzentriertheit sprechen, wenn ich auch mit meinen Kunden kommuniziere. Wir machen das auf ganz viele verschiedene Weisen. Wir messen beispielsweise den „Net Promoter Score“ (NPS) (Hinweis der Redaktion: Nähere Ausführungen zu NPS siehe [1]) und fragen den Kunden: „Würdest du uns deinen Bekannten und Freunden weiterempfehlen?“. Je mehr Kunden es ihren Bekannten und Freunden weiterempfehlen würden, desto höher ist der NPS. Außerdem laden wir etwa ein- bis zweimal in der Woche potenzielle Kunden in unser Büro ein. Wir lassen diese durch unser Produkt klicken und beobachten, wie sie sich verhalten. Bei Starbucks-Tests geht jemand aus der Produktabteilung mit manchmal auf Papier gezeichneten neuen Ansätzen ins Café und fragt Kunden, wie sie es finden, ob sie Bedenken haben usw. Natürlich sind diese Dinge teuer und harte Arbeit, aber unsere Erfahrung ist, dass man über physischen Kontakt manchmal mehr herausfindet, als über dürre Zahlen.
Kunde dort anspruchsvoll ist und sein Geschäft kennt. Hier geht der Berater zum Kunden und spricht mit diesem persönlich über seine Finanzsituation. Etwas anders ist es im Privatbeziehungsweise dem Retailkundengeschäft. Hier haben alle großen Banken den Kunden in den 1970er- bis 1990er-Jahren Produkte wie etwa Konsumentenkredite oder Wertpapier-Offerten verkauft und dann bei Kauf und Verkauf ein Prozent Provision realisiert. Die Berater hatten in ihren Wochen- oder Monatszielen Vorgaben und waren angehalten, eine bestimmte Anzahl an Transaktionen zu tätigen. Seit der Finanzkrise hat sich das Verhalten grundlegend verändert. Der Privatkunde ist erstens viel aufgeklärter und risikoaverser geworden. Zweitens müssen Banken mit MIFID II dem Kunden nachweisen, dass das Produkt zu seinen Anlagepräferenzen passt. Sie müssen dem Kunden die Gebührenstruktur offenlegen, die Gespräche dokumentieren und begründen, weshalb genau dieses Produkt zu ihm passt. Sie müssen nach einem Jahr, wenn der Markt sich gedreht hat, den Kunden ansprechen, dass ein Produkt möglicherweise nicht mehr zu ihm passt. Natürlich sollen derartige Regulierungen den Kunden schützen, gleichzeitig setzen sie die Geschäftsmodelle der Banken enorm unter Druck.
Haben Banken nicht bereits vor 20 Jahren gesagt, sie wären kundenzentriert? Schneider: Im Firmenkunden- beziehungsweise dem Wholesale-Bereich waren Banken stärker kundenorientiert, da der
Für Banken bedeutet Regulierung also eher eine Last und für Startups eher eine Chance? Schneider: Teilweise sind Regulierungen nicht immer im Kundeninteresse und für Banken durchaus eine Bürde. Bei-
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
21
Schwerpunkt | Interview
spielweise haben wir die Pflicht, US-Steuerzahler in der eigenen Kundschaft zu identifizieren und diese Daten in die USA zu melden. Im Firmenkundenbereich gibt es eine gesetzliche Pflicht, den sogenannten „ultimativen wirtschaftlich Berechtigten“ einer Kontoverbindung zu ermitteln und an regulatorische Stellen zu melden. In Deutschland haben wir aber einen gesunden Mittelstand, von dem die Commerzbank etwa 40 Prozent betreut. Der Besitzer einer inhabergeführten Familiengesellschaft beispielsweise möchte aus seinem persönlichen Sicherheits- und Vertraulichkeitsbedürfnis heraus nicht, dass seine Kundendaten bei einem Geschäft in einem Land mit einem problematischen Korruptionsindex (siehe bspw. www.transparency.org), dort auf einem Server liegen und damit möglicherweise nicht sicher sind. Wenn der Kunde in Deutschland eine Verwendungserklärung unterschreibt, besteht eine enge Zweckbestimmung und wir dürfen die Daten nicht zu weiteren Zwecken, etwa zur Ermittlung von Versicherungs- oder Finanzierungsbedarfen, nutzen. Dagegen sind Banken bei gesetzlichen Regelungen wie etwa dem Geldwäschegesetz verpflichtet, Kundendaten zu melden. Die Banken schützen also einerseits die Interessen des Kunden, andererseits schränken sie sich dadurch selbst geschäftlich ein. Dieses Spannungsfeld gilt natürlich auch für die Nutzung von Daten im Rahmen von Big-Data-Initiativen. Herfurth: Wir sehen das ganz einfach und fragen den Kunden, ob wir seine Daten für bestimmte Zwecke verwenden dürfen. Wenn er zustimmt, dann tun wir dies und anderenfalls eben nicht. So funktioniert Datenschutz in Deutschland. Natürlich gibt es internationale Unterschiede. Für diese Einzelheiten lassen wir uns beraten und fragen bei Unklarheiten auch einmal direkt beim dortigen Regulierer nach. Dadurch finden wir relativ schnell heraus, was erlaubt ist und was nicht.
22
Wie zutreffend ist die Wahrnehmung, dass sich FintechUnternehmen vor allem auf standardisierte Produkte konzentrieren? Schneider: Über die Jahre sind Bankgeschäfte sehr komplex geworden. Beispielsweise benötigen wir heute für internationale Geschäfte Vertreter des Firmenkunden-, des Kredit-, des Zahlungsverkehrs- oder des Außenhandelsgeschäfts ebenso wie einen Juristen oder einen Datenschützer. Hier haben die Banken Kompetenz und verstehen die Geschäftsmodelle ihrer Kunden sehr genau. Auch die Banken sind dabei, die technischen Plattformen aufzubauen, mittels derer dem Kunden effiziente übergreifende Finanzprozesse ermöglicht werden können. Anfangs hat man die Fintechs als Nadelstiche oder lästige Konkurrenz wahrgenommen, oft hatte man sie als „Ein-Produkt-Unternehmen“ gewertet, die nicht die ganze Bandbreite einer Bank bieten könnten. Ebenso wie in der Automobilindustrie müssen Banken zunehmend über Fertigungstiefe und Spezialisierung nachdenken. Herfurth: Aus meiner Sicht lässt sich das nicht pauschalieren. Wir wollen natürlich überall dort, wo Technologie zum Einsatz kommt, skalierbare Prozesse haben und die Vorteile des Massengeschäfts ausspielen können. Jetzt sind wir aber im Finanzbereich, und gerade im Versicherungsbereich geht es für uns Mittler um individualisierte Beratung und die effiziente Datenkommunikation zwischen Kunden und Versicherung. Die Versicherungsindustrie hat es aber bis heute nicht erreicht, standardisierte Datenaustauschprozesse zu schaffen. Wir haben dann doch kein hochskalierbares System mehr und müssen sehen, wie wir eine möglichst weitgehende Automatisierung mit einer weitgehenden Individualisierung für den Kunden verbinden können. Und wenn wir Daten von einem Kunden zur Versicherung hin- und zurücktransportieren, müssen wir uns gute Lö-
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
Schwerpunkt | Interview sungen überlegen, weil wir von den Versicherungen teilweise noch immer Post in Papierform bekommen. Wie erfolgt bei Ihnen die Kundenberatung? Herfurth: Auch wenn manchmal Kunden zu uns ins Büro kommen, weil sie unsere Adresse im Impressum gelesen haben, haben wir keine Filiale. Der Kunde kann uns aber so kontaktieren, wie er es gern möchte. Er schreibt einen Brief, eine E-Mail, nimmt Kontakt auf per Chat oder er ruft uns an. Obgleich viele in der Versicherungsbranche sagen, das sei revolutionär, ist es das tatsächlich nicht. Sehr viele Unternehmen im Versicherungs- und auch im Bankenbereich arbeiten genauso. Obgleich Banken vieles sehr gut und sicherlich auch deutlich besser als viele Fintechs können, sieht mein OnlineBanking trotzdem aus wie in den 1990er-Jahren. Die Bedienung ist kompliziert und ich brauche eigentlich eine Bedienungsanleitung dafür. Ich möchte etwas, bei dem ich genau weiß, wie es funktioniert. Schneider: Bei Banken gibt es seit Langem Diskussionen darüber, ob die Filialbank tot ist oder in 20 Jahren tot sein wird. In der Tat verkleinern aber Banken ihre Filialnetzwerke, weil sie speziell in Toplagen hohe Kosten verursachen. Banken haben mittlerweile erkannt, dass es Kunden gibt, die auch in die Filiale kommen und substanzielle Themen wie Altersvorsorge oder eine Baufinanzierung in persönlichen Gesprächen klären möchten. Gleichzeitig wachsen aber die sogenannten „Digital Natives“ heran. Nicht zuletzt deswegen hat die Bank auch das Thema Multi-Kanal entdeckt. Es wird eine Koexistenz geben von der klassischen Filialbank mit ihren – hoffentlich immer einfacher bedienbaren – SelbstbedienungsGeräten einerseits und dem Internet oder Mobile Banking andererseits. So eine Bank haben wir in Polen mit der mBank, einem Tochterunternehmen der Commerzbank, aufgebaut. Dort kann der Kunde beispielweise eine Beraterin zuschalten lassen. Bei den Kunden kommt diese Kombination aus online und persönlicher, individueller Ansprache sehr gut an. Es gibt natürlich auch den mobilen Vertrieb, wenn jemand ein persönliches Gespräch mit seinem Bankberater am Samstagnachmittag bei sich zu Hause möchte. Letztlich müssen wir akzeptieren, dass der Kunde in unterschiedlichen Bedarfssituationen auch unterschiedliche Kanäle nutzt. Wie wird die gemeinsame Zukunft von Banken und Fintechs aussehen? Schneider: Ich glaube nicht, dass man sich entscheiden muss zwischen Fintechs und Banken, es wird einfach auf eine Ko-
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
existenz, eine Kooperation hinauslaufen. Insbesondere geht es darum, das Beste aus zwei Welten für den Kunden miteinander zu verbinden. Zukünftig wird es im Finanzwesen und auch in der Realwirtschaft immer mehr so sein, dass sich technologie- und ideengetriebene Anbieter mit klassischen zusammentun. Herfurth: Manche Fintechs sind ja auch Banken. Es ist in Deutschland nicht verboten, als Fintech eine Banklizenz zu beantragen. Ich weiß aber aus dem Versicherungsbereich, dass der Aufwand für eine Versicherungslizenz hoch ist. Trotz aller penibler Vorgaben und Schritte ist es aber kein Hexenwerk. Wir arbeiten mittlerweile mit über 70 Versicherungen in Deutschland zusammen. Weshalb? Weil wir vieles besser können als die Versicherungen und die Versicherungen vieles besser können als wir. In meinen Augen können wir alles, was sich um den Kunden und um Innovation dreht, besser. Wenn es um das Vorhalten von Kapital oder die Fähigkeit zur Bearbeitung eines hohen Schadenvolumens geht, dann hat eine Versicherung hier aufgrund des historisch bedingten Datenund Erfahrungsschatzes einfach Vorteile. Wie versuchen bestehende Finanzinstitute, eigene FintechInnovationen zu entwickeln? Schneider: Wir versuchen mittels des „main incubators“, eigene Innovationen zuzulassen. Dieser stellt Förderkapital für junge Leute mit hervorragenden Ideen bereit, die in einer Bank nie entstehen würden, weil es einfach oft am kreativen Umfeld fehlt. Um Innovationen zu fördern, müssen für gute Ideen erst einmal viele schlechte aussortiert werden. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Heute wie vor 30 Jahren kommt der Kunde in die Bank, füllt dort ein Personalstammblatt aus, beantwortet zahlreiche Fragen und dann braucht es eine Woche bis zur Kontoeröffnung sowie eine weitere Woche bis zur Zusendung der Kredit- oder Scheckkarte. Dann tätigt er die ersten Einzahlungen, ihm wird ein Limit eingerichtet und nach drei Wochen kann er zum Geldautomaten gehen und zum ersten Mal Geld abheben. Obgleich natürlich viele gesetzliche Dinge zu erfüllen sind, ist das zu lange und muss erheblich schneller geschehen. Daher greift unser 7-MinutenKonto die Analogie eines in sieben Minuten gezapften Bieres auf. Der Kunde macht mit seinem Handy ein Selfie mit seinem Personalausweis und seinem Gesicht. Mittels des „VideoIdent-Verfahrens“ kann der Kunde sich mit seinem Smartphone ein Konto eröffnen, bei dem er eine Kreditlinie von zum Beispiel 100 Euro erhält. Wenn das Bier vor ihm steht, kann der Kunde es mit seinem Smartphone bereits bezahlen.
23
Schwerpunkt | Interview
Ich beobachte bei mir im Projektgeschäft, dass man die Menschen dazu bringen muss, das Denken vom „Geht nicht, weil“ hin zum „Könnte gehen, wenn“ zu entwickeln. Herfurth: Wenn ich an meine Gründung zurückdenke und mir die Frage stelle, ob ich mich in eine solche IncubatorStruktur eines großen Finanzinstituts begeben hätte, müsste ich ganz klar sagen: Nein, hätte ich nicht. Ich wäre zu stark davon abhängig und zu sehr durch die gesetzten Unternehmensstrukturen geprägt gewesen. Das ist zugegeben etwas pauschal und es kommt immer darauf an, wie gut die Finanzinstitute letztlich den Incubator gestalten. Wie behält ein Fintech- oder InsurTech-Unternehmen seine Innovationsstärke bei? Herfurth: Wir beobachten, dass uns bereits 15 Unternehmen kopieren, und wir versuchen, hier schneller als unser Wettbewerb zu sein. Unser Innovationsprozess ist mittlerweile recht strukturiert, da wir stark gewachsen sind und entsprechende Strukturen schaffen mussten. Wir haben zwar beispielsweise plötzlich auch einen Datenschutzbeauftragten, aber das sind keine Hemmnisse. Wir haben das Glück, dass wir international großartige Menschen in unser Team holen können, die sonst niemals in der Versicherungsindustrie arbeiten würden. Es ist für uns klar, dass jeder Mitarbeiter zum Beispiel ein Ziel bekommt, ohne den Lösungsweg vorgegeben zu bekommen. Mir ist es ganz egal, wie ein Mitarbeiter das Problem löst. Wir priorisieren die Ziele und Projekte dann regelmäßig. Wenn ich das Menschen erzähle, die seit 20 Jahren in einem großen Konzern gearbeitet haben, sagen die: „Das ist wahnsinnig kreativ, wie ihr das löst.“ Ich selbst habe nie in einem solchen
24
Konzern gearbeitet, d. h. ich habe nicht den Vergleich und weiß nicht, wie man es anders machen könnte. Schneider: Ich glaube, dass wir auch ein Generationsthema haben. Ohne pauschalisieren zu wollen, hatte die Nachkriegsgeneration eher das Bedürfnis, in einem Unternehmen geführt zu werden. Es gab dort einen klaren Chef und Modelle wie „oben wird gedacht, unten wird gemacht“. Das hat sich mit der Zeit gewandelt und heute führt man durch Zielvereinbarungen. In den Universitäten wächst eine weitere Generation mit ganz anderem Wertesystem heran. Hier heißt Mobilität nicht mehr, mit 18 Jahren seinen Führerschein zu machen und sich einen gebrauchten Golf zu kaufen. Heute bedeutet Mobilität, in sozialen Netzwerken oder mit dem Rucksack in Asien unterwegs zu sein, man möchte ein leistungsfähiges, vielfältig einsetzbares Smartphone und einen superschnellen Laptop haben. Die Motivation, in ein Unternehmen mit einem Chef zu gehen, der dreimal am Tag kommt und einem sagt, was man tun soll, ist nicht mehr vorhanden. Die Leute wollen vielmehr Spaß haben und dies ist verständlich, wenn man den größten Teil seiner wachen Zeit am Arbeitsplatz verbringt. Man will mit kreativen Leuten anregende Diskussionen haben und freut sich über die Umsetzung eines tollen Projektes. Welche Herausforderungen sehen sie aus Sicht der IT? Schneider: Aus IT-Sicht bin ich der Meinung, dass man gute Ideen zum Aufbau integrierter Geschäftsmodelle adaptieren können muss. Am Ende geht es um Datenflüsse, also eigentlich um ganz klassische Themen. Es gibt diejenigen, die eine Geschäftsidee haben und auch in der Lage sind, einen Piloten
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
Schwerpunkt | Interview zu bauen, an dem man etwas zeigen kann. Am Ende geht es aber auch darum, dass man betriebssicher, revisionssicher, stabil baut und diesen Piloten dann in bestehende Geschäftsmodelle integriert. Das ist für mich die große Herausforderung. Herfurth: Bei uns ist der IT-Bereich der strukturierteste Bereich. Das liegt daran, dass die IT das Innovative nur technisch umsetzt und bei uns die Innovation vorne im Produkt entsteht. Dabei steht natürlich außer Frage, dass die Möglichkeiten der IT eine zentrale Bedeutung für die Konzeption dieser Produkte besitzen. Welche Bedeutung hat Standardsoftware bei den Plattformen? Schneider: Mittlerweile haben sich die organisatorischen und IT-mäßigen Defizite der Banken gezeigt. Beispielsweise sind große Kredit-, Zahlungsverkehr- und Kontensysteme über 30 Jahre alt und nicht mehr effizient zu warten. Jede Regulierung, jede fachliche Änderung kostet ein Vermögen. Die Banken versuchten, mit Web-Front-Ends „vorne“ zu modernisieren und „hinten“ gleichzeitig das alte System abzulösen. Mittlerweile haben wir an vielen Stellen Standardsoftware im Einsatz, etwa bei der Finanzplattform. Die Bank sollte versuchen, in nicht-wettbewerbsrelevanten Bereichen – etwa der normalen Kontobuchung oder der Finanzbuchhaltung – Standardsoftware zu nutzen. Es gibt natürlich auch Systeme, die einen spezifischen Wettbewerbsfaktor bilden, etwa wenn es um das Kreditrisikomanagement geht. Die Fähigkeit zur Kalkulation von Kreditrisiken aus historischen Daten heraus ist eine Kernkompetenz und damit geeignet für eine Eigenentwicklung. Aber die Frage des Make or Buy, ob man also eine Dienstleistung eines professionellen Spezialisten zukauft, stellen wir regelmäßig. Herfurth: Deswegen machen wir vieles selbst. Dies betrifft vor allem die Handhabung von Kundendaten, die gerade bei Versicherungs- und Finanzlösungen äußerst sensibel ist. Grundsätzlich hängt die Frage nach Eigenentwicklung oder Standardsoftware bei uns vom zu lösenden Problem ab. Mitarbeiter überlegen dann, ob sie es selbst machen können oder ob es ein Externer besser kann als wir selbst. Sollte jemand eine überzeugende Lösung anbieten, dann kaufen wir diese. Beispielsweise haben wir vor etwa fünf Jahren festgestellt, dass viele Kunden ihre Unterschrift nicht auf das Papier setzen, sondern diese am Computer leisten wollten. Wir haben Lösungen am Markt identifiziert und gleichzeitig über eigene diskutiert. Dann haben wir uns dazu entschlossen, eine externe Lösung zu übernehmen. Ebenso existieren Lösungen zur
Wirtschaftsinformatik & Management
3 | 2016
Identifikation von Kunden indem diese ihren Ausweis in die Kamera halten, die wir am Markt gekauft haben. Bei anderen Sachverhalten entwickeln wir wiederum selber. Eigentlich sind wir ein IT-Unternehmen, das auch Versicherungen macht, und nicht umgekehrt. Wir sind kein Versicherungsunternehmen, das IT-Leistungen anbietet. Wie sieht aus Ihrer Sicht die Zukunft der Fintech-Branche aus? Herfurth: Wenn ich für den Versicherungsbereich spreche, glaube ich, dass die gegenwärtigen Entwicklungen die gesamte Branche zum Umdenken bringen werden. Wir werden dies bereits in den nächsten fünf Jahren sehen. Die großen Versicherungsunternehmen werden vieles von uns übernehmen. Und das wird dazu führen, dass die Kunden in kurzer Zeit mit diesen Produkten zufriedener sein werden. Natürlich wird es weitere Produktinnovationen geben und ich kann mir auch vorstellen, dass Fintechs stärker mit anderen Unternehmen zusammenarbeiten, um dadurch den Kundennutzen zu verbessern. In die Zukunft schauen kann ich nicht, aber wahrscheinlich werden die Unternehmen gewinnen, die am besten verstehen, was der Kunde haben möchte, und sich dann am schnellsten darauf einstellen können. Schneider: Einerseits geht es immer darum, sich intelligente Modelle zu überlegen, wie man diese Bedürfnisse des Marktes bestmöglich befriedigen kann. Andererseits kann es günstiger sein, eine vorhandene Technologie gut zu verstehen und zu abstrahieren, wie man diese einsetzt. Wenn man auf dem Gebiet der Informatik forscht, dann treffen wir hier die Grundlagen für Blockchain oder Bitcoin ebenso wie für verschiedene Verschlüsselungstechnologien. Es gibt viele technologische Lösungen, die ein Anwendungsproblem suchen. Früher hat man gesagt, die Großen „fressen“ die Kleinen, danach hieß es, die Schnellen „fressen“ die Langsamen und jetzt sagt man, die Adaptiven „fressen“ die weniger Adaptiven. Erfolgreich werden in meinen Augen diejenigen sein, die aus allem das Beste heraussuchen und daraus etwas Überzeugendes erstellen. Womit man wieder bei den klassischen Führungs- und Organisationsthemen wäre, die es bereits seit vielen Jahren gibt! Literatur [1] Zum Net Promoter Score (NPS) vgl. zum Beispiel Jacob, M., Kundenorientierte Evaluation von Webpräsenzen, in: Wirtschaftsinformatik & Management 6 (2014) 5, S. 50-57.
25