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Industrielle Enzyme
Hydantoinasen – von der präbiotischen Evolution zur Aminosäureproduktion JENS RUDAT, ULRIKE ENGEL INSTITUT FÜR BIO- UND LEBENSMITTELTECHNIK II: TECHNISCHE BIOLOGIE, KARLSRUHER INSTITUT FÜR TECHNOLOGIE (KIT), KARLSRUHE
The hydantoinase process is used for the large-scale production of optically pure amino acids, with side chains of semisynthetic penicillins as the most prominent products. The origin as well as the natural function of the eponymous enzymes, however, remains unclear to this day. Here we discuss the way of hydantoinases from prebiotic evolution to directed evolution, spanning some billion years from the origin of life to industrial processes. DOI: 10.1007/s12268-017-0770-z © Springer-Verlag 2017
ó Die weitaus meisten Protein-bildenden Aminosäuren – nach Position und räumlicher Anordnung der namensgebenden Aminogruppe als α-L-Aminosäuren (α-L-AS) bezeichnet – werden heutzutage durch bakterielle Fermentation optimierter Produktionsstämme hergestellt. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die Produktion nicht-proteinogener Aminosäuren, die z. B. in spiegelbildlicher Konfiguration vorliegen (D-AS), die Aminogruppe an einem anderen als dem α-Koh-
lenstoffatom tragen (β-AS, γ-AS usw.) oder eine funktionelle Gruppe als „Rest“ besitzen, die in Proteinen normalerweise nicht vorkommt.
Von wegen „unnatürliche“ Aminosäuren! Die Sammelbezeichnung unnatürliche Aminosäuren ist dabei so weit verbreitet wie irreführend. Man denke z. B. an das Fliegenpilzgift Ibotensäure, eine α-L-Aminosäure wie
ihre proteinogenen Pendants, nur eben mit einem Rest, wie er in Proteinen nicht zu finden ist. D-Alanin als essenzieller Bestandteil der bakteriellen Zellwand ist der Angriffspunkt für β-Laktam-Antibiotika wie Penicillin, das seinerseits D-Valin enthält. Die Hydrolyse des β-Laktam-Rings wiederum führt zu β-Aminosäuren. Die zytostatische Wirkung des natürlichen Brustkrebsmedikaments Taxol beruht auf der Wechselwirkung einer β-Aminosäure mit bestimmten Proteinen des Zytoskeletts. Die Stoffwechselwege zu den unterschiedlichen Aminosäuren sind jedoch höchst unterschiedlich und daher als generelles Konzept zur industriellen Produktion ungeeignet. Zur Synthese vieler D-Aminosäuren hat sich das Hydantoinaseverfahren bewährt (Abb. 1): Dabei wird ein als Racemat kostengünstig herstellbares Hydantoin durch zwei Enzyme sequenziell hydrolysiert. Beide Hydrolasen arbeiten stereoselektiv (oft D-spezifisch), sodass durch Hintereinanderschalten der beiden Reaktionen eine sehr hohe optische Reinheit des gewünschten Isomers erzielt werden kann. Das verbleibende Edukt-Isomer wird in einem dritten Reaktionsschritt (oft ebenfalls enzymatisch) racemisiert und dadurch letztlich auch der Hydrolyse zum gewünschten Produkt-Isomer zugeführt. Durch diese „dynamisch-kinetische Resolution“ – üblicherweise als Ganzzell-Biotransformation durchgeführt – sind Ausbeuten bis zu 100 Prozent möglich, wie man sie durch chemische Verfahren zu D-Aminosäuren in der Regel nicht erhält [1]. Woher stammt nun das namensgebende Enzym, und was ist seine natürliche Funktion?
Peptid-Nukleinsäuren (PNA): DNA-Vorläufer auf Hydantoinbasis?
˚ Abb. 1: Das Hydantoinaseverfahren zur Produktion von D-Aminosäuren, z. B. als Seitenketten für Ampicillin und Amoxicillin. Der Einsatz L-spezifischer Hydrolasen führt analog zu L-Aminosäuren. Die Produktion erfolgt üblicherweise in designer bugs, das heißt die Enzyme können aus völlig verschiedenen Bakterien zu Kaskaden kombiniert werden.
1953 untermauerte Stanley Miller in seinem berühmt gewordenen Experiment die bis dahin rein spekulativen Überlegungen zur chemischen Evolution mit handfesten Versuchsdaten. Sein Ansatz lieferte unter anderem zahlreiche Aminosäuren; wie spätere Analysen mit verfeinerten Methoden zeigten,
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sogar weitaus mehr als zum Bau von Proteinen benötigt werden, z. B. β-Alanin. Was sich allerdings partout nicht materialisieren wollte, waren Zucker und Nukleobasen; die Entstehung von Nukleinsäuren ließ sich also mit diesem einfachen Versuch nicht erklären – ein Makel, der Miller offenbar bis zu seinem Tod im Jahre 2007 beschäftigte. So war er später ein glühender Verfechter der Peptid-Nukleinsäuren (PNA) als Vorläufer der heute allgemein postulierten RNA-Welt [2]. Das PNA-Modell umgeht durch sein Polypeptidrückgrat die Herausforderung der Zuckerbildung aus anorganischen Vorstufen. Ähnlich der RNA wurden für PNA-Moleküle auch katalytische Aktivitäten sowie die grundsätzliche Fähigkeit zur Selbstreplikation nachgewiesen. Obendrein lassen sich aus PNA und RNA sowie DNA stabile Hybride herstellen – ein idealer Vorläufer also aus einfacheren Bestandteilen. Die abiotische Entstehung der statt Zuckern erforderlichen Aminosäuren hatte Miller ja bereits selbst gezeigt. Als Pool für Aminosäuren könnten außerdem entsprechend substituierte Hydantoine fungiert haben, deren abiotische Entstehung auch durch Meteoritenfunde hinreichend belegt ist. In Varianten des Miller-Experiments wurde unter Hinzunahme von Schwefelwasserstoff auch die Bildung der Aminosäure Cystein über Hydantoine gezeigt, die für den Zusammenhalt von Proteinstrukturen von entscheidender Bedeutung ist [3]. Bezüglich der Nukleobasenevolution war es erneut Miller, der schlüssige Vorschläge zur präbiotischen Synthese der Pyrimidinbasen Cytosin und Uracil publizierte [4] – wiederum auf Basis von Hydantoinen und Hydantoinsäure. Hydantoine könnten sogar ihrerseits als Nukleobasen fungiert haben: Der strukturell fast identische HydantoinFünfring kann die gleichen Wasserstoffbrückenbindungen ausbilden wie der Uracil- oder Thymin-Sechsring (Abb. 2). Tatsächlich werden Hydantoinglykoside als zytostatische Nukleosidanaloga diskutiert [5]. Umgekehrt wies der Paläobiologe Svante Pääbo die Entstehung von Hydantoinen als oxidative Basenmodifikation in prähistorischen DNA-Proben nach [6]. Diese Hydantoin-Pyrimidin-Analogie in der Erbsubstanz könnte erklären, warum die Hydantoinasen zahlreicher Bakterien auch Aktivität gegenüber Pyrimidinderivaten zeigen [7]. Auch wenn hier vieles im spekulativen Bereich bleiben muss: Hydantoine und damit auch Enzyme zu ihrer Spaltung und Synthese dürften in der chemischen wie auch der
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˚ Abb. 2: Hydantoinbasierte Peptid-Nukleinsäure (PNA) als Vorläufer heutiger RNA bzw. DNA mit einem Polypeptidrückgrat aus N -(2-Aminoethyl)glycin nach [2]. A, Ausbildung von H-Brücken zwischen Adenin und Pyrimidinbasen (oben) sowie Hydantoin (unten). R = H bei Uracil/Hydantoin; R = –CH3 bei Thymin/5-Methylhydantoin. B, Struktur der Peptid-Nukleinsäuren (PNA) und Überführung des Peptidrückgrats in N-Alkylhydantoine. Hydantoine könnten die Grundlage für beide Komponenten des ersten katalytisch aktiven Informationsträgers mit Fähigkeit zur Selbstreplikation gewesen sein. Hintergrundbild © ESO/L. Calçada.
frühen biologischen Evolution eine bedeutende Rolle gespielt haben [8].
Aus der Ursuppe ins Labor: technischer Einsatz von Hydantoinasen In das Labor und damit in den Fokus industrieller Nutzung kamen Hydantoine erstmals 1861: Bei Untersuchungen des Harnsäureabbaus gelangte der spätere Nobelpreisträger Adolf von Baeyer durch Hydrierung von Allantoin zum Hydantoin. Die erstmalige enzymatische Hydrolyse von Hydantoinen wurde in den 1930er-Jahren beschrieben. Nachdem bald darauf DNA als Träger der Erbinformation feststand, wurde die Erforschung des Pyrimidin- und Purinmetabolismus intensiviert. Da dieser mit den oben genannten Molekülen Harnsäure und Allantoin verquickt ist und die Promiskuität einiger Enzyme auffiel, begann rasch eine Diskussion über Verwandtschaft sowie Sequenz- und Strukturanalogien, die ein bis heute andauerndes Durcheinander der Begriffe Hydantoinase und Dihydropyrimidinase verursachte. Auf der Habenseite verbuchen konnten die Enzymatiker dabei viele anwendungsrelevante Informationen über diese große Gruppe zyklischer Amidasen, die mittlerweile auch als „Kochbuch“ für Laborversuche von Hochschulkursen bis zu industriellen Applikationen zusammengefasst sind [9]. Der Durchbruch für das Hydantoinaseverfahren war die großtechnische Produktion der Aminosäuren D-Phenylglycin und para-Hydroxy-D-Phenylglycin – beides α-Aminosäuren, aber mit spiegelverkehrter Anordnung der Aminogruppe sowie einem nicht-proteinogenen Rest. Durch Ersetzen der natürlichen Sei-
tenkette mit diesen Aminosäuren wird Penicillin zu Ampicillin bzw. Amoxicillin, die als Breitbandantibiotika auch viele Gram-negative Bakterien wie Salmonellen attackieren und im Falle des Amoxicillins zudem wesentlich schneller im Darm resorbiert werden. Analog erfolgt die „Aufwertung“ der Cephalosporine – die meisteingesetzten Antibiotika überhaupt verdanken wir also zu einem bedeutenden Teil dem Hydantoinaseverfahren. Auch zahlreiche L-Aminosäuren mit ungewöhnlichem Rest werden mithilfe L-spezifischer Hydantoinase-Carbamoylase-Systeme produziert. Bahnbrechend war hier eine Arbeit am California Institute of Technology unter Regie der Pionierin für gerichtete Evolution (directed evolution) Frances Arnold: Erstmalig gelang die Inversion der Stereoselektivität eines Enzyms für einen biotechnologischen Prozess [10]. Zudem wurden beide Hydrolasen und eine Hydantoinracemase rekombinant exprimiert und so der erste designer bug zur Aminosäureproduktion erzeugt [11].
β-Aminosäuren, mikrofluidische Enzymkaskaden – wohin geht die Reise noch? Wie erwähnt hydrolysieren zahlreiche Hydantoinasen neben Hydantoinen auch substituierte Pyrimidine, was wir für verschiedene aromatisch substituierte Pyrimidine nachweisen konnten [7, 12]. Die Enzyme zeigten hierbei zum Teil eine strikte Stereoselektivität, dies könnte einen neuen Weg zu chiralen β-Aminosäuren bedeuten (Abb. 3). Ein Forschungsprojekt zur Einbeziehung des zweiten hydrolytischen Enzyms der Reak-
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˚ Abb. 3: Aktuelle Trends zur Weiterentwicklung des Hydantoinaseverfahrens. A, Neben α-Aminosäuren könnten grundsätzlich auch β-Aminosäuren mithilfe der „molekularen Scheren“ Hydantoinase und Carbomoylase hergestellt werden. B, Zellfreie Reaktionskaskaden mit immobilisierten Enzymen würden Transportlimitierungen und Nebenreaktionen vermeiden und eine bessere Abstimmung der Reaktionsbedingungen erlauben.
tionskaskade, der N-Carbamoylase, wurde uns vor Kurzem bewilligt. Gerichtete Evolution der Enzyme soll hier ebenfalls eine Rolle spielen. Auch verfahrenstechnisch gibt es neue Tendenzen: Zur Vermeidung von Transportlimitierungen durch die Zellmembran sowie von Nebenreaktionen durch andere Enzyme in der Zelle wird derzeit versucht, via Tags immobilisierte Hydantoinasen und Carbamoylasen in mikrofluidischen Systemen einzusetzen. In diesen 3D-gedruckten Modulen können zudem die Reaktionsbedingungen auf beide Enzyme individuell abgestimmt werden, was in den bislang etablierten Ganzzell-Biotransformationen nicht möglich ist (Abb. 3).
[5] Kuszmann J, Márton-Merész M, Jerkovich G (1988) Application of the Bucherer reaction to carbohydrate derivatives. Carbohyd Res 175:249–264 [6] Höss M, Jaruga P, Zastawny TH et al. (1996) DNA damage and DNA sequence retrieval from ancient tissues. Nucleic Acids Res 24:1304–1307 [7] Engel U, Syldatk C, Rudat J (2012) Stereoselective hydrolysis of aryl-substituted dihydropyrimidines by hydantoinases. Appl Microbiol Biotechnol 94:1221 [8] Syldatk C, May O, Altenbuchner J et al. (1999) Microbial hydantoinases: industrial enzymes from the origin of life? Appl Microbiol Biotechnol 5:293–309 [9] Slomka C, Engel U, Syldatk C et al. (2015) Hydrolysis of hydantoins, dihydropyrimidines and related compounds. In: Faber K, Fessner W-D, Turner NJ (Hrsg) Science of Synthesis: Biocatalysis in Organic Synthesis. Thieme, Stuttgart, S 373– 414 [10] May O, Nguyen PT, Arnold FH (2000) Inverting enantioselectivity by directed evolution for improved production of L-methionine. Nat Biotech 18:317–320 [11] Arnold FH, May O, Drauz K et al. (2005) Hydantoinase variants with improved properties and their use for the production of amino acids. California Institute of Technology (US), Degussa (DE), Patent EP1165763 B1 [12] Slomka C, Zhong S, Fellinger A et al. (2015) Chemical synthesis and enzymatic, stereoselective hydrolysis of a functionalized dihydropyrimidine for the synthesis of β-amino acids. AMB Express 5:85
Auch mutmaßlich mehrere Milliarden Jahre nach ihrem ersten Auftreten warten auf Hydantoinasen also immer noch neue Aufgaben. ó
Literatur [1] Engel U, Rudat J, Syldatk C (2014) The Hydantoinase Process: Recent developments for the production of non-canonical amino acids. In: Grunwald P (Hrsg) Industrial Biocatalysis (Kap 22). Pan Stanford Publishing Pte. Ltd., Singapore [2] Nelson KE, Metthew L, Miller SL (2000) Peptide nucleic acids rather than RNA may have been the first genetic molecule. Proc Natl Acad Sci USA 97:3868–3871 [3] Parker ET, Cleaves JH, Callahan MP et al. (2011) Prebiotic synthesis of methionine and other sulfur containing organic compounds on the primitive earth. Orig Life Evol Biosph 41:201–212 [4] Robertson MP, Miller SL (1995) An efficient prebiotic synthesis of cytosine and uracil. Nature 375:772–774
Jens Rudat und Ulrike Engel Korrespondenzadresse: Dr. Jens Rudat Institut für Bio- und Lebensmitteltechnik Abteilung II: Technische Biologie Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Engler-Bunte-Ring 3, Geb. 40.19 D-76131 Karlsruhe Tel.: 0721-608-48428 Fax: 0721-608-44881
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