Z Literaturwiss Linguistik (2016) 46:5–24 DOI 10.1007/s41244-016-0003-9 LABOR
Fiunfzehen stivcke an der tragheit. Die Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus als Quelle des ältesten nach hochscholastischer Systematik angelegten Beichttraktates deutscher Sprache Matthias Rein
Online publiziert: 4. April 2016 © J.B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2016
Zusammenfassung Das mittelhochdeutsche Bihte buoch, der erste deutsche Beichttraktat, der die Lehren der scholastischen Summæ zum Thema unter das Volk bringt, ist ein immer noch wenig bekannter Text. Vor allem die Frage nach den Quellen des deutschen Textes wurde bisher nicht eingehend untersucht. Ebenso unbekannt ist überraschenderweise Wilhelm Peraldus’ Summa de vitiis, obwohl diese laut Michael Evans „the most ambitious of the scholastic treatises on the vices“ war und zu den „most widely circulated, the most influential, and the most original“ Traktaten dieser Art zählte. Wie hier gezeigt wird, wurde die Summa de vitiis im letzten Teil des Bihte buoch rezipiert. Die vorliegende Untersuchung bildet damit den ersten Versuch, die Quellen des deutschen Traktats ans Licht zu bringen. Insbesondere resultiert die Rezeption der Summa de vitiis nicht einfach aus der Zusammenstellung eines deutschen Textes auf Basis der Übersetzung einer lateinischen Quelle, sondern eher aus einer aktiven Aneignung und Neuschöpfung nach einer scholastischen Vorlage mit eigenen Betonungen des Autors des deutschen Textes, die Schwerpunkte seiner pastoralen Praxis verdeutlichen – eine eher neue Problematik zur Zeit der Entstehung des Textes, die allerdings besonders in den Beichttraktaten verhandelt wurde.
In diesem Beitrag wird das mittelhochdeutsche Bihte buoch, da die durch mich vorbereitete kommentierte Neuedition erst demnächst erscheinen wird, aus Gründen der Nachprüfbarkeit noch nach der auf der Basis der ältesten, leider unvollständigen Handschrift, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. All. 127, erstellten Ausgabe Bihtebuoch, dabey die Bezeichenunge der heil. Messe. Beichtbuch aus dem XIV. Jahrhundert. Mit Glossen. Hg. Jeremias Jacob Oberlin. Straßburg 1784, zitiert – das in der Überschrift Zitierte steht dort S. 68. Diese Edition ist als gedrucktes Buch heute selten, aber als Digitalisat im World Wibe Web leicht zu beschaffen, z. B. unter http://www.mdz-nbnresolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10591099-6 (14.8.2014). Dr. M. Rein () Universität des Saarlandes, Germanistik Saarbrücken, Deutschland E-Mail:
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Schlüsselwörter Pragmatische Schriftlichkeit · Überlieferungsgeschichte · Beichtliteratur · Frömmigkeitsgeschichte · Scholastik
Wilhelm Peraldus’s Summa de vitiis in the oldest surviving treatise on confession in German structured along scholastic systematizations of the ,method‘ of confession Abstract The Middle High German Bihte buoch, first German treatise on confession vulgarizing the teachings of scholastic Summæ on this subject to survive, is a text still largely unknown to the public. Especially the question of the sources of the German treatise was not seriously tackled up to the present. Surprisingly not very much better known is Wilhelm Peraldus’s Summa de vitiis, though „the most ambitious of the scholastic treatises on the vices“ and „among the most widely circulated, the most influential, and the most original“ of them, as Michael Evans stated. As is shown here, the Summa de vitiis was received in the last portion of the Bihte buoch. So, the present study is a first essay in unearthing the sources of the German treatise. More specifically, the reception of the Summa de vitiis in the Bihte buoch is demonstrated in this paper not to be the result of the simple processes of translating a Latin source and so compiling a German text, but more as an active adoption and new creation after a scholastic antetype, with distinct emphases from the author of the German text showing his personal focal points in pastoral care – an issue rather new at the time of the redaction of the text, but eminently stimulated especially in treatises on confession. Keywords Pragmatic literacy · History of transmission · Confessional literature · History of piety · Scholasticism
Das mittelhochdeutsche Bihte buoch Nachdem sich die germanistische Forschung für die zuvor recht gering geschätzte spätmittelalterliche Literatur insgesamt erstmals intensiver zwischen den beiden Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts interessiert hat, sind seit den 1950er-Jahren auch die gegen Ende des Mittelalters in der (spät-)mittelhochdeutschen Volkssprache verfassten Gebrauchstexte zunehmend Gegenstand der Erforschung geworden. Die seit der gleichen Zeit verstärkte Hinwendung zu volkssprachiger Fachliteratur hat sich dann lange Zeit mehr zum einen auf die avant la lettre naturwissenschaftlichen, zum anderen auf die spekulativ-hochtheologischen und philosophischen Texte konzentriert. Erst im Kontext des ab den 1970er-Jahren von der Würzburger Forschergruppe für Prosa des deutschen Mittelalters um Kurt Ruh entwickelten über-
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Werner Williams-Krapp („Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick“. In: IASL 25 [2000], Heft 2, S. 1–21, hier S. 10 f. mit Anm. 30) beschreibt – und kritisiert – einen zu engen Begriff. Als „Gebrauchsliteratur“ können m. E. ohne die bemängelten Fehldeutungen alle Texte bezeichnet werden, die – unabhängig von der äußeren Form (Vers/Prosa) – in erster Linie mit pragmatischer Absicht verfasst und/oder bearbeitet und/oder rezipiert wurden.
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lieferungsgeschichtlichen Forschungsansatzes geriet auch die Gebrauchsliteratur1 in den Horizont der literaturgeschichtlichen Erforschung. Um solche Gebrauchsliteratur – pastorales, nicht theologisch-spekulatives religiöses Schrifttum – im durchaus engen Sinne handelt es sich beim hier nur in Kürze vorzustellenden Bihte buoch2. Die Forschung hat das Werk bisher noch nicht seinem im Folgenden anzudeutenden praktischen Nutzen gemäß gewürdigt. Bisherige Darstellungen3 verblieben stets bestenfalls kursorisch. Insbesondere Untersuchungen zu den Quellen des Traktates fehlten bisher ganz. Einen ersten Ansatz dazu an einem kleinen Teilabschnitt des Traktats stellt der vorliegende Beitrag dar – der Stellenkommentar zur Textedition wird dies auf den ganzen Text bezogen fortführen, ergänzen und vertiefen. Der Text beginnt mit einem konzeptionell als prologus præter rem zum Traktat hinführendes Gefüge zweier Gebete und zweier Bekenntnistexte, dem ein zweiter Prolog ante rem folgt, der ausgehend von der sechsten Seligpreisung der Bergpredigt (Mt 5,8) den Weg zur seligmachenden Schau Gottes auf der Grundlage des korrekten Vollzuges des Beichtsakramentes in einer Kette von Argumenten lückenlos absteigend den Rezipienten vorbildlich scholastisch-didaktisch nahebringt. Der folgende erste Hauptteil erläutert diesen korrekten Sakramentsvollzug aus der Sicht der Beichtenden mittels des rhetorischen Fundamentalprinzips der enumeratio anhand folgender Betrachtungsebenen: der Grundeinstellung des Beichtenden, vier Hauptprinzipien der Beichtablegung (Reue, Zügigkeit, Wiederholung der Beichte bei Wiederholung der Sünde und Vollständigkeit), dann neun Haupteigenschaften des Bekenntnisses (ungezwungen, dogmatisch und juristisch korrekt, nur die eigenen Sünden einbeziehend, ohne die eigenen Sünden auf Andere abzuwälzen, wahrhaftig, 2
Diesen Titel enthält der Epilog des Textes selbst, vgl. Oberlin (s. Vorbemerkung), S. 74 (zitiert unten, S. 19). 3 Sie setzen erst beinahe 120 Jahre nach Oberlins Abdruck der in seinem Besitz befindlichen Handschrift (s. Vorbemerkung) ein, der in seiner unpaginierten Vorrede bereits einen ersten Forschungsbeitrag enthält, und lassen sich noch immer in einer einzigen Fußnote vollständig bibliografieren: Pfleger, Luzian: „Fr. Ludwig Schönmerlin, ein Thanner Franziskaner des ausgehenden 15. Jahrhunderts“. In: Straßburger Diözesanblatt und Kirchliche Rundschau 21 N. F. 4 (1902), S. 107 f.; Paulus, Nikolaus: „Die Reue in den deutschen Beichtschriften des ausgehenden Mittelalters“. In: Zeitschrift für katholische Theologie 28 (1904), S. 1–36, hier S. 17 f.; Stammler, Wolfgang: „Mittelalterliche Prosa in deutscher Sprache“, in: Ders. (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriss. Berlin 21960, Bd. 2, Sp. 749–1102, hier Sp. 817 f.; Weidenhiller, Egino: Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters. Nach den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. München 1965, S. 238, Nr. 13; Schneider, Karin: „Schönmerlin, Ludwig“. In: 2VL 8 (1992), Sp. 827 f.; Dies., Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis. Editio altera. Wiesbaden 1996, Bd. V/7: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001–5247 neu beschrieben, S. 352–358; Dies.: „,Bihtebuoch‘“. In: 2VL 11 (2004), Sp. 248 f.; Dies.: „Schönmerlin, Ludwig [Korr.]“. In: 2VL 11 (2004), Sp. 1384; Dies.: „Einleitung“, In: Pseudo-Engelhart von Ebrach: Das Buch der Vollkommenheit. Hg. Dies. Berlin 2006, S. IX-LXVIII, bes. S. XIII; Dies.: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Wiesbaden 2009, Bd. 2: Die oberdeutschen Schriften von 1300 bis 1350, Textband, S. 131; Dies.: Freising, Dombibl., Hs. 20 (früher K Ia 17) (Marburger Repertorium), http://www.mr1314.de/3059 (14.8.2014); Ruge, Nikolaus: „Asketische Repräsentation und Lektüre. Von der ,Vita S. Elyzabeth‘ zum ,Bihtebuoch‘“. In: Gottfried Kerscher/Gerhard Krieger (Hg.): Askese im Mittelalter. Beiträge zu ihrer Praxis, Deutung und Wirkungsgeschichte. Berlin 2010, S. 52–65; Rein, Matthias: Conversio deutsch. Studien zur Geschichte von Wort und Konzept ›bekehren‹, insbesondere in der deutschen Sprache des Mittelalters. Göttingen 2012, S. 399–401. Die Einleitung zur kommentierten Edition wird einen ausführlichen Forschungsbericht enthalten.
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unmittelbar, geordnet, ohne Eitelkeit und besonnen) und schließlich acht Umständen, die sich auf die Wertung der Sünde als leichtere oder schwerere auswirken. Im zweiten Hauptteil, in dem explizit und illustriert durch zahlreiche Beispiele die Haupt- und die davon abgeleiteten Tochtersünden systematisch vorgestellt und behandelt werden, kommt dann nach der formalen die inhaltliche Seite des Bekenntnisses im Sakrament der Versöhnung zur Sprache. Diesen bloß als „Beichtspiegel“ zu verstehen, von dem kürzere oder längere Versionen bereits aus dem Frühmittelalter und ungebrochen bis zur Krise des Beichtsakramentes in der Reformation in zahlreichen volkssprachigen Fassungen überliefert sind – und im katholischen Bereich freilich noch in der Gegenwart in rezenten Fassungen Verwendung finden –, würde die Intention des Textes verfehlen, was der außerordentlich knappe Epilog deutlich macht: Alles, was dem im Traktat Angesprochenen analog zu verstehen ist, soll gleichermaßen wie das explizit Thematisierte in der Beichtvorbereitung in den Blick genommen und seinerseits gegebenenfalls bekannt werden. Es handelt sich daher bei den Ausführungen des zweiten Hauptteiles des Bihte buoches durchaus nicht um eine abzuarbeitende Liste, sondern vielmehr um eine exemplarische Anleitung das eigene Gewissen zu schulen, um für die Vielgestaltigkeit und intuitive Undurchschaubarkeit des Phänomens Sünde zunehmend sensibler zu werden. Eine solche methodische Darstellung aller möglichen leichten bis schweren menschlichen Vergehen gegen Gott und die Mitmenschen hatte nun – bei aller scholastischen Prägung des Aufbaus – den ganz und gar praktischen Sinn, dem Laien die Vorbereitung auf das Sakrament der Versöhnung in der Beichte in der in der mittelalterlichen Kirche als einzig korrekte Form angesehenen, möglichst vollständigen individuellen Ohrenbeichte gegenüber dem Priester zu ermöglichen, indem sie ihm einen systematischen und durch die Volkssprachigkeit auch gangbaren Weg bot, das eigene Gewissen gezielt und methodisch nach tatsächlich begangenen Sünden zu durchforsten. Andere, darauf weist das Werk explizit hin, sind im Sinne der unbedingt erstrebenswerten Wahrhaftigkeit des mündlichen Bekenntnisses auch keinesfalls zu beichten. Die Beichte war für den Christen die Voraussetzung zur Zulassung zu anderen Sakramenten, v. a. dem der Eucharistie, durch das er die volle Gemeinschaft mit seiner Kirche leben konnte – was ihm im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein darüberhinaus auch die seinem ordo, seiner sozialen Situation, zukommende volle gesellschaftliche Anerkennung sicherte. Daraus wird ersichtlich, welch große praktische Bedeutung ein solcher Traktat in der Volkssprache für Laien und für seelsorglich Tätige hatte, zu dem es natürlich viele zeitgenössische, frühere und spätere Gegenstücke in Latein gab, die dem Laien als der Gelehrtensprache Unkundigen aber unzugänglich waren. In der Volkssprache setzt die Beichttraktatliteratur nach bisherigen Erkenntnissen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein. Als ältester traktatartiger, aber in das Gewand eines Sermo gekleideter Text – und nicht lediglich als Beichtvorlage, wie die althochdeutschen und auch alle von Bruchhold (wie Anm. 8) edierten mittelhochdeutschen „Beichten“ – können die ersten drei Viertel (das letzte Viertel besteht aus anderen katechetischen Stücken) des
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Sermo de adam et de trangressione mandati4 aus der in die Mitte des 13. Jahrhunderts zu datierenden5 ersten Sammlung der Leipziger Predigten gelten. Nach einer Zuordnung der sieben Todsünden an Adam, die bereits mehrere Überschneidungen aufweist (S. 30, Z. 30–39) und einer allgemeinen Exhortatio zur Buße in Verbindung mit einer Warnung vor Verzweiflung (S. 30, Z. 40 – S. 31, Z. 7) werden S. 31, Z. 7 – S. 34, Z. 20 einundzwanzig Eigenschaften einer guten Beichte aufgezählt, die nicht systematisch angeordnet und/oder klassifiziert sind und häufig nur neue Akzentsetzungen gegenüber bereits Behandeltem darstellen. Die Beichteigenschaften werden teils mit lateinischen Bezeichnungen eingeführt, und lateinische auctoritates aus der Schrift oder den Vätern dienen häufig zur Untermauerung des Gesagten. Man wird daher sicher ein Ausgehen von einer lateinischen Vorlage annehmen dürfen, die der Vorlage des entsprechenden Abschnittes des Bihte buoches gegenüber älter erscheint und noch nicht nach scholastischem Vorbild durchsystematisiert ist. Als mündlich vorgetragene Predigt kann man sich den Sermo freilich nicht leicht vorstellen, durchaus aber als Lesepredigt oder als „Steinbruch“ für einen Prediger, der als Benutzer der Sammlung die materia für seine Predigt zu einem entsprechenden Thema suchte. Von seiner Struktur her steht der Text daher zwischen den Gattungen Predigt und Traktat: Als ganzer kann er keiner von beiden zugeordnet werden. Gegenüber der Zusammenstellung einander noch vielfach überschneidender und sich wiederholender gewünschter Beichteigenschaften in diesem ältesten der deutschsprachigen Beichttraktate, einem – mit Volker Mertens6 gesprochen – Text, der erst „unterwegs“ von der Gattung Predigt zur Gattung Traktat war, stellt dann das mittelhochdeutsche Bihte buoch einen deutlichen Qualitätssprung dar, da es nicht nur eine auf der Basis hochscholastischer Standardwerke zur Beichte durchsystematisierte Anweisung zur korrekten Beichte, sondern auch eine Lehre von den Sünden als deren Inhalt bietet, wozu der frühere Text nicht vordringt. Man kann daher das mittelhochdeutsche Bihte buoch den ältesten nach hochscholastischer Systematik angelegten deutschsprachigen Beichttraktat nennen. Mehrere Indizien sprechen dafür, die Entstehung des originalen Textes, von dem freilich alle erhaltenen Textzeugen Abschriften sind (was kopiale Fehler beweisen), schon um 1300 anzusetzen: Die nachweislich benutzten Quellen sind nicht später als Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden, der vermutlich älteste allerdings bereits abschriftliche Textzeuge (die Handschrift, die Oberlin [s. Vorbemerkung] abgedruckt ist) kann ins zweite Viertel des 14. Jahrhunderts datiert werden und im Zusammenhang mit der zweiten Haupteigenschaft des Bekenntnisses in der Beichte – nämlich, dass sie dogmatisch und juristisch korrekt erfolgen soll, damit der Beichtende zu Recht darauf vertrauen kann, dass
4 Deutsche Predigten des XIII. und XIV. Jahrhunderts. Hg. Hermann Leyser. Quedlinburg/Leipzig 1838, S. 30–36. 5 Vgl. Mertens, Volker: „Studien zu den ›Leipziger Predigten‹“. In: PBB 107 (1985), S. 240–266, hier S. 248. 6 Mertens, Volker: „,Texte unterwegs‘. Zu Funktions- und Textdynamik mittelalterlicher Predigten und den Kosequenzen für ihre Edition“. In: Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok (Hg.): Mittelalterforschung und Edition. Actes du Colloque Oberhinrichshagen bei Greifswald 29 et 30 Octobre 1990. Göppingen 1991, S. 75–85, bes. S. 83 f.
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ihm seine Sünden nachgelassen sind – heißt es, dass der Beichtvater Vollmacht von dem babest von rome haben soll, Beichte hören zu dürfen. Zwischen 1309 und 1376 residierten sieben Päpste aber in Avignon; ein Schisma mit zwei Päpsten, von denen einer in Rom saß, gab es erstmals wieder 1378. Die Passage fehlt leider aufgrund von Blattverlust in der von Oberlin (s. Vorbemerkung) abgedruckten Handschrift; ich zitiere oben nach dem zweitältesten – und ältestem vollständigen – Überlieferungsträger, Freising, Dombibliothek, Hs. 20, f. 13r (Hervorhebung von mir). Die meisten erhaltenen volkssprachigen Beichttraktate stammen erst aus dem 15. Jahrhundert. Das Bihte buoch steht somit fast ganz am Beginn dieser literarischen Gattung in Volkssprache. Der Text ist – dem anzunehmendem Alter der Zeugen nach – zunächst in alemannischem Dialekt in einer Handschrift überliefert, die sich im 18. Jahrhundert im Besitz des Straßburger Philologen Jeremias Jacob Oberlin (1735–1806) befand, der den schon damals leider unvollständigen Textbestand abdrucken ließ. Entgegen der noch 2004 im Nachtragsband des Verfasserlexikons geäußerten Ansicht7 ging Oberlins Handschrift aber nicht in der Nacht vom 24. auf den 25.8.1870 während der Belagerung Straßburgs durch die preußische Armee beim Brand der Stadtbibliothek verloren, sondern konnte 2010 von Ullrich Bruchhold mit dem Ms. All. 127 der Bibliothèque Nationale de France in Paris identifiziert werden,8 was sich inzwischen durch Autopsie an der Handschrift zweifelsfrei bestätigen ließ.9 Etwas jünger und leider auch etwas reicher an Fehlern, aber dafür durch den unschätzbaren Wert der Vollständigkeit der Textüberlieferung gekennzeichnet, ist die vielleicht aus dem südrheinfränkisch-alemannischen Übergangsgebiet stammende Handschrift 20 der Freisinger Dombibliothek (zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts), die bisher nicht ediert worden ist. Zu den beiden textlich weitestgehend übereinstimmenden alten Überlieferungsträgern des Bihte buoches hinzu tritt denn auch eine „geringfügige Überarbeitung“10 durch den elsässischen Franziskaner Ludwig Schönmerlin, die der Münchner cgm 4700 aus dem Jahre 1483 überliefert. Sie greift in der Blütezeit 7
Schneider, „Schönmerlin, Ludwig [Korr.]“ (wie Anm. 3).
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Bruchhold, Ullrich: Deutschsprachige Beichten im 13. und 14. Jahrhundert. Editionen und Typologien zur Überlieferungs-, Text- und Gebrauchsgeschichte vor dem Hintergrund der älteren Tradition. Berlin/New York 2010, S. 40, Anm. 7. 9 Ich konnte die Handschrift im Oktober 2013 in Paris einsehen. Handschriftliche Eintragungen auf dem Vorderdeckel des Ms. All. 127 legen einen Erwerb durch die Bibliothèque Royale in Paris – Vorgängerin der heutigen Bibliothèque Nationale de France – im Jahre 1833 nahe. Nach Delisle, Léopold: Le Cabinet des Manuscrits de la Bibliothèque Nationale. Paris 1874, Bd. 2, S. 290, hat diese schon 1829 einige Handschriften aus Oberlins Besitz angekauft, 1833 dann etwa vierhundert lateinische und deutschsprachige Urkunden, Siegel und Wachstafeln des 14. Jahrhunderts aus seinem Kabinett und 1835 die literarische Korrespondenz des Gelehrten. Delisles Angaben widersprechen also nicht direkt einem Erwerbsdatum des Ms. All. 127 im Jahre 1833. In jedem Fall befand sich die Handschrift schon fast vierzig Jahre vor dem Brand der Stadtbibliothek nicht mehr in Straßburg. In einer öffentlichen Bibliothek Straßburgs befand sie sich ohnehin vermutlich niemals; sie wurde wohl direkt von Oberlins Erben an die Bibliothèque Royale verkauft. Die Hypothese, die Handschrift sei 1870 in Straßburg verbrannt, beruht letztlich auf einer Verwechslung mit einer anderen Handschrift, vgl. „Errata in Bd. 11 und weitere Nachträge“. In: 2VL 11, S. XIII, s.v. ,Bihtebuoch‘. 10
Schneider, „,Bihtebuoch‘“ (wie Anm. 3), hier Sp. 249.
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volkssprachiger Beichtliteratur einen frühen Text wieder auf und passt ihn leicht an die Bedürfnisse der eigenen Zeit an.11 Dass keine grundlegende Überarbeitung notwendig war, spricht sicher implizit für die pragmatische Qualität des Textes. Dass das Bihte buoch dagegen nicht breiter überliefert ist, sollte angesichts des notwendig kleinen Wirkradius solcher Schriften nicht verwundern und spricht aus dem gleichen Grund auch nicht gegen seine praktische Nützlichkeit. Als Gebrauchsliteratur wurden solche Werke in erster Linie im Hinblick auf eine konkrete Rezipientengruppe konzipiert, konnten dann allerdings davon abstrahierend durchaus häufiger so allgemein-methodische Züge annehmen wie der hier vorgestellte Text. Im Übrigen ist bei Gebrauchsliteratur auch aus dem gleichen Grund eher mit Überlieferungsverlusten zu rechnen: In der Krise des Beichtsakramentes in der Reformationszeit befanden sich Handschriften eines solchen Textes als Thematisierung einer als überholt angesehenen Praktik stets in der Gefahr der Makulierung.
Die Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus Nicht allzu viel größer – stellt man in Rechnung, welche enorme Rezeption die Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus im späteren Mittelalter und bis durchaus weit hinein in die Frühe Neuzeit gefunden hat – ist auch der Forschungsertrag zu diesem bekanntesten mittelalterlichen Traktat über die Laster bzw. Hauptsünden und zu seinem Autor. In knappest möglicher Formulierung charakterisierte Michael Evans die Summa de vitiis als „the most ambitious of the scholastic treatises on the vices; it was also among the most widely circulated, the most influential, and the most original“.12 Über Wilhelm, den Autor, ist nur wenig Gesichertes bekannt: Sehr wahrscheinlich ist der Beiname Peraldus ein Herkunftsname und bezieht sich auf den kleinen Ort Peyraud unweit der Rhône, etwa auf einem Drittel des Weges von Vienne südwärts nach Valence (heute département Ardèche, arrondissement Tournon-sur Rhône, canton Serrières). Wilhelm war Dominikaner, predigte als Gast, aus Lyon kommend, in der Fastenzeit 1249 in Vienne und wird in einer Urkunde vom 3. Februar 1261 als Prior des Dominikanerkonvents von Lyon bezeichnet. Damit en-
11 Nach Schneider, „Schönmerlin, Ludwig“ (wie Anm. 3), hier Sp. 828, ist Schönmerlins Text, den der Mendikant auch selbst in den heutigen cgm 4700 eingetragen hat, „im wesentlichen die Abschrift“ des älteren Beichthandbuchs, und seine „Redaktionsarbeit beschränkt sich auf Modernisierungen altertümlicher Wörter, vereinzelte Ergänzungen, z. B. durch Zitate, und auf eine abweichende Zusammenstellung der Töchter der Hauptsünden (222v-224v). Im Übrigen stimmt der Text des cgm 4700 mit Oberlins Druck der älteren Hs., mit Ausnahme einer abschließenden Beichtformel für Geistliche (251v-260v), überein.“ Dieser Einschätzung hinzuzufügen ist als Ergebnis der Transkription und synoptischen Gegenüberstellung aller nunmehr bekannten Textzeugen des Bihte buoches, dass Schönmerlin auch häufig auf der syntaktischen Ebene eingreift – kürzend und glättend, aber auch, zumindest für den an das Mittelhochdeutsche des 13. Jahrhunderts Gewöhnten, nicht selten komplizierend. Vereinzelt strafft er recht beherzt, ebenso vereinzelt dehnt er die Ausführungen aber auch aus. Mit den beiden erwähnten abweichenden Passagen wird sich die Einleitung der entstehenden kommentierten Ausgabe ausführlicher beschäftigen. 12 Evans, Michael: „An Illustrated Fragment of Peraldus‘s Summa of Vice: Harleian MS 3244“. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 45 (1982), S. 14–68, hier S. 14.
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den die urkundlich gesicherten Daten.13 Antoine Dondaine hält es darüber hinaus für vertretbar, seine Geburt um 1200 anzusetzen und einem Kolophon einer Handschrift der Summa de vitiis aus dem 14. Jahrhundert (Valencia, Kathedralbibliothek, Núm. 133) Glauben zu schenken, das als sein Sterbedatum 1271 nennt.14 Die Bischofswürde in Lyon oder in Paris, die ihm spätere Biografen zugeschrieben haben, hält er dagegen für legendarische Erweiterung der dürftigen Faktengrundlage,15 ebenso die v. a. in italienischen Quellen begegnende Zuschreibung des Amtes eines päpstlichen Pönitentiars, eines Sonderbevollmächtigten für das Bußsakrament, an ihn.16 Seine Summa de vitiis schrieb Wilhelm vor 1236, während die häufig mit dieser zu einem vermeintlich einheitlichen Text zusammengeworfene17 Summa de virtutibus erst vor 1248 verfasst wurde.18 Die Zahl der erhaltenen Handschriften der beiden Summen ist eindrucksvoll hoch.19 Aus ihr allein lässt sich auf eine herausragende Bedeutung der Werke in der spätmittelalterlichen abendländischen Christenheit schließen. Eine moderne Edition beider Traktate des Wilhelm Peraldus ist weiterhin ein nicht eingelöstes Desiderat der Forschung, das offensichtlich bisher an eben der schier überwältigenden Fülle zur Verfügung stehender Textzeugen gescheitert ist, von der soeben die Rede war. Der Versuch von Heinz Martin Werhahn, die Summa de vitiis als Ganzes und von Catherine Gutowski, aus ihr wenigstens den tractatus quartus de avaritia zu edieren, hat nicht zu einer Textpublikation geführt.20 Das Peraldus Project im WWW (http://www.unc.edu/~swenzel/peraldus.html [14.8.2014])
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Vgl. Dondaine, Antoine: „Guillaume Peyraut. Vie et Œuvres“. In: Archivum Fratrum Praedicatorum 18 (1948), S. 162–236, hier S. 163.
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Vgl. Dondaine (wie Anm. 13), S. 167 [VII] mit Anm. 15, S. 169 und S. 179–181. Vgl. Dondaine (wie Anm. 13), S. 174–177. Vgl. Dondaine (wie Anm. 13), S. 177–179.
Michiel Verweij („The Manuscript Transmission of the Summa de virtutibus by Guillielmus Peraldus. A Preliminary Survey of the Manuscripts“. In: Medioevo. Rivista di Storia della Filosofia Medievale 31 [2006], S. 103–296, hier S. 104 f.) kritisiert mit zwingender Begründung die häufige Praxis, nach dem Vorbild vieler Drucke beide Summen zu einem Werk „zusammenzuziehen“: „This is incorrect: both works were conceived as independent writings, as appears from their structure. The two Summae do not correspond and no attempt at establishing relationships between the sets of vices and virtues has been made. Moreover, whereas there are references to the Summa de vitiis in the younger work, such references in the Summa de vitiis to the work on virtues are absent. As the text covers a fair amount of folios (roughly 200–250 folios), most manuscripts (in the sense of volumes) have only one Summa. [...] As a consequence, both works have their own textual transmission and tradition, and any study of the two should depart from acknowledging this basic fact.“ 18 So Wenzel, Siegfried: „The Continuing Life of William Peraldus’s Summa vitiorum“. In: Mark Durham Jordan/Kent Emery Jr. (Hg.): Ad litteram. Authoritative Texts and Their Medieval Readers. Notre Dame, IN/London 1992, S. 135–164, hier S. 136. 19 Vgl. die Listen bei Kaeppeli, Thomas: Scriptores Ordinis Prædicatorum Medii Ævi. Rom 1975, Bd. 2: G-I, S. 134–142; Ders. und Panella, Emilio: Scriptores Ordinis Prædicatorum Medii Ævi. Rom 1993, Bd. 4: T-Z. Addenda et Corrigenda, S. 106, und zuletzt – freilich nur für die Handschriften der Summa de virtutibus – Verweij (wie Anm. 17). Eine Zusammenstellung auf neuestem Kenntnisstand zur Überlieferung der Summa de vitiis ist ein dringendes Desiderat der Forschung. 20 Vgl. „Forschungsmitteilungen“. In: Mittellateinisches Jahrbuch 20 (1985), S. 313 f. und Gutowski, Catherine: „Le Traité De Avaricia extrait de la Summa de viciis de Guillaume Peyraut“. In: Positions des Thèses soutenues par les élèves de la promotion de 1975 pour obtenir le Diplôme d’Archiviste-Paléographe (1975), S. 104–112. Die dort angezeigte Dissertation ist ungedruckt geblieben.
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bietet daher willkommene Materialien für die Forschung – u. a. Teiltranskriptionen der Summa de vitiis nach dem Lyoner Druck von 1668, der zwar ähnlich wie Oberlins Bihte buoch-Ausgabe inzwischen auch als Digitalisat verfügbar ist,21 dessen Lesbarkeit allerdings zuweilen zu wünschen übrig lässt.22 Die Bedeutung des Werkes erhellt freilich noch deutlicher aus der nicht bloß reproduzierenden, sondern adaptierenden und weiterentwickelnden Rezeption in Texten anderer Autoren. Im hier vorliegenden Kontext ist natürlich die deutschsprachige Rezeption der Summa de vitiis von vorrangigem Interesse, über die der Überblicksartikel von Gunhild Roth im Verfasserlexikon informiert.23
Die Rezeption der Summa de vitiis im Bihte buoch Die Rezeption der Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus im ältesten nach hochscholastischer Systematik angelegten deutschsprachigen Beichttraktat, dem Bihte buoch, steht, wenn der zeitliche Ansatz für den deutschen Traktat um 1300 zutrifft (s. o., S. 5), gemäß Roths Aufstellung chronologisch an zweiter oder dritter Stelle nunmehr bekannter Zeugnisse in mittelalterlicher deutscher Literatur. Sie findet sich im achten und letzten Abschnitt des zweiten Hauptteiles des Traktats – was weitgehend dem Kapitel 17 von Oberlins Edition entspricht (S. 68–74). Im Unterschied insbesondere zu den beiden vorangegangenen Abschnitten des zweiten Hauptteils des Bihte buoches (Oberlins Kapitel 15 und 16, S. 59–68) ist dieser abschließende Abschnitt zur tragheit durch eine besonders intensive Durchgliederung hervorgehoben. Diese liegt in der Komplexität der konzeptgeschichtlich besonders alten und erheblichen Wandlungen im Verständnis unterworfenen Hauptsünde der Trägheit (acedia) begründet, vor allem in deren ansehnlicher Bedeutungsbreite, so wie man sie in einem langen Prozess vom Früh- zum Hochmittelalter zu verstehen gelernt hatte: Man verband im beginnenden Spätmittelalter mit ihr nicht mehr nur, wie ursprünglich bei Evagrius Ponticus (um 345–399) und Johannes Cassianus (um 360 – um 435), eine typisch mönchische Problematik bzw. Verfehlung, sondern etwas, das 21
Z. B. http://books.google.de/books?id=flc7vaps2qwC&pg=PP5(14.8.2014) und http://books.google.de/ books?id=flc7vaps2qwC&pg=PA517(14.8.2014). 22 Aus Gründen der Einheitlichkeit zitiere ich infolgedessen in dieser Studie durchgängig die Transkription auf der Seite des Peraldus Projects und nicht den Druck direkt. Für die hier verfolgten Zwecke interessiert insbesondere die Transkription des tractatus quintus de acedia der Summa de vitiis durch Siegfried Wenzel. Die Transkription normalisiert den Drucktext, der durch typische Eigenheiten frühneuzeitlicher Drucke gekennzeichnet ist: „The text has been normalized by adopting a single spelling where variant spellings occur (e. g., hiems/hyems, poenitentia/paenitentia), and by giving the name of the biblical books cited in the genitive case where syntactically appropriate (e. g., Lucae [...])“, http://www.unc.edu/~swenzel/acediat. html (14.8.2014). 23 Roth, Gunhild: „Wilhelm Peraldus“. In: 2VL 10 (1998), Sp. 1116–1129, hier: Sp. 1125–1127. Seither ist speziell in Bezug auf die deutschsprachige Rezeption wenig Neues erschienen, freilich mit der beachtlichen Ausnahme von Schneider, Karin: „Guilelmus Peraldus in früher deutscher Übersetzung“. In: Rudolf Bentzinger/Ulrich-Dieter Oppitz (Hg.): Fata Libellorum. Festschrift Franzjosef Pensel. Göppingen 1999, S. 279–291, wo ein gegenüber dem hier behandelten Bihte buoch älteres, leider nur als Fragment erhaltenes mittelhochdeutsches Rezeptionszeugnis der Summa de vitiis vorgestellt wird. Der Überblicksartikel Roths hat jedoch ohnehin eher den Charakter eines Forschungsprogramms als den eines Forschungsüberblicks, denn offensichtlich ist auf diesem Gebiet noch viel zu leisten.
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jeden Christen – auch den Laien – gleichermaßen befallen konnte. Zur spezifischen Urbedeutung der Entmutigung am eremitisch-koinobitisch-asketischen Dasein treten nun auch semantische Aspekte wie ,Lebensüberdruss‘, ,Verzweiflung am Heilswillen Gottes‘, ,Prokrastination‘, ,Überempfindlichkeit‘ und schließlich ,Schläfrigkeit‘ hinzu. Diese Entwicklung ist gelegentlich tendenziös als ,Verflachung‘ diskreditiert worden; gegenüber dieser pauschalen Gesamteinschätzung ist jedoch Vorsicht geboten.24 Vielmehr ist die Miteinbeziehung auch alltäglicherer Beobachtungen in das so zu einer beachtlichen Komplexität gereifte und eben gerade nicht ,verflachte‘ Konzept acedia dem theologie- wie mentalitätsgeschichtlich fundamentalen Schritt hin zu einer „,laicization‘ of the concept“25 geschuldet, der in den größeren Kontext der Entstehung pastoraler Denkweise – und pastoraler Literatur – seit dem 12. Jahrhundert zu stellen ist.26 Diese Durchgliederung knüpft nun an das im ersten Abschnitt des zweiten Hauptteils des Bihte buoches (weitestgehend Oberlins Kapitel 10, S. 29–36, entsprechend) mit einigem Aufwand eingeführte, aber bisher nicht angewendete Prinzip der progenies der Tochtersünden an, nach dem vom Hochmut als Aller sivnden wrzelle vnn anegenge (aller Sünden Wurzel und Anfang, S. 30) alle anderen Haupt- und lässlichen Sünden wie Töchter von einer Mutter „abstammen“, also quasi-genealogisch aus ihr hervorgehen. Hierbei fällt zweierlei auf: Zum einen vermeidet es der Autor des Bihte buoches, in Bezug auf seine Gliederungselemente von Tochtersünden zu sprechen, vielmehr spricht er von fiunfzehen stivcke[n] an der tragheit (s. Vorbemerkung), die er vorstellen will. Zum anderen verweist er nirgends explizit auf Wilhelms Summa de vitiis als Quelle seiner Ausführungen, obwohl man gerade dieses Werk schon für den gesamten zweiten Hauptteil des Traktates als Vorbild vermutet hat, es aber nach meinem Dafürhalten erst in diesem letzten Abschnitt des hamartiologischen Teiles des Traktates als Quelle im eigentlichen Sinne nachweisen kann. Dieser bemerkenswerte Befund verlangt zumindest nach einem Versuch der Erklärung: Dass er Wilhelm Peraldus nicht ausdrücklich nennt, könnte durchaus einfach daran liegen, dass ihm dieser Name tatsächlich nicht bekannt war: Wilhelm hat sich selbst nicht namentlich in seinen Werken genannt, sich vielmehr mit einer Demutsformel – im Prolog zur Summa de virtutibus beispielsweise als ego minimus de ordine fratrum predicatorum – bezeichnet. Erst ab dem Ende des 13. Jahrhunderts setzen Schreiber seinen Namen in die Titelei ihrer Kopien.27 Wenn das Bihte buoch bereits um 1300 entstanden ist, wie zu vermuten, wäre es daher nicht außergewöhnlich, wenn das vom Autor zu Rate gezogene Exemplar keinen Autornamen nannte. Eine denkbare Erklärung für die Vermeidung des Tochtersündenbegriffs an dieser Stelle kann man dagegen darin sehen, dass damit eine mögliche Konfusion vermieden wurde: Im Tochtersündenverzeichnis des ersten Abschnitts des zweiten Hauptteils waren zuvor (S. 33) als von 24 Die Verflachungs-Hypothese nahm Wenzel, Siegfried: „,Acedia‘ 700–1200“. In: Traditio 22 (1966), S. 73–102, zum Anstoß seiner Untersuchung – und konnte sie bereits anhand von Texten des 8.–12. Jahrhunderts widerlegen. Ausführlich erneut zu ihr äußert er sich in The Sin of Sloth. Acedia in medieval thought and literature. Chapel Hill, NC 1967, S. 164–187, bes. S. 178 f. 25 Wenzel, „,Acedia‘“ (wie Anm. 24), S. 98. 26
Vgl. zur gesamten Entwicklung Wenzel, Sin of sloth (wie Anm. 24), S. 23–46.
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Vgl. Dondaine (wie Anm. 13), S. 186 mit Anm. 78.
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tragheit kommende Sünden neun aufgezählt worden: boeser wille oder lazheit, [...] verzagen, [...] verzwiuelen an Gottes gveti, [...] vpige gedenke ze vnnivzen dingen, [...] lange ligen in den sivnden, [...] svochen mveskeit, [...] verdriezen gvoter dingen, [...] missetroesten ander livte ze Gotte und trivren vmbe weltlich gvot (Willensschwäche oder Laxheit, Verzagen, Verzweifeln an der Güte Gottes, leeres Nachdenken über nutzlose Dinge, langes Verharren in den Sünden, Streben nach Untätigkeit, Verdruss an guten Dingen, andere Leute zur Verzweiflung an Gott Bringen, Trauern um weltlichen Besitz). Von diesen stimmen nur zwei, die dritte und die sechste, genau mit dem vierzehnten und vierten stivck des achten Abschnittes des zweiten Hauptteiles überein; die siebte ist bestenfalls eine Teilmenge des dreizehnten stivcks. Wenn also im Traktat selbst schon von neun Tochtersünden die Rede war, dann kann es die Rezipienten nur verwirren, an dessen Ende von fünfzehn anderen Tochtersünden zu sprechen, von denen bestenfalls ein Fünftel mit den vorhergenannten übereinstimmen. Des weiteren erscheint es mir ebenso gut denkbar, dass der deutsche Verfasser die fünfzehn von ihm aufgezählten stivcke gar nicht als Einzelsünden, die als ,Töchter‘ dem Oberbegriff tragkeit zugeordnet werden können, sondern als Aspekte einer komplexen, aber doch vorwiegend als Einheit aufgefassten Hauptsünde konzipiert hat und besprechen wollte. Wilhelm Peraldus stellt im tractatus quintus de acedia seiner Summa de vitiis sechzehn zur acedia als Oberbegriff gehörende Laster zusammen – eine Liste, die Wenzel für eine Eigenschöpfung des südfranzösischen Dominikaners hält.28 Dort heißt es:29 Dicto de his quae faciunt ad detestationem acediae, consequenter dicendum est de diversis speciebus vitiorum quae ad acediam pertinent. Videntur autem ista xvii;30 vitia ad acediam pertinere: tepiditas, mollities, somnolentia, otiositas, dilatio, tarditas, negligentia, imperfectio sive imperseverantia, remissio, dissolutio, incuria, ignavia, indevotio, tristitia, taedium vitae, desperatio. Nachdem gesagt wurde, wieso die Trägheit hassenswert ist (das war das in Teil I des tractatus behandelte Thema), geht es im Folgenden nun darum, welche verschiedenen Arten von Lastern zur Trägheit gehören. Es scheinen die folgenden siebzehn (vgl. Anm. 30) Laster zu sein: Lauheit, Weichlichkeit, Schläfrigkeit, Müßiggang, Prokrastination, Säumigkeit, Nachlässigkeit, Unvollkom-
28 Vgl. Wenzel, Siegfried: „The Seven deadly Sins. Some Problems of Research“. In: Speculum 43 (1968), S. 1–22, hier S. 19. Bei Dems., Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 80, liest sich diese Annahme folgendermaßen: „I venture to suggest, however, that Peraldus himself must be credited with selecting and arranging this progeny“. 29 Guillelmi Peraldi, Ordinis Prædicat. SS. Theolog. Profess. ac Episcopi [!] Lugdunensis. Summae virtutum ac vitiorum, tomus secundus, [...] iuxta Exemplar charactere Gothico impressum Basileæ 1497 etc., Lyon 1668, S. 174, r. Sp. – S. 175, l. Sp. Vgl. aber – hier und bei allen folgenden wörtlichen Zitaten aus der Summa – die Bemerkung zur Zitierweise Anm. 22. Übersetzung – wie bei allen übertragenen mittelhochdeutschen und lateinischen Wörtern und Passagen dieses Beitrags – von mir. 30 Siebzehn vitia sind es freilich dann, wenn man imperfectio und imperseverantia separat zählt. In Wilhelms Ausführungen zu den einzelnen vitia ist aber später in cap. 8 von diesen als einem einzigen Laster die Rede, das dann unter dem neuen Oberbegriff inconsummatio (etwas nicht Abschließen) figuriert; wie Anm. 29, S. 200, r. Sp. – S. 201, l. Sp.
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menheit oder Unstetigkeit, Aufgeben, Auflösung (des Willens), Sorglosigkeit, Faulheit, Andachtslosigkeit, Traurigkeit, Lebensüberdruss, Verzweiflung. Die fiunfzehen stivcke an der tragheit des Bihte buoches entsprechen diesen sechzehn Tochtersünden der acedia nicht eins zu eins, aber Wilhelms Liste ist als Quelle deutlich zu erkennen: Die ersten fünf stivcke stimmen mit den ersten fünf Tochtersünden überein: Der tepiditas entspricht slafheit, vnd slewen (S. 68) – was weniger durch diese wenig präzise mittelhochdeutsche Begrifflichkeit (Schlaffheit und Mattigkeit) als durch die wörtliche Übersetzung von Wilhelms Definition: Tepiditas est parvus amor boni (S. 175, l. Sp.)31 – das ist kleiniv vnn krankiv minne ze gvoten dingen (S. 68) offensichtlich wird (Lauheit bzw. Schläfrigkeit und Mattigkeit bedeutet geringe [und schwache] Liebe zu guten Dingen). Der mollities gleichzusetzen ist die lindecheit (Verzärtelung), die aber durch den Zusatz des libis, vnn des herzen, vnn des geistes (des Leibes und des Herzens und des Geistes, S. 68) ausdrücklich von einem rein körperlichen auch auf ein geistig-seelisches Verständnis ausgeweitet erscheint. Dieses Insistieren widerspricht deutlich der bereits erwähnten forschungsgeschichtlich lange überholten, aber immer wieder vertretenen Hypothese von der ,Verflachung‘ des Konzeptes acedia. Das exemplum, das der deutsche Autor dagegen unabhängig von seinem Prætext anführt (So man dich heizit die schuzelen weschen, so sprichestv, es brichit mir die hende/Wenn man Dir befiehlt, das Geschirr zu spülen, dann sagst Du: Es macht mir die Hände rau, S. 69), bedient sich des Stilmittels der direkten Rede und ist ausgesprochen echt aus dem Alltag gegriffen.32 Wilhelms dritter Tochtersünde, somnolentia, entspricht genau die slafheit des geistes vnn libes (Schlaffheit des Geistes und des Leibes, S. 69) des deutschen Traktates. Dessen Autor betont hierbei die im Folgenden in predigtartigem Ton rhetorisch nachdrücklich entwickelte Unterscheidung von körperlich bedingter Schläfrigkeit und als kontemplativem Leben getarnter Faulheit, indem er sie in die Überschrift mit hinein nimmt. Diskutiert wird diese freilich auch schon in der Quelle bei Wilhelm, und zwar wird genau wie im Bihte buoch zunächst die falsche Kontemplativität angegriffen, bevor der leibliche Schlaf thematisiert wird. Die Definition im Bihte buoch bleibt zunächst nahe an diesem Prætext: Somnum contemplationis pigredo immittit in illos qui nomine contemplationis palliant pigritiam suam, nolentes operari aliquid (Der Schlaf der Kontemplation senkt in die Herzen jener die Faulheit ein, die mit dem Namen der Kontemplation ihre Faulheit bedecken und nichts arbeiten wollen, S. 176, l. Sp.) 31 Wenzel, Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 184, weist darauf hin, dass tepiditas in Wilhelms Liste mit acedia in Wahrheit synonym ist, da beide gleichermaßen als parvus amor boni definiert werden. Anstatt deren erster filia ist sie, wie Wilhelm selbst sagt, die Wurzel der anderen vitia, die er zum Komplex acedia zusammenfasst (videtur esse tepiditas prima radix in peccato acediae; wie Anm. 29, S. 175, l. Sp.). Insofern ist die Begriffswahl des deutschen Bearbeiters – geht man vom deutschen Terminus ,Trägheit‘ für die Hauptsünde aus – durchaus nicht unpassend: Kernbegriff von mittelhochdeutsch tragheit ist in der Tat slafheit, vnd slewen. 32 Die Lebensnähe und die Laisierung des Konzeptes wird zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass der Diskurs ,körperliche Arbeit ist gut gegen acedia‘ – vgl. den Schlusssatz des stivcks im Bihte buoch: Da fivr ist gvot gewonheit herter werken (Dagegen ist die Gewöhnung an harte Arbeit gut, S. 69) – ansonsten stets exemplarisch an Mönchen aufgewiesen wird, vgl. die Beispiele bei Wenzel, Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 111. Wenn von Laien in diesem Zusammenhang die Rede ist, wie in den ebd., S. 111 f., angeführten exempla, dann eher im Sinne der zwölften Tochtersünde der acedia bei Wilhelm, ignavia.
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– Des geistes slafheit ist an den livten, die sich an nement mvezekeit dur gebetis willen, vnn wenent das si niht wrken svllen (Schlaffheit des Geistes findet man bei den Leuten, die sich um des Gebetes willen der Müßigkeit hingeben und glauben, dass sie nicht arbeiten sollen, S. 69), worauf dann der über diese Heuchelei erregte Prediger im Traktatautor durchbricht (vnn das si mit Gotte svllen rvowen, vnn svzekeit han, vnn niht andirs pflegen sivllin, vnn beschoenent ir tragheit mit geiftlicher rvowe. Vnn binamen si wizent nivt, das geistlichivrvowe ane lipliche erbeit niht friumit der sele/und dass sie mit Gott zusammen ruhen und ein süßes Leben haben und sonst nichts treiben sollen, und sie beschönigen ihre Trägheit, indem sie sie als spirituelle Ruhe ausgeben – und wahrlich, sie wissen nicht, dass spirituelle Ruhe ohne körperliche Arbeit der Seele nicht zugute kommt, S. 69). Am Ende des stivcks kommt der deutsche Verfasser dann schließlich auf Kirchenschläfer und solche, die zu jeder guten Tat zu faul sind, zu sprechen. Diese letztere Thematik ist wohl der am häufigsten in hoch- und spätmittelalterlicher Literatur diskutierte Aspekt von acedia, der allerdings schon von Evagrius als dem Begründer des Konzepts im 4. Jahrhundert angesprochen wird; doch ist zu betonen, dass sich der furor der Autoren dagegen richtet, dass sich die Trägheit stets im Dienst an Gott manifestiert, in von den Klerikern kritisch gesehenen Lebensvollzügen wie Gelächter, Spiel, Tanz und Mahl dagegen kaum jemals.33 Vom Prætext zu Wilhelms viertem vitium, otiositas, d. h. langen Ausführungen dazu, warum der Müßiggänger als dumm zu gelten habe und man ihm Vorwürfe in Bezug auf seinen Lebenswandel machen solle (S. 177, r. Sp. – S. 182, l. Sp.), übernimmt der deutsche Traktatverfasser außer dem Begriff selbst nichts. Einer von dort entlehnten Definition für das allgemein gebräuchliche mittelhochdeutsche müezekeit bedurfte es aber sicher auch nicht. Das gleiche gilt für die fünfte Tochtersünde Wilhelms, dilatio: Nur der Begriff selbst wird als fristen oder ufslahen (Verschieben oder Aufschieben, S. 70) übernommen. Der deutsche Bearbeiter kann dieses stivck auch sehr kurz halten, da er das Wesentliche des Inhalts des bei Wilhelm außerordentlich langen Kapitels (S. 182, l. Sp. – S. 198, l. Sp.) schon zuvor im ersten Abschnitt des ersten Hauptteils34 referiert hat. Entsprechend kann er sich hier hauptsächlich auf einen Rückverweis auf die dort ausführlich, aber im Vergleich zu Wilhelm, der noch weit stärker gerade auf die Verzögerung der religiös-moralischen Unkehr abhebt, knapp erörterte Problematik beschränken. Indem er als sechstes stivck die tragheit (S. 70) ansetzt, weicht der Bihte buochVerfasser zum ersten Mal offensichtlich vom Vorbild Wilhelms ab. Dass diese offenbare Distanzierung von der Quelle der Sache nach und in Wahrheit keine ist, lässt sich aber schnell zeigen: Der deutsche Bearbeiter verfährt letztlich hier nur 33 34
Vgl. hierzu Wenzel, Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 84 f.
Dieser entspricht Oberlins Kapiteln 4-8 (wobei der Beginn von Kapitel 6 nicht markiert ist: Oberlin hat ihn wohl an der Stelle ansetzen wollen, wo sich die größte Lücke seiner Handschrift befand, s. Vorbemerkung, S. 8 f. mit Anm. *), S. 6–21. Vgl. hierzu auch Rein (wie Anm. 3), S. 401 mit Anm. 318 f. Die betreffende Passage ist erfreulicherweise vollständig in der anderen alten Handschrift, Freising, Dombibliothek, Hs. 20, f. 6v-10r überliefert, das in der Pariser Handschrift, Bibliothèque Nationale de France, Ms. All. 127, von diesem Abschnitt Fehlende dort f. 6v-8r (ferner in der bearbeitenden Abschrift Ludwig Schönmerlins, München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 4700, f. 205v-208v), desweiteren das in der Pariser Handschrift, Bibliothèque Nationale de France, Ms. All. 127, von diesem Abschnitt Fehlende in Freising f. 205v-206v. In der von mir vorbereiteten Edition wird diese Passage zum ersten Mal vollständig im Druck dokumentiert werden.
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umgekehrt wie Wilhelm am Anfang seiner Aufstellung, wo dieser aus der acedia als deren radix die tepiditas isoliert und an den Anfang seiner vitia-Liste gestellt hatte: Er setzt nämlich als sechsten Abschnitt seiner Darstellung die Hauptsünde selbst an und variiert als Kommentar dazu seine wenige Zeilen zuvor schon geführte Invektive gegen Menschen, die eher und schneller Überflüssiges und Bedenkliches als Gutes tun. Indirekt bestätigt er damit die von Wenzel35 bei seinem Prætext diagnostizierte Synonymität von acedia und tepiditas auch für sein eigenes Konzept von tragheit. Mit dem siebten stivck, sumekeit, nimmt er Wilhelms Liste bei dessen sechstem Item, tarditas, wieder auf. Dessen Definition – tarde procedit in opere iam inchoato (die Arbeit am begonnenen Werk nimmt er erst spät wieder auf, S. 198, l. Sp.) – gibt er vom Wortlaut her frei, vom Gehalt dagegen präzise genug wieder als das der mensche niht achtet, wie er vollebringe gveti ding, dv er begvnnen hat (dass der Mensch nicht darauf achtet, wie er Gutes, das er begonnen hat, zu Ende führe, S. 70). Wilhelms siebtes vitium, negligentia, auslassend wendet sich das Bihte buoch mit seinem achten stivck dann gleich dem achten Laster seiner Quelle zu, das in der Liste zu Beginn des zweiten Teils des tractatus quintus de acedia als imperfectio sive imperseverantia, in der Kapitelüberschrift dann aber als inconsummatio benannt wird (vgl. Anm. 30). Das vom deutschen Autor mit vnstetekeit bezeichnete und mit eigenen Worten (das der mensche gvoter dinge beginnet, vnn si och lichte hat, vnd vollehertet niht vnz an das ende/dass der Mensch Gutes anfängt und es vielleicht sogar hat und nicht durchhält bis zum Ende, S. 70) definierte vitium entspricht begrifflich allerdings am ehesten der imperseverantia. Die erneut den Prediger erkennen lassende Mahnung (Der sol wizen, vnn ist er alle sine tage gvot, vnn ist einen tag niht gvot, vnn wirt daran gefunden an der ivbeli, so hilfet in ellv sin gvotat niht, die er hat gehebet/Der soll wissen: Selbst wenn er alle seine Tage gut ist und ist nur einen Tag nicht gut und wird dann vorgefunden in seiner Bosheit, dann hilft ihm alle gute Tat nicht, die er getan hat, S. 70) verdankt er erneut nicht seinem Prætext, in dem als vier Gründe zur Verachtung dieses Lasters der Reihe nach Christi Gehen seines Weges bis zur Vollendung als Vorbild, das Gefallen des Teufels an unvollendeten Werken, der Schaden, der durch die Unbrauchbarkeit von Unvollendetem entsteht und schließlich der große Nutzen der Beharrlichkeit angeführt werden (S. 200, r. Sp. – S. 201, l. Sp.). Wieder konform mit Wilhelms Zählung entspricht dem neunten stivck des Bihte buoches, abelazen, auch das neunte vitium von dessen Summa de vitiis, remissio. Die Definition folgt hier wieder recht genau dem Prætext: Si inchoat aliquod opus, primo die strenue operatur, secundo die minus, ad ultimum nihil (Wenn er irgendein Werk beginnt, arbeitet er am ersten Tage eifrig daran, am zweiten Tag weniger, am letzten gar nicht mehr, S. 201, l.–r. Sp.) – so der mensche gvoter dinge beginnet, vnn si zem ersten an deme anegenge mit andacht vnn mit vlize tvot, vnn darnach von tage ze tage ein wenig abelat der andaht vnn des vlizes (wenn der Mensch gute Dinge anfängt und sie zunächst am Anfang mit Bedachtsamkeit und Fleiß betreibt und danach von Tag zu Tag ein wenig an der Bedachtsamkeit und dem Fleiß nachlässt, S. 70 f.), wobei die Wiedergabe des strenue durch die Doppelformeln mit andacht vnn mit vlize bzw. der andaht vnn des vlizes 35
Wenzel, Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 184.
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auffällt. Hinter dem semantisch nicht klaren verlazenheit, Leitbegriff des zehnten stivckes des deutschen Traktates, verbirgt sich Wilhelms zehntes vitium, dissolutio, zu der er feststellt: Hoc vitio laborat ille qui inveniens difficultatem in sui regimine se dimittit omnino absque gubernatione (An diesem Laster leidet derjenige, der sich, wenn er auf irgendeine Schwierigkeit in seiner Lebensführung trifft, gänzlich der Lenkungslosigkeit hingibt, S. 201, r. Sp.) – swenne ein mensche vindet widersaz vnn irretvon an gvoten werken, dv es tuot, daz es denne sin herze gar zerlat (wann immer ein Mensch Widerstand und Hindernisse vorfindet zu guten Taten, die er tut, so dass er dann sein Herz ganz sich auflösen lässt, S. 71). Es ist also damit nicht wie häufiger bezeugt ,Ausgelassenheit, Frechheit‘ gemeint,36 sondern die Auflösung des menschlichen Willens, der dadurch zu irgendeiner guten Tat aufgrund der Schwierigkeiten, die sich ihr entgegenstellen, unfähig wird. Dass der Bihte buoch-Autor von einer Auflösung des Herzens und nicht des Willens spricht, entspricht der im Mittelalter gängigen Anthropologie, die im Herzen das Zentrum der Gefühls- wie der Willenskräfte sieht.37 Die Schlussbemerkung mit dem Hinweis auf das fehlende Gottvertrauen der diesem Laster Verfallenen (vnd getrivwet Got niht, das es mvege vollebringen/und vertraut nicht auf Gott, dass er [der Mensch] es zustandebringen kann, S. 71) ist ein Vorverweis auf das im vierzehnten stivck behandelte Thema der desperatio. Der deutsche Bearbeiter übergeht Wilhelms elftes vitium, incuria, und behandelt im elften stivck zunächst das zwölfte vitium, ignavia. Wiederum wird dies v. a. durch die recht wörtliche, aber mit stark veranschaulichenden Zusätzen versehene Übernahme von Wilhelms Definition klar: Hoc vitio laborat ille qui potius eligit in miseria magna permanere quam aliquantulum laboris sustinere (An diesem Laster leidet derjenige, der sich eher dazu entschließt in großer Armut zu bleiben, als seinen Unterhalt mit ein wenig Arbeit zu bestreiten, S. 202, r. Sp.) – swenne ein mensche gerner lidet vil grozen bresten an spise oder an gewande, denne das er ein klein erbeit lide diurch sine notdiurft (wann immer ein Mensch eher großen Mangel an Speise oder an Kleidung erleidet als dass er ein wenig Mühe ertrage um des für ihn Notwendigen willen, S. 71). Unmittelbar anschließend thematisiert der Bihte buoch-Autor dann Wilhelms dreizehntes vitium, indevotio, freilich ohne diesen Themawechsel klar anzuzeigen38 – der Übergang ist logisch entsprechend schwer nachvollziehbar: Von einem „genauso“ (also, S. 71) führt der Weg zum neuen Signalbegriff 36 Vgl. Benecke, Georg Friedrich/Müller, Wilhelm/Zarncke, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Leipzig 1854, Bd. 1, S. 952, l. Sp., Z. 42–46, und Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig 1878. ND Stuttgart 1992, Bd. 3, Sp. 155. 37 Vgl. hierzu Bargheer, Ernst: „Herz“. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 3 (1930–31), Sp. 1794–1813, Adler, Nikolaus/Maxsein, Anton/Schroeder, Oskar: „Herz“. In: LThK 5 (21960), Sp. 285–287, und Hödl, Ludwig/Lauer, Hans Hugo: „Herz“. In: LexMa 4 (1989), Sp. 2187–2189. 38 Der Schreiber bzw. Bearbeiter Ludwig Schönmerlin holt dieses Versäumnis im cgm 4700, fol. 250r , nach, indem er an dieser Stelle bereits sein zwölftes Stück beginnt: Das zwelfft ist des hertzn̄ durren vn̄ gebrestn̄ der andacht (Das zwölfte ist das Austrocknen des Herzes und Mangel an Andacht) – eine passende Übertragung von ariditas spiritualis bzw. indevotio (vgl. das oben im Fließtext unmittelbar Folgende). Diese Maßnahme zur Herstellung größerer Klarheit führt allerdings naturgemäß zu einer Verschiebung der Zählung der stivcke um je eins, was Schönmerlin durch Weglassen des fünfzehnten stivcks der alten Handschriften kompensiert hat – ein eher bedauerlicher Verlust als Preis für die bessere Verständlichkeit der vorliegenden Passage.
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an andaht (andachtslos, S. 72), den man als mittelhochdeutsche Entsprechung zu indevotio sehen kann. Wilhelm meint mit indevotio die ariditas spiritualis (spirituelle Trockenheit), die insbesondere Bernhard von Clairvaux mehrfach beschrieben hat, auffälligerweise allerdings ohne dabei den Begriff acedia zu verwenden.39 Der deutsche Traktatverfasser übernimmt hier genau die Argumentationslinie Wilhelms40 und lässt dessen auctoritates bzw. exempla weg: Diese spirituelle Austrocknung des an andaht-Seins hat ihre Ursache entweder in der Hauptsünde Hochmut (Provenit autem ista ariditas multis de causis. Quandoque ex superbia ..., S. 203, r. Sp. – Das kiunt eteswenne von hochvart, S. 72) oder im Fehlen geistlicher Speise, d. h. Lehre und Gebetes (Quandoque autem provenit ariditas ista ex defectu cibi spiritualis, ebd. – eteswenne kivmet es och von bresten geislicher lere vnn gebetes, ebd.) oder eben in der übergeordneten Hauptsünde acedia/tragkeit selbst (Provenit etiam quando ex acedia, ebd. – Das vnandehtig herze kivnt eteswenne von tragheite, ebd.). Auch der Schlusssatz ist von Wilhelm übernommen und im ersten Teil adaptiert: Homines vero qui patiuntur illam spiritualem ariditatem duri sunt frequenter ad ea quae sunt pietatis, et inflexibiles ad ea quae sunt obedientiae. Dura facilius franguntur quam flectantur (Die Menschen aber, die jene spirituelle Austrocknung erlitten haben, sind häufig härter was die Frömmigkeit angeht und wenig biegsam was den Gehorsam betrifft, S. 203, r. Sp – S. 204, l. Sp.) – solichiv herten vnn diurriv herzen div sint gerne unngeboegit ze der miltekeit; wan hertiv vnn dvrriv ding dv brechent lichter, danne si sich lazen biegen (Solche harten und trockenen Herzen sind meistens nicht biegsam zur Freundlichkeit, denn harte und trockene Dinge brechen eher als dass sie sich biegen lassen, ebd.). Der Bihte buoch-Verfasser ist auf diese Weise in seinem zwölften stivck bereits bei Wilhelms vierzehntem vitium, tristitia, angekommen. Auf eine Definition des allgemein gebräuchlichen lat. Begriffes konnte Wilhelm verzichten, der deutsche Traktatautor legt allerdings mit Rücksicht auf die im Mittelhochdeutschen übliche Unterteilung der menschlichen Vernunft- und Gefühlskräfte Wert darauf, zu betonen, dass die triurekeit (Traurigkeit) sowohl herz als auch mvot (Gesinnung) betrifft.41 Wiederum wird der Argumentationsgang des Prætextes übernommen, allerdings in anderer Reihenfolge: Das Bihte buoch beginnt damit, dass die Traurigkeit dem Menschen sehr schade (Das schadet sere dem menschen, S. 72). Wilhelm führt dieses Argument erst zuletzt auf (homini valde nocet, S. 204, l. Sp.). Der deutsche Traktat fährt mit dem Missfallen Gottes fort (Gotte ist och nivt so liep, so vroelicher dienst, ebd.), das Wilhelm zuerst nennt (valde enim displicet Deo ..., ebd.). Die volkssprachige Bearbeitung schließt mit dem Argument des Wohlgefallens des Teufels an der Traurigkeit (Dem tivvile widerstat och niht so harte, so geislich vroide; vnn machet in nivt so zagehaft gegen dem menschen, ebd.), das Wilhelm als zweites nannte (... et placet diabolo, ebd.). Das dreizehnte stivck der Ausführungen zur tragheit des deutschen Traktatverfasser entspricht folgerichtig bereits dem fünfzehnten und vorletzten vitium Wilhelms, taedium vitae, dem 39 40
Vgl. dazu Wenzel, „,Acedia‘“ (wie Anm. 24), S. 87–89; Wenzel, Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 61 f. Vgl. zu dieser Wenzel, Sin of Sloth (wie Anm. 24), S. 62 f.
41 Zu mvot vgl. prägnant Dick, Ernst: „muot. Von den inneren Kräften“, in: Ehrismann, Otfrid [Hg.]: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 148–151. Zu herz s. o., Anm. 37.
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Lebensüberdruss. Die Ursachen dieses gravierenden und potenziell pathologischen seelischen Zustandes stellt er in enger Anlehnung an seinen Prætext dar – bei konsequenter Weglassung der dort angeführten auctoritates: provenit ex longa tristitia in divino servitio. Postquam enim aliquis tristitiam patitur, paulatim corruit, adeo ut non solum displiceat ei Deo servire, sed etiam vivere. Notandum tamen est quod taedium huius vitae provenit ex diversis causis. Quandoque provenit ex Dei amore et desiderio caelestis patriae [...]. Quandoque etiam provenit ex consideratione malorum quibus mundus plenus est (S. 204, r. Sp.) – Das kiunt von langer triurekeit, das der mensche dar zvo kiunt, das in nivt alleine bedrivzit Gotte ze dienende; in bedriuzit och ze lebenne. Das kivnt eteswenne von begirde, die der mensche hat ze Gotte, das er gerne bi dem were; eteswenne kvnt es von der welte bosheit vnn vnselde, die er siht, das in des lebennes verdriuzit (S. 73) (Lebensüberdruss entsteht aus langanhaltender Traurigkeit im Dienste an Gott, die nicht nur diesen Dienst, sondern auch das Leben insgesamt verleidet. Manchmal ist aber auch die unerfüllte Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott die Ursache, manchmal das Böse und das Unheil in der Welt). Erst bei der vierten diskutierten Ursache weichen der etwas pathetisch-unkonkrete Prætext und die stärker der Lebenswelt der Rezipienten verhaftete deutsche Fassung etwas mehr voneinander ab: Quandoque provenit taedium vitae ex vehementia tribulationis (Manchmal entsteht Lebensüberdruss aus der Heftigkeit der Not, S. 205, l. Sp.) – eteswenne kiunt es von ivbriger erbeite, div den menschen an gat (Zuweilen kommt es von allzu großer Mühsal, die den Menschen angreift, ebd.). Die fünfte Ursache Wilhelms, die das taedium vitae zirkelschlüssig wieder mit der Hauptsünde acedia begründet (ebd.), ersetzt der deutsche Bearbeiter durch eine eigene Empfehlung an die von diesem Laster (potenziell) Betroffenen, die gleichermaßen pastoral durch ihre Schlichtheit wie theologisch durch ihre völlige Hingabe an den Willen Gottes überzeugt: Da solt der mensche zallen ziten sin leben vnn sin tot an Got lan; swas des wille si, das ime das liep si; wan Gottis wille ordenlich ist (In diesem Fall sollte der Mensch sein Leben und seinen Tod allzeit Gott anheimstellen – was auch immer dessen Wille sein mag, dass ihm das recht ist, denn Gottes Wille ist richtig, ebd.). Anders als Wilhelm, der die Erörterung seines sechzehnten und letzten vitium, desperatio, gleich mit der Nennung möglicher Ursachen beginnt und sich mit der erheblichen theologischen Tiefe dieses Begriffs nicht weiter aufhält, gibt der deutsche Traktatverfasser zuerst eine Definition, aus der die Brisanz dieses nicht zu Unrecht die Reihe bei Wilhelm beschließenden vitium deutlich wird: Das vierzehende ist verzwiuelon. Das ist, so der mensche verzwiuelet, das er ze tivgenden iemer komen mivge oder ze gvotem vnn diurhnechtigem lebenne, oder das er iemer mivge behalten werden (Der vierzehnte [Aspekt im Hinblick auf die Trägheit] ist Verzweiflung. Das ist, wenn der Mensch daran verzweifelt, dass er jemals zum Gutsein gelangen könne oder zu gutem und vollkommenem Leben oder dass er einst erlöst werden könne, S. 73). Die Rede ist hier nicht von Verzweiflung in irgendeiner tragischen Lebenssituation, so gravierend eine solche im Einzelnen auch immer sein mag; es ist der theologische Nihilismus schlechthin gemeint, der davon ausgeht, dass dem Menschen ein moralisch richtiges (das er ze tivgenden iemer komen mivge oder ze gvotem [...] lebenne), geschweige denn ein vollkommenes Leben (ze [...] diurhnechtigem lebenne), ja Erlösung (das er iemer mivge behalten werden) keineswegs jemals
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möglich sein werde; also Verzweiflung am Heilswillen Gottes, „die theologische Verzweiflung, die desperatio als die einzig unvergebbare, die Sünde wider den Heiligen Geist“42, „die schwerste Sünde, die entschiedene Aufgabe des Strebens nach der Heilserlangung, ein trotziges Verharren im Niedergedrücktsein durch die wahrgenommene Schuld, die in Blindheit freie Entscheidung für den Abgrund“43. Erst nach dieser unerlässlichen Klarstellung geht er nahe an seinem Prætext der Frage nach der Ursache nach: Solet autem provenire desperatio ex nimia tristitia (S. 205, l. Sp.) – Solichv verzwiuelunge kiunt och (von) trurekeit gerne (S. 73) (Verzweiflung kommt meistens von [zu großer] Traurigkeit). Was derjenige beachten soll, der in solichen zwiuel komet (in solche Verzweiflung gerät, ebd.) – das das stivck abschließende Negativ-exemplum Judas Ischariots – bringt Wilhelm als auctoritas, die der Bihte buoch-Autor also inhaltlich übernimmt, aber nicht als solche kennzeichnet: Unde dicit Hieronymus super Psalmum 108 quod magis offendit Iudas Deum in hoc quod ipse se suspendit, quam in hoc quod Dominum tradidit (Daher sagt Hieronymus, bezugnehmend auf Ps. 109 [der heute üblichen Zählung], dass Judas Gott mehr dadurch beleidigt hat, dass er sich selbst erhängte, als dadurch, dass er den Herrn verriet, S. 205, l. Sp.). Hieronymus kommentiert Ps 109 (108),7b – Et oratio eius fiat in peccatum (Sein Gebet werde zur Sünde) – in den als Predigten konzipierten, nach 389 entstandenen Tractatus in Librum Psalmorum, CVIII,7, auf Judas Ischarioth bezogen, dessen Buße für den Verrat an seinem Rabbi Jesus (vgl. Mk 14,45 par Mt 26,49) seine Sünde noch verschlimmert habe, weil er sie ableistete, indem er sich selbst tötete:44 Paenitentia Iudae peius peccatum factum est. Quomodo peius peccatum factum est penitentia Iudae ? Iuit, et suspendio periit; et qui proditor Domini factus est, hic et interemptor sui extitit. Pro clementia Domini hoc dico, quod magis ex hoc offendit Dominum, quia se suspendit, quam quod Dominum prodidit. Die Buße des Judas wurde zu einer schlimmeren Sünde. Weshalb ? Er ging hin, und starb durch Erhängen. Und so war, wer Verräter des Herrn geworden war, auch der Mörder seiner selbst. Um der Milde Gottes willen sage ich das, dass er eher dadurch Gott beleidigte, indem er sich erhängte, als dadurch, dass er den Herrn verriet. Von Judas als exemplum der desperatio ist also bei Hieronymus noch nicht die Rede, dazu war erst die theologische Reflexion des Mittelalters reif.45 Nachdem der deutsche Traktatverfasser auf die hier nachgezeichnete Weise die vitia quae ad acediam pertinent des Wilhelm Peraldus alle – bis auf das siebte, neg42
Ohly, Friedrich: „Missetriuwe ,Desperatio‘. Mhd. Wörter für die theologische Verzweiflung“. In: ZfdPh110 (1991), S. 321–336, hier S. 323. 43 Ohly, Friedrich: „Desperatio und Praesumptio. Zur theologischen Verzweiflung und Vermessenheit“ (1976), in: Ders.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hg. Uwe Ruberg/Dietmar Peil. Stuttgart/Leipzig 1995, S. 177–216, hier S. 182. 44 Eusebius Sophronius Hieronymus: Opera homiletica. Hg. Germain Morin. Turnhout 1958, S. 212, Z. 101–106. 45 Vgl. dazu Ohly (wie Anm. 43), passim, wo zahlreiche weitere Belege für Judas Ischarioth als exemplum desperationis gegeben werden – nicht aber Wilhelms Reinterpretation der Predigt des Hieronymus.
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ligentia, und das elfte, incuria, die er beide auslässt, während er das dreizehnte, die indevotio, im elften stivck mit dem zwölften, der ignavia, zusammen bespricht – abgehandelt hat, fügt er – wie schon beim sechsten stivck – am Schluss noch einen eigenen Aspekt der komplexen Hauptsünde tragheit hinzu: andere Menschen ihres Trostes zu berauben. Dieser ist eine Fortsetzung der soeben besprochenen desperatio: Wer, indem er der Sünde wider den Heiligen Geist verhaftet ist, für sich selbst schon nichts mehr zu verlieren hat, der kann doch darüber hinaus noch Schaden bei anderen anrichten, indem er diese zur desperatio verleitet (Das fiunfzehende ist missetroesten, das ist, soder mensche ander livte misse troestet ze Gotte vnn in nicht da mite gnvogt bedvnchet, das er verzwivelt het an Gottes erbermede, er en missetroeste och ander livte gegen Gottis erbermede/Der fünfzehnte [Aspekt im Hinblick auf die Trägheit] ist, andere des Trostes zu berauben. Das ist, wenn der Mensch andere Leute ihres Trostes an Gott beraubt und es ihm nicht damit genug scheint, dass er selbst an Gottes Erbarmen verzweifelt ist, wenn er nicht auch noch andere Leute des Trostes durch Gottes Erbarmen beraubt, S. 73 f.). Der Schlusssatz (Wan das ist ein groezv vnselde, swer ivberladen ist mit sin selbis sivnden, er en ivberlade sich darzvo mit ander livten svnden/Dies aber ist ein großes Unheil: Wer immer mit seinen eigenen Sünden überladen ist, der überlade sich nicht noch mit anderer Leute Sünden, S. 74) ist wohl so zu verstehen, dass dann die Sünde der desperatio der von ihm Überredeten ihm als Verursacher zusätzlich noch zur eigenen desperatioSünde angerechnet wird. Es gelingt dem Verfasser des Bihte buoches mit diesem pastoral orientierten Weiterdenken seines Prætextes am Ende seines Traktates, die Schwere der „schwerste[n] Sünde“ noch zu überbieten, mit welchem Höhepunkt der eigentliche Traktat endet. Der sehr kurze Epilog fordert lediglich noch in Art einer ,salvatorischen Klausel‘ dazu auf, alles dem hier Behandelten Analoge gleichermaßen in der Beichtvorbereitung in den Blick zu nehmen und ebenfalls zu beichten (Swas dir solicher dingen widern ist, da von dir an difem bihte bvoche geschriben ist, das soltv vil wol merken vnn gvote achte han, vnn solt es alles vil genote vnn gar bichten/Was immer Dir an solchen Dingen widerfahren ist, wovon Dir in diesem Beichtbuch etwas geschrieben steht, das sollst Du sehr gut beachten und Deine Aufmerksamkeit darauf richten und sollst es alles sehr eifrig und vollständig beichten, S. 74).
Fazit Die Rezeption der Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus durch den unbekannten Verfasser des Bihte buoches, des wohl ältesten erhaltenen nach hochscholastischer Systematik angelegten Traktates über die Beichte in deutscher Sprache, erweist sich so keineswegs als ein Akt mechanischen Kopierens und Kompilierens, sie wird vielmehr deutlich erkennbar als produktive Aneignung und Neuschöpfung nach einem Vorbild – auch und gerade wenn der deutsche Autor dessen Titel nicht explizit nennt und den Namen des Verfassers der Quelle mutmaßlich gar nicht gekannt hat: Leitend bleibt der pastorale, textpragmatische Aspekt, der daher ohne Furcht vor einer vermeintlichen ,Verflachung‘ des Konzeptes, die nur ein modernes Verständnis darin anachronistisch sehen kann, der vielgestaltigen Hauptsünde Trägheit in all
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ihrer Undurchschaubarkeit und wechselnden Erscheinungsform beizukommen versucht, um die von einer solchen Komplexität überforderten, um Reinigung ihres Herzens bemühten Menschen nach Kräften zu unterstützen. Der Autor strebt dabei eine Vollständigkeit der Darstellung aller Erscheinungsformen der Verfehlungen gar nicht erst an, nicht nur, weil ihm bewusst ist, dass sie unerreichbar bleibt. Vielmehr geht es ihm gar nicht um ein im engen Sinne scholastisches Ausbuchstabieren der Welt der Sünde, sondern um das vor allem praktische Anliegen der Ausbildung des Gewissens als der eigentlichen Instanz des Sündenbewusstseins, an das keine noch so ausführliche Darstellung in der konkreten Lebenssituation heranreichen kann. Er wird gesehen haben (und deshalb von dieser Vorlage ausgegangen sein), dass dies, trotz der zweifellos noch deutlich stärkeren, in einem weiten Sinne scholastischen Tendenzen bei Wilhelm Peraldus, in dessen Summa de vitiis letztlich auch Maxime ist: Nicht mit dem Zeigefinger Moral als feststehendes Handbuchwissen zu dozieren, sondern lebenswirkliche Anleitung zu geben, sich selbst, und zwar im eigentlichen Sinne religiös-moralischer Umkehr, zu bessern und vom Weg der Sünde umzukehren.