Z Außen Sicherheitspolit DOI 10.1007/s12399-017-0648-7 BERICHT
Grenzen. Tagungsbericht der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft Hubert Mayer
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
1 Paneldiskussion: Wo liegen die Grenzen der politischen Gestaltungsfähigkeit? Bernhard Vogel (Dolf Sternberger Gesellschaft) wollte keine zunehmende Verengung, sehr wohl aber eine Veränderung der politischen Gestaltungsfähigkeit im 21. Jahrhundert konstatieren. Die neuen Medien spielten hier eine Rolle, Gefühle und Emotionen seien schwerer gestaltbar als Fakten, dennoch verbliebe der Politik genügend Spielraum. Mit der Zahl der Probleme nähmen die Gestaltungsmöglichkeiten zu, so habe die Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht weniger Gestaltungsmöglichkeiten als der ehemalige Reichskanzler Otto von Bismarck. WählerInnen, Parteien, Fraktionen, Koalitionen, das Haushaltsbudget und nicht zuletzt das Grundgesetz stellten notwendige Grenzen für die Politik dar. Andreas Paulus (Richter am Bundesverfassungsgericht) betonte, dass seine KollegInnen und er keine Agenda zur Gestaltung von Politik gleich jedweder Art verfolgen würden. Sie könnten nur auf Antrag der BeschwerdeführerInnen tätig werden und müssten Streitfragen lösen, die ihnen in einem konkreten Fall vorgelegt würden; dabei sei stets zu beachten, dass bei der Ausübung von Macht die Belange der Minderheit geschützt würden. Es könne keine Rede davon sein, dass das Gericht der Politik zu viele Vorgaben mache; oftmals seien es PolitikerInnen selbst, die durch den Gang nach Karlsruhe das Gericht um Konkretisierungen angehen würden. Beate Neuss (Technische Universität Chemnitz) sah internationale Organisationen durch die Vervielfältigung der Akteure und den Komplexitätszuwachs an ihre Grenzen stoßen. Es sei bezeichnend, wenn Einzelpersonen wie z. B. Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, persönliche Audienzen bei Wladimir Putin, Barack Obama und Papst Franziskus erhielten. H. Mayer () Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften, Universität der Bundeswehr München, Werner-Heisenberg-Weg 36, 85577 Neubiberg, Deutschland E-Mail:
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Auf die Frage von Carlo Masala (Universität der Bundeswehr München) nach der Relevanz des Völkerrechts befürchtete Beate Neuss einen Bedeutungsverlust; die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland sowie der (angekündigte) Austritt mehrerer afrikanischer Staaten aus dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs seien insofern bedenkliche Anzeichen; auch das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) werde angesichts der dramatischen Lage in Syrien infrage gestellt. Andreas Paulus sah das Völkerrecht nach wie vor als einen mitbestimmenden Faktor in der internationalen Politik. Die Tatsache, dass Russland die Annexion der Krim mit einem drohenden Genozid an der dortigen russischen Bevölkerung zu rechtfertigen versuchte, belege die Relevanz des Völkerrechts zumindest als einer notwendig erachteten façon de parler zur Legitimierung des eigenen Verhaltens. Das Problem des Völkerrechts sei weniger dessen Geltung, sondern seine Einhaltung durch die Staaten. Ob es besser sei, dem Völkerrecht gleich seine Relevanz abzusprechen, nur weil es durch revisionistische Mächte verletzt würde, sei doch sehr fraglich, weil zweifelhaft sei, ob das, was danach kommen würde, tatsächlich besser sei. Gleichwohl gäbe es zu konzedieren, dass auch Recht versteinern und somit selbst zum Problem werden könne. Die responsibility to protect sei kein geltendes Völkerrecht, sondern vielmehr der Versuch, Staaten und Institutionen in die (Schutz-)Verantwortung für durch Konflikte bedrohte (Zivil-)Bevölkerungen zu nehmen. Wenn sich die fünf für den Weltfrieden verantwortlichen ständigen Sicherheitsratsmitglieder der Vereinten Nation nicht auf ein Eingreifen einigen könnten, dann könne dieses Prinzip nicht funktionieren.
2 Entwicklungslinien von Migration Emily Haber (Staatssekretärin im Bundesministerium des Inneren) hielt eine Grundsatzrede zu den Entwicklungslinien von Migration. Die gesamte Problematik müsse durch drei Prismen betrachtet werden: das der Zuwanderung, ihrer (sicherheits-)politischen Folgen und der Integration. Bei der Zuwanderung stellte Frau Haber drei Thesen auf: Erstens, lasse sich Migration nur in engen Grenzen prognostizieren, denn eine beständige Veränderung der Wanderungsgründe sei die Regel, aber immer nur die letzte Welle bilde die aktuelle Erfahrungsgrundlage. Im Übrigen handele es sich bei der massenhaften Migration von Menschen um ein lediglich zeitversetztes Phänomen, dem der freie Waren- und Kapitalverkehr schon lange vorausgegangen sei. Zweitens, sei Migration nur schwer und begrenzt steuerbar. Wer die radikale Absperrung der Grenzen oder als Gegenextrem ihre Öffnung für alle MigrantInnen fordere, erliege der Fiktion einer Lösbarkeit dieser hochkomplexen Problematik durch einfache Maßnahmen. Lediglich jenseits der nicht endlichen und unbeeinflussbaren Faktoren der Migration verfüge die Politik über einen Handlungsspielraum bei den Kräften, die von ihr beinflussbar seien, und hier sei Handeln oft mit Härte verbunden, was das politische Agieren vor dem Hintergrund einer hochmoralisch geführten Alles oder Nichts-Debatte zusätzlich erschwere. Konkret müsse zwischen den unterschiedlichen Formen der Zuwanderung differenziert werden: Bei der Zuwanderung aus der Europäischen Union habe Deutschland keinen Spielraum, auch wenn die Schattenseiten einer verstärkten Armutsmi-
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gration aus Bulgarien und Rumänien in das Ruhrgebiet vor dem Hintergrund der gewährleisteten Personenfreizügigkeit in der EU keinesfalls negiert werden dürften; bei der Drittstaatenzuwanderung zur Anwerbung hochqualifizierter ArbeitnehmerInnen verfüge Deutschland mittlerweile über ein sehr flexibles Einwanderungssystem (Blaue Karte), an dem sich inzwischen auch ein klassisches Einwanderungsland wie Kanada (neu) orientiere. Die Ursachen der ungeregelten Zuwanderung seien sehr heterogen: Neben Flucht vor staatlicher Verfolgung und Bürgerkrieg spielten wirtschaftliche Gründe und Perspektivlosigkeit eine große Rolle. Letztere könnten kein Bleiberecht rechtfertigen, andernfalls würde dies – als lohnende Investitionsentscheidung erkannt – eine sekundäre Sogwirkung entfalten und letztendlich das Asylrecht, dessen momentane Schutzquote im Asylverfahren bereinigt bei 50 % liege, in seinem Bestand gefährden. Nur bei dieser Zuwanderung aus wirtschaftlichen Motiven gäbe es einen nationalen Spielraum, jedoch nicht bei den vor Krieg und Verfolgung geflohenen Schutzbedürftigen, denen nach internationalem Recht aus humanitären Gründen ein Bleiberecht und Familiennachzug zwingend zu gewähren seien. Die Kommunikation unter den Zuwanderungswilligen über ihre Aussichten am Zielort sei zentral, so die dritte These. Das staatliche Handeln müsse diesbezüglich berechenbar, unzweideutig und konsistent sein, um am Ausgangsort Wirkung zu entfalten. Deshalb seien eine klare Differenzierung zugunsten der Schutzbedürftigen sowie eine konsequente Rechtsdurchsetzung verbunden mit der Rückführung nicht schutzbedürftiger ZuwanderInnen unverzichtbar, um kommunikativen Gegenwirklichkeiten in den Ausgangsländern von Massenmigration faktisch wirksam begegnen zu können. Das in vielen EU-Staaten vorherrschende Narrativ der deutschen Verantwortung für die Flüchtlingskrise grenze an Wirklichkeitsverweigerung. Bundeskanzlerin Merkel habe keine Einladung ausgesprochen, die MigrantInnen seien längst auf dem Weg gewesen und keinesfalls aus dem Nichts gekommen. Diese Version diene vielmehr dem Zweck, sich der Lastenteilung innerhalb der EU zu entziehen. Nicht ohne Grund hätten die Erstaufnahmestaaten im Verlauf des Massenansturms auf die europäischen Außengrenzen die Solidarität zwischen den Mitgliedern bei der Bewältigung der Krise als nicht mehr gewahrt betrachtet. Deshalb sei gerade das EU-Türkei-Abkommen und dessen konsequente Umsetzung so notwendig: Nur mit einem funktionierenden EU-Außengrenzschutz, legalen Zugangswegen aus der Türkei in die EU und einer konsequenten Anwendung des Asylrechts lasse sich das Schengen-System aufrechterhalten, dessen Rettung gerade die Visegrád-Staaten anmahnten, die sich an der Lösung der Krise nicht beteiligen wollten. Integration sei eine Generationenaufgabe, die bereits im Kindergarten beginnen müsse. Von den Zugewanderten müssten sehr große Anpassungsleistungen verlangt werden, notwendige Sanktionen seien zeitnah zu verhängen, aus falschen Toleranzerwägungen dürften keine Abstriche gemacht werden. Dem Salafismus, als dem maximalen Gegenprojekt zu unserer Gesellschaft, gelte es entschieden entgegenzutreten. Doch werde die Zuwanderung auch Deutschland verändern und Akzeptanz für die neu Einzubeziehenden sei notwendig, gerade weil ein Unbehagen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reiche und zunehmende Diversität zu weiteren Ablehnungen führe.
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3 Grenzen in liberalen und pluralistischen Gesellschaften Julia Schulze Wessel (Technische Universität Dresden) befasste sich mit den Grenzen der Integrations- und Aufnahmebereitschaft. Die Aufnahme Fremder bedeute auch immer deren Integration, selbst wenn sie später das Land wieder verlassen sollten. Dabei sei Integration immer noch ein ungeklärter Begriff – ein oft widersprüchlicher Prozess mit mehr als zwei Seiten. Die Problematik sei schon immer emotional besetzt gewesen. Zuwanderung werde mit Chaos, (Ober-)Grenze mit Ordnung gleichgesetzt; es sei ratsam, aus diesem strengen Dualismus auszusteigen. Denn der Begriff der Grenze bewirke zwar eine Ungleichheitsreaktion: Nach Innen vermittle sie Gemeinschaft und Selbstgesetzgebung, nach Außen selektiere sie die Nichtmitglieder. Offene Grenzen gäbe es aber nicht, denn dann würden sie ihre Funktion verlieren und somit verschwinden. Grenzen könnten vielmehr auch verbinden, eine Relation zwischen Innen und Außen herstellen, Kontaktzonen schaffen, über die Gewährung von Zugang und Ausschluss bestimmen. Sie könnten mithin nicht unilateral bestimmt werden, ihnen wohne immer auch eine Ambivalenz inne, sie seien nicht statisch, sondern müssten verhandelbar bleiben. Grenzen stünden aufgrund ihrer Ambivalenz jedoch auch für mögliche Unordnung. Im Begriff der Staatsbürgerschaft sei selbst ein Grenzkonflikt angelegt: Einerseits erhebe der Begriff des Bürgers einen Universalitätsanspruch auf Gleichheit und Selbstermächtigung des Individuums, andererseits beschränke sich das Gemeinschaftsversprechen des Staates exklusiv nur auf die InhaberInnen der jeweiligen Staatsangehörigkeit; in einer Demokratie herrsche deshalb Unbehagen über die grundsätzliche Unüberwindbarkeit von Grenzen, daher müsste ihre Neuaushandlung zumindest möglich bleiben. In totalitären Regimen gäbe es aus diesem Grund keine Grenzen, sondern lediglich Mauern, hinter denen die BürgerInnen verschwänden. Dietmar von der Pfordten (Georg-August-Universität Göttingen) beleuchtete die Grenzen des Konsenses und der Toleranz in liberalen Gesellschaften. Grenzen selbst seien keine Entität, kein Ding, und somit veränderbar. Da politische Grenzen auf menschlichem Handeln beruhten, seien diese immer rechtfertigungsbedürftig. Ausgehend vom normativen Individualismus, der im Gegensatz zu Kollektiven wie Staaten, Nationen und Gemeinschaften einen Anspruch auf Letztentscheidung durch das Recht auf individuelle Selbsterhaltung erheben könne, müsse gefragt werden, wie Grenzen gerechtfertigt werden könnten. Freizügigkeit sei ein Menschenrecht, das aber nur die Bewegungsfreiheit innerhalb eines Staates sowie das Recht auf Ausreise gewährleiste. Ein Menschenrecht auf Einreise bestehe nicht. Ein solches Recht scheitere nicht an den Interessen des aufnehmenden Staates, letztlich aber am Selbstbestimmungsrecht der ihn konstituierenden Individuen, welche die Wahrung ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Belange einem Recht auf Einreise entgegenhalten dürften. Das Recht auf Asyl ließe sich mit dieser Argumentation jedoch nicht zurückdrängen, sehr wohl aber der Wunsch, durch Einwanderung ein wirtschaftlich besseres Leben führen zu wollen. Das diskutierte Verschleierungsverbot sei nach der momentanen Rechtslage in Deutschland verfassungswidrig. Weder das Recht auf negative Religionsfreiheit noch die Berufung auf die Würde der Frau oder die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ließen ein Verbot rechtfertigen. Denkbar sei allerding eine
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entsprechende, wenn auch keinesfalls rechtlich unumstrittene Verfassungsänderung. Sollte jedoch die Vollverschleierung zu einem Massenphänomen werden, sodass im öffentlichen Raum ein Diskurs zunehmend verunmöglicht würde, sei ein Selbstschutz liberaler Gesellschaften durch ein Verschleierungsverbot wie in Frankreich angebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erkannte im französischen Gesetz jedenfalls keinen Konventionsverstoß.
4 Grenzen globaler und europäischer Ordnungspolitik Manuel Fröhlich (Universität Trier) vermaß die Grenzen der Weltorganisation. Fragen der Weltordnung seien Fragen der Weltorganisation. Weltorganisation sei nicht zu verwechseln mit Weltregierung oder global governance, vielmehr gehe es um das funktionale Bemühen der Bereitstellung globaler öffentlicher Güter. Mit der Gesundheitsvorsorge, dem Klimawandel, der Finanzstabilität, dem Welthandel, der globalen Sicherheit und Frieden sowie der Bildung ließen sich sechs Aufgaben benennen, die auf globaler Ebene bewältigt werden müssten. Auch wenn man von einer internationalen Gemeinschaft nicht wirklich sprechen könne, so manifestiere sich diese doch in Fragmenten, führe mithin eine ambivalente Existenz. Selbst wenn man eine internationale Wertegemeinschaft verneine, so lasse sich dadurch nicht das Grauen und Leiden wegdefinieren, wie sich gegenwärtig in Syrien zeige. Die gegenwärtige Weltordnung sei weder uni- noch bipolar, die Stellung der USA durch den Aufstieg anderer Mächte relativiert. Doch gerade mit Blick auf die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) sei festzuhalten, dass diese keine Generatoren, sondern Konsumenten der bisherigen Weltordnung seien; China habe im Rahmen der bisherigen Weltordnung seinen rasanten Aufstieg vollzogen. In der von Amitav Acharya so bezeichneten „Multiplex“-Weltordnung1 ließen sich gleichzeitig nebeneinander der Befund komplexer Interdependenz und neorealistische Erklärungsansätze betrachten. Der Global Governance-Ansatz könnte hilfreich sein, die Disziplin der Internationalen Beziehungen vor einer weiteren Fragmentierung zu bewahren. Das ausschließliche Denken in den Kategorien des Nationalstaats sei überholt, konkrete Global Governance-Strukturen, wie z. B. der Kimberly Prozess oder der Global Fund zur Bekämpfung von Aids, besäßen eine höhere Problem-Adäquanz, doch stießen sie im Hinblick auf ihre Effektivität, Autorität und Globalität auch an ihre Grenzen; Netzwerke seien letztendlich auf die Unterstützung durch Staaten angewiesen, viele der Strukturen seien rein sektoral ausgerichtet und die „Schlange der Souveränität“2 lauere stets im Hintergrund. Es gäbe verschiedene Arten der Souveränität zu unterscheiden3, der Begriff sei rechtlich und politisch vielschichtig sowie in Wandlung begriffen, er diene zur Abwehr gegen Einmischungen von außen und nicht zuletzt auch als Formel zur Sicherung materieller Besitzstände. 1 Acharya, A. (2014). From the unipolar moment to a multiplex world. http://yaleglobal.yale.edu/content/ unipolar-moment-multiplex-world. Zugegriffen: 23. Mai 2017. 2
Löwenstein, K. (1945). The serpent in dumbarton oaks. Current History, 8(4), 315.
3
Krasner, S. (1999). Sovereignty: Organized hypocrisy. Princeton: Princeton University Press, 3–4.
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Andreas Maurer (Universität Innsbruck) sprach über neue Grenzen und Konfliktlinien in Europa. Eine politische Erweiterung der EU sei momentan „tot“. Paradox sei die Ausdehnung des „external reach“ der EU durch die von ihr geschlossenen bilateralen und plurilateralen Handelsabkommen, wohingegen die teilweise Aussetzung des Schengener Abkommens durch Mitgliedstaaten wieder eine Zunahme von Grenzen innerhalb der EU bedeute. Bei den Kompetenzen der EU sei mancher Rückbau feststellbar, der aber, wie das Beispiel der Abschaffung der Milchquote zeige, die EU nicht aus ihrer Rolle als gern gescholtener Sündenbock entlasse. Auch sei vor allem im Rahmen der Sozialpolitik eine Proliferation des Notbremsen-Mechanismus und damit eine zunehmende Obstruktionspolitik im Europäischen Rat beobachtbar; dadurch würde den Parlamenten in den Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen, selbst im Rahmen des Frühwarnsystems eine entsprechende Subsidiaritätsrüge zu initiieren, was einen weiteren Rückzug der nationalen Parlamente bewirke. Bei der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und bei der Wirtschafts- und Währungsunion nehme die Regelaversion der Mitgliedstaaten ebenfalls stark zu. Die Vorschlagstätigkeit der Kommission gehe immer stärker zurück, weshalb der Ruf nach Bürokratieabbau an der Realität vorrübergehe. Vielmehr läge eine Entdynamisierung der Integration vor; bestimmte Politikbereiche wie die Agrarpolitik oder die gemeinsame Handelspolitik seien so gut wie saturiert, eine Kompensation durch neue Politikfelder aber nicht absehbar. Ursachen für das Legitimationsdefizit der EU seien Interessensdivergenzen zwischen den Mitgliedstaaten, die nicht abnehmen würden; zudem finde gerade in Deutschland eine Entidealisierung des Mehrwerts der EU statt. Die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen gegen den Willen der unterliegenden Staaten nach dem Lissaboner Vertrag führe zu einer zunehmenden Umgehung der supranationalen Institutionen und einer Bevorzugung der Unionsmethode, wodurch es aber zu einer Polarisierung und diachronen Entkopplung vormaliger Koppelungsgeschäfte komme. Es müsse in Zukunft stärker über funktionale Grenzen gesprochen werden, die Beteiligung privater Akteure gehöre enttabuisiert, auch müsse das Verhältnis von checks and balances neu diskutiert werden, denn Hierarchien bestünden zweifelsohne in der EU.
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