Rechtsmedizin (1999) 9 : 227–229
© Springer-Verlag 1999
KASUISTIK
C. Markwalder
Seltene Aneurysmablutung täuscht ein Sexualdelikt vor
Eingegangen: 6. April 1999 / Angenommen: 21. April 1999
Rare hemorrhage from a ruptured renal artery aneurysm simulating a sexual offence Abstract An elderly woman was found dead in her farm house lying in a pool of blood and was partially unclothed. Blood was also discovered in several rooms on the first floor. The investigation at the scene led to the conclusion of a sexual murder. The autopsy however revealed the source of the hemorrhage to be a renal artery aneurysm which had ruptured in the adjacent renal pelvis. The woman has obviously been surprised by the sudden bleeding which produced the impressive pattern of blood stains on the floor and finally a fatal hemorrhage. A similar case of a ruptured renal artery aneurysm and bleeding to death via the urinary tract has not yet been described. Key words Renal artery aneurysm · Rupture · Sex-crime · Hemorrhage Zusammenfassung Eine ältere alleinstehende Frau wurde tot in ihrem Bauernhaus aufgefunden. Sie lag in einer grossen Blutlache und war teilweise unbekleidet. Blut fand sich auch in verschiedenen Räumen des Hauses. Die Untersuchungsergebnisse vor Ort sprachen für ein Sexualdelikt. Die Obduktion hingegen lieferte als Erklärung für die merkwürdige Fundsituation ein in das linke Nierenbecken rupturiertes Aneurysma der linken Arteria renalis mit Verblutung über die ableitenden Harnwege nach aussen. Schlüsselwörter Nierenarterienaneurysma · Ruptur · Sexualdelikt · Verblutung
C. Markwalder Institut für Rechtsmedizin, am Kantonsspital St. Gallen, CH-9007 St. Gallen, Schweiz Fax ++41-71-494-28-75
Einleitung Der Rechtsmediziner ist oft mit Fundsituationen konfrontiert, aufgrund derer von einem gravierenden Tatbestand ausgegangen werden muss, der sich aber nach sorgfältiger Abklärung des Falles, namentlich nach der durchgeführten Obduktion, als natürliches Geschehen erklärt. Einen besonders dramatischen Fall soll die folgende Kasuistik aufzeigen.
Kasuistik Eine 79 Jahre alt gewordene alleinstehende Frau wurde von Bekannten in ihrem bäuerlichen Anwesen tot aufgefunden. Die Leiche war teilweise entkleidet, der Genitalbereich war entblösst. Das Genitale war stark mit Blut verunreinigt, und die Leiche lag in einer grossen Blutlache (Abb. 1). Bei der Tatbestandsaufnahme durch den Erkennungsdienst der Kantonspolizei St. Gallen konnten Blutspuren am Boden des ganzen Parterres nachgewiesen werden, die in der Küche ihren Ursprung hatten, von dort zur Toilette und bis zur Endlage der Leiche im Hausflur verfolgbar waren. Das Haus selbst war unverschlossen. Aufgrund der angetroffenen Situation wurde deshalb von einem Sexualdelikt ausgegangen. Die Annahme der Polizeiorgane wurde durch die Untersuchungsergebnisse des vor Ort anwesenden Amtsarztes bestätigt. Dieser untersuchte die Leiche sehr gründlich und stellte bei der rektalen Untersuchung fest, dass im Rektum kein Blut vorhanden war, was ihn in seiner Vermutung bestärkte, dass es sich um eine vaginale Blutung handeln müsste. Allerdings konnte der Amtsarzt bei der Leichenuntersuchung keine weiteren Verletzungsspuren am Körper der Frau feststellen. Die Leiche wurde ins Institut für Rechtsmedizin des Kantonsspitals St. Gallen überführt, wo am folgenden Tag die Obduktion durchgeführt wurde. Obduktionsergebnisse (auszugsweise) 6 cm im Durchmesser messendes Aneurysma verum der linken Nierenarterie mit Ruptur in das linke Nierenbecken. Blut in den ableitenden Harnwegen und in der Harnblase. Geringgradige Wandverdickung und Erweiterung (exzentrische Hypertrophie) beider Herzkammern und Vorhöfe. Einengende Sklerose der linken Kranzschlagader. Mässig stark ausgebildete allgemeine Arteriosklerose. Spärliche Totenflecken und ausgeprägte Blutarmut der inneren Organe. Weder äusserlich noch innerlich feststellbare Verletzungen.
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Ch. Markwalder: Aneurysmablutung
Abb. 2 Linke Niere mit Aneurysma
Abb. 1 Fundsituation im Hausflur
Histologische Befunde Arteria renalis mit Aneurysma: Aufsplitterung sämtlicher Wandschichten mit teilweise Fehlen der Lamina elastica interna. Vereinzelte Einlagerung von Kalkspangen in der Media. Auskleidung des Aneurysmas mit reichlich hämatogenem Hyalin. Wühlblutung zwischen Aneurysmawand und Nierenbecken.
Diskussion Die Obduktion der Leiche der alten Frau erbrachte als Ursache der auffälligen Fundsituation ein natürliches Geschehen, nämlich ein 6 cm grosses, in das linke Nierenbecken rupturiertes Aneurysma der linken Nierenarterie (Abb. 2). Aneurysmen der Nierenarterien sind seltene Erkrankungen. Sie werden in einer Häufigkeit von 0,01% bei Autopsien gefunden. Meistens handelt es sich um echte Aneurysmen; es wurden aber auch Pseudoaneurysmen und dissezierende Aneurysmen beschrieben [1]. Dank neuer bildgebender Verfahren werden die Nierenarterienaneurysmen nun häufiger schon beim Lebenden gefunden. In einer 28 Patienten umfassenden gefässchirurgischen Studie [6] wurden die Nierenarterienaneurysmen bei rund 40% der Patienten als Zufallsbefunde, bei weite-
ren 40% anlässlich einer Hypertonieabklärung sowie bei 22% bei der Abklärung bei unklaren Bauchschmerzen nachgewiesen. Nur gerade bei 7% aller Patienten waren die Beschwerden auf das Aneurysma selbst zurückzuführen. Die Aneurysmagrösse variierte in diese Studie zwischen 0,8–8cm [6]. Die häufigste klinische Auswirkung eines Nierenarterienaneurysmas ist die Hypertonie, gefolgt von Nierengefässembolien und der Ruptur [1, 5, 6]. Die Ätiologie der Nierenarterienaneurysmen wird unterschiedlich angegeben. Je nach Autor steht der kongenitale Ursprung oder die Arteriosklerose im Vordergrund [1, 6]. Vermutlich handelt es sich zumeist um anlagebedingte Wandschwächen, in denen im späteren Lebensalter sklerotische Vorgänge ablaufen [1]. Nierenarterienaneurysmen sind häufig mit anderen Krankheiten vergesellschaftet. So werden sie beispielsweise beim Ehlers-Danlos-Syndrom [3], bei der generalisierten fibromuskulären Dysplasie [9], bei der Polyarteriitis nodosa [7] und bei der Behçet-Krankheit [10] beschrieben. Während der Schwangerschaft besteht eine erhöhte Gefahr, dass die Aneurysmen rupturieren [4,6,11]. Im Falle einer Ruptur sind Blutungen in die freie Bauchhöhle häufig und haben bezüglich der Ueberlebenschancen eine schlechte Prognose [8,11]; aber auch retroperitoneale Hämatome oder der Einbruch in eine benachbarte Vene unter Ausbildung einer arteriovenösen Fistel wurden beobachtet [1,2,10]. Eine Ruptur eines Nierenarterienaneurysmas in das Nierenbecken ist offenbar eine extreme Seltenheit und wurde in dem uns zugänglichen Schrifttum bis jetzt noch nicht beschrieben. Diese seltene Komplikation eines Nierenarterienaneurysmas erweckte im gegenständlichen Fall den Anschein eines Sexualdeliktes mit Verletzung des inneren Genitales. Der Verdacht wurde durch die unergiebige Rektaluntersuchung des Amtsarztes noch bestätigt. Eine Differenzierung der Blutungsquelle – vaginal oder urethral – war vor Ort nicht möglich. Auch das kriminalistische Umfeld – eine alleinstehende Frau in unverschlossenem Haus – lenkte den Verdacht auf ein Delikt. Erst die Obduktion konnte den Deliktsverdacht ausräumen und als Erklärung für die auffäl-
Ch. Markwalder: Aneurysmablutung
lige Fundsituation ein natürliches Geschehen bringen. Die rekonstruktiven Ueberlegungen gingen dahin, dass die Frau wegen der plötzlichen Blutansammlung in der Harnblase vermutlich in der Küche von einem imperativen Harndrang befallen wurde, der bereits dort zu einem blutigen Urinabgang geführt hatte. Auf dem Weg zur Toilette verlor die Frau weiter Blut aus den Harnwegen. Auf der Toilette dürfte sie sich die Unterwäsche ausgezogen haben. Als sie realisiert hatte, dass die Blutung nicht mehr von selbst zum Stillstand kam, versuchte sie nach draussen zu gelangen, um Hilfe zu holen. Im Hausflur brach sie dann bewusstlos zusammen und ist schliesslich verblutet.
Literatur 1. Bonsib SM (1997) Non-neoplastic diseases of the kidney. In: Bostwick DG, Eble JN (eds) Urologic surgical pathology, 1st edn. Mosby, St. Louis, pp 45–46 2. Chen R, Novick AC (1994) Retroperitoneal hemorrhage from a ruptured renal artery aneurysm with spontaneous resolution. J Urol 151:139–141
229 3. Kurz S, Holder M, Laberke HG, Bastanier CK (1992) Ruptur eines Nierenarterienaneurysmas. Monatsschr Kinderheilkd 140: 624–628 4. Lacombe M (1995) Les aneurysmes de l’artère rénale. J Mal Vasc 20:257–263 5. Lagneau P (1994) Aneurysms of branches of the renal artery: surgery in situ. J Mal Vasc 19 Suppl A: 112–117 6. Lumsden AB, Salam TA, Walton KG (1996) Renal artery aneurysm: a report of 28 cases. Cardiovasc Surg 4:185–189 7. Schmid MR, Schopke W, Krestin GP, Debatin JF (1996) Ruptur eines Nierenarterienaneurysma bei Polyarteriitis nodosa: Abklärung durch DSA und Vergleich mit MR-Angiograpie. Rofo Fortschr Geb Rontgenstr Neuen Bildgeb Verfahr 164: 353–355 8. Schorn B, Falk V, Dalichau H, Mohr FW (1997) Kidney salvage in a case of ruptured renal artery aneurysm: case report and literature review. Cardiovasc Surg 5:134–136 9. Setoyama M, Shimada T, Kanzaki T, Moriya K, Okahara K, Asakura T (1994) Cutaneous arterial fibromuscular dysplasia: a case report and electron-microscopic study. J Dermatol 21: 205–210 10. Sueyoshi E, Sakamoto I, Hayashi N, Fukuda T, Matsunaga N, Hayashi K, Inoue K (1996) Ruptured renal artery aneurysm due to Behçet’s disease. Abdom Imaging 21:166–167 11. Yang JC, Hye RJ (1996) Ruptured renal artery aneurysm during pregnancy. Ann Vasc Surg 10:370–372
BUCHBESPRECHUNG Jäger Andreas H (1997) Statistik mit Mathematica. SpringerVerlag, Heidelberg, 235 S, DM 89,00. ISBN 3-540-61180-0 Mathematica ist eine Software, die bislang vor allem in der Mathematik und Physik ihre Anwendung findet. Ihre ursprüngliche Anwendung war auf dem Gebiet der zellulären Automaten, aber ihre Weiterentwicklung hat es mit sich gebracht, daß sie durchaus über Möglichkeiten zu statistischen Auswertungen verfügt. Die statistischen Funktionen von Mathematica stellen aber nur einen Teil dieser mächtigen Software dar. Die Bedienung von Mathematica erfolgt über eine Programmieroberfläche. Eine statistische Analyse erfolgt also nicht über eine fensterbasierte Menüsteuerung. Für den nicht so erfahrenen Benutzer bietet Mathematica einige Stolperfallen: Als nichtparametrische Standardmethode ist zum Beispiel der Siegel-Tukey Test eingestellt und die Voreinstellung des Signifikanzniveaus beträgt 10%. Als einen großen Vorteil hebt der Autor die hohe Rechengenauigkeit und die oft auch exakten Berechnungsmethoden von Mathematica hervor – ein Aspekt, der heutzutage häufig vernachlässigt wird. Leider werden diese Möglichkeiten von Mathematica aber nicht genutzt, um zum Beispiel Überschreitungswahrscheinlichkeiten von Rangtests exakt zu berechnen. Vorkenntnisse in Mathematica sind für die Benutzung des Buches sehr nützlich, da die allgemeine Einführung sehr knapp gefaßt
ist. Das Buch konzentriert sich darauf, die statistischen Werkzeuge von Mathematica anschaulich darzustellen, etwa mit Beispieldateien, die auf CD-ROM mitgeliefert werden. Der Autor verweist darauf, daß dies kein Lehrbuch der Statistik darstellt. Er setzt also voraus, daß der Benutzer selber weiß, was an statistischer Methodik in einem Verfahren steckt und bei welcher Datensituation es angebracht ist. Es werden jedoch Hinweise gegeben, wo etwas zu einer Methode nachgelesen werden kann. Trotzdem werden in dem Buch Methoden auch aus statistischer Sicht erläutert, wobei diese Erläuterungen mit Vorsicht zu genießen sind. So stimmt zum Beispiel der Hinweis, daß Fishers exakter Test als Voraussetzung in etwa gleiche Zeilensummen benötigt, nicht. Auch ist die Behauptung, daß bei kleinen Stichprobenumfängen der Schätzer „nichts“ mit dem Parameter zu tun hat, schlicht falsch. Wer sich neu in eine Software zur statistischen Auswertung von Daten einarbeiten möchte, sollte sicherlich nicht auf Mathematica zurückgreifen, denn es gibt Programme, bei denen man sich schneller zurecht findet und die ein geeigneteres Methodenspektrum anbieten. Wer jedoch mit Mathematica vertraut ist, und die statistischen Methoden beherrscht, kann durch das Buch lernen, die statistischen Analysemöglichkeiten dieser Software zu nutzen. W. Besenfelder