REVIEW ESSAY Wolfgang Schluchter Max Weber und Rational Choice
Norkus, Zenonas (2001): Max Weber und Rational Choice. Marburg: Metropolis-Verl. Die Schrift von Zenonas Norkus gehört aus meiner Sicht zu den wichtigsten und anregendsten Beiträgen, die in jüngster Zeit zu den Grundlagenproblemen der theoretischen Sozialwissenschaften geschrieben wurden. Unter theoretischen Sozialwissenschaften sind hier, ganz im Sinne Max Webers, zunächst die „soziologischen und ökonomischen Wissenschaften" gemeint. Hinzu kommt aber auch die Geschichtswissenschaft, die Max Weber bekanntlich ebenfalls zu den empirischen Wissenschaften des Handelns rechnete. Nicht zu genannte Methodenstreit in der Natio--letzdrso nalökonomie seiner Zeit, 1883 zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller ausgebrochen, verlangte von ihm eine überzeugende Verhältnisbestimmung von theoretischer und historischer Betrachtungsform in der Nationalökonomie und darüber hinaus. Zenonas Norkus schlägt nun vor, Max Weber so zu lesen, als habe er letztlich das Programm einer (sozialwissenschaftlichen) Einheitswissenschaft formuliert, das die heute vor allem in der Wirtschaftswissenschaft, aber auch die in der Soziologie und in der Politischen Wissen vertretenen Ansätze des Rational Choice-schaft (RC) antizipiere. Das gelte vor allem für Webers methodologischen Individualismus und für die heuristische Priorität, die er dem zweckrationalen Handeln zuerkennt. Das Buch von Zenonas Norkus wendet sich deshalb sowohl an die WeberForscher, um sie von dem Wert dieser Perspektive für eine angemessene Werkinterpretation zu überzeugen, als auch an jene Sozialwissenschaftler, die der Meinung sind, die RC-Ansätze enthielten zur Zeit das beste disziplinübergreifende Theorieangebot. Der Autor orientiert sich bei seinem anspruchsvollen Vorhaben an einem Vorbild: Es ist die Art und Weise, wie Jon Elster mit Karl Marx verfuhr. Wie dieser Marx, so möchte er Max Weber aus der Perspektive bestimmter Varianten des RC-Ansatzes lesen. Dem analytischen Marxismus Elsters wird also eine Art analytischer Weberianismus zur
Seite gestellt. Mit Weber-Interpretation allein will sich der Autor nicht begnügen. Es geht ihm vielmehr um Explikation und damit auch um eine Verbesserung der von Weber vorgelegten Problemlösung in der Handlungs-, Ordnungs- und Kultur- sowie der damit verknüpften Verstehenstheorie. Die Schrift ist in fünf Teile gegliedert, in denen zunächst der systematische Gehalt einer verstehenden Soziologie ä la Weber bestimmt wird, wie sie allmählich, so die These des Autors, aus den nationalökonomischen und geschichtswissenschaftlichen Debatten der Zeit herauswächst. Dann wird das Verhältnis von Webers logischmethodischer und grundbegrifflicher Grundlegung zu seiner materialen Soziologie sowie zu den RC-Ansätzen geprüft. Es folgen das Problem der Handlungsrationalität und die Rekonstruktion von Webers Typologie des Handelns. Dann wird Webers angeblich zentrales Problem, der rationale Kapitalismus und die Erklärung seiner Entstehung, kritisch geprüft. Schließlich werden alte (Weber) und neue (North) institutionelle Wirtschaftsgeschichte aufeinander bezogen. Ein Anhang über die „Protestantische Ethik" schließt sich an. Der Autor ist in allen Phasen seiner komplexen Untersuchung den hohen Anforderungen, die er sich selbst stellt, gewachsen. Er besticht durch eine umfassende Kenntnis des Weberschen Werkes und seiner vielstimmigen Interpretationen, vor allem aber durch eine beachtliche wirtschaftswissenschaftliche Theoriekompetenz. So werden Argumentationslinien gezogen, die bis in die gegen Grundlagendebatten führen. Mitunter hat-wärtigen dies freilich auch zur Folge, dass der Webersche Ansatz zum Stichwortgeber verblasst. Bei aller Brillanz der mitunter überraschenden Verknüpfungen von Weberschen Gedanken mit gegenwärtigen Debatten mag man sich fragen: Wozu der ganze Aufwand? Denn Weber wird am Ende doch nur eine marginale Mitgliedschaft in der Familie
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der RC-Theorien eingeräumt (S. 189). Schuld daran sei, dass er theoretisch noch an der Grenznutzentheorie orientiert war (Entscheidungen unter Gewissheit und bei parametrischer Rationalität) und weder die Werterwartungstheorie (Entscheidungen unter Unsicherheit und bei beschränkter Rationalität) noch die Spieltheorie (strategische Rationalität) kannte, womit die RCTheorien heute arbeiteten; schuld daran sei aber auch seine verstehende Soziologie im Spätwerk, die mit einer Abkehr von der abstrakten Wirtschaftstheorie als dem leitenden handlungs- und ordnungstheoretischen Paradigma und mit der Ausarbeitung einer eigenen Wirtschaftssoziologie verbunden sei. Tatsächlich fragt man sich, warum bei dieser Sachlage die mangelnde Übereinstimmung beider Ansätze nicht stärker betont wird, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass der eine in erster Linie als defizitärer Vorläufer des anderen erscheint. Sieht man vom letzten Teil des Buches ab — hier geht es unter anderem um die Frage, ob auf dem Hintergrund der Weberschen Religionssoziologie, die übrigens sehr selektiv aufgenommen ist, die Zweckrationalität nicht auch als abhängige Variable behandelt werden müsse —, so scheint die mangelnde Übereinstimmung beider Ansätze für den Autor vor allem daran zu liegen, dass Webers Ansatz im Vergleich zu den RC-Theorien unterkomplex ist. Dass er aber auch eine Herausforderung für RC-Theorien sein könnte, etwa in Bezug auf die duale Handlungsrationalität oder die Verstehenstheorie, steht jedenfalls nicht im Mittelpunkt des Interesses. Für Weber jedoch war die abstrakte W irtschaftstheorie schon lange vor 1910 nur ein Beispiel unter anderen, wie eine Handlungs-, Ordnungs- und Verstehenstheorie in den Kulturwissenschaften zu verfahren habe. Insofern wird eine Möglichkeit zu erweiterter Theoriekonstruktion verschenkt. Auch bindet sich der Autor — insbesondere in den beiden ersten Teilen seines Buches — bei der Explikation des Weberschen Ansatzes an werkgeschichtliche Thesen, die angesichts des Forschungsstandes keineswegs überzeugen. Ich mache dies an zwei Zusammenhängen klar. In Teil 1, „Die Sozialökonomik und die verstehende Soziologie von Max Weber", wird die These vertreten, Weber habe, anders als Wilhelm Hennis behauptet, das alteuropäische Denken überwunden, und zwar mit Hilfe eines sozialökonomischen Ansatzes, der 1904, im Objektivitätsaufsatz (Weber 1988: 146ff.), formuliert werde. Dieser Ansatz lasse sich als Kompromiss zwischen theoretischer und historischer Betrachtungsform in der Nationalökonomie verstehen. Es handle sich um einen umfassenden Ansatz, der sowohl ökonomische
wie ökonomisch bedingte und ökonomisch relevante Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt des rationalen Handelns unter Bedingungen der Knappheit im Kampf mit der Natur und in der Vergesellschaftung mit anderen Menschen untersuche. Diesen umfassenden Ansatz habe Weber dann mit dem von ihm konzipierten und organisierten Grundriß der Sozialökonomik eingelöst und im Kategorienaufsatz von 1913 methodisch und begrifflich fixiert. Bereits die dabei von Weber vertretene erste Version einer verstehenden Soziologie gerate zwar in eine gewisse Spannung zum sozialökonomischen Ansatz, Weber bleibe aber Sozialökonom, der an der Verbindung von theoretischer und historischer Betrachtungsform in der Nationalökonomie festhalte. Erst in seinem Spätwerk, von 1918 bis 1920, löse er diese Spannung zugunsten der verstehenden Soziologie endgültig auf. Erst jetzt werde Weber also zum Soziologen. Das zwinge ihn auch zu einer eigenen „Wirtschaftssoziologie".
Was diese werkgeschichtliche Konstruktion verkennt 1. Weber korrigiert mit seiner Überwindung (nicht Kompromiss!) des Methodenstreits in der Nationalökonomie auf der Grundlage von Rickerts Logik der Kulturwissenschaften das aus seiner Sicht falsche logische Selbstverständnis sowohl der theoretischen wie der historischen Richtung der Nationalökonomie und macht dabei zugleich klar, dass für ihn beide als Sozialwissenschaften Kulturwissenschaften sind, die die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung zu behandeln haben, also als wertbeziehende Wissenschaften, die zugleich empirische Wissenschaften von menschlichen Äußerungen und vom menschlichen Handeln sind. Solche Wissenschaften haben die Aufgabe, den Ablauf menschlichen Handelns nicht nur zu konstatieren, sondern zu verstehen (ebd.: 183). Auch die Sozialökonomie ist in diesem Sinne eine verstehende Sozialwissenschaft als Kulturwissen -schaft. 2. Sie ist als solche zudem eine Wissenschaft unter einem speziellen und einseitigen Gesichtspunkt, denn sie untersucht die ökonomische Bedingtheit von Kulturerscheinungen. Dies führt zu einer ökonomischen Geschichtsinterpretation, die nur ein Teilbild der Kulturwirklichkeit bietet, also Vorarbeit für eine volle historische Kulturerkenntnis ist (ebd.: 164). Dieser ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen steht zum Beispiel die
Berl.J.Soziol., Heft 4 2004, S. 561-565 „spiritualistische" gleichrangig zur Seite. Die ökonomische Geschichtsinterpretation ist „überhaupt nur ein Spezialfall eines ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kulturwirklichkeit geltenden Prinzips" (ebd.: 170). 3. Die Untersuchung ökonomisch relevanter Erscheinungen, um die es Weber 1904 vor allem geht, kann gerade nicht wiederum unter dem sozialökonomischen Gesichtspunkt erfolgen, denn ökonomisch relevante Erscheinungen müssen zunächst nichtökonomisch bedingt sein. Weber sagt daher auch, dass hierfür Vorgänge des religiösen Lebens infrage kommen. Hier ist natürlich die Studie über den asketischen Protestantismus und den „Geist" des Kapitalismus gemeint. Sie ist nach Webers eigenem Verständnis gerade keine wirtschaftsgeschichtliche, sondern eine religionsgeschichtliche Untersuchung, eine spiritualistische Konstruktion des Geschichtlichen, wie er an Rickert schreibt. Natürlich kann man auch das religiöse Leben unter sozialökonomischem Gesichtspunkt analysieren, jedoch nicht, wenn es um ökonomisch relevante Erscheinungen geht. 4. Spätestens 1907, aber im Grunde schon in der Auseinandersetzung mit der ethischen Nationalökonomie, macht Weber klar, dass rationales Handeln in zweierlei Gestalt auftritt: als geleitet von Zweck-Maximen oder von Norm-Maximen. Beide lassen sich in Idealtypen generellen und individuellen Charakters fassen. Doch Zweckvorstellungen und Normvorstellungen sind zweierlei. Beide können unter sozialökonomischem Gesicht analysiert werden. Aber dies hebt ihre prin--punkt zipielle Differenz nicht auf. Die theoretische Nationalökonomie ist gerade nicht die Wissenschaft von der Wirkung von Normvorstellungen. Sie ist die Wissenschaft von der Wirkung von Zweckvorstellungen im Ordnungsrahmen der modernen Verkehrswirtschaft. Gerade deshalb kann man mit diesem Ansatz keine umfassende Handlungs-, Ordnungs- und Verstehenstheorie formulieren. Nicht nur erfolgsorientiertes und eigenwertorientiertes Handeln, auch Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung sind zweierlei. 5. Spätestens in den Arbeiten zur Psychophysik der industriellen Arbeit ist die spätere Handlungstypologie mit den beiden rationalisierungsfähigen Handlungsorientierungen und dem gewohnheitsmäßigen und affektuellen Handeln voll entwickelt. Auch in methodischer Hinsicht ist Webers Ansatz jetzt differenziert. Neben das pragmatische, das situationslogische Verstehen ist das psychologische Verstehen getreten. in den „Soziologischen Grundbegriffen" von 1920 ist all dies nur zusammengefasst. 6. Die Entwicklung von Webers Beitrag zum „Grundriß der Sozialökonomik", der ja zunächst
„Handbuch der politischen Ökonomie" hieß, und die Entstehung des Kategorienaufsatzes sind weit komplizierter, als man es angesichts der werkgeschichtlichen These des Autors vermuten könnte. Ich gebe nur zwei Hinweise zur Illustration. Die Abschnitte I bis III des Kategorienaufsatzes sind, wie wir aus dem Briefwechsel wissen, erst 1913 geschrieben, also mit dem im „Stoffverteilungsplan" vorgesehenen Abschnitt über „Logik und Natur der Fragestellungen" keinesfalls identisch, wie der Autor meint. Hierfür kämen nur die Abschnitte IV bis VII in Frage, die in ihrer ursprünglichen Fassung tatsächlich älter sind. Aber diese leiten ja gerade nicht ein in den „Grundriß der Sozialökonomik", sondern in Webers Beitrag dazu, in seine verstehende Soziologie. Es geht darin um deren Grundbegriffe, also um Gemeinschaftshande ln (später: soziales Handeln) und seine Verzweigung in Gesellschaftshandeln und Einverständnishandeln sowie um die diesen Handlungsorientierungen entsprechenden Ordnungs- und Organisationsbegriffe. Die hier vorgestellten Grundbegriffe sind gerade nicht die Grundbegriffe, die die theoretische Nationalökonomie verwendet, auch nicht, wenn man sie als Teil der Sozialökonomik interpretiert. Und weiter: Weber ist spätestens bereits 1913 auch nach außen hin bekennender Soziologe, denn er nennt seinen Grundriß-Beitrag zu diesem Zeitpunkt „eine geschlossene soziologische Theorie und Darstellung" und erwägt, ihn nicht auch in der „Einteilung des Gesamtwerkes" als „Soziologie" zu titulieren. 7. Es gibt keine methodischen und grundbegrifflichen Äußerungen in den „Soziologischen Grundbegriffen", die sich nicht bereits in teilweise lange zurückliegenden Schriften fänden. Alle methodischen Bemerkungen sind alt. Dies gilt auch, mit Ausnahme der Terminologie und dem Aufbau, für die Soziologischen Grundbegriffe. Weber sagt selbst, dass seine Stammler- Kritik „die Grundlagen des Nachfolgenden vielfach schon enthielt" (Weber 1985: 1). Hinzu kommt: Mit größter Wahrscheinlichkeit wurde die „Wirtschaftssoziologie" ab April/Mai 1914 als Reaktion auf Webers Enttäuschung über von Wiesers Beitrag, vermutlich unter Verwendung älterer Manuskripte, in einer ersten Fassung niedergeschrieben. Denn nachdem sich Weber im Frühjahr 1914 von von Wiesers Beitrag über die „Theorien der gesellschaftlichen Wirtschaft" einen Eindruck verschafft hatte, beklagte er die mangelnde Behandlung soziologischer Probleme, und er schrieb an seinen Verleger, er „kremple" nun „seine Sache" zum dritten Mal um und füge ihr einen „ganz dicken Abschnitt" hinzu. Um welchen Abschnitt wenn nicht um die „Wirtschaftssoziologie" aber könnte es sich dabei gehandelt haben, zumal We-
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ber ja einen „neuen Kopf' für seinen Beitrag brauchte, in dem es nun explizit um das Verhältnis der wirtschaftlichen Ordnung und der wirtschaftlichen Mächte zu den übrigen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten ging? Dies schließt natürlich nicht aus, dass Weber seine „Wi rt wie etwa die Herr--schaftozilge"19/20, schaftssoziologie, noch einmal grundlegend überarbeitete und dabei auf die veränderten Zeitverhältnisse (Kriegswirtschaft!) Rücksicht nahm. Folgt man dieser Konjektur — und ich betone aus dass es sich um eine solche handelt —,-drücklih, so hätte Weber, anders als der Autor nahelegt, seine „Wirtschaftssoziologie" gerade nicht als ein Substitut für eine „Wirtschaftstheorie" entwickelt. Dies wird auch durch die „Vorbemerkung" zu den „Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens" von 1920 bestätigt, wo es heißt: „Nachstehend soll keinerlei ,Wirtschaftstheorie` getrieben, sondern es sollen lediglich einige weiterhin zu gebrauchende Begriffe definiert und gewisse allereinfachste soziologische Beziehungen innerhalb der Wirtschaft festgestellt werden." Wer das Verhältnis der Wirtschaft zur „Gesellschaft", also zu den übrigen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten, soziologisch untersucht, und dies tut Weber schon vor 1910, braucht eine von der Wirtschaftstheorie unterschiedene Wirtschaftssoziologie! Die werkgeschichtliche These, die der Autor im Teil 1 seiner Arbeit vorträgt, ist also, mit Ausnahme seiner Kritik an Hennis, mit den Fakten nur schwer vereinbar. Dies gilt auch für die zweite werkgeschichtliche These, die im Teil 2 vorgetragen wird. Hier geht es um die Frage, ob und wenn ja, wie Weber seinen RC-nahen Ansatz (methodologischer Individualismus und heuristische Priorität des zweckrationalen Handelns) mit seiner materialen Soziologie, die doch strukturalistisch verfahre, in Übereinstimmung bringe. Dafür werden zwei Schichten (zwei Phasen?) in Max Webers Außerungen zur Methodologie der Sozialwissenschaften identifiziert und die Unterscheidung zwischen Logik-im-Gebrauch und rekonstruierter Logik bemüht. Mit Rawls wird gar gesagt, bei Weber sei im Laufe der Zeit ein Überlegungsgleichgewicht eingetreten. Die wichtigere der beiden Schichten sei deshalb durch den Kategorienaufsatz von 1913 und die „Soziologischen Grundbegriffe" von 1920 markiert (der Autor erwähnt auch noch den Stammler- Aufsatz und die Psychophysik, wertet diese richtigen Hinweise aber nicht aus). Auch diese werkgeschichtliche These halte ich für äußerst problematisch. Sie verkennt die Tatsache, dass die Schichten, die zweifellos existieren, problembezogen sind. Weber unterscheidet zwi-
schen logischen (auch: methodologischen), methodischen und grundbegrifflichen Fragen. Die logischen Fragen wurden von ihm im Rückgriff auf Rickerts Wertbeziehungslehre bereits 1903/04 geklärt. An den dabei gewonnenen Einsichten hat er festgehalten. Noch in der „Vorbemerkung" zu den „Soziologischen Grundbegriffen" erinnert er dar (Hinweis auf Rickerts Grenzen in der Fassung-an von 1913 und auf jene Passagen, in denen dieser den kulturwissenschaftlichen Ansatz logisch charakterisiert). Die dabei gefundene Lösung ist übrigens unvereinbar mit der Methode der abnehmenden Abstraktion, wie sie von Wieser praktizierte. Weber ging es um zwei Arten der Abstraktion: die Generalisierung und die Individualisierung, die er mit verschiedenen Erkenntnisinteressen verband. Generalisierung in den Kulturwissenschaften führt nicht zu Gattungs-, sondern zu Typenbegriffen, auch zu Typenbegriffen generellen Charakters, die Weber auch idealtypische Gattungsbegriffe nennt. Die abstrakte Wirtschaftstheorie verwendet solche Begriffe, aber eben nicht nur sie, sondern auch die Soziologie. Weber bezeichnet sie später explizit als eine generalisierende Wissenschaft. Methodische Fragen dagegen klärte Weber nicht mit Hilfe von Rickert, sondern, bereits im Knies-Aufsatz, mit Simmel und Gottl, später mit Jaspers, aber auch mit Kraepelin und der psychophysischen Schule. Hier geht es ihm um eine Theorie der Deutung, auch der rationalen Deutung, vor allem aber um eine umfassende Theorie des Verstehens, die für die theoretische und für die historische Betrachtungsform gleichermaßen unverzichtbar ist. Es geht um eine Verstehenstheorie, die Gründe als Ursachen behandelt. Die grundbegrifflichen Fragen wiederum stehen in einem davon zu unterscheidenden Argumentationszusammenhang. Diese klärte Weber in erster Linie in der Auseinandersetzung mit Stammler und Tönnies. Auch diese Auseinandersetzung reicht, wie die über die Methode, in die Zeit vor 1910 zurück. Und noch eine letzte kritische Bemerkung ist angebracht. Sie betrifft die These, dass Webers zentrales Thema der rationale Kapitalismus sei. Diese These stimmt für die Zeit vor 1910, nicht aber für die Zeit danach, unterschlägt sie doch die 1910/11 im Zusammenhang mit den Studien Ober die Musik von Weber gemachte Entdeckung. Man braucht nur die „Vorbemerkung" zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie" zu lesen, um zu verstehen, dass Webers zentrales Thema jetzt nicht mehr nur der rationale Kapitalismus war. Diese auf die Weber-Interpretation bezogenen Einwände sollen den Wert der Arbeit freilich nicht
Berl.J.Soziol., Heft 4 2004, S. 561-565 grundsätzlich infrage stellen. Sie sind angesichts der systematischen Anlage der gesamten Studie eher marginal. Immerhin zieht der Autor aus seinen in meiner Sicht falschen oder zumindest problematischen werkgeschichtlichen Thesen systematische Konsequenzen. Insofern treffen die werkgeschichtlichen Einwände einen zentralen Punkt bei ihm, seine These nämlich, Weber habe sich erst 1918 bis 1920 vom Sozialökonomen zum Soziologen gewandelt. Die systematische Anlage der Studie ließe sich freilich auch auf eigene Füßen stellen. Der Autor besteht aber auf dem internen Zusammenhang zwischen seiner — problematischen — werkgeschichtlichen Rekonstruktion und seiner systematischen Argumentation. Sieht man von dieser Schwäche ab, so freut man sich über eine gedankenreiche, argumentative Untersu-
chung auf höchstem Niveau, die in jeder Hinsicht den gestiegenen Anforderungen an einen systematischen Beitrag zu den Handlungs- und Ordnungsproblemen der Sozialwissenschaften (Soziologie und Ökonomik) gerecht wird. Es gibt für mich keinen Zweifel, dass der Autor mit dieser Schrift den Dialog zwischen Weberianern und Vertretern der RC-Theorie entscheidend bereichert hat.
Literatur Weber, Max (1985 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr. Weber, Max (1988 [1922]): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr.
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