Für Sie gelesen Nephrologe 2018 · 13:43–44 https://doi.org/10.1007/s11560-017-0208-0 Online publiziert: 28. November 2017 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2017 Redaktion T. Feldkamp, Kiel J. Lutz, Mainz L.T. Weber, Köln
Originalpublikation Yamamoto S et al (2017) Analysis of an ADTKD family with a novel frameshift mutation in MUC1 reveals characteristic features of mutant MUC1 protein. Nephrol Dial Transplant. https://doi.org/10.1093/ndt/ gfx083
Hintergrund. Erst 2013 konnte die genetische Ursache für den zweiten Haupttyp aus dem Spektrum der autosomal-dominant erblichen tubulointerstitiellen Nierenerkrankungen (ADTKD, früher auch als MCKD [medullär-zystische Nierenerkrankung]Typ 1 bezeichnet) aufgeklärt werden. Obwohl derGenortaufChromosom 1q21 seit 1998 bekannt war, gelang es erst Kirbey et al., Mutationen im MUC1Gen zu identifizieren, welches für das transmembrane Glykoprotein Mucin 1 kodiert [1]. Dabei konnten ausschließlich Einbasenpaarinsertionen einer Cytosinbase (insC) im kodierenden, hoch polymorphen „tandem repeat“ („variable number of tandem repeats“, VNTR) des MUC1-Gens, einer sehr GC-reichen, repetitiven Sequenz bestehend aus 60 Basenpaaren langen Untereinheiten, gefunden werden. Diese Insertionen verschieben das Leseraster und resultieren in einer aberranten Aminosäuresequenz der extrazellulären Domäne des MUC1-Proteins mit Verlust der Transmenbrandomäne und der nachfolgenden Domänen. Interessanterweise konnten bisher keine Mutationen außerhalb des VNTRs identifiziert werden. Methoden. Die Arbeitsgruppe um JunYa Kaimori aus Osaka führte eine Exom-
B. B. Beck AG Hereditäre Nierenerkrankungen, Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Köln, Köln, Deutschland
„Old friends, new friends“ – Neues zu ADTKD-MUC1
analyse bei einer Familie mit dem klinischen Bild einer langsam progredienten autosomal-dominanten Nephropathie, vereinbar mit einer Erkrankung aus dem ADTKD-Spektrum, durch. Ergebnisse. In dieser Arbeit konnte erstmals eine kausale MUC1-Sequenz-Veränderung knapp außerhalb des VNTR identifiziert werden. Diese neue Frameshift-Mutation resultiert in einem verkürzten MUC1-Neoproteins mit intrazytoplasmatischen Akkumulation sowie Aggregationsneigung, da es durch den Verlust der Transmembrandomäne nicht mehr in die Zellmembran eingebaut werden kann. Die MUC1-Mutante konnte zudem erstmals in Exosomen aus Patientenurin per Immunoblot nachgewiesen werden. Diskussion. Die Position der hier neu identifizierten Frameshift-Mutation, einer Zweibasenpaardeletion im Bereich der uniformen Pseudorepeats knapp vor Beginn des eigentlichen VNTR, kann oft noch mit konventionellen Sequenzierverfahren (Sanger-Sequenzierung, Methoden der massiven Parallelsequenzierung) gelesen werden. Wie die Autoren zeigen, führt diese neue Mutation zur Entstehung eines Neoproteins, welches eine hohe Ähnlichkeit bezüglich der Aminosäuresequenz und der 3-D-Struktur zu den zuvor beschriebenen Neoproteinen infolge der bekannten insC im VNTR aufweist. Die bereits zuvor generierten Antikörper gegen die aberrante Aminosäuresequenz detektieren somit auch die hier neu beschriebene Mutation, da beide Leserasterverschiebungen in
eine identische C-terminale Sequenz aus 94 Aminosäuren mit vorzeitigem Stopkodon münden. Die Position der hier neu beschrieben Mutation erlaubt aber eine einfachere Klonierung und erleichtert damit die zur weiteren Aufklärung der molekularen Mechanismen notwendigen invitro-Experimente, die zuvor häufig an PCR-Problemen (PCR-Mutagenese) innerhalb des VNTR gescheitert sind.
Kommentar Die Gruppe der ADTKD umfasst typischerweise eher „langsam verlaufende Nierenerkrankungen“, die oft erst im Erwachsenenalter durch eine progrediente Niereninsuffizienz und/oder Hyperurikämie auffallen. Derzeit werden neben dem ADTKDMUC1-Subtyp (OMIM #174000) 3 weitere Formen dem ADTKD-Spektrum zugeordnet [2–4]: 4 ADTKD-UMOD (OMIM #603860, #162000 und #609886; früher auch MCKD Typ 2), verursacht durch Mutationen im UMOD-Gen; 4 ADTKD-REN (OMIM #613092), ausgelöst durch Mutationen im Renin-Gen; 4 ADTKD-HNF1B (OMIM #137920) infolge von Mutationen im HNF1BGen. Eine klinische oder histopathologische Unterscheidung der ADTKD-Subtypen ist meist unmöglich, nur in Ausnahmen erlaubt z. B. das Auftreten von MODYDiabetes odereinrenalerMagnesiumverlust die Zuordnung zur ADTKF-HNF1B. Der Nephrologe 1 · 2018
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Für Sie gelesen Die gezielte Sanger-Sequenzierung oder Genpanel-Analysen für das UMOD-, das REN- und das HNF1B-Gen sind weit verbreiteter Standard, während die Analyse des MUC1-VNTR momentan ein großes diagnostisches Problem darstellt. Die fehlende Erreichbarkeit vieler genomischer Repeats ist ein grundsätzliches Problem der derzeitigen auf diagnostischer und wissenschaftlicher Basis eingesetzten Sequenziertechnologie mit kurzen Leselängen. Im Gegensatz zu bekannten einfachen Repeats bei RepeatExpansions-Erkrankungen (z. B. Huntington-Erkrankung) ist die Größe des (aus 60 Basenpaaruntereinheiten bestehenden) MUC1-VNTR irrelevant für die Pathogenese. Die VNTR-Allel-Größen in der Bevölkerung liegen zwischen etwa 20 bis 125 Untereinheiten pro Genkopie, daher sind diagnostische Verfahren, die eine Veränderung der Repeat-Länge aufdecken können, hier nutzlos. Als bislang prototypisch kausale Mutation konnte die Insertion einer achten Cytosinbase (insC) innerhalb des 7CStretches in einer Untereinheit des VNTR weltweit bei Familien mit ADTKDMUC1 nachgewiesen und damit eine erste (aber möglicherweise nicht einzige) Nierenerkrankung mit Mutationen innerhalb einer Repeat-Region beschrieben werden [1]. Aufgrund des hohen GC-Gehalts und der aus der repetitiven Sequenz resultierenden DNA-Struktur ist der VNTR kaum der Sequenzierung mit Standardmethoden zugänglich. Es wurde daher eine indirekte Methode, ein sog. „probe extension assay“ (SNaPshot), als erster diagnostischer Test entwickelt, der die insC vor dem Hintergrund der hohen Zahl an unveränderten Untereinheiten (je nach Allelgrößen 0,4 % [1/250] bis 2,5 % [1/40]) entdecken kann. Zu den immanenten Nachteilen der Methode zählt der Verlust jeglicher Sequenz-/ Strukturinformation über den VNTR, da nur der 7C-Basenstretch auf Vorhandensein einer achten Cytosinbase (oder des normalerweise hier folgenden Adenins) abgefragt werden kann. Die Methode erfordert zudem aufwendige Verdausowie An-/Abreicherungsschritte, die derzeit nicht im EBM (einheitlicher Bewertungsmaßstab: das Vergütungssystem der vertragsärztlichen Versorgung)
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abgebildet und damit zumindest nicht wirtschaftlich durchführbar sind. Neue diagnostische Methoden und entsprechende Patientenregister müssen daher dringend entwickelt bzw. vorangetrieben werden.
Fazit für die Praxis 4 Ein relevanter Teil erwachsener Pati-
enten mit Nierenfunktionsstörungen leidet an seltenen, oft genetisch bedingten Nierenerkrankungen. Das ADTKD-Spektrum steht prototypisch hierfür. 4 Bei der ADTKD-MUC1 handelt es sich um einen Haupttyp der ADTKD, dessen molekulargenetischer Nachweis bisher durch die Lage der kausalen Mutationen erschwert wurde. Daher ist von einer Unterdiagnose dieses Typs, insbesondere bei sporadischen Fällen, auszugehen. 4 Neben der Analyse des VNTR sollte eine Sequenzierung aller kodierenden MUC1-Exone erfolgen, da Mutationen nicht mehr auf den VNTR beschränkt sind. 4 Neue effizientere genomische Diagnostikverfahren, die eine Sequenzanalyse der gesamten kodierenden Sequenz erlauben, bzw. Screeningmethoden, basierend auf dem Nachweis des Neoproteins im Urin, müssen dringend entwickelt werden.
Korrespondenzadresse Dr. B. B. Beck AG Hereditäre Nierenerkrankungen, Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Köln Kerpenerstr. 34, 50931 Köln, Deutschland
[email protected] Interessenkonflikt. B. B. Beck gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur 1. Kirby A, Gnirke A, Jaffe DB et al (2013) Mutations causing medullary cystic kidney disease type 1 lie in a large VNTR in MUC1 missed by massively parallel sequencing. Nat Genet 45(3):299–303 2. Hart TC, Gorry MC, Hart PS et al (2002) Mutations of the UMOD gene are responsible for medullary
cystic kidney disease 2 and familial juvenile hyperuricaemic nephropathy. J Med Genet 39(12):882–892 3. Zivná M, Hůlková H, Matignon M et al (2009) Dominant renin gene mutations associated with early-onset hyperuricemia, anemia, and chronic kidney failure. Am J Hum Genet 85(2):204–413 4. Lindner TH, Njolstad PR, Horikawa Y, Bostad L, Bell GI, Sovik O (1999) A novel syndrome of diabetes mellitus, renal dysfunction and genital malformation associated with a partial deletion of the pseudo-POU domain of hepatocyte nuclear factor-1beta. Hum Mol Genet 8(11):2001–2008