N.T.M. 9 (2001) 2-14 0036-6978/01/010002-13 $1.50 + 0.20 9 2001 Birkh~iuser Verlag, Basel
Gustav Theodor Fechner (1801-1887) und die Leipziger btirgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundertl Hans-Jiirgen Arendt
The favourablesocial conditionsFechner met at Leipzigwith its universityand its book industry as well as the close ties to the citizenshipof that town were of outstandingimportance for G. Th. Fechner (1801-1887), his scientificachievementsas natural scientistand philosopher,as the founder of psychophysicsand of experimentalaesthetics.Since 1825 Fechner had been integrated into its social, scientificand art life in many different ways.His political and theoretical social ideas were obviouslyinfluencedby ist bourgeois liberal circles. Es ist unumstritten, daB Gustav Theodor Fechner einer der Grogen in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts war. Gerade in den letzten anderthalb Jahrzehnten erschienene Ver6ffentlichungen tiber sein Leben und wissenschaftliches Werk haben deutlich gemacht, worin der Beitrag dieses Gelehrten zur Entwicklung der modernen Psychologie bestand, zur Theorie der psychophysischen Grundlagen mentaler Prozesse und der Messung psychischer Erscheinungen, zum naturwissenschaftlichen und philosophischen Denken. Wir wissen heute, daB er der Begrtinder der experimentellen Asthetik war, daB er die Elektrophysik ebenso bereicherte wie die Theorie von den Atomen, daB er eines der ersten naturwissenschaftlichen Referateorgane begrandete und daB seine ,,Kollektivmaglehre" zur modernen Wahrscheinlichkeitstheorie hinffihrte. Seine bedeutendste Leistung aber, die mit seiner langj~ihrigen T~itigkeit als Physiker ebenso im Zusammenhang steht wie mit seinem philosophischen Denken, war die Begrandung der Psychophysik, eine der wichtigsten Grundlagen der modernen Psychologie. Fechner leistete damit einen entscheidenden Beitrag zur L6sung der in seinem Jahrhundert herangereiften Aufgabe, die Psychologie yon der Philosophie zu emanzipieren, sie gleichermagen auf eine naturwissenschaftliche Basis zu stellen und sie als Wissenschaftsdisziplin methodisch und methodologisch zu verselbst~indigen. Das Weber-Fechnersche Gesetz ist - wie W. Meischner hervorgehoben hat - als eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen und kulturhistorischen Leistungen des 19. Jahrhunderts zu betrachten. [Meischner, in: Altmann 1994, S. 20] Fechner vereinte in sich den naturwissenschaftlichen Forscher und philosophischen Denker, aber auch den geistvollen Zeitkritiker und satirischen Schriftsteller, den Lyriker, Lexikographen und Ubersetzer. Nicht weniger als 169 zum Teil mehrb~indige VerOffentlichungen, die Fechner als Autor, Herausgeber und Ubersetzer nennen, verzeichnet eine jangst erschienene Bibliographie [Altmann, 1994, S. 40-56] zu seinem Werk.
Gustav-Theodor Fechner und die Leipziger btirgerliche Gesellschaft
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Abb. 1 Gustav Theodor Fechner. Zeichnung yon H. Hfirtel.
Wie an seiner Biographie deutlich wird und wie auch aus Selbstzeugnissen ersichtlich ist, erlangte ftir Fechners Entwicklung zum Gelehrten und Schriftsteller die sfichsische Messe- und Universitfitsstadt Leipzig und ihre b(irgerliche Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Fechner kam als Sechzehnj~hriger nach Leipzig.Aus Grogs~irchen, dem kleinen niederlausitzischen D o r f am Ostufer der Neil3e, ftihrte den Pfarrerssohn der Lebensweg 0ber Wurzen, Ranis, Sorau und Dresden im Frfihjahr 1817 in die Messestadt, wo er sich am 19. Mai 1817 in die Matrikel der Medizinischen Fakult~it der Universitfit eintrug. 2 Fechners soziale Beziehungen in der Studienzeit - also bis zu seinem Magisterexamen 1823 - u m f a s s e n vor allem solche zu Kommilitonen und akademischen Lehrern, aber auch zu uns nicht weiter bekannten Btirgerfamilien, in denen der Student Privatunterricht erteilte. Pr~igenden Einflug auf seine Entwicklung tibten einige der akademischen Lehrer aus, vor allem der Physiker Wilhelm Gilbert (1769-1824), der Mathematiker und Astronom Karl Brandan Mollweide (1774-1825) - bei dem er einige Jahre ,,famulierte" - und der Physiologe Ernst Heinrich Weber (1795-1878). Mit letzterem verband Fechner eine lebenslange Freundschaft. Die Universit~itsprofessoren reprfisentierten schon zu einem guten Teil die Leipziger btirgerliche Gesellschaft. Die Messestadt selbst - Handelsmetropole und Zen-
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trum des deutschen Buchhandels, das ,,Klein-Paris" Goethes - hatte, als Fechner hierher kam, ungef~ihr 30 000 Einwohner. Der Wissenschaftsbetrieb der Universit~it, Publizistik und Buchgewerbe waren in Leipzig schon im 17./18. Jahrhundert eine Synthese eingegangen, die der Stadt eine geradezu einzigartige Stellung verschafften, die sie im 19. Jahrhundert noch ausbauen konnte. Leipzig wurde geradezu dadurch auch kulturelles Zentrum, und sein Biirgertum zeichnete sich durch Bildung, Weltoffenheit und kommerzielle GroBztigigkeit aus. Messe und Buchhandel verbanden Leipzig wie durch unsichtbare F~den mit anderen kulturellen Zentren des damaligen Europa. Das war nicht ohne EinfluB auf die Entwicklung von Leipzigs politischem Leben im 19. Jahrhundert, vor allem seine liberale Bewegung und mannigfaltige, von Leipzig ebenfalls ausgehende Impulse zur Schaffung der nationalen Einheit Deutschlands, aber auch die Entwicklung der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung und anderer sozialer Bewegungen. 3 Doch als der junge Fechner nach Leipzig kam und hier studierte, gab es hier so wenig wie in anderen deutschen St~idten ein entwickeltes politisches Leben. Es war die Zeit der Restauration, die allen Fortschritt l~ihmte, wenn sie ihn auch nicht ganz aufhalten konnte. Durch die Ergebnisse des Wiener Kongresses war Leipzig gleichermaBen in Grenzn~ihe gertickt. Das preuBische K6nigreich begann seit 1815 schon unweit der Stadtgrenze, und auch der Wahlleipziger Fechner hatte seine Niederlausitzer Heimat an PreuBen verloren. Sachsens Orientierung an der napoleonischen Politik und Napoleons Niederlage auf dem Schlachtfeld von Leipzig hatten den Weg dazu geebnet. Mit den Studienjahren, die Fechner iibrigens an einer Universit~it absolvierte, deren MiBst~inde und materielles Elend geradezu zum Himmel schrien, begannen Fechners Beziehungen zum Leipziger Btirgertum. Er gewann Kontakte zu einigen Professoren und Dozenten, unterrichtete Leipziger Btirgers6hne und tibersetzte als junger Gelehrter fiir den Buchhfindler Leopold VoB (1793-1868) franz6sische Lehrbticher auf dem Gebiet der Physik und Chemie, eine T~itigkeit, die ftir sein sp~iteres wissenschaftliches Werk insofern groBe Bedeutung erlangt hatte, als sie ihm das hohe theoretisch-methodische Niveau der franzOsischen Naturforschung erschloB. Doch die eigentliche Integration in die Leipziger btirgerliche Gesellschaft - und bier ist durchaus von deren Oberschicht zu sprechen - begann um die Mitte der zwanziger Jahre. Und ein Freundeskreis spielte dabei die entscheidende Rolle. Er nannte sich ,,Eranion" (griech. Mahlzeit), und ihm gehOrten etwa sieben gleichaltrige, akademisch gebildete und teilweise sehr honorigen Familien entstammende BiirgersOhne an. Unter ihnen Hermann H~irtel (1803-1875), zusammen mit seinem Bruder Erbe des bedeutenden Buch- und Musikalienverlages Breitkopf & H~irtel, ferner Christian Hermann WeiBe (1801-1866), der Enkel des bekannten Aufkl~irers Christian Felix WeiBe (1729-1804) und der Sohn des Juraprofessors und Rittergutsbesitzers Christian Ernst WeiBe (1766-1832), sowie Alfred und Julius Volkmann, die SOhne des Ratsherrn Johann Wilhelm Volkmann (1772-1856), der in der Zeit vor 1820 in der Leipziger Kommunalpolitik eine bedeutende Rolle gespielt hatte und als Leipzigs Ratsdeputierter auch fiber gute Beziehungen zur s~ichsischen Regierung verfiigte. 4 Fechner, der sich 1823 auch habilitiert hatte, als Privatdozent an der Universit~it lehrte und sich vor allem mit elektrophysikalischen Forschungen besch~ftigte, wurde in diesen Kreis eingefiihrt und gewann damit Beziehungen, die for sein weiteres pers6nliches Leben geradezu entscheidende Bedeutung erlangten.
Gustav-Theodor Fechner und die Leipzigerbtirgerliche Gesellschaft
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Abb. 2 Der LeipzigerVerleger Hermann H~irtel.
Das Freundschaftsverh~iltnis bezog sich zunfichst auf die Brtider Volkmann. Julius Volkmann (1804-1873) war Advokat und sp~ter Bergwerksdirektor im OelsnitzLugauer Revier, Alfred Volkmann (1801-1877), als Anatom und Physiologe wie Fechnerein Schiiler Ernst Heinrich Webers und spfiter Fechners engster Mitarbeiter bei der Entwicklung der Psychophysik. Die Schwester der beiden Br~ider aber, Clara Maria Volkmann (1809-1900), wurde 1833 Fechners Ehefrau, mithin der Senator Johann Wilhelm Volkmann sein Schwiegervater. Der als Student arm wie eine Kirchenmaus in die Messestadt gekommene Gelehrte heiratete damit in eine der ,,ersten" Leipziger Familien hinein, wobei er sich seine Reputation dazu hart erarbeitet hatte. Fechner gait um 1830 an der Leipziger Universit~it als eine der hoffnungsvollsten jungen Gelehrtenpers6nlichkeiten. Als er - nach mehreren Anlfiufen - 1834 zum Ordinarius ftir Physik berufen wurde, beherrschte er sein Fach, hatte durch die Verifizierung des Ohmschen Gesetzes und die erste bedeutende Monographie, die zur Elektrophysik in Deutschland erschien (Massbestimmungen i~ber die galvanische Kette, Leipzig 1831), einen Ruf in der Fachwelt erlangt und war zudem als Obersetzer sowie als Verfasser origineller satirischer Schriften bekannt. Fechner war jener ,,Dr. Mises", der ,,bewiesen" hatte, ,,daft der Mond aus Jodine besteht" (1821), der eine Vergleichende Anatomie der Engel (1825) verfaBt hatte und der in eigenwilliger Nachfolge des jungen Schelling originellen naturphilosophischen Gedanken
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anhing. Jedenfalls mug das alles nicht nur die Braut sondern auch den Schwiegervater beeindruckt haben, weniger die Schwiegermutter - Clara Fechners Stiefmutter -, die Tochter eines pietistisch-strengen Dresdener Kirchenrates, der vor Fechners ,,heidnischen" Ansichten, seiner eher pantheistischen Religiositfit, immer gegraust hat. Fechner hat mit der Leipziger Ratsherrentochter eine wahrhaft gltickliche Ehe geffihrt, wenngleich diese durch Fechners Ende 1839 einsetzende und jahrelang andauernde schwere Krankheit tiberschattet war. 5 Fechners Tagebticher reflektieren den humorvollen Umgang der Eheleute miteinander und dokumentieren eheliche Beziehungen, die der Kultur des Biedermeier entsprachen, wobei die daftir charakteristische patriarchalische Dominanz jedoch eher unbedeutend war. Diese Ehe war von einer wirklich bis zum Ende andauernden Liebesbeziehung geprfigt. Welcher Philosoph hat schon in der zusammenfassenden Darstellung seiner Weltanschauung [Fechner, 1919, S. 9] eine ganze Passage der Liebe und Treue seiner Frau gewidmet. Clara Fechner brachte der wissenschaftlichen Arbeit ihres Gatten nicht nur Verstfindnis, sondern vielfach auch Interesse entgegen. Sie verftigte tiber eine bemerkenswerte Allgemeinbildung und ging als Verfasserin eines M~rchenbuches, das im 19. Jahrhundert mehrere Auflage erlebte und von Ludwig Richter illustriert wurde [Fechner, Clara, 1848], in die Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur ein. Im Nachruf auf ihn 1866 [Fechner, 1866] hat Fechner Christian Hermann Weige als seinen treuesten Freund bezeichnet. Der Erbe des Rittergutes in St6tteritz bei Leipzig war als Philologe, als der er zun/ichst in Erscheinung trat, ein Schiiler Gottfried Hermanns (1772-1848), des bekannten Leipziger Literaturwissenschaftlers. Mit Fechner vereinten Weige ausgepr/igte/isthetische Interessen. Beide reprfisentierten eigene philosophische Systeme: Fechner eine objektiv-idealistische, pantheistische Naturphilosophie, die tief verwurzelt war in naturwissenschaftlicher Empirie, Weige - zusammen mit dem Sohn Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814), Immanuel Hermann Fichte (1796-1879) - ein System des spekulativen Theismus. Insofern waren Fechner und Weige, ungeachtet der tiefen und echten Freundschaft, philosophische Kontrahenten, die - wie Fechners Tagebticher ebenfalls verraten - oft erbitterte Streitigkeiten austrugen. Weiges Bestreben, eine yon Hegel herkommende, im tibrigen ganz konservative sp~itidealistische Philosophie mit einer liberalen evangelischen Theologie so zu verbinden, daB beide eine Synthese eingehen, hat Fechner eher kopfschttttelnd betrachtet. 6 Dennoch stand er bis zu einem gewissen Grade unter Weil3es philosophischem Einflug, und auch die politischen Ansichten beider - etwa in den Revolutionsjahren 1848/49 - fihnelten sich. Vor allem durch die Freundschaft mit Hermann Hfirtel war ftir Fechner die enge Verbindung mit dem wohlhabenden liberalen Btirgertum der Messestadt hergestellt. Der Advokat und Verlagsbuchhgndler gehOrte zu den reichsten Btirgern Leipzigs, war Kunstsammler und Mitbegrtinder des Leipziger Kunstvereins (dem auch Fechner angeh6rte), engagierte sich irn Gewandhausdirektorium und ebenso in den Angelegenheiten des Buch- und Musikalienhandels sowie in Leipziger Kommunalpolitik. Er korrespondierte mit Europas Musikwelt und war mit Robert Schumann (1810-1856), Clara Schumann (1819-1896) sowie Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) befreundet. Freund und Ratgeber, yon 1834 bis 1850 sogar der Hauswirt, war Hfirtel auch fiir Fechner. Das Ehepaar Fechner wohnte auf dem Grund-
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sttick H~irtels neben dessen R6mischem Haus, einem nach dem Vorbild einer r6mischen Villa errichteten reprfisentativen klassizistischen Btirgerhaus, das die Italienbegeisterung seines Besitzers zum Ausdruck brachte, abet nut kurze Zeit in seiner Hand blieb. Ab 1834 erschienen die meisten Schriften Fechners im Verlag Breitkopf & H~irtel, darunter auch die bertihmten Elemente der Psychophysik (1860). H~irtel fand Mittel und Wege, Fechners Werke zu edieren, auch wenn kein kommerzieller Gewinn winkte, zuweilen eher ein Verlustgeschfift. GroBztigig finanzierte H~irtel kurz vor seinem Tode eine gemeinsame Reise mit dem Ehepaar Fechner nach Itatien, u n d e r hinterlieB ihm auch in seinem Testament 1000 Taler. Doch die besondere Bedeutung Hfirtels for Fechners soziale Beziehungen bestand darin, dab er den Freund in seine zahlreichen Abendgesellschaften einbezog, wo Fechner nicht nut das ganze elegante Leipzig kennenlernte, sondern auch Ktinstler, Musiker, S~tngerinnen aus ganz Europa, Geisteswissenschaftler wie den Historiker Theodor Mommsen (1817-1903), die Stadtrfite und nicht zuletzt die Gr6gen des Leipziger Buchhandels. Fechner selbst war als gl~inzender Unterhalter oft der Mittelpunkt der Tafel. Das Hfirtelsche Haus und in fihnlicher Weise der Gutshof WeiBes in St6tteritz war war zugleich der Mittelpunkt von Diskussionen Leipziger Btirger tiber Fragen der Kunst. Hier und im Kunstverein gewann Fechner wesentliche Anregungen ftir seine Beschfiftigung mit Problemen der J~sthetik. Seine Studien zu dem Gem~lde von Hans Holbein dem Jtingeren (1497/98-1543) Die Madonna des Baseler Biirgermeisters Meyer (Fechner engagierte sich in dem Streit um die Echtheit und inhaltliche Interpretation der beiden in Dresden und Darmstadt vorhandenen Gemfilde) und seine experimentelle ,a,sthetik, nicht zuletzt seine Positionen zu ~isthetischen Grundfragen und zur zeitgenOssischen Kunst, sind ohne diesen Hintergrund gar nicht vorstellbar. Anregungen speziell zu musikfisthetischen Fragen gewann Fechner noch in einem anderen Kreis der Leipziger Gesellschaft, in welchem er in den dreil3iger Jahren verkehrte. Fechners Schwester Clementine (1804-1893), die zusammen mit der Mutter 1824 in die Messestadt gezogen war, hatte 1828 den Klavierpfidagogen Friedrich Wieck (1785-1873) geheiratet. Sie wurde damit die Stiefmutter der zu dieser Zeit neun Jahre alten Clara Wieck, der sp~iteren Ehefrau Robert Schumanns. Die bertihmte Konzertpianistin war mithin Fechners Stiefnichte. Fechner besaB ein sehr enges Verh5ltnis zur Familie seines Schwagers. Das Wiecksche Haus war Mittelpunkt des Davidsbundes, eines Kreises progressiver Musiker, deren Kopf der junge Robert Schumann war. Fechner begegnete bier manchem jungen Komponisten, Gewandhausmusikern und anderen Ktinstlern. Fechner wurde wohl auch Augen- und Ohrenzeuge jener heftigen Streitigkeiten zwischen seinem Schwager und dessen sch6ner und begabten Tochter, als diese sich dem jungen Robert Schumann zuwandte. Fechners Schwester fiel die undankbare Rolle der bOsen Stiefmutter zu, die nach entsprechenden Anordnungen ihres strengen, tiber seine Familie patriarchalisch herrschenden Gatten alle Kontakte der Liebenden kategorisch zu verhindern hatte. 7 Fechner selbst, seine Wohnung im Hgrtelschen Haus in der Windmtihlengasse und spfiter in der Dresdener Strage wurde ebenfalls Mittelpunkt eines geselligen Kreises. Die Leipziger Gelehrten waren vielfach durch sog. Kr~nzchen verbunden, die auch die Ehefrauen und andere Familienangeh6rige einschlossen. Das FechnerKr~inzchen verband den Physik-Professor vor allem mit den Brtidern Weber, mit dem ,,Weberschen Trifolium", d. h. mit Ernst Heinrich Weber, dem Physiologen, mit
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Abb. 3 Fechners Wohnhaus in der Dresdener Strage in Leipzig.Aufnahme aus dem Jahre 1996.
Wilhelm Weber (1804-1891), dem Physiker aus G0ttingen, der h~iufig bei seinem Bruder in Leipzig zu Gast war und - als einer der G6ttinger Sieben, also der politisch gemaBregelten Professoren der G6ttinger Universit~t - auch eine Zeitlang in Leipzig lebte und lehrte, sowie mit Eduard Friedrich Weber (1806-1871), dem Anatomen. In kleinen und aberaus munteren Abendgesellschaften kam man ziemlich regelmggig zusammen, besprach Universit~itsangelegenheiten, Tagespolitik, Leipziger Alltagsereignisse und auch manche wissenschaftliche Frage. Zum FechnerKr~nzchen geh0rten auch Geisteswissenschaftler, so Julius Ludwig Klee (180%1867), der spfitere Lehrer des Historikers Heinrich yon Treitschke (1834-1896), der Literaturwissenschaftler Moritz Haupt (1808-1874) und der junge Philosoph Rudolf Hermann Lotze (1817-1881), der 1844 nach G0ttingen berufen wurde. Fechner, Lotze, Haupt, Weige, der Literaturhistoriker Theodor Wilhelm Danzel (1818-1850), der Philologe Otto Jahn (1813-1869) und seit 1847 der Historiker Theodor Mommsen (1817-1903), der kurz vor seinem Tode einen der ersten Nobel-Preise erhielt, waren zugleich in einem weiteren Krfinzchen verankert, das der Buchhfindler Karl August Reimer (1801-1858) ins Leben gerufen hatte. Es war zugleich ein geistiges Zentrum des Leipziger vorm~rzlichen Liberalismus. Fechner geh6rte seit 1839 auch der Ft~rstlich Jablonowskischen Gesellschaff an, einer wissenschaftlichen Soziet~t, die 1768 yon dem polnischen Ft~rsten Josef Alexander Jablonowski (1712-1777) in Leipzig gegrt~ndet worden war. Mit ihren neun Mitgliedern ftihrte sie um 1840 eher ein Schattendasein, abet vor allem dank der Bemfihungen yon Fechners Freund Moritz Wilhelm Drobisch (1802-1896), dem Mathematiker und Sekret~ir der Gesellschaft, ging aus ihr die K6niglich S~ichsische Gesellschaft der Wissenschaften hervor, die sp~tere S~chsische Akademie der Wis-
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senschaften. Fechner und sieben andere Leipziger Hochschullehrer bildeten den Kern eines Grtindungsvereins, der 1845 an das s~ichsische Ministerium des Kultus und des 6ffentlichen Unterrichts herantrat, um die Grt~ndung mit staatlicher Hilfe offiziell einzuleiten. Von Fechner stammt auch eine Denkschrift, in der Fragen des Charakters der ktinftigen Akademie er6rtert wurden, Probleme der Finanzierung yon Forschung usw. Einige Gedanken davon gingen in das erste Statut der Akademie ein. 8 Fechner war bis zu seinem Tode eines der rtihrigsten Mitglieder der Mathematisch-Physischen Klasse der Sfichsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Er nahm ziemlich regelmfil3ig an ihren Sitzungen teil, trug hier vor allem Zwischenergebnisse seiner Forschungen zur Psychophysik vor und knt~pfte teilweise enge Kontakte zu Mathematikern, Physikern, Mineralogen und anderen Naturwissenschaftlern. Den meisten yon ihnen begegnete er zwar auch in den Senatssitzungen der Universit~it, aber diese besuchte er weitaus weniger regelm~igig, wie er sich tiberhaupt nach seiner mehrj~hrigen schweren Krankheit und dem Wechsel yon der Physik zur Philosophie auch in der Lehrt~itigkeit an der Universitfit nur noch als ,,Beil~iufer" betrachtete. Die Grtindung der S~ichsischen Gesellschaft der Wissenschaften erfolgte zwei Jahre vor der Revolution von 1848/49. An einer durchgreifenden Verfinderung der politischen Verh~iltnisse in Sachsen und in Deutschland war das Leipziger Btirgertum in besonderem MaBe interessiert. Die Messestadt hatte gr6Btes Interesse am Fall jener Beschrfinkungen, die Handel und Wandel behinderten. Die Buchh~indler waren - schon aus 6konomischen Grtinden - entschiedene Verfechter der Presseund Meinungsfreiheit, und das H~irtelsche Haus war nicht nur ein Diskussionsforum far Fragen der Kunst und Musik, sondern auch der Politik. Leipzigs GroBbtirgerund ebenso die meisten Universitfitsprofessoren waren nattirlich keine Demokraten und schon gar keine Revolutionfire. Sie beurteilten die Probleme vom Standpunkt eines gemfigigten Liberalismus und setzten ihre politischen Hoffnungen auf Reformen - nicht auf Barrikaden. Im wesentlichen war das auch die Gedankenwelt Fechners, der sich sehr ftir Politik, Geschichte und die soziale Frage interessierte, auch wenn diese Problemkreise in seinen Schriften eine eher untergeordnete Rolle spielen. Aber seine Tagebticher sagen viel dazu aus, und 1848 trat er - wenn auch nur kurzfristig - in das politische Leben ein, indem er dem Deutschen Verein beitrat und drei politische Aufs~itze im Leipziger Abendblatt ver6ffentlichte. Der Deutsche Verein war in gewissem Sinne der Vorlfiufer der spfiteren Nationalliberalen Partei in Sachsen, auch und gerade in Leipzig. Er bekannte sich zu den Errungenschaften der Mfirzrevolution und erstrebte eine konstitutionelle Monarchie, ,,ruhend auf breitester demokratischer Grundlage", wie es immerhin in seinem Wahlmanifest for die Frankfurter Nationalversammlung hieg. 9 Es war das progressivste Programm, das die sfichsischen Liberalen in der Revolution hervorbrachten. Die Republik war nicht ihr Ziel. Fechner selbst sprach sich in seinem Artikel Ueber Volkssouverainetat im Mai 1848 gegen das demokratische Prinzip aus: Die Majoritgt des Volkes wisse selbst nicht, was seinem Wohle dient; die dem ganzen Volk gestattete Freiheit, in Staatsangelegenheiten mitzusprechen, sei gerade das schlechteste Mittel, Stimme und Wtinsche der Volksmehrheit zur Geltung zu bringen. Wie viel schOner ist es, so heif3t es am SchluB seines Artikels, ,,nach einer tiber Allen leuchtenden Krone zu blicken.., als diese Krone in den Staub getreten zu sehen und in den Wirbeln dieses Staubes zu wandeln" (Fechner,1848). - Fechner land nattir-
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lich sofort Widerspruch; das Leipziger demokratische Lager meldete sich zu Wort. Fechner blieb aber in einem weiteren Artikel zur Erwiderung bei seinem Standpunkt. Er verfolgte im tibrigen den Revolutionsverlauf mit Unbehagen, so sehr er die nationalpolitischen Ziele bejahte. Er zog sich- im Gegensatz zu manchem seiner Freunde - aus dem politischen Leben rasch zurtick, schrieb inmitten des revolutionfiren Geschehens sein Buch Nanna oder iiber das Seelenleben der Pflanzen und sah sich schlief31ich durch die Niederlage der Revolution in seinen Ansichten geradezu best~itigt. In seinem dreib~indigen Werk Zend-Avesta, der wichtigsten Schrift seiner Naturphilosophie, schrieb er 1850: ,,Ich glaube,dab die Vernunftder Unmtindigensichzu bescheidenhat vor einer hOherenVernunft, die ihr Recht bew~ihrthat in der Geschichtedurch die Erziehung der Mtindigen... Ich glaube, dab alles Neue,was bestehen soll,nur erwachsenkann, aus dem,was schon bestanden hat, nicht durch den Umsturz,sondern die Fortbildungoder die Verjiingungdes Bestehenden oder Bestandenen." (GustavTheodor Fechner:Zend-Avesta oder Ueber die Dinge des Himreels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung, T. 3, Leipzig:Vo13,1851, S. 399) In dieser sozialpolitischen Beziehung bewegte sich Fechners Philosophie auf ~ihnlicher Linie wie die Schopenhauers, Hartmanns und anderen Philosophen, deren Ideen nach 1848 in Deutschland zu Ehren kamen, weil sie Intentionen des in der Revolution gescheiterten Btirgertums entsprachen. Die naturphilosophischen Gedankeng~inge Fechners hingegen gingen eher in andere Richtung; sie bereiteten - zumindest partiell- philosophischen Positionen des 20. Jahrhunderts den Weg und zeugen von Fechners naturwissenschaftlichem Realismus. Hierzu z~ihlt auch seine Psychophysik. Die Tagebticher Fechners reflektieren auch Fechners Standpunkt zur sozialen Frage. Sie offenbaren - was fiir einen Physiker sicher leicht zu begreifen ist - seine Beftirwortung der industriellen Revolution, aber auch seine Bejahung der daraus hervorgehenden Verhfiltnisse zwischen Kapital und Arbeit. Fechner bejahte den Kapitalismus, sogar in seiner manchesterlichen Gestalt. Es mtil3te dahin kommen, so ~iugerte er sich schon im Juli 1842 gegentiber einem ehemaligen Studienfreund, dab der Arbeiter blo13 noch Knochen, die Bevorzugten aber Gehirn und Nerven werden, wenn ein recht vollkommenes Ganzes entstehen soll; die Arbeiter h~itten ohnehin wenig und blog materielle Bedtirfnisse. Im tibrigen werde in der Entwicklung des Industriewesens ein ~ihnlicher Gang eintreten wie in der Entwicklung des Staatslebens, es werde auch hier sich eine Art konstitutionelles System ausbilden. Fechner nannte die Stichworte: St. Simonismus, Fourierismus, Aktienwesen. 1~Er sah also die MOglichkeit einer Kombination yon Kapitalismus und Sozialstaat; er vertraute auf Reformen. Er sah im tibrigen im Verlagsbetrieb seines Freundes H~irtel - vor allem in den sechziger und siebziger Jahren, nachdem das imposante Fabrikgeb~iude des Verlages Breitkopf & H~irtel in der Ntirnberger Straf3e entstanden war - eine interessante Synthese von patriarchalischer Betriebsftihrung und einer Vielzahl sozialer Einrichtungen, geschuldet nicht zuletzt dem Angewiesensein dieses Buch- und Musikalienverlages auf eine betriebstreue Facharbeiterschaft. Fragt man nach den Grtinden ftir Fechners politische und soziale Auffassungen, so sieht man deutlich den pr~igenden Einflul3 jener btirgerlichen, ja grof3biirgerlichen Kreise, zu denen er seit dem Ende der zwanziger Jahre Zugang gefunden hatte, und nicht zuletzt war dies die politische Ideenwelt der weitaus meisten Leipziger
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Universit~itsprofessoren. Man erkennt auch den Einflug politischer und historischer Lekttire, die Fechner las (in seinem Tagebuch sind etliche Titel angeftihrt). Man merkt, dab er Leser der btirgerlich-liberalen Leipziger Allgemeinen Zeitung war, die bei Brockhaus erschien. Man erkennt auch seine Philosophie, die in der Naturentwicklung prim~ir die langfristig evolutionfire Tendenz und die Wirksamkeit einer hierarchischen Ordnung wahrnahm, die Tendenz zur Stabilit~it, Harmonie start Widerspruch, tiber allem der alle Natursysteme durchdringende und mit Hilfe der Naturgesetze waltende Gott. Nicht zuletzt spiegelt sich in Fechners politischen Auffassungen auch seine pers6nliche Lebenssituation wider: er war als berufener Professor zugleich Staatsbeamter; der sfichsische Staat zahlte ihm - und zwar jahrelang, w~ihrend seiner schweren Krankheit - Ruhegeld, auch nach der Entpflichtung von seinem Physikordinariat. Er konnte damit leben. Er hatte pers6nlich keinen Grund, mit dem Staat der Wettiner unzufrieden zu sein. Fechner hatte auch das Beispiel seines Freundes Wilhelm Weber vor Augen, den die Unterschrift unter eine politische Protestresolution um seine Professur in G6ttingen gebracht hatte. Er sah dies dann gleich nach 1849 noch einmal: am Beispiel seiner Freunde Moritz Haupt, Otto Jahn und Theodor Mommsen, die wegen der deutlich zum Ausdruck gebrachten Beftirwortung der Dresdener Maierhebung ebenfalls ihre Lehr~imter verloren. Fechners wissenschaftliche Entwicklung, sein soziales BewuBtsein und seine politischen Auffassungen wurden von Leipzig, seiner Universit~it und seiner btirgerlichen Gesellschaft wesentlich geprfigt, nicht zuletzt deshalb, weil er in dieser Stadt tiber sechzig Jahre verbrachte. Leipzig selbst durchlief in dieser Zeit die Entwicklung zu einer Grol3stadt, die zwar immer mehr in den Schatten des 1871 zur Reichshauptstadt avancierten Berlins geriet, aber weiterhin ein Zentrum des wissenschaftlichen und literarischen Lebens blieb. Zugleich entwickelte sich Leipzig - vor allem seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einer bedeutenden Industriestadt, die neben Berlin auch das politische Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung war. Fechners Wohnhaus lag, als er 1850 dort einzog, noch an der Peripherie der Stadt, zwanzig Jahre sparer aber inmitten ihres wichtigsten Industriegebietes, des sogenannten graphischen Viertels. Fechner liebte Leipzig. Er genol3 Verehrung in der Btirgerschaft - als Philosoph, Naturwissenschaftler, Literat und FOrderer des Kunstlebens, auch als satirischer Kritiker mancher Entwicklung der Stadt gerade wfihrend der Grtinderjahre. Die Stadt Leipzig machte Fechner aus Anlal3 seines 50. Ordinariatsjubilfiums 1884 zu ihrem Ehrenbtirger. In dem Dankesschreiben, das Fechner in diesem Zusammenhang an den Rat von Leipzig richtete, sprach er von ,,der an Mitteln so reichen, innerlich so wohlbehtiteten, nach AuBen eine so hohe Weltsteltung einnehmenden Stadt", in der er den Boden fiir seine ganze btirgerliche, wissenschaftliche, literarische Existenz gefunden habe und die ihm zur eigentlichen Heimat geworden sei. 11 Fechner hat in dieser Zeit - also in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - seine politischen Auffassungen nur wenig ver~indert. Er hat die Reichsgrtindung begrtigt und zuvor auch den Krieg der deutschen Staaten gegen Frankreich, den er gerade deshalb ftir notwendig hielt, weil damit die Frage der nationalen Einheit einer L0sung zugeftihrt wurde. Er war tibrigens 1871 for die schwarzrot-goldene Fahne als Nationalflagge, repr~isentierte sie doch seiner Ansicht nach am st~irksten den Gedanken der nationalen Einheit, nicht zuletzt auch die 1870/71 zur Wirkung gekommenen Kriegsanstrengungen der stiddeutschen Staaten, also Bay-
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erns, Badens, Wiirttembergs - die durch schwarz-weiB-rot, die Flagge des Norddeutschen Bundes - seiner Ansicht nach nicht zum Ausdruck gebracht wurden. 12 Als Franzosenfresser ~iuBerte sich Fechner - im Gegensatz zu manch anderem deutschen Gelehrten dieser Zeit - nicht. Er wuBte aus Erfahrung, was die Welt Frankreichs Kultur und Wissenschaft zu danken hatte. Aus Fechners Gedankenwelt und auch seinem Freundeskreis - noch einmal sei hier ausdrticklich Hfirtel genannt - ist darauf zu schliegen, dab er zu den nationalliberalen Wahlern Leipzigs geh6rte, zu den Anh~ingern jener Partei, die damals auch die Stadt regierte. Es ist nicht zu tibersehen, dab Fechner seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts mehr und mehr vereinsamte. Das gesellschaftliche (und gesellige) Leben Leipzigs ver~inderte sich unter dem EinfluB seiner Entwicklung zur kapitalistischen GroBstadt. Die alten Freunde starben, einige hatten noch vor 1850 im Zuge ihrer wissenschaftlichen Karriere die Stadt verlassen. An die Stelle der Krfinzchen und groBen Diskussionsrunden im H~irtelschen und WeiBeschen Haus traten engere, familifire Beziehungen und der kollegiale Umgang mit Jtingeren, etwa mit dem Psychologen Wilhelm Wundt (1832-1920) und dem Astrophysiker Karl Friedrich Z/511her (1834-1882), der noch einmal eine Abendgesellschaft yon Leipziger Gelehrten zustande brachte, sein Haus aber auch for spiritistische Experimente zur Verftigung stellte und damit selbst Fechner in einen fragwiardigen Ruf brachte. Zugleich empring Fechner, der durch seine Psychophysik und seine Philosophie mehr und mehr Beriahmtheit erlangte, Besuche aus der Fremde. GroBe Namen begegnen uns dabei: Franz Brentano (1838-1917) und Ernst Mach (1838-1916), H e r m a n n Ebbinghaus (1850-1909) und Wilhelm Ostwald (1853-1932), auch Tomas Masaryk (1850-1937), der sp~itere GrOnder der Tschechoslowakischen Republik. Leipzigs Biargertum bewahrte Fechner lange Zeit ein von Respekt und Dankbarkeit erftilltes Andenken.Als Fechner im November 1887 starb, folgte seinem S arg ein auBergew6hnlich groBer Trauerzug. Schon wenig sp~iter folgten die Errichtung eines Denkmals in dem von Fechner geliebten Rosental, die Aufstellung einer KolossalbOste in der Universit~itsaula, die Aufnahme seines wissenschaftlichen Nachlasses in das Archiv der S~ichsischen Gesellschaft der Wissenschaften (wo alles in der Bombennacht vom D e z e m b e r 1943 verbrannte) - und auch die Benennung einer StraBe in Leipzigs Vorort Gohlis. Im Jahr seines 200. Geburtstages bedarf es jedoch einiger Anstrengungen, um Fechners A n d e n k e n der inzwischen immerhin wahrzun e h m e n d e n Vergessenheit zu entreiBen.
Anmerkungen 1 Vortrag auf dem Festkolloquium anlaBlich des 70. Geburtstages yon Doz. Dr. habil. Wolfgang Schreier, veranstaltet vom Karl-Sudhoff-Institut for Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften der Universit/it Leipzig und der Arbeitsstelle for Geschichte der Naturwissenschaften und Mathematik der S~ichsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig am 8. Dezember 1999. 2 Universit~itsarchiv Leipzig, Med. Fak., Matrikelkartei 1809-1869, Fechner, G. Th. 3 Zu Leipzig in der ersten H~ilftedes 19. Jahrhunderts: H. Zwahr: Leipzig im (/bergang zur biirgerlichen Gesellschaft (1763-1871). In: Sohl, 1990, S. 140-162. 4 Zum Freundeskreis ,,Eranion" vgl. Arendt,1999, S. 46-52; zu Hfirtel vgl. Fechner, 1877;Volkmann, 1937,zu WeiBevgl.Fechner, 1866;Seydel, 1887,S 84-110; Briese, 1998,S. 65-77; zur Familie Volkmann vgl. Volkmann, 1895, bes. S. 75-95.
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Gustav-Theodor Fechner und die Leipziger bfirgerliche Gesellschaft
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Vgl. dazu Fechners autobiographischen Krankheitsbericht bei Kuntze, 1892, S. 105-126, ferner SchrOder/Schr0der, 1991. 6 Vgl. Universit~itsbibliothekLeipzig, Handschriftenabt., Nachlag G.Th. Fechner,Tagebuch 1862, B1. 107 f. (10. Okt. 1862). 7 Einblick in die Beziehungen zwischen Clara Wieck und ihrer Stiefmutter, Fechners Schwester, gewfihrt Clara und Robert Schumann: BriefwechseL Kritische Gesamtausgabe, hg. von Eva WeiSweiler, Bd. 1: 1832-1838, Stroemfeld, Roter Stern: Basel/Frankfurt a. M. 1984, S. 238 ff. 8 Vgl. Universitatsbibliothek Leipzig, Handschriftenabt., Nachlaf3 251,Archiv der Ffirstlich Jablonowskischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, 2.2.3. Stellungnahme Fechners zum Memorandum von Moritz Wilhelm Drobisch. Siehe dazu auch Lea/Wiemers, 1995, S. 154. 9 Vgl. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 99 vom 8. Apr. 1848, S. 1021 (Deutscher Verein. Programm). 10 Vgl. Universit~itsbibliothekLeipzig. Handschriftenabt., Nachlag G.Th. Fechner,Tagebuch 1842, BI. 18 f. (30.7. 1842). 11 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, Acta die Erteilung des Ehrenbtirgerrechts s. w. d. a. betr., Vol. I, B1. 258 f. (Fechner an den Rat der Stadt Leipzig, 6. Okt. 1884). 12 In seinem Tagebuch vermerkte Fechner schon am 19. August 1870, dab im Leipziger Tageblatt ein Streit darfiber geftihrt wfirde, ob bei den Siegen des preugisch-deutschen Heeres in Frankreich schwarz-weig-rot oder schwarz-rot-gold zu flaggen sei. Fechner war ftir letzteres und verteidigte seinen Standpunkt auch im Verwandtenkreis. (Universit~itsbibliothek Leipzig, Handschriftenabt., Nachlal3 G.Th. Fechner,Tagebuch 1870, B1.157 ff.; 19.Aug. 1870) DaB in der Beflaggung Leipzigs nach der Schlacht von Sedan (1./2. Sept. 1870) die schwarz-weig-rote Fahne dominierte, stellte Fechner selbst exakt fest, indem er in den Stragen der Innenstadt die einzelnen Fahnen in ihren unterschiedlichen Farben zfihlte und das Ergebnis verOffentlichte (Fechner: Einige Bemerkungen fiber den Fahnenschmuck in Leipzigs verwichenen Tagen. In: Leipziger Tageblatt undAnzeiger, Nr. 251 vom 8. Sept. 1870).
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A n s c h r i f i des Verfassers:
Prof. Dr. phil. habil. Hans-Jtirgen A r e n d t H a u p t s t r a B e 42 D-08304 SchOnheide
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