Leitthema Gynäkologe 2018 · 51:647–652 https://doi.org/10.1007/s00129-018-4256-y Online publiziert: 4. Juni 2018 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 Redaktion K. Diedrich, Hamburg H. Kentenich, Berlin
Jede Form der Medizin sollte den Menschen als Einheit von Körper und Psyche (Seele) verstehen. Eine medizinische Handlung ist in eine Arzt-Patienten-Beziehung eingebettet, die von der ersten Kontaktaufnahme an wirksam ist. Dies gilt auch bei Sterilitätsdiagnostik und -therapie, bei der die Zusammenschau biologischer, psychischer und sozialer Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle spielt. Die grundlegende Sterilitätsdiagnostik und -therapie findet bei den Primärärzten/den Primärärztinnen statt. Dieses sind meist die Frauenärztin/der Frauenarzt, bzw. die Urologin/der Urologe. Bereits bei der primären Diagnostik und Therapie ist die Einbeziehung biologischer, psychischer und sozialer Gesichtspunkte im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung von Beginn an sinnvoll. Strukturell wird dies auch dadurch gewährleistet, dass alle Ärztinnen und Ärzte mit der Gebietsbezeichnung „Frauenheilkunde“ die Qualifikation „Psychosomatische Grundversorgung“ in der Facharztweiterbildung bereits erlangt haben. Der Begriff „Psychosomatische Grundversorgung“ ist in den Psychotherapierichtlinien festgelegt. Der Hinweis auf die „Psychosomatische Grundversorgung“ findet sich sowohl in den „Richtlinien zur Assistierten Reproduktion der Bundesärztekammer“ [4] als auch in den „Richtlinien des Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen über Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung“ (SGB [Sozialgesetzbuch] V, § 27 a; [6]).
Heribert Kentenich1 · Petra Thorn2 · Tewes Wischmann3 1
Fertility Center Berlin, Berlin, Deutschland Kinderwunschberatung, Praxis für Paar- und Familientherapie, Mörfelden, Deutschland 3 Institut für Medizinische Psychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland 2
Medizinische und psychosoziale Aspekte der Beratung Regelungen zu Information, Aufklärung, Beratung und Einwilligung Die Bundesärztekammer hat in ihren „(Muster-)Richtlinien zur Durchführung der Assistierten Reproduktion“ (Novelle [4]) Vorgaben formuliert bezüglich Information, Aufklärung, Beratung und Einwilligung. Für Patientinnen und Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung treffen zusätzlich die „Richtlinien des Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen über Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung“ („Richtlinien über künstliche Befruchtung“) zu (letzte Änderung 16.03.2017; in Kraft getreten 02.06.2017).
(Muster-)Richtlinie der Bundesärztekammer Information, Aufklärung, Beratung und Einwilligung Vor Beginn der Behandlung sollte aufgeklärt werden über 4 die vorgesehene Behandlung, 4 die Art des Eingriffs, 4 die einzelnen Schritte des Verfahrens, 4 seine zu erwartenden Erfolgsaussichten, Komplikationsmöglichkeiten und Risiken, mögliche Alternativen, 4 sonstige Umstände, denen erkennbar Bedeutung beigemessen wird, 4 und die Kosten.
Medizinische Aspekte Im Einzelnen sind Information, Aufklärung und Beratung insbesondere u.a. zu folgenden Punkten zu geben 4 Ablauf des jeweiligen Verfahrens, 4 Erfolgsrate des jeweiligen Verfahrens, 4 Möglichkeit einer behandlungsunabhängigen Schwangerschaft, 4 Überstimulationsreaktionen, 4 Nebenwirkungen von Medikamenten, 4 Festlegung der Höchstzahl der zu transferierenden Embryonen, 4 Abortrate in Abhängigkeit vom Alter der Frau, 4 durch die Stimulation bedingte erhöhte Mehrlingsrate und die damit verbundenen mütterlichen und kindlichen Risiken (u. a. mit Folge der Frühgeburtlichkeit), 4 möglicherweise erhöhtes Risiko von Auffälligkeiten bei Kindern, insbesondere nach Anwendung der ICSI(intrazytoplasmatische Spermieninjektion)-Methode und 4 mögliche Risiken bei neuen Verfahren, deren endgültige Risikoeinschätzung nicht geklärt ist. Neben diesen behandlungsbedingten Risiken müssen Faktoren, die sich auf das Basisrisiko auswirken (z. B. erhöhtes Alter der Partner, Verwandtenehe), Berücksichtigung finden.
Psychosoziale Aspekte Im Einzelnen sind Information, Aufklärung und Beratung insbesondere zu folgenden Punkten zu geben Der Gynäkologe 8 · 2018
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Therapie (der psychische Stress kann belastender erlebt werden als die medizinischen Schritte der Behandlung), mögliche Auswirkung auf die Paarbeziehung, mögliche Auswirkung auf die Sexualität, mögliche depressive Reaktion bei Misserfolg, mögliche Steigerung des Leidensdrucks der Kinderlosigkeit bei erfolgloser Behandlung, alternative Perspektiven (Adoption, Pflegekind, soziale Elternschaft, Verzicht auf Therapie) und mögliche psychosoziale Belastungen bei Mehrlingen.
Aspekte der behandlungsunabhängigen Beratung Unabhängig von dieser Information, Aufklärung und Beratung muss die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt dem Paar die Möglichkeit einer behandlungsunabhängigen ärztlichen Beratung empfehlen und auf die Möglichkeit einer psychosozialen Beratung hinweisen. Wesentlich erscheint auch der Hinweis auf mögliche Mythen oder Missverständnisse. So haben Paare oft die Vorstellung, dass allgemeiner Stress die Wahrscheinlichkeit zur Erlangung einer Schwangerschaft verhindert im Sinne einer „psychogenen“ Fertilitätsstörung. Dieses ist aber grundsätzlich kaum möglich, mit der Ausnahme einer hypothalamischen Amenorrhö, bei der (z. B. bei Anorexie) ein regelmäßiger Menstruationszyklus nicht vorhanden ist. Allerdings gibt es vielerlei mögliche Einflüsse psychosozialer Faktoren im Sinne einer verhaltensbedingten Fertilitätsstörung (z. B. gestörtes Essverhalten, Hochleistungssport, Genuss- und Arzneimittelmissbrauch, kein Geschlechtsverkehr an fruchtbaren Tagen, nicht organisch bedingte sexuelle Fertilitätsstörung). In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach der gelebten vaginalen Sexualität wesentlich [9]. Die Richtlinie der Bundesärztekammer [4] ist zurzeit nur noch in Anwendung bei denjenigen Landesärztekam-
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mern, die dieses als Teil der Berufsordnung ansehen. Die Bundesärztekammer wurde nunmehr gemäß § 16 b Abs. 1 TPG (Transplantationsgesetz) ermächtigt, „den allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zur Entnahme von Geweben und deren Übertragung in Richtlinien festzustellen“. Diese Richtlinie ist im Genehmigungsverfahren und soll später über das Bundesministerium für Gesundheit ihre Wirkung erlangen. In dieser geplanten Richtlinie werden dann die medizinischen und die psychosozialen Beratungsaspekte ausführlich geregelt.
„Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung“ („Richtlinien über künstliche Befruchtung“) Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA; SGB V § 27a) trifft nur für Ehepaare zu, die gesetzlich versichert sind und Maßnahmen der künstlichen Befruchtung in Anspruch nehmen [6].
Künstliche Befruchtung Maßnahmen der künstlichen Befruchtung werden unter relativ engen Voraussetzungen gewährt, die (kurzgefasst) wie folgt sind: 4 nur heterosexuelle Ehepaare, j Frau zwischen 25 und 40 Jahren, j Mann zwischen 25 und 50 Jahren, 4 bei den Verfahren IVF(In-vitroFertilisation)/ICSI bis zu 3-mal und 4 Bezahlung zu 50 %. Zur Beratung wird im Detail festgehalten: 14. Die Beratung . . . soll sich gezielt auf die individuellen medizinischen, psychischen und sozialen Aspekte der künstlichen Befruchtung beziehen. Dabei sollen nicht nur die gesundheitlichen Risiken und die Erfolgsquoten der Behandlungsverfahren angesprochen, sondern auch die körperlichen und seelischen Belastungen insbesondere für die Frau sowie mögliche Alternativen zum eigenen Kind (zum Bei-
spiel Adoption) eingehend erörtert werden. Das Ehepaar ist darauf hinzuweisen, dass bei Kindern nach In-vitro-Fertilisation und der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion erhöhte Fehlbildungsraten beobachtet wurden. Eine Risikoerhöhung auch bei anderen Verfahren kann nicht ausgeschlossen werden. Die Ursachen hierfür können sowohl in den verwendeten Verfahren als auch in der Unfruchtbarkeit selbst liegen.
Kritische Aspekte In Untersuchungen [7, 11, 14] wurde festgehalten, dass diese Beratungen zu medizinischen und psychosozialen Aspekten in reproduktionsmedizinischen Zentren deutlich verbesserungswürdig sind. Daher sollten Ärztinnen und Ärzte in der Reproduktionsmedizin qualitativ besser ihrer Verpflichtung zur Beratung nachkommen. Informationen auf Internetseiten sind teilweise unvollständig und fehlleitend [7].
Zu optimieren ist die »Verzahnung von ärztlicher und behandlungsunabhängiger psychosozialer Beratung Zugleich sollte die Verzahnung von ärztlicher Beratung und einer behandlungsunabhängigen psychosozialen Beratung verbessert werden. Diese ist von ihrer Struktur her in den „Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über künstliche Befruchtung“ ungenügend geregelt, da die Beratung (Nr. 14) in erster Linie durch die niedergelassenen Frauenärztinnen und Frauenärzte erfolgen sollte. Diese sind aber in der Regel im Beratungsfeld (Reproduktionsmedizin) ungenügend oder nicht optimal im Detailwissen geschult und weitergebildet, sodass an dieser Stelle eine stärkere Fokussierung auf die behandlungsunabhängige psychosoziale Beratung sinnvoll wäre. Zudem ist die finanzielle Vergütung der zeitlich aufwendigen „sprechenden Medizin“ immer noch unzureichend.
Zusammenfassung · Abstract
Zwischen-Resumée zur ärztlichen Beratung
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Die ärztliche Betreuung im Rahmen der Sterilitätstherapie soll entsprechend der „Psychosomatischen Grundversorgung“ durchgeführt werden. Die psychosozialen Aspekte sollen verstärkt in die Sterilitätsbehandlung mit einbezogen werden. Bei Maßnahmen der assistierten Reproduktion soll dem psychosozialen Beratungsbedarf Raum gegeben werden. Eine niedrigschwellige psychosoziale Beratung – unabhängig von der reproduktionsmedizinischen Behandlung – soll jederzeit ermöglicht werden. (Leitlinie psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie bei Fertilitätsstörungen 2014).
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Allgemeine Aspekte der behandlungsunabhängigen psychosozialen Kinderwunschberatung Die behandlungsunabhängige psychosoziale Kinderwunschberatung hat sich in den letzten Jahren zunehmend professionalisiert. Mittlerweile haben sich über 180 Beratungsfachkräfte für diese spezifische Beratung zertifiziert und bieten diese in unterschiedlichen Settings an: Viele arbeiten in einer Eheund Familien- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle, einige in eigener Praxis oder direkt in einem reproduktionsmedizinischen Zentrum. Auch wenn eine spezifische Zulassung als „psychosoziale Beratungsfachkraft“ im deutschen Berufsbild fehlt, kann festgestellt werden, dass „Beratung“ eine verbreitete Form der helfenden Interaktion zwischen Fachkräften und Ratsuchenden ist, die in Bezug auf eine Frage oder ein Problem Orientierung, Klarheit, Wissen, Bearbeitungs- und Bewältigungskompetenz erlangen möchten [10]. Für die psychosoziale Kinderwunschberatung hat die Deutsche Gesellschaft für Kinderwunschberatung – BKiD in Anlehnung an internationale Entwicklungen (z. B. die Empfehlungen der British Infertility Counselling Association, BICA, und der „Mental Health Professional Group“ in der American Society for Reproductive Medicine, ASRM) bereits 2002 Vorga-
Medizinische und psychosoziale Aspekte der Beratung Zusammenfassung Ärztliche Beratung bei Sterilität/und Reproduktionsmedizin findet in Deutschland auf Grundlage der „Psychosomatischen Grundversorgung“ statt. Die Inhalte sind geregelt in der „(Muster-)Richtlinie der Bundesärztekammer 2006“, die sowohl die medizinischen als auch die psychosozialen Aspekte der ärztlichen Beratung festlegt. Diese Richtlinie wird nun durch eine Richtlinie nach § 16 b Abs. 1 TPG (Transplantationsgesetz) abgelöst werden. Für gesetzlich versicherte Ehepaare gilt die „Richtlinie über künstliche Befruchtung“ des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss). Auch hier sind die Inhalte der ärztlichen und psychosozialen Beratung im Detail geregelt. Darüber hinaus ist eine unabhängige psychosoziale Beratung (nicht ärztlich geleitet) sinnvoll,
um eine behandlungsunabhängige zweite Sichtweise zu ermöglichen. Bei fremden Gameten (in erster Linie Samenzellen) und bei fremden Embryonen sollte die psychosoziale Beratung alle Aspekte beinhalten, die sich aus Schwangerschaft, Geburt und dem späterem Leben mit Kindern ergeben. Eizellspende und die Leihmutterschaft sind (zurzeit) in Deutschland verboten. Gleichwohl gehen viele Paare zur Behandlung ins Ausland. Auch hier sollten im Vorfeld bereits medizinische und psychosoziale Fragen angesprochen und beraten werden. Schlüsselwörter Reproduktive Rechte · Medizintourismus · Beratung · Infertilität · Reproduktionsmedizin
Medical and psychosocial aspects of consultation Abstract The diagnostics of sterility and treatment in reproductive medicine includes counselling by physicians regarding all medical and psychosocial aspects, based on the German system of psychosomatic basic care. The content is regulated by the guidelines of the German Medical Council 2006, which include all medical and psychosocial aspects of counselling. These guidelines will soon be replaced by § 16b, para. 1 of the Transplantation Act (TPG). For married couples covered by the statutory health insurance system, counselling will be regulated by the guidelines on artificial reproductive technology of the Federal Joint Committee (G-BA), including physical as well as psychosocial aspects. In addition, psychosocial counselling independent from medical treatment should be offered to
ben für die Zertifizierung erstellt. Gemäß diesen Vorgaben sind 4 eine abgeschlossene Berufsausbildung im psychosozialen Bereich (i.d.R. ein Studium der Sozialen Arbeit, der Psychologie o. ä.), 4 eine mindestens 3-jährige therapeutische oder beraterische Weiterbildung, sowie eine 2-jährige Berufserfahrung in psychosozialer Beratung/Therapie,
enable an independent second opinion and to explore emotional issues. In the case of third party gametes (in most instances sperm cells) and embryos, psychosocial counselling should include all aspects focusing on pregnancy, delivery and the future life with the child. Egg donation and surrogacy are (for the time being) prohibited in Germany. Nevertheless, many couples seek treatment abroad. Despite the prohibition of these forms of treatment, couples should be able to receive counselling before treatment abroad in order to become fully aware of all medical and psychosocial implications. Keywords Reproductive rights · Medical tourism · Counseling · Infertility · Reproductive medicine
4 spezifisches Wissen im Bereich
der medizinischen, rechtlichen und psychosozialen Aspekte der Reproduktionsmedizin und des unerfüllten Kinderwunsches sowie 4 Supervision und regelmäßige Weiterbildung erforderlich (s. www.bkid.de; Kleinschmidt et al. [8]). Für die psychosoziale Beratung im Rahmen der GametenDer Gynäkologe 8 · 2018
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Leitthema spende sieht die BKiD eine zusätzliche Qualifikation vor, die Wissen und Beratungskompetenz für die spezifischen medizinischen, ethischen, rechtlichen und psychosozialen Aspekte dieser besonderen Form der Familienbildung fordert. Eine unabhängige psychosoziale Beratung ist aus mehreren Gründen erforderlich. Sie beugt einem ärztlichen Interessenskonflikt vor, sie stellt Ratsuchenden ausreichend Zeit und Fachkompetenz für die Verarbeitung der typischen Konflikte und Schwierigkeiten zur Verfügung und sie ist zu jeder Zeit, also auch vor, nach und unabhängig voneinermedizinischen Behandlung möglich. Die Beratung nach medizinischen Eingriffen wird vor allem von Paaren in Anspruch genommen, die sich auf ein Leben ohne Kind einstellen müssen, und von Eltern nach Gametenspende, welche die Aufklärung ihrer Kinder vorbereiten.
Inanspruchnahme »einerDieBeratung sollte empfohlen werden – ohne zu pathologisieren Die Beratung dient der Information, Begleitung und therapeutischen Unterstützung aller Personen und Paare mit Kinderwunsch. Sie sollte frühzeitig, z. B. im Rahmen des ersten Informationsgespräches durch den Arzt/die Ärztin, auf nichtpathologisierende Art niedrigschwellig empfohlen werden. Hilfreich ist darüber hinaus, wenn auf eine etablierte Kooperation zwischen Arzt/Ärztin und Beratungsfachkraft hingewiesen wird und konkrete Anlaufstellen genannt werden. Die Beratung ist ergebnisoffen, sie kann somit dazu führen, dass sich Ratsuchende gegen oder nach einer emotionalen Stabilisation für (weitere) reproduktionsmedizinische Behandlungen entscheiden. Die Inhalte umfassen alle Lebensthemen, die vom Kinderwunsch tangiert sind. Hierzu gehören u. a. der individuelle Selbstwert, das Körpererleben, Kommunikationsschwierigkeiten in der Partnerschaft, sexuelle Schwierigkeiten, Auswirkungen im sozialen Bereich, z. B. der
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Umgang mit Stigmatisierung und gesellschaftlicher Tabuisierung (zur Übersicht: Wischmann [18]; Rohde et al. [12]; BKiD [1]). Darüber hinaus sind die Reflexion und möglichst die Sicherstellung des Wohls des zu zeugenden Kindes, bereits geborener Kinder und der Familie wichtige Inhalte.
Psychosoziale Kinderwunschberatung bei Familienbildung mit Gameten bzw. Embryonen Anderer Die Familienbildung mit Gametenspende (bzw. Embryonen Anderer) zieht spezifische Fragestellungen nach sich, die sich von der Familienbildung mit eigenen Gameten unterscheiden. Sie führt zu Familienzusammensetzungen mit biologischer und sozialer bzw. bei Embryonenspende/-adoption mit sozialer Elternschaft. Es gibt Personen, mit denen das Kind biologisch verwandt ist (Spender/in, Halb- oder Vollgeschwister), die aber in der Regel keine Familienmitglieder sind. Dies hat weitgreifende und tiefgehende Folgen für alle Beteiligten: die Eltern, die Kinder und die Personen, die ihre Gameten (bzw. Embryonen) zur Verfügung gestellt haben, sowie deren Familie. Eine Beratung im Sinne einer psychoedukativen Aufklärung und Vorbereitung auf diese Familienform trägt dazu bei, dass Eltern und Spender/innen die kurz- und langfristigen Folgen möglichst frühzeitig bedenken können. Da in Deutschland nur die Samenspende und unter bestimmten Bedingungen die Embryonenspende/-adoption erlaubt sind, bezieht sich das Folgende auf diese Formen der Familienbildung; die spezifischen Herausforderungen der psychosozialen Beratung vor Eizellspende und Leihmutterschaft werden im Anschluss skizziert. Die Leitlinien des BKiD [15] sehen vor, dass Ratsuchende über die juristischen (u. a. das am 01.07.2018 in Kraft getretene Samenspenderregistergesetz sowie familienrechtliche Regelungen) und berufsrechtlichenRegelungensowie über medizinische Anlaufstellen (einschließlich der Basisinformation über die erforderlichen Eingriffe, Erfolgsquoten, Risiken und Kosten) sowie Selbsthilfeorgani-
sationen informiert werden. Sie sollen im Rahmen der Beratung ausreichend Zeit erhalten, bisherige Bemühungen und den Wunsch nach einem Kind mit biologischer Verbindung zu beiden Elternteilen zu betrauern und weitere medizinische und nichtmedizinische Alternativen zu bedenken. Im Rahmen der emotionalen Exploration sind die Bedeutung von sozialer und biologischer Elternschaft, die des Spenders/des abgebenden Paares für sie selbst als zukünftige Eltern, für ihr nahes Umfeld (eigene Eltern, Freunde) und für das zu zeugende Kind relevant. Um eine Identitätskrise des Kindes und einen Vertrauensbruch zwischen Kind und Eltern zu vermeiden, ist die frühe Aufklärung (bereits im Kindergartenalter) zu empfehlen [3]. Hierfür benötigen Ratsuchende Informationen zur Form der Aufklärung sowie zu entsprechenden Ressourcen, wie Aufklärungs- und Ratgeberliteratur. Zudem sollten Ratsuchende über die Bedürfnisse und typische Fragestellungen von Adoleszenten und Erwachsenen erfahren, die mithilfe einer Spende gezeugt sind, und bedenken, wie ein Kontakt zwischen dem Kind und dem Spender/dem abgebenden Paar gestaltet werden kann.
Auch bisherige Bemühungen »zu betrauern und nichtmedizinische Optionen zu bedenken braucht Zeit Ebenso wichtig ist es, Männer und Frauen umfassend über die Folgen ihrer Spende zu informieren, vor allem über das Bedürfnis des Kindes und sein Recht darauf, deren Identität zu erfahren, und über die Bedeutung, die sie für das so gezeugte Kind haben können. Aufgrund der zunehmenden Entstigmatisierung der Samenspende kann in den nächsten Jahren davon ausgegangen werden, dass immer mehr Kinder aufgeklärt und vermehrt (junge) Erwachsene Kontakt zum Spender und zu Halbgeschwistern suchen werden. Diese Kontakte können problemlos hergestellt werden, wenn nach Einführung des Samenspenderregistergesetzes entsprechende Dokumente vorliegen und eingesehen
werden können. Dies gilt allerdings nicht für die privat vermittelte Samenspende. Für alle, deren Zeugung nicht im Rahmen dieses Gesetzes dokumentiert wird, besteht die Möglichkeit, dass die Samenbanken die Unterlagen bereithalten, bzw. das Risiko, dass die Dokumente sog. Altfälle nicht mehr vorhanden sind. Mittlerweile werden vor allem von Personen, deren Daten nicht dokumentiert wurden bzw. vernichtet wurden, kostengünstige DNA-Testverfahren angewandt, die Aufschluss über genetische und ethnische Information, somit auch zu Verwandtschaftsverhältnissen, geben können. Diese können dazu genutzt werden, mittels einschlägiger Webseiten, z. B. www.donorsiblingregistry.com, Spender bzw. abgebende Paare und (Halb-)Geschwister ausfindig zu machen und Kontakte herzustellen. Spender (bzw. abgebende Paare) sollten daher überdenken, wie viele Kinder mit ihrer Spende bzw. ihren abgegebenen Embryonen gezeugt werden sollen, mit wie vielen Kinder sie später in Kontakt treten möchten und was dies für ihre eigene (spätere) Familienbildung einschließlich der (Halb-)Geschwister bedeutet [2]. Häufig verlaufen diese Kontakte unproblematisch. In manchen Fällen sind sie jedoch konfliktbehaftet. Gründe hierfür können eine dysfunktionale Herkunftsfamilie der suchenden Person sein, eine Aufklärung unter ungünstigen Umständen oder eine durch zu späte Aufklärung belastete Familienbeziehung. Daher wird es erforderlich sein, eine entsprechende psychosoziale Infrastruktur zu entwickeln, die solche Kontakte professionell vorbereitet, begleitet, nachbereitet und inhaltlich weiterentwickelt. Wie wichtig dies ist, ist daran zu erkennen, dass auch ehemalige Spender eine Vorbereitung und Begleitung bei Kontaktwünschen fordern [5]. Dies wird für Beratungsfachkräfte ein wichtiger zusätzlicher zukünftiger Arbeitsinhalt sein. Inwieweit diese Entwicklung auch auf Embryonen abgebende Eltern zutrifft, ist noch nicht abzuschätzen [17].
Psychosoziale Beratung im Rahmen von Eizellspende und Leihmutterschaft Auch wenn keine belastbaren Zahlen vorliegen, ist es mittlerweile unumstritten, dass viele, möglicherweise zunehmend mehr Personen und Paare aus Deutschland eine Eizellspende im Ausland durchführen. Auch zu steigen scheint die Zahl deutscher Paare, die eine Leihmutter engagieren. So gibt es Agenturen in Kalifornien, die einen Webauftritt in deutscher Sprache anbieten (http://www. pacificsurrogacyeggdonation.com/ deutsch) und so gezielt heterosexuelle und schwule Paare aus Deutschland ansprechen. Der Beratungsbedarf ist bei diesen Verfahren aufgrund der komplexen gesetzlichen, psychosozialen und ethischen Aspekte besonders hoch: Viele Ratsuchende haben keinerlei Information über die rechtlichen Regelungen im geplanten Behandlungsland, insbesondere die Rechte des Kindes. So ist in der Mehrzahl der europäischen Länder nur eine ausschließlich anonyme Eizellspende möglich [19]. Zudem wirft die Leihmutterschaft zahlreiche und komplexe Fragen der juristischen Zuordnung des Kindes auf. Auch in diesem Kontext ist die psychosoziale Beratung ergebnisoffen und hat als oberstes Ziel, den Ratsuchenden eine fundierte und autonome Entscheidung zu ermöglichen. Die BKiD hat auch hierfür Leitlinien erstellt [16], die umfassend alle zentralen Beratungsinhalte beschreiben. Um den Zugang zu Beratung zu ermöglichen, ist es dringend erforderlich, sowohl die psychosoziale als auch die medizinische Beratung zu diesen unter Verbot stehenden Behandlungen straffrei zu stellen.
Strukturelle Aspekte der behandlungsunabhängigen psychosozialen Beratung Nichtärztliche psychosoziale Beratung ist zwar in allen Richtlinien vorgesehen/ empfohlen. Problematischerscheintaber, dass es das Berufsbild „Psychosozialer Berater“ als Ausbildungsgang mit Abschluss (noch) nicht gibt. Die oben skizzierten Zertifizierungsvorgaben sowie
der deutsche und europäische Qualifikationsrahmen für Beratung (s. www. dachverband-beratung.de) stellen eine erste Grundlage einer professionellen Qualifikation einer psychosozialen Beratungsfachkraft dar. Da eine behandlungsunabhängige Beratung, auch im Sinne einer zweiten Meinung, sehr hilfreich für die Patienten bzw. Paare sein kann, wären Überlegungen sinnvoll, wie dies strukturell umzusetzen wäre. Im Schwangerschaftskonfliktberatungsgesetz ist allgemein die Möglichkeit einer kostenlosen Beratung fixiert. Die Beratungsorganisationen (pro familia, Donum Vitae, etc.) bedürfen einer Genehmigung durch die Landesbehörde. Wenn diese vorhanden ist, so ist die psychosoziale Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch auch für Patientinnen und Paare ohne zusätzliches Entgelt möglich. Allerdings benötigen diese Stellen derzeit zusätzliche Ressourcen, damit sie die Kinderwunschberatung neben ihren Kernaufgaben (Schwangerschaftsberatung, Beratung zur vertraulichen Geburt etc.) überhaupt professionell durchführen können. Im Sinne der Wahlfreiheit sollten Beratungsmöglichkeiten auch an anderen Stellen (z. B. in reproduktionsmedizinischen Zentren bzw. von selbstständigen Beratungsfachkräften) vorhanden sein. Im jetzigen Schwangerschaftskonfliktberatungsgesetz [13] sind als Inhalte für Beratung wie folgt fixiert: 4 § 1: Hier sind die allgemeinen Aufgaben der Aufklärung geregelt, die über eine Schwangerschaftskonfliktberatung hinausgehen und auch eine allgemeine Aufklärung zu Fragen der Schwangerschaft beinhalten. 4 Im § 2 zur Beratung sind unter anderem geregelt: j Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung, j Lösungsmöglichkeiten für psychosoziale Konflikte im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft sowie j die rechtlichen und psychologischen Gesichtspunkte im Zusammenhang mit einer Adoption.
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Leitthema Insofern wäre nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) die psychosoziale Beratung im Zusammenhang mit Konflikten bei der Sterilitätsbehandlung hier anzusiedeln. Es würde allerdings einer gesetzgebenden Maßnahme bedürfen, um dieses konkreter auch im § 2 SchKG zu verankern. Weiterhin wäre verbindliche Richtlinien (für die allgemeine psychosoziale Kinderwunschberatung sowie für die Beratung bei Familienbildung mit Gameten bzw. Embryonen Anderer) zu fordern, welche die oben skizzierten Anforderungen sowie weitere relevante Aspekte (z. B. keine Pflichtberatung, verbindliche Dokumentation der Inanspruchnahme bzw. Ablehnung der Beratung, etc.; s. Wischmann und Thorn [20]) beinhalten.
Fazit für die Praxis 4 Dass Beratungen weiterhin Defizite
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aufweisen, ist empirisch nachgewiesen. Der Beratungsbedarf, insbesondere für unabhängige psychosoziale Beratung, steigt, wenn mit fremden Gameten behandelt wird (Samenspende und Embryonenspende). Das Samenspenderregistergesetz, das im Juli 2018 in Kraft tritt, wird die Rechte des Kindes stärken und den Schutz des Samenspenders weiter konkretisieren. Eizellspende und Leihmutterschaft sind in Deutschland verboten, viele Paare begeben sich zur Behandlung ins Ausland. Auch hier bedarf es einer medizinischen und psychosozialen Beratung. Allerdings darf der Arzt oder die psychosoziale Fachkraft keine direkte Beihilfe zur Eizellspende und Leihmutterschaft leisten. Die behandlungsunabhängige psychosoziale Beratung ist gesetzlich stärker zu verankern. Dieses kann im SchKG geschehen.
Korrespondenzadresse Prof. Dr. H. Kentenich Fertility Center Berlin Spandauer Damm 130, 14050 Berlin, Deutschland
[email protected]
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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. H. Kentenich hält Vorträge auf Veranstaltungen von Dr. Kade, TEVA und Reprofacts. P. Thorn ist erste Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Kinderwunschberatung – BKiD, und T. Wischmann ist Geschäftsführer des BKiD-Fortbildungsinstituts. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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duktionsmedizinischen Zentren in Deutschland – eine Pilotstudie. J Reproduktionsmed Endokrinol 8(6):416–422 15. Thorn P, Wischmann T (2008) Leitlinien für die psychosoziale Beratung bei Gametenspende. J Reproduktionsmed Endokrinol 3:147–152 16. Thorn P, Wischmann T (2010) Leitlinien des BKiD „Psychosoziale Beratung für Frauen und Männer, die eine Kinderwunschbehandlung im Ausland beabsichtigen“. J Reproduktionsmed Endokrinol 7(5):394–401 17. Thorn P, Hilbig-Lugani K, Wischmann T (2017) Mein, dein, unser Embryo. Gynakol Endokrinol 15(1):73–76 18. Wischmann T (2012) Einführung Reproduktionsmedizin. Reinhardt, München 19. Wischmann T (2018) Kinderwunsch in konventionellen und neuen Familienformen: Ethische und psychosoziale Aspekte. Gynakol Prax 43:252–258 20. Wischmann T, Thorn P (2017) Kinderwunsch? Beratung! – Perspektiven der psychosozialen Kinderwunschberatung in Deutschland. Abschlussdokumentation für das BMFSFJ