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Kolben
Neue Kolben-Generation für Ottomotoren Moderne Pkw-Ottomotoren konnten durch eine Vielzahl von technischen Innovationen wie variable Ventilsteuerungen, Direkteinspritzung oder Aufladung und deren Kombination kontinuierlich den systembedingten Verbrauchsnachteil gegenüber Dieselmotoren verringern. Aber nicht nur die Verbesserungen auf der thermodynamischen Seite haben daran Anteil, sondern auch die Komponenten des Grundmotors leisten hierbei einen wichtigen Beitrag. Dabei kommt der Kolbengruppe eine besondere Bedeutung zu. Mahle arbeitet deshalb neben der Reduzierung der Reibleistung auch kontinuierlich an der Verringerung der oszillierenden Massen durch neue Kolbenkonzepte.
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1 Einleitung Die Entwicklungsintensität am Ottomotor zur Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs und der Emissionen bringt für die Komponenten des Grundmotors deutlich steigende Belastungen mit sich, denen aber nicht einfach mit einer dickwandigeren Konstruktion und damit einem erhöhten Bauteilgewicht begegnet werden kann. Diese Belastungssteigerungen werden in Bild 1 deutlich. Die mechanische Belastung des Kolbens wird dabei durch den maximalen Zünddruck repräsentiert, der über der spezifischen Leistung dargestellt ist. Diese kann als Kenngröße für die thermische Belastung gesehen werden. Es zeigt sich, dass bei aufgeladenen Motoren die Zünddrücke bereits deutlich über 12 MPa ansteigen können. Bei den Entwicklungen von aufgeladenen Ottomotoren mit Direkteinspritzung ergibt sich gelegentlich die Situation, dass der Kolben durch extrem hohe Seitenkräfte außerordentlich belastet wird. Die Begründung dafür findet man in Zünddruckverläufen mit sehr spätem Druckmaximum bis zu 30° KW nach ZOT, Bild 2. In diesem Bereich bewirkt die schräge Pleuelstellung sehr hohe Seitenkräfte, die durchaus Werte von Dieselmotoren erreichen können. Diese Belastung hat auf die Lebensdauer des Kolbens im Bereich der Kastenwandanbindung an den Schaft signifikanten Einfluss, Bild 3. Diese Situation kann insbesondere bei großen Zylinderbohrungen dazu führen,
dass diese Motorenentwicklungen mit konventionellen Kolbenkonstruktionen nicht mehr sicher zu beherrschen sind und deshalb zu neuen Bauarten mit höherer Struktursteifigkeit zwingen. Andererseits sind aber auch im unteren Feld des Diagramms in Bild 1 Motorenentwicklungen mit niedrigeren Belastungen zu erkennen. Auch für diese Motoren kann sich aufgrund extremer Gewichtsforderungen für den Kolben eine grenzwertige Bauteilauslegung ergeben.
2 Anforderungen an einen Ottokolben Die Kolbengruppe muss neben der erforderlichen Massenreduzierung aber auch folgenden, stets aktuellen Kriterien genügen: – gutes Blow-by- und Ölverbrauchsverhalten – niedrige Reibleistung – hohe Laufruhe – Betriebssicherheit auch bei extremen Bedingungen wie Kaltstart – lange Laufzeiten bei gleichzeitiger Verlängerung der Ölwechselintervalle – liedrige Kosten. Es ergeben sich diese daraus abzuleitenden Eigenschaften für den Kolben: – Formstabilität durch hohe Struktursteifigkeit – optimales Tragverhalten des Kolbenschafts mit möglichst gleichmäßiger Pressungsverteilung – gute Führungseigenschaften
Die Autoren
Dipl. Ing. (FH) Peter Kemnitz ist Abteilungsleiter Konstruktion und Numerische Simulation Produktlinie Kolbensysteme bei der Mahle GmbH in Stuttgart.
Dipl. Ing. (BA) Ralf Braig ist Leiter Konstruktion Pkw-Ottokolben Produktlinie Kolbensysteme bei der Mahle GmbH in Stuttgart.
Bild 1: Entwicklungstrends Figure 1: Development trends MTZ 09I2007 Jahrgang 68
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– hohe Elastizität, um die unterschiedlichen Wärmeausdehnungen der Laufpartner zu kompensieren – Verschleißbeständigkeit – sicherer und einfacher Herstellprozess Diese teilweise gegenläufigen Anforderungen in optimaler Weise zu vereinen stellt die große Herausforderung an die Kolbenentwicklung dar.
3 Kolbenbauarten Der Leichtbau verschiedener Kolbenbauarten kann mit dem X-Faktor charakterisiert werden, der über der relativen Kompressionshöhe dargestellt wird. Der X-Faktor wird folgendermaßen gebildet: X= Kolbenmasse / Kolbendurchmesser 3, Bild 4.
Der Bereich der Kolben für Ottomotoren wird in seiner Erstreckung einerseits durch die unterschiedlichen Bodenformen (Überhöhung oder Mulde), andererseits durch die Belastung und der sich daraus ergebenden Wandstärken und Lagerabmessungen wesentlich beeinflusst. Mit dem Ecoform-Kolben, der seit mehreren Jahren von Mahle erfolgreich in Serie produziert wird, ist es möglich, das Gewicht gegenüber einem Standardkolben mittlerer Belastung um bis zu 10 % zu reduzieren. Charakteristische Merkmale des Ecoform-Kolbens, Bild 5, sind eine große Hintergießung der Ringpartie oberhalb der Nabenbohrung sowie schräge Kastenwände. Dadurch wurde eine belastungsgerechte Struktur mit einem günstigeren Kraftfluss erreicht. Dennoch ist eine ausreichende Elastizität des Kolbenschafts sichergestellt. Die vorzugsweise ausgeführte Trapezoder Stufenabstützung führt zu engeren Augenabständen, so dass die Kolbenbolzen kürzer und zum Teil auch mit reduzierten Querschnitten ausgeführt werden können.
4 Neue Generation Leichtbaukolben
Bild 2: Zünddruck- und Seitenkraftverlauf Figure 2: Peak cylinder pressure curve and lateral force curve
Bild 3: Seitenkraftbelastung Figure 3: Lateral force load 688
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Der Ecoformkolben bildet auch die Basis für die Entwicklung der neuen Generation von Leichtbaukolben, dem Evotec-Kolben. Damit wird eine weitere Gewichtsreduktion von ungefähr 10 % möglich. Ein wesentliches Merkmal dieses neuen Kolbenkonzepts ist die asymmetrische Ausführung der Kastenwände, Bild 6. Dadurch wird den unterschiedlichen Belastungen des Kolbens an der Druck- und Gegendruckseite Rechnung getragen. Auf der Druckseite ist der Abstand der Kastenwände enger ausgeführt, um höhere Seitenkräfte aufnehmen zu können. Durch diese direktere Verbindung zwischen der Krafteinleitung am Bolzenlager und dem Kontaktbereich des Schaftes zum Zylinder wird die Biegemomentbeanspruchung verringert. Somit kann auf eine Bundverstärkung an den Kastenwänden verzichtet werden. Dadurch wird zusätzlich die Spannungsverteilung in diesem hochbelasteten Bereich gleichmäßiger, Bild 7, und der Gießprozess wird positiv beeinflusst. Die deutlich niedriger belastete Gegendruckseite wird im Gegensatz dazu mit weiter auseinanderliegenden und dünneren Kastenwänden versehen, um die notwendige Elastizität und gute Führungseigenschaften zu gewährleisten. Dadurch wird entgegen der üblichen Vorgehensweise die schmalere Schaftfläche nicht der Gegendruckseite zugewiesen, sondern der Druck-
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seite. Zur Vermeidung von Fressgefahr oder Verschleiß ist nicht die Größe dieser Fläche wesentlich, sondern die gleichmäßige Verteilung der Pressung des Schaftes, was durch ein darauf abgestimmtes Außenformprofil möglich ist. Diese Formoptimierung kann mit Hilfe der 3D-FE-Berechnung sehr gut unterstützt werden, Bild 8. Des Weiteren verlaufen die Kastenwände zum Boden hin schräg, somit bildet sich am Boden ein enger Kastenwandabstand. Dies führt zu einer zusätzlichen Versteifung der Kolbenstruktur und ermöglicht noch tiefere Hintergießungen der Ringpartie sowie geringere Bodenstärken. Eingebrachte Rippen im Kolbenfenster zwischen Ringbereich und Kastenwand bringen zusätzliche Steifigkeit.
Bild 4: X-Faktor Figure 4: X-Factor
5 Neuer Gießprozess Der neue Evotec-Kolben ermöglicht aufgrund der belastungsoptimierten und steiferen Struktur deutlich geringere Wandstärken. Hier waren in der Vergangenheit bei fertiggegossenen Bereichen mit dem Schwerkraft-Kokillenguss Grenzen gesetzt. Mahle hat deshalb eine neue Gießtechnologie zur Herstellung dünnwandiger Strukturen im Schwerkraft-Kokillenguss zur Serienreife entwickelt. Ziel war es, unter Beibehaltung der neuen warmfesten Kolbenlegierungen und der hohen Anforderungen an die Gussqualität, eine Verbesserung des Fließvermögens zu erreichen. Die Oberflächenspannung der Aluminiumschmelze stellt die Haupteinflussgröße bezüglich des Fließvermögens dar. Das Fließverhalten der Schmelze lässt sich unter Sauerstoff-reduzierter Atmosphäre positiv beeinflussen. Die fehlende Oxidschicht der Aluminiumschmelze führt jedoch zu einem Angriff der klassischen SilikatSchlichten, infolge dessen das Gießwerkzeug zerstört wird. Ein neuer Kokillenschutz musste entwickelt werden. In Verbindung mit einer optimalen Abstimmung der Gießparameter ist es Mahle somit gelungen, einen serienreifen Prozess zu entwickeln, der es ermöglicht, die Wandstärken um bis zu 35% zu reduzieren, Bild 9, und gleichzeitig die Gussqualität deutlich zu verbessern.
6 Auslegung und Erprobung für erste Anwendungen Im Rahmen eines Grundlagenprojektes wurde mit Hilfe von Parameterstudien in der 3DFE-Analyse der Einfluss unterschiedlicher 690
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Bild 5: Kolbenbauarten Figure 5: Piston types
Bild 6: Neue Generation Ecoformkolben Figure 6: New generation Ecoform piston
geometrischer Ausprägungen der neuen Kolbenstruktur systematisch erarbeitet – immer mit dem Ziel eines optimalen Bauteilgewichts. Dieser hohe Entwicklungsaufwand ist jedoch gerechtfertigt, denn die daraus ab-
geleiteten Erkenntnis-se stellen die Wissensbasis dar, mit deren Hilfe das neue Konstruktionsprinzip sehr effektiv an die unterschiedlichen Anforderungen der Motoren adaptiert werden kann.
Mehr Präzision. Bild 7: Spannungsverteilung im Bereich Schaft-/Kastenwand Figure 7: Stress distribution in the skirt-/box wall area
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GENAU & STABIL eddyNCDT Wirbelstrom-Prinzip Messbereiche 0,4 - 80 mm Auflösung 0,02 μm Bild 8: Pressungsverteilung am Schaft und entsprechendes Laufbild vor und nach der Kolbenformoptimierung Figure 8: Distribution of skirt contact pressure and corresponding surface pattern before and after optimization of the piston profile
Das komplexe Zusammenspiel aus Thermomechanik, Dynamik und Tribologie sowie die Wechselwirkung mit den angrenzenden Systemen stellen hohe Anforderungen an die Entwicklung der Kolbengruppe. Mahle verwendet dafür modernste Tools und Verfahren. Neben der Strukturanalyse werden Programme zur Simulation der Kolbenquerbewegung, der Ringdynamik und des Schaftlaufbildes eingesetzt. Weiterhin stehen Programme zur Formoptimierung, zum Beispiel für die Bolzenlagerung, zur Verfügung. Je mehr man sich einem Gewichtsoptimum nähert und somit je grenz-
wertiger entwickelt wird, desto mehr gewinnt eine genaue Kenntnis der Randbedingungen an Bedeutung. Die frühe Information über Lastprofile und Geometrie der angrenzenden Systeme hat erheblichen Einfluss auf die Anzahl der benötigten Entwicklungsschleifen. Dies gelingt durch eine enge Kooperation der Motorenentwicklungspartner. So kann beispielsweise die Koppelung von Berechnungsergebnissen aus der CFD-Verbrennungssimulation mit der Strukturanalyse eine wesentliche Verbesserung der Aussagequalität bedeuten und den Entwicklungsprozess beschleunigen.
Linearität ±0,8 μm Grenzfrequenz 100 kHz Temperaturstabilität 0,015 % d.M./°C
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Kolben
Ecoform Kolben
Evotec Kolben
7 Fazit und Ausblick 4,7 mm
5,5 mm
4 mm Bild 9: Neuer Gießprozess Figure 9: New casting process
Trotz allem wird man wohl vorerst nicht so schnell auf Messungen und Motorenversuche verzichten können. Deshalb hat der Motorenversuch bei Mahle nach wie vor einen hohen Stellenwert, modernste Prüfstandstechnik und komplexe Messverfahren sind gerade heute eine Grundvoraussetzung für eine zielorientierte und zuverlässige Produktentwicklung. Ein Beispiel hierfür ist die Messung der Temperaturverteilung im Kolben bei realem Motorbetrieb. Seit Neuem können durch die Verwendung eines Telemetriesystems zur Datenübertragung auch Kolbentemperaturen weit über 400 °C hochgenau gemessen werden. Dieses neu entwickelte System ermöglicht sogar Kol-
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Mit dem neuen Evotec-Kolben konnte das Gewicht um rund 10 % gegenüber dem derzeitigen Stand der Technik verringert werden. Durch die Optimierung der Struktur und der funktionsgerechten Gestaltung der Kastenwände auf der Druck- und Gegendruckseite ist es gelungen, eine kostengünstige Lösung auch für die stetig steigenden Leistungen künftiger Motorengenerationen zu erhalten. O
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bentemperaturmessungen im transienten Betrieb an bis zu sechs Messstellen pro appliziertem Kolben. Durch den Entfall von Messschwingen ist dieses System ausgesprochen robust und erfordert nur geringe Veränderungen am Motorblock. Der Evotec-Kolben befindet sich derzeit in der Entwicklung für mehrere Motoren verschiedenster Anwendungen und Belastungsprofile. Es kommen dabei auch Ausführungen mit eingegossenen Niresist-Ringträgern zum Einsatz. In den ersten Motorläufen zeichnet sich bereits ab, dass dieser Kolbentyp die hohen Anforderungen auch bezüglich des Laufverhaltens sehr gut erfüllen kann.
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