Sozial Extra 1|2 ’09
Durchblick: Projektstudium
Projektstudium und Praxisbezüge im Bologna-Prozess Reform der Reform?
Ein zentrales Element studienreformerischer Aktivitäten Anfang der 1970er Jahre war die Stärkung des Praxisbezugs von Studiengängen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik durch das Projektstudium. Mit Letzterem waren hohe Ziele verbunden. Angesichts der derzeitigen umfassenden Hochschul- und Studienstrukturreform im Zuge des Bologna-Prozesses gilt es zu fragen, welchen Platz ein solches Projektstudium „nach Bologna“ noch im Studium der Sozialen Arbeit finden kann.
Zur Beantwortung soll im Folgenden zunächst auf die mit dem Projektstudium verbundenen Ideen zurückgeElke Kruse *1967 blickt werden, um dann anhand einiger PublikaProf. Dr., Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.Päd., Professotionen Schlaglichter auf rin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Theo- den weiteren Verlauf zu rie und Geschichte Soziwerfen. aler Arbeit an der Alice Die Frage der Passung Salomon Hochschule Berlin. Forschungs- und von Projektstudium und Arbeitsschwerpunkte: Bologna-Prozess schließt Ausbildung für Soziale Arbeit: Geschichte und sich an, bevor vor allem aktuelle Studienreform; auf die förderlichen FakInternationale Dimension der Sozialen Arbeit; toren für das ProjektBildung und Erziehung studium durch die Stuim Kindesalter; Hochschuldidaktik und Hochdienstrukturreform einschulpolitik. gegangen wird. Anhand elke.kruse @asfh-berlin.de eines Beispiels, wie Projektstudium im Jahre 2009 aussieht, werden die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten und Veränderungen deutlich, die im Fazit kurz zusammengefasst werden.
Was war gewollt?
Die Ziele des Bologna-Prozesses liegen in Deutschland auf den beiden Ebenen „Internationalisierung/Europäisierung“ und „Allgemeine Studienstrukturreform“. Aspekte, die im Zuge dieser Ziele transportiert werden, müssen dahingehend befragt werden, wie sie zu den zentralen Kriterien von Projektstudium stehen, wo sie mit diesen weniger oder nicht vereinbar sind und an welchen Stellen sie diese ggf. stützen. Zu diesen zentralen Kriterien von Projektstudium gehören jeweils ein Gesellschafts-, Problem- und Praxisbezug sowie Interdisziplinarität und Methodenpluralismus (vgl. Preis 1998: 20ff.). Mit dem Projektstudium sollte eine „Veränderung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse“ herbeigeführt und der Aufbau „gesellschaftlich relevante(r) Alternativen und Modelle“ (ebd.: 20) gefördert werden. Studierende sollten so berufliche Praxis im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang überblicken und Schwierigkeiten und Kon-
Stichworte Studienreform, Projektstudium, Bologna-Prozess. Nutzen Die jeweiligen Potentiale des Projektstudiums und der Bachelor- und Master-Studiengänge werden dargestellt.
Das Wichtigste in Kürze Die Struktur der neuen Studiengänge bietet prinzipiell genügend Freiräume, dass – bei kreativer Umsetzung – auch das Projektstudium darin Platz fi nden kann. 42
flikte entsprechend einordnen können (Gesellschaftsbezug). Ausgangspunkte der Projekte sollten „von den objektiven Problemen der Gesellschaft ausgehen und sich vor diesem Kriterium legitimieren“ (ebd.: 21). Studierende sollten befähigt werden, über den „Tellerrand“ eines Handlungsfeldes zu blicken und Zustände in sowie Situationen aus der beruflichen Praxis zu analysieren, um im Anschluss daran das weitere Vorgehen für Interventionen zu bestimmen. Dabei ging es darum, einen Beitrag zu leisten zu „einer konstruktiven Verbesserung der gesellschaftlichen Situation“ (ebd.). Eine solche Problemorientierung wurde gesehen als „wesentliche Grundlage der Herstellung eines allgemeinen problembezogenen Arbeitsvermögens“ der zukünftigen Sozialarbeiter/innen bzw. Sozialpädagogen/Sozialpädagoginnen (Krauß/Mayer 1985: 7, im Original z.T. kursiv). Praxis wurde begriffen als Teil „eines dialektischen Theorie-Praxis-Prozesses als Einheit von Handeln, Erfahrung und Erkennen“ (ebd.), das es herzustellen galt. Im Rahmen von Projekten sollten ferner keine Einschränkungen hinsichtlich zu verwendender Methoden vorgenommen werden, sondern vielmehr ausgehend von den sich entwickelnden zentralen Fragestellungen „alle diejenigen wissenschaftlichen Ansätze, Methoden und Ergebnisse herangezogen werden, die zur Beschreibung, begrifflichen Erfassung und praktischen Lösung des Problems tauglich erschienen“ (Preis 1998: 21). Die Herangehensweise sollte interdisziplinär und nicht von der Systematik von Fachinhalten geprägt sein, um der Komplexität von Problemen der beruflichen Praxis Rechnung zu tragen. Ausgangspunkt waren die Interessen, Fragen und Motive der Projektteilnehmer/innen, denen mit Wissensbeständen und Zugangsweisen verschiedener Fachdisziplinen begegnet wurde.1 Entstanden aus der Studentenbewegung in Westdeutschland und aus einer Protesthaltung gegenüber nicht mehr zeitgemäßen Traditionen universitärer Lehre und gegenüber der Praxisferne des Studiums, sollte Projektstudium integraler Teil der
akademischen Ausbildung sein. Das Projektstudium lag im zweiten Teil des Studiums, im Hauptstudium, und erstreckte sich je nach Hochschule i.d.R. über vier bis fünf Semester. An der TU Berlin z.B. beanspruchte es mit zehn Stunden in der Woche ein Viertel der Studienzeit pro Semester. Gearbeitet wurde in kleinen Gruppen von idealerweise nicht mehr als 12 Studierenden. Die einzelnen Projekte, bzw. in Berlin Theorie-Praxis-Seminare, waren verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkte zugeordnet. Forschendes Lernen stand im Zentrum. Was wurde aus dem Projektstudium?
Das Projektstudium wurde nicht erst durch den Bologna-Prozess beeinflusst. Bereits sehr früh und lange vor dem Bologna-Prozess wurde es totgesagt. Exemplarisch einzelne Titel von und Zitate aus Publikationen: So betitelte Johannes Wildt schon 1975 einen Artikel mit „Nachruf auf das Projektstudium? “ (Wildt 1975). In den 1980er Jahren resümierten Krauß und Mayer für das Projektstudium an der Gesamthochschule Kassel: „Reform ruiniert, Kernstück verschüttet“ (Krauß/Mayer 1985). Zu der Zeit „fristet“ – Müller und Gehrmann zufolge – das Projektstudium inzwischen ein „Schattendasein“ (Müller/Gehrmann 1987). Letztere beklagten vor allem auch die „Praxisbetreuungsabstinenz“ der ProfessorInnen im Rahmen von Projekten. Es gäbe keinen Raum mehr für „Praxiskritik und -veränderung“ (ebd: 34) und dort, wo noch Projektstudium stattfände, sei es „durch seine hochschuldidaktische Transformation weitgehend entpolitisiert worden“ (ebd.: 36) und habe seine „gesellschaftskritische und praxisverändernde Zielsetzung und Wirkung verloren“ (ebd.: 34f.): „Das Projektstudium hat sich von einer Konzeption mit gesellschaftskritischem und veränderndem Charakter zu einer curricular bestimmten Organisationsform des Theorie-Praxis-Bezuges im Studium entwickelt, in dem Theorie auf berufspraktische Probleme bezogen vermittelt werden und Probleme aus der Praxis Anregungen für Forschung, The-
oriebildung und -vermittlung liefern sollen“ (ebd.: 36). Auch Hinte fand ein Jahr später drastische Worte: „Praxisbezogene Studienreform gilt hierzulande als gescheitert. Dem Projektstudium ergeht es ein weELKE KRUSE 100 JAHRE ALICE SALOMON HOCHSCHULE BERLIN nig so wie der Gemeinwesenarbeit: Man weiß, wie es geht, aber immer weniger tun es“ und Ausdifferenzierung von Studienpro(Hinte 1988: 22). Preis weist darauf hin, filen, Modularisierung, Akkreditierung, dass „eine große Lücke“ zwischen „dem vermehrte Durchlässigkeit, Berufsorientheoretischem Anspruch und der prakti- tierung, Förderung des wissenschaftlischen Durchführung“ von Projektstudi- chen Nachwuchses, neue Orientierungen um bestanden habe und Projekte selten im Hinblick auf Lehren und Lernen, Verein klares Konzept aufgewiesen hätten. kürzung von Studienzeiten sowie KostenBei späteren Formen, die z.T. „eher Studi- einsparungen. Bei einigen dieser Themen enprojekte als eine rein hochschuldidakti- klingen bereits Punkte an, die im Hinsche Methode zur Ergänzung traditionel- blick auf Praxisbezüge und Projektstudiler Lehrformen“ darstellten, sei der „his- um eine Rolle spielen. Zuspitzen lassen sich die Kritik an und torisch einmal erreichte Reflexionsstand und die bildungspolitische und experi- die Befürchtungen zu Bachelor- und Masmentelle Funktion der Projektmethode ter-Studiengängen auf Schlagworte wie ... häufig auf der Strecke“ geblieben (Preis „Qualifizierung im Durchlauferhitzer“ für den Bachelor und „Elitestudiengang 1998: 22). oder aufgepeppte Zertifikatsausbildung“ Projektstudium trifft Bologna: für den Master (Kruse 2006). ProblemaFehlende Passung? tisiert wird im Hinblick auf den Bachelor Nachdem Projektseminare so bis in die die kürzere Studienzeit, die Verschulung späten 1990er Jahre eher ein „Schatten- des Studiums mit der Gefahr einer Verdasein“ fristeten und vom Engagement kürzung des (Selbst-)Reflexionsvermöeinzelner Kolleginnen und Kollegen bzw. gens der Studierenden, eine Verflachung einzelner Fachbereiche und Hochschulen im Sinne von „quadratisch, praktisch, gut“ abhingen, begann die als „Bologna-Pro- und insgesamt für durch den Bachelor-Abzess“ bekannt gewordene Studienstruk- schluss eine Deprofessionalisierung. Auch turreform um sich zu greifen. Es gilt zu- drängt sich die Frage auf, inwieweit angenächst zu fragen, was dieser Prozess mit sichts von Wettbewerb und Konkurrenz sich bringt, um anschließend im Einzel- ein kritisches Studium beibehalten wernen anhand der Kriterien von Projekt- den kann (vgl. Kruse 2008b: 42). studium zu untersuchen, welche AspekIm Hinblick auf den Master wird insbete umfassender Studienstrukturreform in sondere die immense Ausdifferenzierung welcher Hinsicht Einfluss auf Praxisbezü- von Programmen und Abschlüssen, verge und Projektstudium haben. bunden mit breiter inhaltlicher und strukDurch den Bologna-Prozess wird eine tureller Vielfalt, neuer UnübersichtlichReihe von Themen transportiert, die für keit und Intransparenz kritisch beäugt. das Studium der Sozialen Arbeit relevant Hinzu kommen Zulassungsbeschränkunsind. Zu diesen gehören die Internationa- gen, ungeklärte Übergänge im System, lisierung, eine verstärkte Wettbewerbso- hohe Studiengebühren bei Weiterbilrientierung, verbunden mit Profilbildung dungsmastern, Kritik an zu starker Ver43
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Durchblick: Projektstudium wissenschaftlichung oder auch am neuen „Weiterbildungsmarkt“ an den Hochschulen oder an der „Versozialmanagerisierung“ (vgl. Kruse 2008d: 92f.) Angesichts dieser Schlagworte in aller Kürze wird deutlich, dass ein Projektstudium so, wie oben beschrieben, nicht einfach in die neue Struktur und das neue System passt. Eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung spielen die verschiedenen Akteursebenen, auf die ich hier kurz eingehen möchte, da durch sie der Handlungsspielraum deutlich wird, der auch im Hinblick auf die Etablierung von Projektstudium besteht. Zu unterscheiden sind zum einen die europäische Ebene, d.h. das, was durch die Bologna-Folgekonferenzen festgelegt wird, zum zweiten die Interessen und Vorgaben deutscher Hochschulpolitik (vor allem in Form von Erlassen und Empfehlungen von HRK, KMK und Wissenschaftsrat) sowie zum dritten die Ebene der einzelnen Hochschulen, an denen die Bologna-Reform umgesetzt und dabei nicht selten mit eigenen Reformzielen vermischt wird. Vor allem aufgrund dieser verschiedenen Akteursebenen finden sich diverse Mythen und Widersprüche im Bologna-Prozess, die sich bei der Art und Weise der Umsetzung der Reform zeigen und die entscheidende Hindernisse für eine erfolgreiche Studienreform darstellen. Sie reichen von Interpretationen der Bologna- sowie der Folgeerklärungen über u.a. Anwesenheitspflichten und Mobilitätsforderungen bei gleichzeitig eng geschnittenen Curricula, die Auslandsaufenthalte erschweren, über einen gewünschten Wandel im Lehr- und Lernverständnis bei gleichzeitig steigenden Studierendenzahlen, die neue Formen des Lernens erheblich erschweren, bis hin zu Forderungen nach Anerkennung gleichwertiger Leistungen (z.B. aus dem Ausland, aus anderen Studiengängen oder von anderen Bildungsträgern) bei häufig gleichzeitigem Bestehen auf inhaltlich gleichen bzw. gleichartigen Leistungen. Für das Projektstudium lässt sich fragen, wie es in eine oft von solchen Widersprüchen geprägte Modulstruktur in 44
einem ebenfalls zu oft verschulten Studium einzupassen ist, das zudem unter Kostendruck zu realisieren ist und Modelle wie Teamteaching fast unmöglich werden lässt. Auch sind die hochschulischen Strukturen inzwischen wesentlich hierarchischer angelegt als in den 1970er Jahren. Hinzu kommen Aspekte, die außerhalb der Studienreform liegen: Dies sind zum einen der Druck drohender Arbeitslosigkeit nach Abschluss des Studiums, der eine Anpassung an die bestehende Praxis eher begünstigt als eine Hinwendung zu kritisch betrachteter und auf Veränderung zielender Praxis. Verändert haben sich zudem die Lebenslagen der Studierenden. Diese sind (und waren schon Anfang der 1990er Jahre) „nicht mehr das, was sie mal waren“ (Litges 1992: 5): Die finanzielle Absicherung des Lebensunterhalts erfolgt zunehmend über zeitintensives Jobben oder Arbeiten neben dem Studium, hinzu kommen häufig steigende Mieten und unzureichende BAFöG-Sätze sowie in vielen Bundesländern Studiengebühren, die die Situation verschärfen. Dies hat Einfluss auf die zeitliche Flexibilität von Studierenden. „Das alles hat Folgen für das Engagement im Studium; speziell das Projektstudium leidet unter der zeitlichen und materiellen Begrenztheit der Studierenden“ (ebd.). Ein Konzept, wie z.B. das an der Universität DuisburgEssen vom Institut für Stadtteilbezogene Soziale Arbeit (ISSAB) realisierte Projektstudium aber lebt von TeilnehmerInnen, die sich kontinuierlich und mit Zeit engagieren. Der erforderliche interdisziplinäre Zugang steht und fällt zudem mit der Kooperationsbereischaft der Lehrenden untereinander und der allgemeinen Arbeitssituation der Lehrenden im Hinblick auf Lehrdeputate, Anrechnung von Praxisbetreuungszeiten und Belastung mit verwalterischen Aufgaben. Förderliche Faktoren durch Bologna
Neben allen offenen Fragen bietet der Bologna-Prozess allerdings auch zahlreiche Möglichkeiten und Chancen für die Realisierung von Projektstudium. So gestaltet sich das Verhältnis von Theorie und
Praxis im Studium neu. Bereits vor der Bologna-Reform zeigte sich an Fachhochschulen die Tendenz zu einer vermehrt einphasigen Ausbildung mit integrierten Praxissemestern anstelle einer zweiphasigen mit einem an das Studium anschließenden Berufsanerkennungsjahr. Mit der Reform setzt sich dies fort. Das, was noch in den 1970er Jahren äußerst umstritten und ein Ausdruck des Ringens der Fachhochschulen mit der Praxis um eine Einflussnahme auf die Ausbildung und das Berufsfeld war, ist heute kein Thema mehr. So wie bereits die ersten Ausbildungskonzepte vor 100 Jahren am beruflichen Können ausgerichtet waren, so werden die neuen Studiengänge im Rahmen der Akkreditierung hinsichtlich ihrer Berufsorientierung bzw. -qualifizierung geprüft. Eine enge Verschränkung von Praxis und Theorie einschließlich der Rückkopplung von Praxiserfahrungen in die Hochschule wird unerlässlich. Hierzu kann die Modularisierung beitragen, sofern an den Hochschulen in den jeweiligen Modulen auf einen Verbund theoretischer, praktischer und praxisreflektierender Lernelemente gesetzt wird und Praxisanteile nicht neben Theoriemodule gesetzt werden. Das Theorie-Praxis-Verhältnis im Sinne einer untrennbaren dialektischen Einheit kann solcherart gestützt werden. Jede praktische Erfahrung wirkt auf das Lernen an der Hochschule zurück, jede theoretische Erarbeitung kann direkte praktische Anwendung erfahren. Hier gewinnt Projektstudium neuen Raum. Auch durch berufsbegleitende oder -integrierende Studiengänge gestaltet sich das Verhältnis von Theorie und Praxis neu. Wird die berufliche Tätigkeit in das Studium reflexiv eingebunden, bieten sich auf der einen Seite hervorragende Möglichkeiten des ständigen Rückbezugs von Lernerfahrungen auf die Praxis und das Studium. Auf der anderen Seite müssen die Studiengänge sich fern von einer bloßen „Anpassungsqualifikation“ an die bestehende Praxis halten. Besondere Formen von Projektstudium, die begleitende berufliche Tätigkeiten einbeziehen, sind hier gefragt.
ALS FAZIT ERGIBT SICH, DASS DIE STRUKTUR DER NEUEN STUDIENGÄNGE ALLEIN NICHT VORGIBT, OB UND WELCHEN PLATZ PROJEKTSTUDIUM UND PRAXISBEZÜGE IM STUDIUM BEKOMMEN UND WIE SIE AUSGESTALTET WERDEN. DIE STRUKTUR AN SICH LÄSST VIELE FREIHEITEN. ENTSCHEIDEND ALLEIN IST DIE KREATIVITÄT BEI DER UMSETZUNG.
Die durch das Ziel der Berufsorientierung im Bologna-Prozess geförderte überfachliche Qualifizierung bzw. die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen kann eine Theorie-Praxis-Verzahnung befördern, wenn Kompetenzen erlernt werden sollen, die nur im Verbund angeeignet werden können (z.B. Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit) und verlangt geradezu nach Studienanteilen, die kritisches, selbstreflexives Lernen ermöglichen. Besondere Lehr- und Lernformate erfahren in den letzten Jahren einen Aufschwung; die Modulstruktur ist wesentlich flexibler als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Zentral in der Reform ist das neue Paradigma der Kompetenzorientierung, des Umdenkens vom Lehren zum Lernen, des „shift from teaching to learning“ (Welbers/ Gaus 2005), in dessen Mittelpunkt der Perspektivwechsel von einer „Input- zu einer „Output-Orientierung“ steht. Der Blick richtet sich auf die Arbeitsergebnisse und die Arbeitsleistung der Studierenden („learning outcomes“ und „student workload“) hin und trägt dazu bei, das Curriculum „von der gewünschten Gesamtqualifikation her“ (WR 2002: 29) aufzubauen und an vorhandenen und zu erwerbenden Kompetenzen zu orientieren: „Was braucht man wann und wo? “ (Homfeldt/Schulze-Krüdener 2000: 215). Mit der Kompetenzorientierung einher geht ein Perspektivwechsel von der inneren Logik der am Studium beteiligten Diszipli-
nen hin zu einer Ausrichtung am Kern des Studiums und damit an den Anforderungen und Zielen der Sozialen Arbeit. Diese Umorientierung des Lehr- und Lernverständnisses enthält eine Reihe von Facetten, die Projektstudium ermöglichen und befördern. Eine sinnvolle Modularisierung bedeutet auch eine Flexibilisierung von Lernverläufen mit Modulen als einzelne und in ihrer Reihenfolge relativ unabhängig studierbare Bausteine. Auch die Module sind ausgerichtet an den Lernergebnissen mit jeweiliger Beschreibung der für jedes Modul relevanten Kompetenzen, die in ihrer Gesamtheit auf das Studiengangsziel bezogen sein müssen. Der in einigen DiplomStudiengängen bereits begonnene Prozess einer Schaffung größerer Lernbereiche anstelle unverbunden nebeneinander stehender Fächer wird mit der Modularisierung fortgesetzt. Die in der Vergangenheit vielzitierte inhaltliche Zersplitterung des Studiums in eine Vielzahl von Fächern („Fächersalat“), deren Zusammenhang oftmals allein von den Studierenden erschlossen werden musste, wird – idealtypisch und aufgrund vielfacher Schwierigkeiten nicht immer umgesetzt – abgelöst durch interdisziplinär zusammengesetzte Module mit einer Verschränkung von Lerninhalten, verschiedenen Lernformen (z.B. Theorieseminare und begleitete Praxis) und kompetenzorientierten Prüfungen.
Projektstudium an der ASFH Berlin
An der Alice Salomon Hochschule, an der von Beginn an projektbezogenes Lernen praktiziert wurde, gab es seit 1982 ein für alle Studierenden verbindliches Projektstudium2. An diesem wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch bei jeder Studienreform festgehalten. Im seit 2005 existierenden Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit umfasst es zwei Jahre und reicht vom 4. bis zum einschließlich 7. Semester. Offiziell ist das Projektstudium – entsprechend der Vorgaben, dass ein Modul sich über nicht mehr als maximal zwei Semester erstrecken soll – aufgeteilt auf zwei Projektmodule mit einer Dauer von jeweils einem Jahr bzw. zwei Semestern sowie einem eigenständigen Modul „Praktikum“ mit einer Dauer von 22 Wochen. In der Praxis bilden diese drei Module eine Einheit. Mit dieser Einheit sind die Projekte – zumindest strukturell – so angelegt, dass sie der Forderung genügen, dass „die Studierenden Gelegenheit erhalten, die Praxis kennenzulernen (Feldexploration), strukturelle Zusammenhänge zu erfassen (Theoretisierung) und Interventionsstrategien zur Veränderung des Sozialverhaltens und der Sozialverhältnisse zu entwickeln, zu reflektieren und eventuell zu erproben.“ (Preis 1998: 163). Ein Semester vor dem Beginn des Projektstudiums finden eine Informationsveranstaltung, ein Projektideenmarkt und eine Projektvorstellung im Rahmen einer Großveranstaltung für alle Studierenden des Semesters statt. I.d.R. schlagen die Studierenden Projekte vor oder treten mit ersten Ideen an fachlich geeignete Lehrende heran, mit denen sie gemeinsam einen Vorschlag ausarbeiten. Dieser wird von der Lehrbetriebskommission hinsichtlich grundlegender Kriterien geprüft. Zu den Kriterien gehört, dass mindestens ein/e hauptamtliche/r Dozent/in das Projekt begleitet, dass eine eingehende Darstellung der Inhalte und der Zielsetzung des Projektes vorliegt (auch im Hinblick auf Gender-Aspekte und interkulturelle Sensibilisierung) einschließlich eines Plans über die vier Projektsemester, einer Literaturliste und der Angabe konkreter Ar45
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Durchblick: Projektstudium beitsfelder und möglicher Praktikumsplätze. Im Anschluss an die Projektvorstellung findet online die Wahl durch die Studierenden statt, bei der eine erste und eine zweite Priorität angegeben werden kann. Die Projektseminare, die die meisten Stimmen auf sich vereinen und den Kriterien genügen, werden eingerichtet.3 Bei ca. 180-200 Studierenden im Semester sind dies sieben bis acht Projekte mit einer durchschnittlichen Teilnehmerzahl von ca. 25 Studierenden. Damit sind die heutigen Bedingungen weit entfernt von den kleinen Gruppen, die in den 1970er Jahren existiert haben. Im 4. Semester, dem ersten Projektsemester, findet eine theoretische Grundlegung zum Projektthema statt. Im 5. Semester liegt die Praxiszeit von 22 Wochen mit zum einen begleitendem Projektseminar und zum anderen begleitender Supervision. Regelfall ist, dass die Studierenden im Kontext des Projektthemas eine eigene Praxisstelle suchen. Gemeinsame Tätigkeiten der TeilnehmerInnen in der Praxis und gemeinsame Gestaltung von Praxis findet eher selten statt. Das Projektseminar wird begleitet von mindestens zwei Lehrenden im Teamteaching – eine teure Rarität im Studium. Die Lehrkapazität ist doppelt so hoch wie die Semesterwochenstundenanzahl. Bei vier Semesterwochenstunden (SWS) Projektzeit pro Semester (54 Zeitstunden Präsenzzeit, 96 Zeitstunden Selbstlernzeit) stehen acht SWS Lehrkapazität zur Verfügung, die auch auf mehr als zwei Lehrende aufgeteilt werden können, so dass bei Bedarf z.B. ExpertInnen für einzelne Themen hinzugezogen werden können. Das Projektstudium umfasst insgesamt 45 Credits, d.h. 1350 Zeitstunden, die sich auf die beiden Projektmodule I und II (je zehn Credits) und das Modul „Praktikum und Ausbildungssupervision“ (25 Credits) verteilen. Im 6. und 7. Semester werden zudem Theorie-PraxisVertiefungen in acht Wahlpflichtbereichen angeboten, von denen die Studierenden eine Vertiefung auswählen. In diesen Schwerpunktseminaren, die die Projektseminare theoriebezogen flankieren oder 46
Wissen und Fähigkeiten auf zusätzlichen Gebieten vermitteln, werden Kompetenzen in zentralen Handlungsfeldern vertieft. Die Bachelor-Arbeit kann – muss aber nicht – mit Projektbezug geschrieben werden. Seit dem Wintersemester 2008/2009 findet vor allem das forschende Lernen in den Projektseminaren seine Fortsetzung durch den Ansatz der Praxisforschung im konsekutiven Master-Studiengang „Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik“.
Fazit und Ausblick
Im Abgleich mit den o.g. allgemeinen Kriterien für Projektstudium zeigt sich für den Gesellschaftsbezug, dass heute ein anderer Ausgangspunkt gegeben ist. Nicht aus der Studentenbewegung, nicht aus einem Protest heraus findet Projektstudium statt; auch herrscht weder an Universitäten noch an Fachhochschulen die damals kritisierte Praxisferne. Starre Hierarchien der Universitäten der 1960er Jahre sind anderen Modellen ge-
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Projektstudium an der GhK. Reform ruiniert, Kernstück verschüttet. In: Sozial Extra, Heft 3, 36-39. KRUSE, E. (2006).
Qualifi zierung im Durchlauferhitzer oder Baukasten gegen Systemzwänge? Neue Studienstrukturen und ihre Folgen für Kompetenzprofile und Fort- und Weiterbildungsbedarf der AbsolventInnen in der Sozialen Arbeit. IN: Schweppe, C., Sting, S. (Hrsg.), Sozialpädagogik im Übergang. Neue Herausforderungen für Disziplin, Profession und Ausbildung (S.89-104). Weinheim: Juventa. KRUSE, E. (2008).
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Das Studium der Sozialen Arbeit. Zwischen Tradition und Innovation In: Sozial Extra 32, 39-43, Juli/August 2008. KRUSE, E., (2008).
Die Hochschulgeschichte der ASFH von 1971 bis 2008. In: Feustel, Adriane, Gerd, Koch (Hrsg.), Jahre Soziales Lehren und Lernen. Von der Sozialen Frauenschule zur Alice Salomon Hochschule Berlin (S. 147-191, 282-291). Berlin: Schibri-Verlag. KRUSE, E. (2008).
Heute die Weichen für morgen stellen. Gegenwart und Zukunft des Fachhochschulstudiums für Soziale Arbeit. IN: Amthor, R.-C. (Hrsg.), Soziale Berufe im Wandel. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Sozialer Arbeit (S.87-115). Schneider Verlag Hohengehren. LITGES, G. (1992).
Besser Projektstudium als gar keine Ahnung. Oder: Ist Studieren im Projekt noch zeitgemäß? IN: Sozial Extra, Heft 1, 5-6. MÜLLER, C. W. (2008).
Lehren und Lernen nach Bologna – Eine historische Rückbesinnung, unveröffentlichtes Manuskript. MÜLLER K.D., GEHRMANN, G. (1987).
Plädoyer fürs Projektstudium. Die Notwendigkeit eines alten Reformansatzes. IN: Sozial Extra, Heft 12, 34-29. PREIS, W. (1998).
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Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen. Köln.
wichen. Der Bologna-Prozess erfordert darüber hinaus von den Lehrenden einen Rollenwechsel hin zu BegleiterInnen von Lernprozessen. Der geforderte „integrierte Gesamthochschullehrer, der in seiner Person sozialarbeiterische Handlungskompetenz und wissenschaftliche Lehr- und Forschungskompetenz miteinander verbindet“ (Krauß/Mayer 1985: 37) wird zudem durch die zunehmende Berufung von ProfessorInnen mit eigenem Studienabschluss und Berufserfahrung in der Sozialen Arbeit realisiert. In den Themen heutiger Projektseminare spiegeln sich die neuen Herausforderungen, denen sich Soziale Arbeit gegenübersieht (u.a. grenzüberschreitende Arbeit). Allerdings schützt das Auswahlprozedere z.B. an der ASFH nicht vor „Modethemen“ oder der Vernachlässigung gesellschaftlich zunehmend relevanter Aspekte, wie z.B. dem Thema Altenarbeit, das zumeist recht wenig Studierende anzieht. Im Hinblick auf das zweite Kriterium „Problemorientierung“ kann festgehalten werden, dass im Bachelor-/MasterSystem idealtypisch durch die verstärkte Ausrichtung auf den Kern des Studiums, d.h. auf das Kernfach Soziale Arbeit (z.B. mit Modulen, wie „Geschichte und Theorie Soziale Arbeit“, „Handlungsmethoden Sozialer Arbeit“, Arbeitsfelder, Zielgruppen und Organisationen Sozialer Arbeit“ in den Anfangssemestern) und nicht auf die Bezugswissenschaften, themen- und problembezogenes Denken und Handeln gelernt wird. In Projektseminaren kann darauf aufgebaut werden. „Praxisbezug“ ist integraler Bestandteil des Studiums, nicht zuletzt durch die inzwischen in allen Bundesländern erfolgte Einphasigkeit des Studiums mit integrierten Praxissemestern und ohne nachfolgendes einjähriges Berufspraktikum im Anschluss an Fachhochschulstudiengänge. Exemplarisches und forschendes Lernen als die „entscheidenden Kennzeichen für das Projektstudium“ (Müller/Gehrmann 1987: 37) werden im Hinblick auf eine Vorbereitung auf die komplexe Praxis Sozialer Arbeit realisiert. Allerdings darf die berufsqualifizierende Ausrich-
tung nicht dahingehend betrieben werden, dass eine unkritische Ausbildung auf bestehende Verhältnisse erfolgt. Die Einheit von Handeln, Erfahren und Erkennen gilt es immer wieder erneut in den Blick zu rücken. Der „Methodenpluralismus“ wird durch den Ansatz forschenden Lernens unterstützt. Konsequente Orientierung an der Problem- bzw. Themenbezogenheit in Verbindung mit der Orientierung an den jeweiligen Studierenden in den Projektseminaren erfordert, den Blick zu weiten auf sämtliche zur Verfügung stehenden Methoden und Erkenntnisse, mit denen eine Er- und Bearbeitung möglich wird. Auch „Interdisziplinarität“ ist theoretisch im Gesamtkonzept von BA- und MA-Studiengängen angestrebt und soll vor allem mit interdisziplinär aufgebauten Modulen (wie nicht zuletzt den Projektmodulen) realisiert werden. Als Fazit ergibt sich, dass die Struktur der neuen Studiengänge allein nicht vorgibt, ob und welchen Platz Projektstudium und Praxisbezüge im Studium bekommen und wie sie ausgestaltet werden. Die Struktur an sich lässt viele Freiheiten. Entscheidend allein ist die Kreativität bei der Umsetzung. Und diese wiederum bedarf einer grundlegenden Reflexion dessen, woraufhin Studierende der Sozialen Arbeit im neuen Stufenmodell (aus-) gebildet werden sollen. Angesichts der Vielzahl aktueller gesellschaftlicher Problemlagen gibt es ausreichend Bedarf an Professionellen, die bereit und in der Lage sind, bestehende Verhältnisse kritisch in den Blick zu nehmen und zu analysieren, Veränderungsbedarfe zu erkennen und Entwicklungen anzustoßen.
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Anmerkungen 1 Zu einzelnen Kriterien, die Projekte erfüllen sollten, siehe auch den Beitrag von C.W. Müller in diesem Heft 2 Zu den Diskussionen um dieses Projektstudium siehe auch Kruse 2008c: 156f. 3 Zum Verfahren im Detail siehe http://www.asfh-berlin.de/index.php?id=2181 (30.12.2008).
Motivation: Schlüssel in der Bildungsarbeit
LEISTUNG BILUNG LEHREN SO ZIALISATIN DROGEN JUGEND REFORM ERZIEUNG IDENTITÄT GESCHLECHT FAMIIE KULTUR SCHULE ARBEIT GEWALT LERNEN SEXUALITÄT UNTERICHT RELI GION ALTER EVAUATION GENE
Bernhard Schlag
Lern- und Leistungsmotivation Lernen fällt dann leicht, wenn die Motivation stimmt. Was sind die psychologischen Grundlagen der Lern- und Leistungsmotivation und wie lässt sie sich fördern? Das gut verständlich geschriebene Buch wendet sich an künftige LehrerInnen, PädagogInnen, PsychologInnen und alle, deren Aufgabe die Förderung von Lernund Leistungsprozessen ist. 3. Aufl. 2009. 173 S. Br. EUR 19,90 ISBN 978-3-531-16511-0
VS Verlag für Sozialwissenschaften Abraham-Lincoln-Straße 46 65189 Wiesbaden Telefon 0611. 7878 -245 Telefax 0611. 7878 - 420
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