Sozial Extra 3 2017: 38-40
DOI 10.1007/s12054-017-0049-0
Durchblick Kommentare zum 15. Kinder- und Jugendbericht
Die „Wiederentdeckung“ der Jugend Leseeindrücke vom 15. Kinder- und Jugendbericht
Der zu Beginn des Jahres 2017 von der Bundesregierung dem Bundestag vorgelegte „Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – 15. Kinder- und Jugendbericht“ konzentriert sich auf das Thema „Jugend“. Ausgehend von der Annahme der Bundesregierung, dass „Jugend und das junge Erwachsenenalter ein eigenständiger und prägender Lebensabschnitt mit spezifischen Herausforderungen ist“ (BMFSFJ 2017, S. 5)1, und einen diesbezüglich formulierten Berichtauftrag stellt die von der Bundesregierung berufene Sachverständigenkommission „erstmals explizit eine Altersgruppe in das Zentrum der Berichterstattung (…), deren Rahmenbedingungen des Aufwachsens und generationale Lage sich in den letzten 20 Jahren erheblich verändert haben“ (S. 47).
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ie aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammengesetzte Sachverständigenkommission stellt ihren Bericht unter den Titel „Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“. Schon diese Titulatur deutet die Ambitionen an, die die Sachverständigenkommission mit dem Bericht zu erfüllen sucht. Jugend wird über den Bericht als eine Lebensphase vorgestellt, die, von unterschiedlichen gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen gerahmt, Jugendliche mit der Aufgabe konfrontiert, sich individuell zu entwickeln - auch, um die Bildungsvorstellungen der Gesellschaft zu erfüllen. Gemäß der in dem Titel durchschimmernden Vorstellung von dem, was Jugend ist, konzent-
Werner Thole *1955 Dr. phil. habil., Dipl.-Pägoge und Dipl.-Sozialpägoge; Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung, Universität Kassel.
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Abstract / Das Wichtigste in Kürze Der Beitrag leitet den Schwerpunkt ein und gibt zudem erste Leseeindrücke vom 15. Kinderund Jugendbericht. Er attestiert ihm, dass er die Diskussion um das zuletzt etwas vernachlässigte Thema „Jugend“ bereichern kann. Keywords / Stichworte 15. Kinder- und Jugendbericht, Wiederentdeckung der Jugend, „Jugenden“, Einleitung
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riert sich der Bericht im ersten Kapitel auf die Frage, wie Jugend ermöglicht wird (vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael May in diesem Schwerpunkt), um dann anschließend die vorliegenden, allgemeinen empirischen Befunde zur Jugendphase sowie zum jugendlichen Alltagsleben, ihren Ausdruckweisen und Orientierungen (vgl. hierzu auch Davina Höblich in diesem Schwerpunkt) sowie digitalen Vernetzungsformen detailliert, äußerst gekonnt und gut sortiert zu referieren. In den sich daran anschließenden Kapiteln widmet sich der Bericht der Ganztagsschulentwicklung aus einer jugendorientierten Perspektive, dem weiten Feld der Arrangements der Kinder- und Jugendarbeit (vgl. hierzu auch Holger Schmidt in diesem Schwerpunkt) sowie den bestehenden Sozialen Dienstleistungsangeboten für Jugendliche. In dem abschließenden achten Kapitel plädieren die Mitglieder der Sachverständigenkommission für eine ausgewiesene, sichtbarere gesellschaftliche Sensibilität für Jugendliche und eine neue Jugendorientierung. Eingeleitet wird der Bericht wie üblich durch die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht (vgl. hierzu Werner Lindner in diesem Schwerpunkt). Erstmals liegt auch eine jugendfreundliche Kurzfassung des Berichtes (vgl. hierzu Jörgen Schulze-Krüdener in diesem Schwerpunkt) vor. Hoffnung: Nachhaltige Aufmerksamkeit erzielen Die Komposition und insbesondere die inhaltlichen Akzentsetzungen zeigen deutlich, dass bei der Erstellung des Berichtes Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen der Kinder- und Jugendhilfe die Feder führten, die in dem Metier, über das berichtet und reflektiert wird, kundig sind. Kaum einer der zuvor vorgelegten Berichte lässt wie der
Jugenden Aus struktureller Sicht gibt es sicherlich gute Argumente für diese Perspektive. Inhaltlich wird allerdings die Frage auf die Tagesordnung gesetzt, ob in der Tat alle Jugendlichen in einer vergleichbaren Form weitgehend identisch und zeitlich synchron die genannten Aufgaben bewältigen und gestalten können. In dem Bericht wird darauf verzichtet, die vorliegenden Befunde, die raten, nicht mehr von Jugend, sondern von „Jugenden“ zu sprechen, explizit zu diskutieren. Insbesondere Studien, die über die Rekonstruktion von Biografien und unter Reflexion der identifi-
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jetzige Kinder- und Jugendbericht so deutlich erkennen, dass es der Kommission ein Anliegen war respektive ist, nachhaltige Aufmerksamkeit für ein Thema zu erzeugen. Nachdem Jugend ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in der Forschung und auch in den schul- und sozialpädagogischen Diskursen an Beachtung gewann, vernebelte diese wieder spätestens um die Jahrtausendwende. Den Kommissionsmitgliedern kommt somit das Verdienst zu, mit dem vorliegenden Bericht die Hoffnung zu nähren, dass Jugend als Generationsphase in den erziehungs- und sozialwissenschaftlichen wie auch in den pädagogisch-praktischen Diskursen eine Renaissance erfährt. In dem Bericht werden so folgerichtig in Bezug auf das, was heute unter Jugend verstanden werden kann und welche Aufgaben Jugendliche in ihrer Jugendzeit zu bewältigen haben, Positionen vorgestellt, die zur Vitalisierung der Diskussion einladen. Dieser Einladung wird hier gerne für einen ersten, die Grundannahmen des Berichtes zur Generationsphase in den Blick nehmenden Kommentar nachgekommen. Die Kommissionsmitglieder verstehen die Jugendphase als einen Integrationsmodus. Jugendliche und junge Menschen werden in diesem Lebensabschnitt aus Kommissionsperspektive in ein Verhältnis zur Gesellschaft gesetzt und setzen sich parallel ebenso selbst in ein Verhältnis zur Gesellschaft. Unter den jeweils gegebenen sozialhistorischen Bedingungen identifiziert die Kommission spezifische Kernherausforderungen, die in der Jugendphase den Jugendlichen zur Bearbeitung vorliegen. Sich deutlich sowohl von entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen, also von stufenorientierten Ansätzen absetzend, wird Jugend in dem Bericht „nicht allein als Arrangement individueller Anforderungen oder Herausforderungen vorgegebener Stufen markiert, sondern als Modus gesellschaftlicher Integration und generationaler Ordnung“ (S. 96), den Jugendliche nutzen und gestalten, um sich zu qualifizieren, sich über sich selbst zu verständigen und sich zu selbst zu positionieren. Im Kern wird damit eine Position markiert, die davon ausgeht, Jugend als eine relativ geschlossene, zumindest jedoch einheitliche, von allen Jugendlichen in ähnlicher Form gestaltbare Phase zu verstehen.
zierbaren Vergesellschaftungsmodalitäten argumentieren, plädieren nachdrücklich dafür, Jugend nicht mehr im Singular, sondern im Plural zu denken und sich von pauschalisierten Jugendbildern zu verabschieden. Eine entsprechende Konzeption von Jugenden beschreibt Jugendliche dann nicht nur als Gestalter_innen von Kernaufgaben, sondern auch als Akteur_innen im sozialen Raum und der Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturen. Wird dieser Konzeption von Jugend als Jugenden gefolgt, dann muss davon ausgegangen werden, dass sich die Formen von Jugend nicht unabhängig von gesellschaftlichen Klassen respektive Milieus herausbilden und diese umgekehrt auch über die Varianten von Jugend reproduziert werden. Trotz aller zu beobachtenden kulturellen Freisetzungs- und Individualisierungsprozesse plädiert diese Perspektive dafür, die Positionierung von Jugenden im gesellschaftlichen Raum und die Integration in die Gesamtgesellschaft über die Bewältigung von Kernaufgaben als zentral für die Beschreibung von Jugend oder Jugenden anzusehen. In welcher Form und mit welchen Orientierungen Jugend dann gestaltet wird, ergibt sich dieser Perspektive zufolge dann auf Basis der jeweils zur Verfügung materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen und des darüber geprägten wie entwickelten Habitus. Den Autor_innen des 15. Kinder- und Jugendberichtes ist diese Konstruktion von Jugenden und die sich darüber anbietende Jugendtheorie sicherlich nicht unbekannt. Allerdings favorisieren sie in dem Bericht ein anderes Modell; sie gehen nicht davon aus, dass Jugend sich in je spezifischer Form unter den je besonderen klassen- und mili39
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Durchblick Kommentare zum 15. Kinder- und Jugendbericht
DIE GRUNDKONZEPTION VON JUGEND IM 15. KINDER- UND JUGENDBERICHT ERINNERT AN ORTSBESTIMMUNGEN VON JUGEND DER SPÄTEN 1950ER UND 1960ER JAHRE
euspezifischen Bedingungen der sozialen gesellschaftlichen Räume herausbildet. In dem Kommissionsbericht wird herausgestellt, dass die erheblichen sozialen Ungleichheiten zwar keineswegs unbedeutend sind für die ökonomischen, bildungsbezogenen und beruflichen Situationen und Teilhabemöglichkeiten von Jugendlichen. Werden die Ausführungen in dem Bericht jedoch geteilt, dann ist festzustellen, dass nicht die Stellung der Jugendlichen im sozialen Raum für die jeweiligen Gestaltungen der Wege durch die Jugendzeit entscheidend ist. Die „regionale Bedingungen, wie die Sozialstruktur, die wirtschaftliche Lage, aber auch das Bildungsangebot“ wirken lediglich „auf die Erfahrungen und Teilhabechancen junger Menschen ein“ und ob und wie stark „Prozesse institutioneller Schließung“ sich letztendlich zeigen, ist von den „individuellen Qualifikationsverläufen“ abhängig (S. 54).
von einer Entstandardisierung und Entstrukturierung der Jugendphase auszugehen. Andererseits wird aber auch, wie ausgeführt, davon ausgegangen, dass in der Jugendphase bestimmte Kernaufgaben zu bewältigen sind. Vielleicht schließen sich ja die beiden Sichtweisen nicht aus. In dem Bericht wird jedoch darauf verzichtet, prominenter zu betonen, dass die bisher an die Jugendphase adressierten Lebensbewältigungsaufgaben diffundieren. Das Erlernen eines Berufes, das Finden eines sozial-kulturellen, ästhetischen Stils, der Aufbau eines sozialen, Sicherheit bietenden Freundeskreises und beispielsweise das Suchen und Finden einer festen, auf Liebe und Zuneigung begründeten primären Partnerschaft sind inzwischen Lebensprojekte, die heute nicht mehr nur in der Jugendzeit bewältigt und dann mit einem lebenslangen Haltbarkeitsdatum versehen werden. Das Erwachsenenalter stellt inzwischen eine Lebensphase dar, in der „die Kernaufgaben“ der Jugendzeit wiederkehrend zu bewältigen sind. Jugend steht für das „Heraussehen, Heraussehen aus dem Gefängnis des äußeren, muffig gewordenen oder muffig erscheinenden Zwangs, aber auch der eigenen Unreife. Die Sehnsucht nach dem Leben als Erwachsener treibt an, doch so, dass dieses Leben gänzlich umgeändert werden sollte“ (Bloch 1977, S. 90). Erinnert wird hier daran, dass Jugend zu gestalten für Jugendliche immer mehr ist, als nur das Gegebene zu reproduzieren, sich zu integrieren und so zu werden, wie diejenigen, die sich schon als Erwachsenen bezeichnen. Dass „gute Jugend (…) den Melodien aus ihren Träumen und Büchern“ nachgeht, „auf die Freiheit“ wartet, „die vor ihr liegt“, „Jugend und Bewegung nach vorwärts“ Synonyme sind (Bloch 1977, S. 91), dieses mit Jugend verbundene hoffnungsvolle und renitente Projekt von Jugend bleibt in dem 15. Kinder- und Jugendbericht leider weitgehend ignoriert. s
Entzeitlichung der Kernaufgaben Die Grundkonzeption von Jugend im 15. Kinder- und Jugendbericht erinnert an Ortsbestimmungen von Jugend der späten 1950er und 1960er Jahre. Jugend wird als eine funktional notwendige, relativ eigenständige und im Kern zeitlich auf eine konkrete Altersgruppe fokussierte Übergangsphase konzipiert, also als ein Lebensabschnitt, der den Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, sich von der Herkunftsfamilie zu lösen und sich allmählich in die universalistischen Rollenerwartungen der Erwachsenengesellschaft einzuüben. Der vorliegende Bericht lässt offen, ob Jugend heute diese Konzeption noch lebt und gestaltet. Zwar wird formuliert, dass im Rahmen des Wandels „zur globalisierten Wissensgesellschaft Jugend in sozialen Entgrenzungen verwirklicht wird“ (S. 89), doch es bleibt undiskutiert, mit welchen Folgen das passiert. Einerseits wird daran erinnert, dass deutlichen Anzeichen dafür sprechen, 40
∑ 1. Nachfolgend werden die Hinweise auf den 15. Kinder- und Jugendbericht vereinfachend lediglich mit der Seitenzahl ausgewiesen.
Literatur BLOCH, E. (1977).
Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND (HRSG.) (2017).
15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: Eigenverlag