HAUPTBEITRAG / NUTZENTREIBER DER DIGITALISIERUNG
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Nutzentreiber der Digitalisierung Ein systematischer Ansatz zur Entwicklung disruptiver digitaler Geschäftsmodelle1 August-Wilhelm Scheer
Disruptive Innovation – Innovator‘s Dilemma Im Jahr 1983 wurde der PC vom TIME Magazine als ,,Maschine des Jahres“ ausgezeichnet, obwohl normalerweise wichtige Menschen benannt werden. Damit wollte man bereits zu diesem Zeitpunkt die hohe Bedeutung, die der Computer für die Gestaltung des menschlichen Lebens besitzt, herausstellen. Inzwischen sind seit diesem Jahr rund 20 Moore’sche Zyklen über die Entwicklung der Informationstechnik hinweggefegt, bei der sich die Leistungsfähigkeit jeweils verdoppelte; dies bedeutet, dass die Leistungsfähigkeit sich inzwischen um ein Millionenfaches erhöht hat. Deshalb schlägt nun Quantität in Qualität um; es entstehen Möglichkeiten zur Entwicklung neuer Produkte und Prozesse, die vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Stellvertretend für die vielfältigen IT-Entwicklungen wird im Folgenden vor allem die Wirkung des Internets auf die Digitalisierung betrachtet. Schlagwörter wie ,,Industrie 4.0“ oder ,,Software is eating the world“ [1] belegen die hohen Erwartungen, die von Wissenschaftlern und praktischen Experten an die Veränderungskraft gerichtet sind. Viele Beispiele der Realität zeigen bereits, welche Veränderungen von neuen digitalisierten Konzepten in der Wirtschaft, aber auch im privaten Bereich ausgelöst werden. In diesem Beitrag steht die Frage der Gestaltung neuer Geschäftsmodelle in der Wirtschaft im Vordergrund. Unter einem Geschäftsmodell wird,
grob gesprochen, die Art und Weise verstanden, wie ein Unternehmen sein Geld verdient. Dazu gehört z. B. ein Erlösmodell, das beschreibt, wer die Erlöse für ein Produkt oder eine Dienstleistung bezahlt. Diese auf den ersten Blick einfache Frage ist in der digitalen Welt bereits komplizierter. Beispielsweise bekommen die Nutzer von sozialen Medien Leistungen quasi kostenlos, da der Anbieter die Erlöse durch Werbeeinnahmen von Dritten erzielt. Hier wird somit über Banden gespielt, und es macht die Frage der Erlöse komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Ein weiterer Aspekt eines Geschäftsmodells ist die Beschreibung der benötigten Ressourcen. Auch die Angabe wichtiger Partner gehört dazu. Eine differenzierte Beschreibung weiterer Komponenten findet sich in Osterwalder und Pigneur [6]. Ein disruptives Geschäftsmodell bezeichnet den Fall, dass ein gegebenes Produkt oder eine gegebene Dienstleistung durch die Digitalisierung völlig neu definiert wird und bestehende Anbieter ihre wirtschaftlichen und technischen Kompetenzen verlieren und neue Anbieter auftreten, die die bisher erfolgreichen verdrängen können. In Abb. 1 ist dieses am Beispiel des Prozesses des Fotografierens zu sehen. In der analogen Welt benötigte man eine Kamera und einen Film. Man konnte dann ein Motiv fotografieren, musste allerdings mit der Entwicklung so lange warten, bis der vollständige DOI 10.1007/s00287-016-0975-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
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Schriftliche Fassung des Vortrages ,,How to develop digitized disruptive business models“ auf der Global Conference der CEBIT 2016 [10]. Der Verfasser ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Gründer mehrerer IT-Unternehmen. Link zur Aufzeichnung der CeBIT-Keynote: https://www.youtube.com/watch?v=Fu_4qH6PaBI.
August-Wilhelm Scheer Scheer GmbH und AWS-Institut für digitale Produkte und Prozesse gGmbH, Saarbrücken
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Abb. 1 Prozess Fotografie
Abb. 2 Innovator’s Dilemma
Film abgelichtet worden war. Dann musste er zum Entwickeln in ein Fotogeschäft gebracht werden, wobei Wartezeiten entstanden. Nach Erhalt der Abzüge wurden sie in ein Album geklebt. Bei benötigten weiteren Abzügen zum Versand an Freunde mussten diese erneut von einem Fotogeschäft angefertigt und per Post versendet werden. Dieser gesamte Prozess ist heute in sich zusammen gefallen. Bei einem Smartphone ist das Fotografieren lediglich eine der vielen Funktionen. Sie ist quasi ständig verfügbar, Bilder können sofort angesehen werden, werden gespeichert und per Knopfdruck in alle Welt versendet. Diese disruptive Innovation hat zu weitreichenden Veränderungen des Marktes geführt (vgl. Abb. 2). Das Weltunternehmen Kodak mit zigtausend Mitarbeitern musste im Jahr 2012 Konkurs anmelden. Das Internetunternehmen Instagram zur Nachbearbeitung und zum Versenden von digitalen Fotos wurde in dem gleichen Zeitraum für rund eine Milliarde Dollar an das Unternehmen Facebook verkauft und wurde gerade mal von weniger als 20 Mitarbeitern betrieben. Eine besonders bittere Pointe ist dabei,
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dass das Unternehmen Kodak im Besitz der Patente für die digitale Fotografie war, sie aber nicht erfolgreich verwerten konnte. Ein Grund dafür ist das bekannte Phänomen des Innovator’s Dilemma [4]. Es beschreibt, dass bestehende erfolgreiche Unternehmen zu lange an ihrem alten Businessmodell festhalten, um ihre Kompetenzen zu schützen. Dabei spielen auch menschliche Faktoren eine Rolle. Manager, die bisher in ihrem Umfeld und mit ihren Kompetenzen erfolgreich waren, sind nur schwer dazu zu bewegen, neuen, jüngeren Mitarbeitern ihren Platz zu überlassen. Abbildung 2 zeigt weitere Beispiele disruptiver Innovationen und Business Modelle. Das Internetunternehmen Airbnb, das über keine eigenen Raumkapazitäten verfügt, sondern lediglich (private) Anbieter von Übernachtungsmöglichkeiten mit Suchenden verbindet, hat bereits eine Marktkapitalisierung in der Größenordnung von bekannten internationalen Hotelkonzernen. In der Zeit, in der das Unternehmen Amazon aus einer Garagengründung zu einem Weltunternehmen
Abb. 3 Personalisierung
aufstieg, musste das deutsche Traditionsunternehmen Quelle Konkurs anmelden. Beide hatten als Geschäftsmodell den Versandhandel. Quelle mehr auf Basis eines Papierkatalogs, während Amazon bereits die digitale Welt eroberte. Auch in der Automobilindustrie steht eine Revolution an. Neben der Digitalisierung von Infotainment-Anwendungen ist auch der Elektroantrieb eine Herausforderung. Beide Entwicklungen unterstützen sich dabei gegenseitig und zeigen, dass die Digitalisierung sich auch mit neuen anderen Technologien verbünden kann. Der 3D-Druck ist ein weiteres Beispiel dafür. Auch hier sind die etablierten, erfolgreichen Unternehmen gut beraten, sich nicht auf ihre Vergangenheitserfolge zu stützen, sondern sehr aufmerksam und selbstkritisch das Phänomen des Innovator’s Dilemma zu beachten. Im Teil B werden generelle organisatorische Treiber der Digitalisierung identifiziert und im Teil C werden sie in einer Fallstudie auf die digitale Transformation von IT-Beratungsunternehmen angewendet.
eine Vielzahl von neuen Produkten und Prozessen. Man kann zwar beobachten, dass in der ersten Digitalisierungswelle solche Branchen verändert wurden, die ,,informationsnahe“ Produkte oder Dienstleistungen erzeugen (z. B. die Medien), aber auch Branchen, die materielle Produkte erzeugen, werden in den nächsten Innovationsschüben verändert. Sei es, dass ihre Produkte durch digitale Dienstleistungen angereichert werden oder in Kombination mit neuen durch Informationstechnik unterstützten technischen Verfahren (3D-Druck, Elektromobilität) verändert werden. Die hier herausgestellten Treiber der Digitalisierung sind Personalisierung, Selbststeuerung, das zunehmende Auftreten von grenzkostenarmen Produkten, Smart Services, Communityeffekte, Lean Organization, exponentielles Unternehmenswachstum und neue Unternehmensformen, die als Plattformunternehmen bezeichnet werden und sich als Vermittler zwischen Kunden und Lieferanten schieben.
Personalisierung/Individualisierung Treiber der Digitalisierung Techniken alleine erzeugen noch keinen Nutzen. Erst ihre erfolgreiche Umsetzung in neue Organisationsformen, Produkte und Prozesse erzeugen ihre wirtschaftliche Durchsetzung. Deshalb sind die wirtschaftlichen Treiber des Nutzens der Digitalisierung zu hinterfragen. Im Folgenden werden einige dieser Treiber herausgestellt und erläutert. Die Vielzahl dieser Treiber und ihre Unterschiedlichkeit zeigen die revolutionäre Kraft der Digitalisierung [3]. Durch unterschiedliche Zusammensetzung und Gewichtung von Treibern entsteht in allen Branchen
Wer hätte gedacht, dass Menschen ihr individuell zusammengemischtes Müsli über das Internet bestellen möchten. Das Internetunternehmen Mymuesli.com ist aber recht erfolgreich. Die Möglichkeit, Werbung, Produkte und Dienstleistungen auf die individuellen Wünsche, Bedürfnisse oder Fähigkeiten der Kunden auszurichten, scheint unbegrenzt (vgl. Abb. 3). So können Nachrichten auf die persönlichen Interessen konfiguriert werden, indem beispielsweise Sportnachrichten sofort übermittelt werden, während kulturelle oder politische Ereignisse eher nachrangig angeboten werden. Auch digitale Lernangebote Informatik_Spektrum_39_4_2016
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(E-Learning) können auf die Lerngeschwindigkeit und die speziellen Interessen und Fähigkeiten des Lernenden inhaltlich und bezüglich unterschiedlicher Lernformen wie Texte, Videos oder Lernspiele eingestellt werden. Aber auch materielle Produkte sind noch stärker individualisierbar. Gegenüber dem Leitspruch von Henri Ford in den 30er-Jahren ,,Man kann bei mir jede Autofarbe bekommen, vorausgesetzt sie ist schwarz.“ hat in der Zwischenzeit die Automobilindustrie ihr Angebot zu einer fast unüberschaubaren Variantenvielfalt von Farben und Ausstattungswünschen erweitert. Dieser Trend wird weitergeführt. Beispielsweise können Möbel über das Internet vom Kunden entworfen werden, indem Schränke oder Regale nach Breite, Höhe oder Formen individuell gestaltet werden. Der Verfasser hat sich über seine Scheer Holding an dem Unternehmen Okinlab beteiligt, das Regale, wie in Abb. 3 skizziert, individuell entwerfen und fertigen kann. Aber auch Laufschuhe oder Skischuhe sind ein bekanntes Beispiel für individuelle Produkte. Der Kunde kann sich in einem Sportgeschäft die Füße scannen lassen, und dann wird auf seine individuellen Maße passgenau die Fertigung ausgerichtet. Das Internet sorgt für die schnelle Übermittlung der Daten und unterstützt die Logistik. Die in Abb. 3 genannten Beispiele zeigen nur eine kleine Auswahl. Weitere Beispiele sind individuelle Versicherungen, die sich an den persönlichen Verhaltensweisen des Kunden bezüglich seines Fahrstils oder seinem gesundheitsbewussten Lebensstil orientieren. Jedes Unternehmen muss deshalb darüber nachdenken, wie durch die Möglichkeiten des Internets die bestehenden Produkte und Dienstleistungen weiter individualisiert werden können, indem mehr Varianten vorgedacht werden oder der Kunde direkt in den Gestaltungsprozess über das Internet einbezogen wird. Start-up-Unternehmen können überlegen, wie sie Standardprodukte bestehender Unternehmen durch aggressive Individualisierung angreifen können. Das anfangs genannte Beispiel Mymuesli zeigt diesen Weg. Aber auch die individuelle Konfiguration von Fahrrädern, Versicherungsleistungen, Krediten, Mobilitätsinanspruchnahme usw. eröffnet vielfältige neue Businessmodelle.
Selbststeuerung Ein wesentlicher Treiber der Digitalisierung ist die Selbststeuerung von Objekten. Dies bedeu-
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tet, dass die Steuerung von Objekten von diesen selbst übernommen wird und eine übergeordnete Steuerungsebene ausgedünnt wird oder sogar entfällt. In dem Konzept „Industrie 4.0“ steuern sich intelligente Materialien und Ressourcen selbstständig. Die Ressourcen (Maschinen) kennen ihre technischen Fähigkeiten und ihre Kapazitäten. Intelligente Materialien wissen, welche technischen Operationen sie benötigen. Beide kommunizieren über das Internet of Things (IoT) miteinander und koordinieren den Fertigungsablauf durch ,,Verhandeln“ über eine Art Marktplatz. Eine übergeordnete Fertigungssteuerung entfällt oder greift nur in Sonderfällen ein. Im Haushaltsbereich ist der sich selbst steuernde Kühlschrank ein beliebtes Beispiel. Dieses zunächst belächelte Beispiel hat aber bereits auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas 2016 durch den dort ausgestellten Kühlschrank von Samsung Realität erreicht. Der Grundgedanke ist einfach: Warum soll ein Mensch die Kühlschranktür öffnen und z. B. die Eierpackung öffnen, um festzustellen, dass ein Bedarf besteht, wenn doch der Kühlschrank selbst weiß, was er beinhaltet. Auch hier kann das Objekt Kühlschrank selbstständig eine Bestellung über das Internet zum Auffüllen auslösen. Das selbstfahrende Auto, hier durch das bekannte Google-Auto gekennzeichnet, ist ein weiteres aktuelles Beispiel zur Selbststeuerung. Warum soll ein Chauffeur die Steuerung übernehmen, wenn das Ziel und der Weg im Internet bekannt sind und das Auto über Sensoren die Verkehrssituation erkennt und selbstständig den Weg einschlagen und ausführen kann. Auch hier ist in den letzten Jahren eine zunächst futuristisch anmutende Vision weit fortgeschritten. Der Übergang von Assistenzsystemen, bei denen der Chauffeur lediglich unterstützt wird zum autonomen Fahren, ist bereits in Sicht. Aber nicht nur Geräte können sich selbst steuern, sondern auch der Mensch strebt nach mehr Autonomie durch das Internet. In einem modernen Auto sind bereits mehrere hundert Sensoren enthalten, die alle möglichen internen und externen Zustände messen. Geht dagegen ein Patient zu einem Routinebesuch zu einem Arzt, so werden in der Regel nicht mehr als zehn Indikatoren über seinen Gesundheitszustand erfasst. Dies sind zum Beispiel Herzfrequenz, Temperatur, Augenreaktion, Zungenbelag usw. Viele dieser Messwerte und weitaus mehr können heute durch
Wearables – hier ist symbolisch die Apple-Watch dafür angegeben – erfasst werden. Es ist vorstellbar, dass auch die medizinischen Zustände des Menschen sowie seine Aktivitäten ständig erfasst, ausgewertet und über künstliche Intelligenz zu Verhaltensvorschlägen oder medizinischen Anregungen verarbeitet werden. Auch hier übernimmt dann der Patient mehr und mehr die Verantwortung für seine Gesundheitssteuerung. Die Kontrollinstanz Arzt wird damit ausgedünnt. Selbstverständlich benötigt ein Patient bei einer Kniegelenktransplantation weiterhin einen Chirurgen oder zumindest einen Roboter. Aber auch hier kann das künstliche Knie durch Einsatz der IT individuell und automatisch aus dem gescannten 3D-Knie-Modell über CAD-/CAMProzesse und anschließendem 3D-Druck erstellt werden. Das Internet ermöglicht es auch, dass Menschen ihre beruflichen Tätigkeiten stärker selbst steuern. Die sogenannten Internetnomaden bieten orts- und zeitunabhängig Leistungen wie beispielsweise das Programmieren von Apps an, die sie über Internetplattformen anbieten können. Sie sind damit nicht mehr durch feste Anstellungsverträge in hierarchische Systeme bei Unternehmen eingebunden, sondern bestimmen Arbeitsformen, Arbeitgeber, Arbeitszeiten und Arbeitsumfang selbst. In Abb. 4 sind lediglich einige Beispiele zusammengestellt, die das breite Spektrum von Möglichkeiten andeuten sollen. Wichtig ist wiederum, das dahinter liegende Prinzip zu erkennen, dass viele Objekte (seien es Produkte oder Menschen) ihre Steuerung selbst übernehmen.
Grenzkostenarme Produkte und Dienstleistungen Jeremy Rifkin hat in seinem Buch Die NullGrenzkosten-Gesellschaft [8] herausgestellt, dass immer mehr materielle Produkte, aber vor allem Dienstleistungen, quasi ohne zusätzliche Kosten erstellt oder verbreitet werden können. Gerade das Internet zeigt dieses bei informationsnahen Dienstleistungen. Die Erstellung von Informationen kostet zwar nach wie vor Geld, aber ihre Verbreitung durch das Internet ist quasi zum Nulltarif möglich. Abbildung 5 zeigt dies für das Telefonieren und das bereits oben schon angeführte Beispiel des Fotografierens. Durch Internetdienste wie Skype ist telefonieren, sogar mit komfortabler Videounterstützung, quasi zum Nulltarif auch über weiteste Entfernungen möglich. Auch das Fotografieren mit dem Smartphone verursacht keinerlei Grenzkosten für den Benutzer. Das Mitnehmen eines zusätzlichen Fahrgastes in einem Automobil ist ebenfalls quasi grenzkostenlos. Das gleiche gilt für die Übernachtung eines Gastes in einem sonst leerstehenden Zimmer. Beim 3D-Druck werden materielle Produkte aus einfachen Materialien wie Sand erstellt. Auch hier sind die Grenzkosten der Produktion vergleichsweise gering. Ein Unternehmen muss also wiederum überlegen, wie seine Produkte oder Dienstleistungen zu geringen Grenzkosten durch Nutzung des Internets verändert werden können. Start-up-Unternehmen wiederum können mit aggressiven, kostengünstigen Angeboten in etablierte Märkte eindringen, wie dieses gegenwärtig z. B. bei Airbnb im Übernach-
Abb. 4 Selbststeuerung Informatik_Spektrum_39_4_2016
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Abb. 5 Grenzkostenlose Produkte
tungsmarkt oder Uber im Mobilitätsmarkt der Fall ist.
Smart Services Das Internet ermöglicht die leichtere Verknüpfung von Angebot und Nachfrage für Produkte und Dienstleistungen. Gleichzeitig können durch die leichte Erfassung vielfältigster Daten (Stichwort: Big Data) und deren intelligente Auswertung (Smart Data) neue Geschäftsmodelle für Dienstleistungen entwickelt werden. In Abb. 6 ist als Beispiel die internetbasierte Mobilität als Dienstleistung aufgeführt. Immer mehr (insbesondere jüngere) Menschen stellen fest, dass ihnen der Besitz von Objekten weniger wichtig ist, als ihre Verfügbarkeit. Also nicht mehr der Besitz
eines Autos ist erstrebenswert, sondern die bedarfsgesteuerte Nutzungsmöglichkeit. Hier können durch Carsharing-Ansätze Mobilitätsbedarfe über das Internet leicht vermittelt werden. Das Auto verliert als Produkt an Bedeutung und die Dienstleistung steht im Vordergrund. Dies bedeutet, dass die hohe Variantenzahl an Ausstattungen weniger wichtig wird und damit die Fahrzeuge weniger individuell werden. Somit verliert die Kompetenz der Hersteller, die Komplexität zur Fertigung hoher Variantenzahlen zu beherrschen, ebenfalls als Wettbewerbsvorteil an Bedeutung, und die Fahrzeuge werden mehr standardisiert. Diese Entwicklung wird durch Elektromobilität und fahrerlose Automobile noch gefördert.
Abb. 6 Smart Services
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Im Rahmen von „Industrie 4.0“ ist das Thema Predictive Maintenance ein viel diskutierter Beitrag für neue internetbasierte Dienstleistungen. Der Hersteller von Maschinen kann durch den Einbau von Sensoren alle relevanten Daten erfassen. Bereits heute werden häufig in Werkzeugmaschinen mehr als hundert Sensoren zur Erfassung von Temperatur, Geschwindigkeiten, Erschütterungen, Qualitäten, Stromverbrauch usw. eingesetzt. Diese können vom Hersteller über das Internet in Echtzeit verfolgt und mit allen in der ganzen Welt eingesetzten Systemen verglichen werden. Durch Auswertungen können individuell auf die einzelnen Einsatzorte und Bedingungen ausgerichtete Wartungspläne aufgestellt werden und damit die Wartungsprozesse des Herstellers optimiert werden. Damit entsteht für ihn neben dem Verkauf der Maschinen ein neues Geschäftsmodell für intelligente Wartungsleistungen. Aber auch hier kann das Geschäftsmodell noch erweitert werden. Bei Flugzeugturbinen wird bereits dieses Modell genutzt (z. B. General Electric und Rolls Royce), sodass diese nicht mehr mit den Flugzeugen an Fluglinien verkauft werden, sondern im Eigentum der Hersteller verbleiben und lediglich die Nutzung nach Flugstunden bezahlt werden muss. Die Aggregate selbst werden über das Internet kontinuierlich verfolgt und erforderliche Wartungsmaßnahmen danach gesteuert. Auch hier ergeben sich vielfältige neue Ansätze für Geschäftsmodelle. Gerade wenn Spezialaggregate nur zu einem geringen Teil ausgenutzt werden, können sie mehreren Nachfragern über Sharingmodelle angeboten werden. Dies erfordert, dass die Aggregate mobil sein müssen. Es ist vorstellbar, dass immer mehr Maschinen zu Einsatzorten gebracht werden, um dort ihre Funktionen als Dienstleistung anzubieten, anstatt dass Materialien zu den festen Einsatzorten von Maschinen (Fabrikhallen) wandern. Die Koordination von Bedarf und Angebot sowie die zeit- und örtliche Steuerung der mobilen Einsatzgeräte ist dann eine interessante Dienstleistung über das Internet.
Community-/Schwarmeffekt Community- oder Schwarmeffekte bedeuten, dass der Nutzen der Teilnahme an einer Gruppe umso höher ist, je mehr Mitglieder sie umfasst und dass in einem Team leichter Lösungen entwickelt werden als von einem Einzelnen. So können mithilfe
des Internets bei Produktentwicklungen nicht nur eine speziell dafür eingerichtete Entwicklungsabteilung des eigenen Unternehmens eingesetzt werden, sondern alle interessierten Mitarbeiter der eigenen Organisation, aber auch Kunden, Lieferanten oder Partner bis hin zu der anonymen Community aller interessierten Entwickler der Welt angesprochen werden. Dieser als Open Innovation bekannte Effekt hat bereits zu eindrucksvollen Ergebnissen geführt. Die Motivation von Experten, sich an der Entwicklung eines neuen Produktes oder an der Lösung eines Problems zu beteiligen, kann durch Incentives wie das Ausloben von Preisen für erfolgreiche Lösungen unterstützt werden. Ebenso wird das Einsammeln von finanziellen Mitteln zur Entwicklung von Ideen und Produkten über Internetplattformen unterstützt (Crowd-Funding). Plattformen wie kickstarter.com erwecken dabei das Interesse des Einzelnen, indem er eine Vorbestellung auf das zu entwickelnde Produkt tätigen kann und dann bei erfolgreicher Entwicklung mit hoher Priorität bedient wird.
Lean Organization Ein weiterer Faktor betrifft die durch das Internet mögliche vereinfachte Organisationsform zur Entwicklung und zum Vertrieb neuer Produkte und Dienstleistungen. In dem Fotografiebeispiel über den Vergleich zwischen Kodak und Instagram wurde bereits dieser Gedanke deutlich. Während Kodak als Weltunternehmen über Fabriken und ausgedehnte Vertriebsorganisationen verfügte, in denen zigtausend Mitarbeiter beschäftigt waren, wurde das Unternehmen Instagram lediglich von 16 Mitarbeitern gegründet. Viele Internetunternehmen besitzen, gemessen an ihrem Umsatz oder ihrer Wertschöpfung, lediglich eine geringe Anzahl von fest Beschäftigten. Dadurch werden die Fixkosten der Organisation gering gehalten. Das Elektroautomobilunternehmen Tesla vertreibt seine Produkte nicht über klassische Niederlassungen oder Vertretungen, wie dies in der Automobilindustrie sonst üblich ist, sondern vornehmlich über das Internet. Auch neue internetbasierte Bankleistungen, wie sie von sogenannten FinTechs entwickelt werden, benötigen keine Glashochhäuser oder umfangreiche Zweigstellen, sondern lediglich eine Internetplattform. Durch diese schlanken Organisationen entstehen hohe Wettbewerbsvorteile für Internetunternehmen, die den klassischen UnInformatik_Spektrum_39_4_2016
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Abb. 7 Plattformmärkte
ternehmen schwerwiegende Probleme bereiten. Die Reaktion von Großbanken, ihre Niederlassungsnetze zu reduzieren, mag ein erstes Indiz für ihre Reaktion auf die Ernsthaftigkeit der Bedrohung sein.
Exponentielles Wachstum Erfolgreiche Internetunternehmen wachsen extrem schnell. Ihr Wachstum ist nicht an die Einstellung von Mitarbeitern gebunden, sondern die Verbreitung von Informationen als Teil des Businessmodells geschieht nahezu ressourcenunabhängig. Dies erklärt z. B. den Wachstumserfolg von Unternehmen im Bereich sozialer Netze oder auch Unternehmen zur Vermittlung von Dienstleistung wie Uber oder Airbnb, die über nur geringe Ressourcen verfügen. Dieses exponentielle Wachstum ist insbesondere von den Autoren Salim Ismail und Michael S. Malone in ihrem Buch ,,Exponential Organizations“ [5] herausgestellt worden.
Plattformunternehmen Es wurde bereits angesprochen, dass die Vermittlung zwischen Kunden und Lieferanten von Produkten und Dienstleistungen über das Internet wesentlich erleichtert werden kann. Mit dieser Vermittlungsfunktion wird der Begriff Plattform verbunden. Unternehmen, die diese Vermittlung als Kern ihres Businessmodells herausstellen, werden deshalb auch als Plattformunternehmen bezeichnet [2]. Die Architektur von Plattformunternehmen ist in Abb. 7 dargestellt. Je mehr Kunden die Plattform verwenden, umso attraktiver ist es für Lieferanten, diese für komplementäre Produkte zu nutzen. Umgekehrt ist die Plattform für Kunden umso interessanter, je mehr Lieferanten sie verwenden, also je größer das Angebot auf der Plattform ist.
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Neben der reinen Vermittlungsfunktion („matchmaking“) werden auch weitere Dienstleistungen wie Qualitätssicherung, Bündelungseffekte oder Mehrwertdienste sowie materielle Produkte von Plattformunternehmen angeboten. Damit ergibt sich eine große Variabilität von sogenannten offenen Systemen bis hin zu geschlossenen Systemen, die eine gesamte Wertschöpfungskette umfassen. Beispiel für ein offenes Plattformsystem ist das Betriebssystem Android von Google, auf dem Lieferanten komplementärer Software (Apps) oder Hardware (Smartphoneanbieter wie Samsung) ihre Produkte und Dienstleistungen den Kunden anbieten. Dagegen ist das Apple-Businessmodell mit dem Angebot von Smartphonehardware und dem Betriebssystem IoS sowie dem Apple-Shop ein stärker geschlossenes System. Plattformunternehmen, die sich zwischen Lieferanten und Kunden schalten, besitzen durch das Internet eine so starke Wirkung, dass die Mehrzahl der gegenwärtig von der Börse höchstbewerteten Unternehmen zu dieser Gruppe gehört. Organisationen, deren Geschäftsmodell die Vermittlung zwischen Anbietern und Nachfragern ist, sind nicht neu. Warenbörsen und Wertpapierbörsen gibt es seit Jahrhunderten. Es ist bezeichnend, dass diese Börsen bereits digitalisiert worden sind. Aber auch Banken vermitteln zwischen Menschen, die Geld verleihen möchten und Menschen, die Geld leihen möchten. Dabei bündeln sie die Einlagen und verleihen sie in neuen Tranchen. Klassische Banken werden durch sogenannte FinTech-Unternehmen mehr und mehr angegriffen. Bei der einfachen Vermittlung von Krediten von Person zu Person ist eine Zwischenschaltung eines umfangreichen Bankensystems auch kaum notwendig, hier können bereits
einfache Internetplattformen vermitteln. Auch das Crowd-Funding, bei dem ein Kreditsuchender sich das Geld von einer Community für z. B. eine Produktentwicklung beschaffen möchte, benötigt keine komplizierte Bankorganisation. Es zeigt sich, dass immer mehr Unternehmen durch raffinierte Bündelungen von Dienstleistungen und materiellen Produkten zu Plattformunternehmen werden. Das Ökosystem der Plattform wird durch die mit der Plattform verbundenen Kunden und Lieferanten bestimmt. Wesentlich ist, dass die Plattform sowohl zu Kunden als auch zu Lieferanten eine Marktbeziehung unterhält, für die sie ein Entgelt verlangt („two sided markets“ [9]). Deshalb besitzen aus Sicht der Plattform sowohl Kunden als auch Lieferanten Kundeneigenschaften, während bezüglich der zu vermittelnden Leistung eine Kunden-LieferantenBeziehung zwischen den externen Seiten besteht. Je mehr Kunden sich für eine Plattform entscheiden und je mehr Lieferanten sich ebenfalls mit der Plattform verbinden, umso mächtiger ist diese. Das erklärt z. B., warum viele Start-up-Plattformen zunächst alles dafür tun, um möglichst viel Traffic, also möglichst viele Kunden und Lieferanten zu binden. Teilweise wird dies auch durch kostenlose Nutzungsmöglichkeiten oder sogar durch Subventionierung erreicht. Beispielsweise subventionieren die Anbieter von Computerspielplattformen den Kauf von Spielkonsolen durch die Kunden, um dann von den Anbietern von Spielen hohe Gebühren für die Nutzung ihres Plattformbetriebssystems zu erheben. Unter markttheoretischen Gesichtspunkten ist der Erfolg von Plattformunternehmen auch dadurch zu erklären, dass sich durch das Internet hierarchische Organisationsstrukturen tendenziell lockern und durch Marktstrukturen ersetzt werden [7]. Das hierarchische Prinzip einer Unternehmung mit örtlicher Anwesenheit von Mitarbeitern und ihre Koordination durch (hierarchische) Anweisungen sind dann sinnvoll, wenn es sich um die Bearbeitung komplexer Aufgaben handelt. Hier wird die Arbeit durch direkte persönliche Kommunikation koordiniert und die Projektteams werden aus festangestellten Mitarbeitern gebildet. Durch den Einsatz der Informationstechnik (z. B. Video Conferencing oder Groupware) können aber immer mehr komplexe Aufgaben koordiniert werden, bei denen Menschen örtlich getrennt sind. Auch die Zusammenstellung von Teams wird durch
Vermittlungsplattformen unterstützt. Dies erklärt auch, warum das Konzept von Internetnomaden oder örtlich verteilte Softwareentwicklung und Consulting-Projektbearbeitungen durch Freelancer möglich sind. Tendenziell werden damit feste hierarchische Strukturen durch Marktstrukturen, bei denen die Koordination durch freiwillige Vereinbarungen zwischen Anbietern und Nachfragern geregelt wird, gelockert. Eine Plattform kann einmal aus technischer Sicht betrachtet werden und stellt dann eine Softwarelösung zur Verfügung, auf deren Basis die Transaktionen zwischen Lieferanten und Kunden abgewickelt werden. Ist diese Plattform auf inhaltliche Probleme spezialisiert oder ausgerichtet, so wird sie um Kontextbezüge angereichert, also z. B. eine Plattform zur Vermittlung von Finanzdienstleistungen, Versicherungen, Mobilität oder Entertainment. Ein Unternehmen muss sich entscheiden, wie es in eine Plattformarchitektur eingebunden werden möchte und kann. Strebt es selbst an, die Plattform zu besitzen, so muss es dafür eine Softwarelösung einsetzen und möglichst viele Kunden und Lieferanten anwerben. Will es dagegen komplementäre Produkte oder Dienstleistungen für eine bestehende Plattform entwickeln, so nimmt es die Rolle eines Lieferanten in der Plattformarchitektur ein. Es ist unmittelbar ersichtlich, dass der schwierigste Part die Beherrschung der Plattform selbst ist, allerdings, wie bereits durch Nennung der wertvollsten Unternehmen angedeutet, ist es die lukrativste Rolle. Lieferanten können gegenüber dem Plattformunternehmen ihre Rolle verstärken, indem sie selbst Zulieferanten bündeln und eigene Kunden in die Zusammenarbeit mit den Plattformunternehmen einbringen. Sie bauen damit quasi ihre eigene Plattformunternehmung auf und vernetzen sich mit der darüber liegenden. Damit entstehen Netzwerke von Plattformunternehmen. Eine interessante Entwicklung ist zurzeit auf dem Automobilmarkt zu beobachten. Traditionell stand und steht das materielle Fahrzeug der großen Automobilhersteller wie Volkswagen, BMW oder Daimler Benz im Mittelpunkt und definiert somit jeweils Autoplattformunternehmen. Die Kunden sind die Käufer dieser Autos. Komplementäre Lieferanten sind z. B. Zulieferer für Komponenten wie Navigationssysteme oder lizensierte ErsatzteilproInformatik_Spektrum_39_4_2016
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duzenten. Das Fahrzeug selbst wird durch eine festgelegte Hierarchie von Zulieferanten erstellt. Diese sind nicht Bestandteil des hier behandelten Plattformkonzeptes, sondern bilden eine feste Pipe-Architektur. Es ist bekannt, dass IT-Unternehmen wie Apple und Google an der Entwicklung von Betriebssystemen für Automobile arbeiten. Sie verfolgen damit das Ziel, quasi die Plattform für Infotainment, also Anwendungen wie Navigation, Ladestationssuche, Restaurantsuche, Hotelsuche usw. zu sein. Dies könnte dazu führen, dass in Zukunft die Entscheidung eines Konsumenten primär anhand des präferierten Betriebssystems getroffen wird und damit das Hardwareunternehmen (OEM) in die Lieferantenrolle gegenüber dem BetriebssystemPlattform-Unternehmen gedrängt wird. Dies wäre mit einem erheblichen Machtverlust der OEMs verbunden. Ähnliche Entwicklungen hat es auch in der Vergangenheit gegeben, speziell in der IT-Industrie. Das Unternehmen IBM war einst der größte Hardwarehersteller der Welt. Als die IBM in die Entwicklung von Personalcomputern einstieg, hatte sie als kleinen Partner das Unternehmen Microsoft einbezogen, der das komplementäre Betriebssystem MS-DOS entwickelte. Damit waren die Rollen klar. Der Hardwarehersteller fühlte sich als Plattforminhaber und das kleine Softwarehaus Microsoft als Lieferant komplementärer Software. Inzwischen hat sich gezeigt, dass der Konsument die Rollen anders sieht. Er entscheidet sich zunächst für das Betriebssystem von Microsoft und erst dann für den Hardwarehersteller. Die Konsequenz ist, dass das Weltunternehmen IBM mittlerweile als Hersteller aus dem PC-Markt ausgeschieden ist. Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich auch bezüglich der Unternehmenssoftware von SAP. Das kleine Softwarehaus SAP in Walldorf bot zunächst seine betriebswirtschaftliche Software als komplementäres Produkt zu den Computern der Firmen Siemens und IBM an. Es war stolz, wenn es auf den großen Produktmessen dieser Unternehmen seine Software zeigen durfte. Auch hier hat sich die Rolle umgekehrt. Heute entscheiden sich Kunden zunächst für ihre Softwarestrategie, also für SAPSoftware oder Oracle-Software und erst dann für eine Hardwarelösung. Die Unternehmen Siemens und IBM sind aus diesen Märkten ausgeschieden, während SAP zu einem Weltunternehmen geworden ist.
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Diese Entwicklungen zeigen noch einmal deutlich zwei Effekte: – Bestehende Großunternehmen können nicht sicher sein, dass sie im Rahmen der Digitalisierung ihre Vormachtstellung behalten werden und aufkommende digitale Produkte lediglich als Ergänzung ihrer Leistungen ansehen können. – Garagengründungen können es in kurzer Zeit durch exponentielles Wachstum schaffen, bestehende Weltmarktführer in ihren Marktpositionen zu erschüttern oder sogar zu verdrängen.
Fallbeispiel digitale Beratung Der Verfasser ist selbst Unternehmer und hat mehrere IT-Unternehmen mit den Schwerpunkten Softwareentwicklung und IT-Beratung gegründet. Gegenwärtig ist die Scheer GmbH mit Hauptsitz in Saarbrücken das Zentrum eines Netzwerks von knapp zehn IT-Unternehmen, in die der Verfasser investiert hat. Die Scheer GmbH führt mit rund 500 Mitarbeitern IT-Beratungs- und Implementierungsprojekte durch. Das Unternehmen gehört dem Verfasser zu 100 %. Es wurde herausgestellt, dass die Digitalisierung zunächst informationsnahe Produkte und Dienstleistungen im B2C-Umfeld betrifft. Beratungsleistungen sind ihrer Natur nach informationsnah. Ergebnisse werden i. d. R. durch Texte, Grafiken und Statistiken beschrieben. Beratungsprojekte zählen zwar zum Business-to-Business(B2B)Markt, werden aber auch in der Zukunft von der Digitalisierung betroffen. Einige Tendenzen des zukünftigen Consultingmarktes sind bereits erkennbar. – Komplexe Softwaresysteme zur Unternehmenssteuerung wie ERP-Systeme werden zunehmend von einfacheren Teilsystemen abgelöst. Dadurch wird der Consultingbedarf verringert und Großprojekte werden durch Detailprojekte bis hin zur stundenweisen ,,Nanoberatung“ ersetzt. Damit stößt ein geringerer Consultingbedarf auf ein noch hohes Angebot und die Beratersätze werden sinken. – Cloudlösungen werden zunehmend als feste Standardlösungen ohne individuelle Ergänzungen angeboten. Trotzdem notwendige individuelle Ergänzungen durch Apps werden durch neue Softwarearchitekturen in weltweit verteilten (virtu-
Tabelle 1
Treiber der Digitalisierung Treiber
Analyse
Bedeutung
Kundenorientierte Projektstruktur Self-Consulting, Freelancer, Internet Nomads Wissensdatenbanken, Auswertungsalgorithmen,
wichtig sehr wichtig wichtig
4.
Personalisierung Selbststeuerung Grenzkostenlose Dienstleistungen Smart Services
wichtig bis sehr wichtig
5.
Community/Swarm
6.
Lean Organisation
7.
Exponentielles Wachstum
8.
Plattformunternehmen
Datenanalysen, Verbindung Branchen- und Problemkompetenz mit Algorithmen Flexible Hinzuziehung interner und externer Experten; Verbreiterung der Kompetenzen zu geringen Fixkosten Verringerung von Niederlassungen; Tendenz zum virtuellen Unternehmen; weniger Reisekosten Wachstum durch Wissensdatenbanken, virtuellen Mitarbeitern Kernkompetenzen; Projektsteuerung, Branchenkompetenz, Algorithmen, Monitoring
1. 2. 3.
ellen) Softwarefabriken schnell und kostengünstig erstellt. – Die zunehmende Innovationsgeschwindigkeit in vielen Branchen erfordert von Consultants hohe geistige Flexibilität und sich schnell ändernde Fachkenntnisse über neue Businessmodelle. – Die Implementierung von Lösungen wird weniger wichtig als die Unterstützung bei ihrer richtigen Nutzung durch Monitoring und Ausführung. Nicht mehr die Einführung eines Big-Data-Systems steht im Vordergrund, sondern die Datenanalyse selbst und darauf aufbauende Businesskonzepte. – Technische Hilfsmittel zur Unterstützung der Tendenzen zur digitalen Beratung sind Kommunikationssysteme wie Video-Conferencing, Groupware-Technologien, 3D-Brillen, Virtual Reality, Augmented Reality, Auswertungs- und Analysealgorithmen sowie Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz. Der Verfasser entwickelt im eigenen unternehmerischen Interesse deshalb Gedanken und Konzepte, wie eine digitale Beratung der Zukunft sein kann. Im Rahmen des von ihm gegründeten ,,AugustWilhelm Scheer Institut für digitale Produkte und Prozesse gGmbH“ werden Forschungsarbeiten zu diesem Thema durchgeführt und veröffentlicht. Hier sind die Wissenschaftler frei, disruptive Ansätze zu erarbeiten. Die Scheer GmbH verfolgt dagegen einen eher kontinuierlichen Entwicklungsprozess,
wichtig bis sehr wichtig
wichtig sehr wichtig sehr wichtig
da zurzeit auch noch kein akuter Wettbewerbsdruck in Richtung disruptiver Ansätze besteht. Im Folgenden werden als Fallstudie die in Teil B entwickelten Gedanken auf das Gebiet der digitalen IT-Beratung angewendet. Es zeigt sich, dass die systematische Analyse und Bewertung der aufgeführten Treiber bereits gute Hinweise für die Richtung eines zu entwickelnden neuen Businesskonzeptes zur digitalen Beratung gibt.
Analyse und Bewertung der Treiber für eine digitale Beratung In Tab. 1 ist die Analyse und Bewertung für die Digitalisierungstreiber angegeben. Individualisierung. Die Personalisierung von Beratungsleistungen bezieht sich auf kundenorientierte Projektstrukturen, die in der Zukunft möglich sind. Kunden können zukünftig stärker wählen, ob sie Beratungsleistungen selbst übernehmen wollen, indem sie lediglich Tools oder Kernkompetenzen wie Projektmanagement und Spezialkenntnisse von externen Beratern übernehmen. Die kundenbezogene Konfiguration eines Beratungsprojektes führt auch zu kleinteiligeren Beratungsformen. Zurzeit werden IT-Projekte in der Einheit Beratungstage gemessen. Zukünftig können aber auch ,,Nano“-Projekte interessant werden, indem Kunden ad hoc Fragestellungen in kurzer Zeit gelöst haben möchten. Derartige FrageInformatik_Spektrum_39_4_2016
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stellungen können bis zu Stunden- oder Minuteneinheiten abgerechnet werden. Dazu müssen neue Vertriebssysteme (Consultingshops) und neue Vertragsbeziehungen wie Consultingabonnements mit Ticketabrechnung entwickelt werden. Insgesamt werden die Projekte von der Akquisition bis zur Umsetzung stärker auf den Kunden bezogen. Das Beratungsunternehmen denkt dann mehr ,,outside in“ als ,,inside out“. Die Tendenzen werden als wichtig bewertet. Selbststeuerung. Will der Kunde in höherem Maße Eigenleistungen in IT-Projekten erbringen, folgt er dem Trend zur Selbststeuerung. Aus Sicht eines Beratungshauses ist die Selbststeuerung von Mitarbeitern ebenfalls von besonderer Bedeutung. Hochqualifizierte Mitarbeiter wollen immer mehr selbst bestimmen, in welche Projekte sie eingebunden werden möchten, um ihre Fähigkeiten am wirkungsvollsten einsetzen zu können. Gleichzeitig spielt auch die Tendenz der Selbststeuerung des Arbeitseinsatzes durch neue Arbeitsformen wie Freelancer oder Internetnomaden eine größere Rolle. Hier müssen sich Consultingunternehmen die Fähigkeit verschaffen, Freelancer kompetent einzuwerben, in Projekte einzugliedern, sie zu steuern, ihre Qualität zu sichern und zu bewerten. Diese Entwicklung wird als sehr wichtig angesehen, weil sie eine höhere Flexibilität des Consultingunternehmens fordert, seine Fixkosten sich verringern und es sich mehr in Richtung eines virtuellen Unternehmens entwickelt. Grenzkostenlose Dienstleistungen. Werden aus Beratungsprojekten Erfahrungsdatenbanken aufgebaut, so ist deren Erstellung mit erheblichen Kosten verbunden. Ihre Benutzung in nachfolgenden Projekten verursacht dagegen wenig Kosten, ist also quasi grenzkostenlos. Das gleiche gilt für die Anwendung von Algorithmen bei der Auswertung von Datenbeständen zur Bewertung von Unternehmenssituationen. Beispielsweise können Auswertungen von Vertriebsdaten Schwachstellen einzelner Vertriebsmitarbeiter zeigen oder einen Marketingnachholbedarf in bestimmten Vertriebsgebieten deutlich machen. Auch hier kann die Entwicklung entsprechender automatisierter Auswertungsverfahren erhebliche Aufwendungen verursachen, die anschließende Anwendung des Algorithmus ist dagegen nahezu grenzkostenlos. Eine
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einfache aber durchaus wirkungsvolle Unterstützung können auch schon FAQ („frequently asked questions“)-Dokumentationen geben. Auch hier ist der Aufbau mit Kosten verbunden, die Benutzung aber nahezu kostenfrei. Der Einsatz dieser Unterstützungsmöglichkeiten wird für die Zukunft als sehr wichtig angesehen. Es kann sogar sein, dass das Angebot von entsprechenden Wissensdatenbanken und Auswertungstools das Kerngeschäft eines Beratungsunternehmens sein wird, wenn es sich darauf konzentriert, das Selbstconsulting von Unternehmen zu unterstützen oder andere Beratungsunternehmen mit diesen Tools zu beliefern. Smart Services. Bei Smart Services steht die Auswertung von großen Datenmengen (Big Data) im Vordergrund. Durch Einsatz von Datenanalysten für spezielle Fragestellungen mit hoher Branchenkompetenz können Consultingunternehmen neue Geschäftsfelder eröffnen. Hier geht es weniger darum, Algorithmen selbst zu entwickeln als vorhandene Algorithmendatenbanken kompetent auf bestimmte Fragestellungen anzuwenden. Also das Wissen, wie und welche Algorithmen zur Beantwortung bestimmter Fragen angewendet werden, steht im Vordergrund. Das Ergebnis einer solchen Beratung ist dann auch inhaltlicher Art und kann nur aus einem entsprechenden Mix aus algorithmischen Kenntnissen und fachlichem Verständnis erbracht werden. Das Beratungsunternehmen kann durch die inhaltliche Analyse von Daten des Kunden auch stärker in die Identifizierung von Problemfällen des Kunden einbezogen werden. Während gegenwärtig häufig Berater erst gerufen werden, wenn der Kunde ein Problem erkannt hat, kann durch die Analyse von Prozessdaten („process mining“) ein Problem bereits vorzeitig erkannt werden (Predictive Analytics). Damit kann das Beratungsunternehmen seine Wertschöpfungskette verlängern. Durch Vergleich von Kundendaten kann das Beratungsunternehmen eine eigene Kompetenz zur Beurteilung von Kundenfällen im Verhältnis zur gesamten Branche aufbauen. Hier bilden allerdings Vertraulichkeitserklärungen eine gewisse Einschränkung. Community-/Schwarmeffekt. Traditionell wird ein Beratungsprojekt von einem fest definierten Team des Beratungsunternehmens durchgeführt. Das
gleiche gilt auch für die vom Kunden definierte Projektgruppe, die zusammen mit den Beratern das Projekt durchführen sollen. Diese Teams bleiben von Anfang bis zum Projektende i. d. R. fest zugeordnet. Durch die erweiterte mediale Kommunikation kann dieses Team durch virtuelle Mitarbeiter teilweise ersetzt oder ergänzt werden. So können über Skill-Datenbanken identifizierte Spezialisten des Beratungsunternehmens, die dem Projekt nicht zugeordnet sind, für Spezialfragen ad hoc hinzugezogen werden. Ebenso können auch Spezialisten des Kunden gezielter ad hoc einbezogen werden. Das Beratungsunternehmen kann um sich herum eine Community aus User Groups, externen Spezialisten bis hin zu Fachleuten in der ganzen Welt aufbauen und diese bei Spezialfragen situativ heranziehen. Dadurch kann Spezialwissen zu geringen Kosten flexibel verfügbar gemacht werden, ohne dass Mitarbeiter zu hohen Kosten dauerhaft beschäftigt werden müssen. Dieser Effekt wird mit einer mittleren Wichtigkeit bewertet. Lean Organization. Die Tendenz, hierarchische Strukturen durch Marktstrukturen in Richtung eines virtuellen Unternehmens zu ersetzen, führt dazu, dass die Organisationsstruktur eines Beratungsunternehmens vereinfacht werden kann. Örtliche Niederlassungen können reduziert und Mitarbeiter direkt der Zentrale zugeordnet werden, da durch die verbesserten Kommunikationsformen eine Koordination über örtliche Trennungen hinweg leichter möglich ist. Ein Beratungsunternehmen, das eine sehr enge mediale Verbindung zu den Kunden aufbaut, kann aufwendige Reisekosten reduzieren. Komfortable Videokonferenzen bis hin zum Einsatz von 3D-Brillen erzeugen eine Atmosphäre, als ob sich alle Teilnehmer in einem Konferenzraum befinden würden, obwohl sie örtlich verteilt sind. Derartige n:mKommunikationssysteme zwischen Beratern und Kunden sind in der Entwicklung und werden sich schnell verbreiten. Neben entfallenen Reisekosten, die bei Beratungsprojekten zurzeit einen erheblichen Prozentsatz der Kosten ausmachen, wird eine stärkere Identifizierung von örtlich verteilten Mitarbeitern mit dem Gesamtunternehmen erreicht, da Niederlassungen häufig ein gewisses Eigenleben führen. In die gleiche Richtung führen auch die bereits aufgeführten Punkte des verstärkten Einsatzes von Freelancern und Partnern, die ohne Fixkosten
mit dem Unternehmen zusammenarbeiten können. Dieser Effekt wird als wichtig bis sehr wichtig angesehen, da er zu erheblichen Kostenreduktionen führt. Start-up-Unternehmen, die sich von vornherein auf eine virtuelle Organisationsform ausrichten, können einen erheblichen Kostenvorsprung gegenüber traditionellen Beratungsunternehmen aufweisen. Exponentielles Unternehmenswachstum. Ein exponentielles Wachstum wurde vor allen Dingen durch die ressourcenarme Verbreitungsmöglichkeit von Informationen durch das Internet herausgestellt. Bei Beratungsunternehmen wäre dies möglich, wenn Erfahrungsdatenbanken sowie formalisierte Beratungsmethoden (Modellierung) und Algorithmen angeboten würden. Aber die Einbindung von Freelancern und ähnlichen virtuellen Mitarbeitern kann ein exponentielles Wachstum ermöglichen. Diese Überlegungen geben insbesondere Start-upUnternehmen die Möglichkeit zur kurzfristigen Markteroberung. Der Effekt wird deshalb als sehr wichtig bewertet. Consulting-Plattform-Unternehmen. Es zeigte sich, dass alle in Teil A entwickelten Digitalisierungstreiber für das Consulting von Bedeutung sind. Auch die Entwicklung zu Plattformunternehmen gewinnt große Bedeutung. Dabei können zwei unterschiedliche Plattformtypen gebildet werden: Plattformen für Consultingunternehmen. Dieser Unternehmenstyp bietet keine eigenständige Consulting Dienstleistung an, sondern entwickelt Softwaresysteme zur Unterstützung von Beratungsprojekten. Dieses können (Prozess-) Modellierungstools, Auswertungsalgorithmen, Monitoringtools oder Wissensdatenbanken sein. Spezielle Kommunikationsplattformen und Ticketsysteme zur Abrechnung von Consultingleistungen sind ebenfalls interessant. Diese Systeme werden klassischen Consultingunternehmen angeboten oder auch Anwendungsunternehmen zum Selbstconsulting. Das Unternehmen kann auch weitere Lieferanten von Tools auf seiner Plattform akquirieren. Diese Unternehmensform eignet sich besonders für Start-up-Unternehmen. Sie starten zunächst als Lieferanten für inhaltliche Consultingunternehmen. Informatik_Spektrum_39_4_2016
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Abb. 8 Scheer GmbH, Plattform Architektur
Setzen sich aber ihre Methoden und Werkzeuge durch, können sie sogar inhaltliche Consultingunternehmen zu Lieferanten ihrer dominanten Plattform degradieren. Consulting-Plattform-Unternehmen. Dieser Unternehmenstyp setzt den Schwerpunkt auf inhaltliche Consultingleistungen, bietet sie aber unter Nutzung der Digitalisierung in neuer Form an. Er nutzt dazu eigenentwickelte Tools oder Standardtools von Unternehmen des Typs 1, reichert sie mit Inhalten an und entwickelt ein Ökosystem aus Kunden und Partnern. Dieser Typ nutzt vor allem die Treiber: Personalisierung durch flexible Projektstrukturen; Selbststeuerung durch ausdrückliche Einbeziehung selbstständiger Berater (Freelancer); Smart Services durch neue Beratungsangebote für Datenanalyse und Prozessmonitoring; Communityeffekte durch Nutzung von User Groups und Expertennetzwerken; Lean Organization durch Homeofficelösungen und eine virtuelle Unternehmensform. Exponentielles Wachstum strebt er durch schnellen Aufbau seines Ökosystems aus Partnern an. Für ein bestehendes IT-Beratungsunternehmen ist die Entwicklung zu diesem Plattformunternehmen der natürliche Entwicklungspfad. Diesen sieht der Verfasser auch für die Scheer GmbH als Transformationsziel an. Dieser wird deshalb im Folgenden etwas ausführlicher skizziert. In Abb. 8 ist die Struktur des Plattformunternehmens dargestellt. Die Plattform wird durch die Leistungen gekennzeichnet, die von dem Unternehmen dem Kunden angeboten werden. Diese können von festen Ressourcen des Unternehmens stammen oder von mit dem Unternehmen verbundenen Lieferanten. Kernleistungen, die primär vom Unternehmen selbst angeboten werden, sind: Organisationsme-
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thoden zur Prozessoptimierung, Expertenwissen für inhaltliche Fragestellungen und Branchen-Knowhow sowie Kompetenzen zur Steuerung komplexer Projekte. Das Ökosystem des Beratungsunternehmens besteht dann aus seinen Kundenbeziehungen sowie aus dem Umfeld von externen Spezialisten, Partnern, Freelancern, Forschungsinstituten usw. Je größer dieses Umfeld gegenüber dem Wissenspool an festen Mitarbeitern innerhalb der Plattform ist, umso flexibler kann das Beratungsunternehmen reagieren.
Consulting Plattform Architektur Neben dem Kern der Plattform und dem Ökosystem aus Kunden und Lieferanten ist auch die Einbettung des Unternehmens in ein Netzwerk von Plattformbeziehungen angedeutet. Das Consultingunternehmen kann in einem Projekt dieses Projekt verantwortlich leiten und in einem anderen Kundenprojekt Partner eines anderen Consultingunternehmens sein. Bei dieser Vernetzung von Consultingunternehmen ist die wirtschaftliche Position eines Plattformunternehmens umso höher, je größer das eigene Ökosystem und die eigenen Kernkompetenzen sind und umso höhere Preise kann es für seine Beratungsleistungen auch gegenüber einem größeren Partner fordern. In Abb. 9 ist als Teil des Weges zu einem digitalen Beratungsunternehmen die zu entwickelnde Infrastruktur skizziert. Die Scheer GmbH nimmt dieses Konzept als ihre Roadmap für ihre evolutionäre Entwicklung. Im rechten Teil ist der Aufbau der Kommunikationsinfrastruktur angedeutet. Alle Berater werden durch VoIP- und Videokonferenzsysteme unabhängig von ihrem Standort unterstützt. Gleichfalls werden auch die Projektmitarbeiter des Kunden in diese Kommunikationsinfrastruktur eingebunden, um Reisetätigkeiten zu verringern.
Abb. 9 Consulting Infrastruktur
Im nächsten Schritt kann diese Infrastruktur auch auf Partner- und Spezialistennetzwerke weltweit ausgedehnt werden. Links unten in der Abbildung ist der Aufbau von Wissensdatenbanken zur Speicherung von Erfahrungswissen aus Projekten und deren Wiederverwendung angedeutet. Diesem Aufbau wird eine besondere Bedeutung für die zukünftige Projektabwicklung zugeordnet. Die Zusammenarbeit zum Kunden wird nicht nur über neue Kommunikationswege verstärkt, sondern auch über neue Bearbeitungsformen. Im Rahmen des Nano-Consulting werden auch kleinere Beratungseinheiten angeboten. Durch Tools, wie dem Process Mining kann das Prozessverhalten des Kunden analysiert werden, und so können Schwachstellen erkannt werden, die durch ein Reorganisationsprojekt behoben werden. Damit kann die Wertschöpfung der Beratung verlängert werden und bereits mit der Problemerkennung beginnen und nicht erst mit der Problemlösung. Insgesamt erwartet der Verfasser, dass sich in den nächsten 3–5 Jahren der Beratungsmarkt
sehr stark in Richtung virtueller und digitalisierter Plattformunternehmen verändern wird.
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