Nervenarzt 2002 · 73:774–778 DOI 10.1007/s00115-002-1344-x
Ergebnisse & Kasuistik C. Licht1 · P. Model2 · A. Kribs1 · P. Herkenrath1 · D.V. Michalk1 · W. F. Haupt2 U. J. Göhring3 · B. Roth1 1 Zentrum für Kinderheilkunde der Universität zu Köln 2 Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität zu Köln 3 Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universität zu Köln
Transiente neonatale Myasthenia gravis
Zusammenfassung 10–20% der Kinder von Müttern mit Myasthenia gravis entwickeln selbst eine transiente neonatale Myasthenia gravis, da die für die mütterliche Erkrankung verantwortlichen Antikörper die Plazentaschranke überwinden können.Wir berichten über zwei Geschwister, Kinder einer Patientin mit Myasthenia gravis und eines gesunden Vaters.Im 3.Schwangerschaftstrimenon der 1.Schwangerschaft trat ein Polyhydramnion auf.Das Neugeborene zeigte die ausgeprägten klinischen Symptome einer Myasthenie mit muskulärer Hypotonie, respiratorischer Insuffizienz, schwachem Schreien, Amimie und Trinkschwäche.Initial war eine maschinelle Beatmung notwendig.Die Bestätigung der Diagnose erfolgte durch repetitive Reizung mit typischem Dekrement im Elektromyogramm (EMG) sowie Bestimmung des Acetylcholin-Rezeptor-Antikörper-Titers im Serum.Bis zum Ende des 3.Lebensmonats wurde eine Therapie mit Neostigmin (Acetylcholinesterasehemmer) durchgeführt, ab dem 26.Lebenstag erfolgte die Betreuung ambulant.Die myasthene Symptomatik bildete sich vollständig zurück.Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie traten nicht auf.Die 2.Schwangerschaft verlief unauffällig, das Neugeborene war gesund. Schlüsselwörter Transiente neonatale Myasthenia gravis · Polyhydramnion · Respiratorische Insuffizienz
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ie Myasthenia gravis (MG) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper gegen den nikotinergen postsynaptischen Acetylcholinrezeptor (AChR) der neuromuskulären Endplatte auftreten. AChRs gehören einer Familie von Neurotransmitter regulierten Kationenkanälen an, die aus jeweils 5 um einen zentralen Ionenkanal angeordneten homologen Untereinheiten (α–ε, mit jeweils mehreren Isoformen) aufgebaut sind. Der AChR der unreifen, fetalen Muskelendplatte besteht aus den Untereinheiten (α1)2β1γδ, der AChR der reifen Muskelendplatte hingegen aus den Untereinheiten (α1)2β1εδ [20]. Die Acetylcholin-Rezeptor-Antikörper (AChR-AK) binden vorwiegend an die α1-Untereinheit des AChR. Sie können sowohl an die fetale, als auch an die reife Form des AChR binden. Schwangere Frauen mit MG können ihre AChR-AK passiv auf den Fetus übertragen und dadurch eine transiente neonatale MG auslösen. In seltenen Fällen bildet die Mutter AChRAK, die nur gegen die fetale Form des AChR (AChR mit γ-Untereinheit) gerichtet sind. Diese Antikörper rufen bei der Mutter zwar keine Symptome hervor, bewirken beim Fetus aber eine ausgeprägte Muskelschwäche mit der typischen Sequenz der Arthrogryposis multiplex congenita und können zum Tod des Fetus führen [20]. Das typische klinische Bild der MG ist gekennzeichnet durch die pathologische Ermüdbarkeit verschiedener Mus-
kelgruppen, die belastungsabhängig ist, und sich in Ruhephasen vollständig zurückbildet.Verantwortlich dafür ist eine durch die AChR-AK ausgelöste Störung der neuromuskulären Übertragung im Bereich der motorischen Endplatte, insbesondere der durch Acetylcholin induzierten Depolarisation an der postsynaptischen Membran. Die Ursache für die Antikörperbildung ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Für schwangere Frauen stellt die Erkrankung in zweierlei Hinsicht ein besonders Problem dar: 1. Bei 30–35% der Patientinnen kommt es zu einer Zunahme der Muskelschwäche unter der Schwangerschaft [28]. 2. 12–54% der Kinder von Müttern mit Myasthenia gravis weisen selbst eine neonatale Myasthenie auf, da Autoantikörper der IgG-Klasse die Plazentaschranke überwinden können [26, 29, 30, 32]. Die initiale Phase mit hohen kindlichen Antikörpertiter kann durch eine symptomatische Therapie mit indirekten Parasympathomimetika überbrückt wer-
© Springer-Verlag 2002 Dr. C. Licht UTSW Medical Center, 5323 Harry Hines Blvd., Dallas,TX 75390–8856, USA, E-Mail:
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Nervenarzt 2002 · 73:774–778 DOI 10.1007/s00115-002-1344-x
C. Licht · P. Model · A. Kribs · P. Herkenrath D.V. Michalk · W. F. Haupt · U. J. Göhring B. Roth Transient neonatal myasthenia gravis Summary Ten to twenty percent of the offspring of mothers suffering from myasthenia gravis (MG) also develop transient neonatal MG, since maternal antibodies are able to cross the placenta.We report the course of two newborns of a mother with MG and a healthy father.The first pregnancy was complicated during the 3rd trimester by a hydramnion.The newborn presented with generalized muscle weakness, respiratory distress, weak sounding, amimia, and poor sucking. Mechanical ventilation was necessary.Confirmation of the diagnosis was achieved by the result of repetitive muscle stimulation, showing a typical decrement in the EMG, and measurement of serum antiacetylcholin receptor antibodies.For 3 months, the infant was treated with neostigmin (cholinesterase inhibitor).After 26 days of hospitalization, the patient was released and followed up regularly.Myasthenic symptoms completely resolved.Side effects of the treatment were not observed.The course of the second pregnancy was normal.This second newborn was healthy.Our case report is remarkable for the very different presentation of two children of the same mother with MG during pregnancy and after delivery, with one child developing severe transient neonatal MG, initially requiring intensive care unit (ICU) treatment followed by quick recovery, and one child being healthy.We also present a score for monitoring the clinical course and adjusting anticholinesterase therapy accordingly.
den und das Abklingen des Antikörpertiters sowie die Rückbildung der klinischen Symptomatik abgewartet werden. Wir berichten über zwei Kinder einer Patientin mit MG, von denen das 1. mit einem nur mäßig erhöhten AChRAK-Spiegel eine ausgeprägte neonatale MG entwickelte. Das 2. Kind war trotz eines initial stark erhöhten AChR-AKSpiegels symptomfrei. Die 1. Schwangerschaft war kompliziert durch das Auftreten eines Polyhydramnions im letzten Trimenon. Bemerkenswert ist die schwere Symptomatik dieses Neugeborenen, die initial eine intensivmedizinische Behandlung mit maschineller Beatmung erforderte, sich dann aber im Verlauf von 3–4 Wochen vollständig zurückbildete. Die Behandlung wurde anhand eines klinischen Scores gesteuert und konnte ab dem 26. Lebenstag ambulant erfolgen.
Kasuistik Bei der Mutter der beiden hier berichteten Kinder, die zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes 27 Jahre alt war, wurde im Alter von 17 Jahren die Diagnose einer Myasthenia gravis gestellt. Im Alter von 18 Jahren wurde eine Thymektomie durchgeführt. Die Patientin erhielt eine Dauertherapie mit Pyridostigmin und Azathioprin, unter der sie symptomfrei war. Aufgrund des Kinderwunsches der Patientin wurde die immunsuppressive Therapie mit Azathioprin abgesetzt. Daraufhin trat eine vorübergehende Aktivierung der myasthenen Symptomatik in Form von Muskelschwäche und Doppelbildern auf.
Verlauf der 1. Schwangerschaft Keywords Transient neonatal myasthenia gravis · Polyhydramnion · Respiratory distress
Im 1. Trimenon der Schwangerschaft nahm die Muskelschwäche weiter zu, sodass u. a. die Berufsausübung unmöglich wurde. Im MG-Verlaufsbogen nach Besinger et al. [5]. betrug der Gesamtscore 8 Punkte bei 9 untersuchten Kriterien (Norm: 0 Punkte). Die Bestimmung der AChR-AK im Serum nach der Bungarotoxin-Bindung ergab 63 nmol B/l (Norm: <0,2 nM). Die medikamentöse parasympathomimetische Therapie konnte nicht weiter gesteigert werden, weil für die Patientin belastende Nebenwirkungen, vor allem Diarrhoen, auftraten. In der 30. Schwangerschaftswoche traten vorzeitige Wehen auf, die eine to-
kolytische Therapie erforderlich machten. Die Schwangere registrierte zu diesem Zeitpunkt nur spärliche Kindsbewegungen. Ultrasonographisch fiel ab dem Beginn des 3. Trimenons ein Polyhydramnion auf, das in der 35. Schwangerschaftswoche zu zunehmender Atemnot mit Erschöpfung der Atemmuskulatur führte, sodass eine Spontanentbindung nicht mehr möglich war. Die Geburt des Kindes erfolgt in der 35. Schwangerschaftswoche durch eine primäre Sectio caesarea. Die operative Entbindung sowie der postoperative Verlauf bei der Mutter waren komplikationslos. Unter Pyridostigmin-Therapie war eine rasche Entwöhnung der Mutter von der Beatmung möglich.
Untersuchungsbefunde und Therapie des Neugeborenen Im Gegensatz dazu traten bei dem Neugeborenen (Geburtsgewicht 3050 g, Länge 52 cm, Kopfumfang 35 cm) vitale Komplikationen auf. Unmittelbar postnatal zeigte das Kind eine deutliche muskuläre Hypotonie ohne Spontanatmung. Nach Stimulation und Absaugen setzte eine stöhnende, pressende Spontanatmung ohne ausreichende Sauerstoffsättigung ein. Der Apgar-Score wurde mit 6/8/9 vergeben. Bei anhaltender Dyspnoe wurde eine maschinelle Beatmung erforderlich. Die radiologische Untersuchung der Lunge ergab keinen pathologischen Befund. Die Beatmung konnte nach 31 h beendet werden. Nach der Extubation waren weiterhin deutliche myasthene Symptome wie schwaches Schreien, Amimie und schlechtes Trinkverhalten zu beobachten. Die Funktion der Atemmuskulatur war jetzt suffizient. Nach einer initialen Testdosis (0,1 mg s.c.) wurde eine Dauermedikation mit Neostigmin begonnen (1.–3. Lebenstag [LT]: 3×0,1 mg s.c.; 4. LT: 3×0,15 mg s.c.; 5. LT: 4×0,15 mg s.c.). Darunter bildeten sich die myasthenen Symptome vollständig zurück. Ab dem 6. LT wurde auf eine orale Applikation umgestellt (6×2 mg p.o.), was mit einer erneuten Aktivierung der myasthenen Symptomatik verbunden war. Aus diesem Grund war zunächst eine weitere Dosissteigerung erforderlich (7. LT: 6×4 mg p.o.; 8.-9. LT: 6×5 mg p.o.). Ab dem 10. LT konnte die Dosis dann schrittweise reduziert werden (26. Der Nervenarzt 8•2002
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Ergebnisse & Kasuistik len und der juvenilen Form, die durch präsynaptische, synapytische oder postsynaptische Defekte der motorischen Endplatte verursacht werden, ist für die transiente neonatale MG die plazentare Übertragung von AChR-AK auf den Fetus verantwortlich [2, 15]. Die transiente neonatale MG tritt mit einer Häufigkeit von 1:20.000 bis 1:40.000 auf und betrifft 12–54% der Neugeborenen von Müttern mit MG [26, 29, 30, 32]. Die perinatale Letalität liegt bei bis zu 10%, wofür respiratorische Komplikationen ausschlaggebend sind [30].
Eine immungenetische Prädisposition wird diskutiert
Abb.1 Modifizierter „Myasthenia-gravis-Score“ für Neugeborene und Säuglinge
LT=Entlassungstag: 6×1 mg p.o.). Das Medikament wurde jeweils 30–60 min vor einer Mahlzeit verabreicht. Die Steuerung der Behandlung erfolgte mit Hilfe eines klinischen Scores, der Vitalität, Muskeltonus, Atmung und Nahrungsaufnahme beurteilte und die Bestimmung der notwendigen Neostigmin-Minimaldosis erlaubte (Abb. 1). Am 4. LT wurde eine EMG-Untersuchung mit repetitiver Reizung durchgeführt, bei der ein typisches Dekrement auftrat (Abb. 2). Die ebenfalls am 4. LT durchgeführte Bestimmung der AChRAK im Serum nach der BungarotoxinBindung ergab mit 37 nmol B/l (Norm: <0,4 nM) einen deutlich erhöhten Wert. Bei der Wiederholung der repetitiven Reizung am 20. LT (6×1,5 mg p.o. Prostigmin) bestand kein Dekrement mehr. Am 26. LT konnte das Kind aus der stationären Behandlung entlassen werden, wobei die Vitalfunktionen (Herzaktion und Atmung) durch einen tragbaren Monitor kontinuierlich überwacht wurden. Die medikamentöse Therapie
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konnte nach insgesamt 10 Lebenswochen bei einem nahezu normwertigen AChR-AK-Spiegel von 0,8 nmol B/l beendet werden.1 Die myasthene Symptomatik hatte sich vollständig zurückgebildet. Ab dem 5. Lebenstag konnte das Kind vollständig oral ernährt werden.
Verlauf der 2. Schwangerschaft Vier 1/2 Jahre später wurde die Mutter erneut schwanger. Die Schwangerschaft verlief unkompliziert. In den ultrasonographischen Untersuchungen wurde kein Polyhydramnion beobachtet. Das Neugeborene wurde termingerecht, spontan geboren und war gesund.
Diskussion Neben den angeborenen, autosomal rezessiv oder dominant vererbten, Formen der MG der Kindheit, wie der kongenita1 Aus den oben genannten Messungen lässt sich eine „Eliminationshalbwertzeit“ von ca. 12 Tagen für die AchR-AK berechnen.
In der Literatur finden sich Hinweise darauf, dass die klinische Symptomatik des Neugeborenen mit der Höhe der Serumkonzentration der AChR-AK bei der Schwangeren korreliert [16, 17, 23, 25, 34, 35]. Umgekehrt scheint das MyasthenieRisiko für Neugeborene von Müttern, die zum Zeitpunkt der Geburt in Remission sind, geringer zu sein [12, 17, 21, 26, 29, 35, 36]. Unklar ist bisher aber, warum nicht jedes Neugeborene einer Myasthenie-Patientin erkrankt bzw. die Korrelation zwischen Schwere und Dauer der Erkrankung der Mutter und der des Neugeborenen nicht eindeutig ist. Eindrucksvoll lässt sich das an den von uns geschilderten Geschwistern demonstrieren: Während das 1. Neugeborene am 4. LT einen AChR-AK-Spiegel von nur 37 nM aufweist, dabei aber respiratorisch insuffizient war (maschinelle Beatmung bis zum 5. LT) und während der ersten 4 Lebenswochen einer Neostigmin-Dauertherapie bedurfte, um eine ausreichende Nahrungsaufnahme sicherzustellen, wies das 2. Neugeborene am 3. LT zwar einen weit höheren AChRAK-Spiegel von 176 nM auf, war dabei aber symptomfrei. Das Risiko für die Entwicklung einer transienten neonatalen MG bei Neugeborenen, deren Mütter ein bestimmtes HLA-Muster aufweisen (HLA-B8, HLA-DR3 und HLA-DRw3 mit HLADQw2), scheint im Sinne einer immungenetischen Prädisposition erhöht zu sein [4, 8, 20, 26, 29]. Offensichtlich spielt auch die Spezifität der Antikörper, insbesondere das Auftreten von Antikörpern gegen die embryonale Form des AChR, eine entscheidende Rolle [16, 17, 25, 34, 35, 37].
Abb.2 Typisches Dekrement bei repetitiver Reizung mit einer Frequenz von 2 Hz und einer Spannung von 500 mV am Unterarm. Ableitung mit Oberflächenelektroden am ipsilateralen Daumenballen. Dekrement zwischen 1. und 5. Reizantwort 40%, zwischen 5. und 10. Reizantwort 60%
Symptome Die Symptome der transienten neonatalen MG treten typischerweise nicht schon unmittelbar nach der Geburt auf, sondern entwickeln sich erst postnatal. Als mögliche Erklärung hierfür und gleichzeitig auch für die fehlende eindeutige Korrelation zwischen Schwere und Dauer der mütterlichen und kindlichen Erkrankung wird in der Literatur einerseits das Vorhandensein eines weiteren Faktors (wie z. B. α-Fetoprotein) neben den AChR-AK postuliert, der entweder den Ausbruch der Erkrankung beim Neugeborenen triggert oder die für den Ausbruch der Erkrankung verantwortlichen Antikörper intrauterin bis zum Geburtstermin inhibiert, und andererseits die Neusynthese von AChR-AK durch das Neugeborene selbst diskutiert [12, 17, 19, 23, 29, 30, 35, 36]. Bei schweren Verlaufsformen entstehen bereits intrauterin Gelenkkontrakturen (Arthrogryposis multiplex congenita) [26, 31, 33, 36].Auch kann wegen der eingeschränkten fetalen Schlucktätigkeit ein Polyhydramnion entstehen [22, 26, 27, 36]. Wenige Stunden bis maximal 3 Tage nach der normalerweise komplikationslosen Geburt finden sich erste Anzeichen der Muskelschwäche in Form von Schluck- und Saugproblemen, nur leisem Schreien und ausdrucksschwacher Mimik. In bis zu 30% der Fälle treten respiratorische Komplikationen auf, die eine maschinelle Beatmung erforderlich machen können. Die typischen Symptome der adulten MG wie Okkulomotori-
usparese und Ptosis fehlen meist [26]. Die Diagnose wird durch einen positiven Test mit Edrophonium oder Neostigmin bestätigt2 [26, 30].
Therapie Die Therapie erfolgt symptomorientiert. In milden Fällen (ca. 20%) kann ganz auf eine medikamentöse Therapie verzichtet werden. Zur Behandlung einer Schluck- und Saugschwäche, die in bis zu 80% der Fälle auftritt, ist ein indirektes Parasympathomimetikum (Acetylcholinesterasehemmer, z. B. Neostigmin) indiziert. Die Applikation (s.c./ i.m./i.v.) erfolgt üblicherweise 20– 30 min vor der Nahrungsaufnahme. Gleichzeitig werden häufige kleine Nahrungsportionen verabreicht, in schweren Fällen über eine Magensonde [24, 26, 30]. Neben der rein symptomatischen Therapie werden auch Plasmapherese bzw. Blutaustauschtransfusion und die Gabe von Immunglobulinen (IgG i.v.) eingesetzt [2, 3, 6, 9, 11, 13, 14, 18, 27, 32]. Während Plasmapherese bzw. Austauschtransfusion auf die Reduzierung der zirkulierenden Antikörper zielen, ist 2 Innerhalb von 10–15 min nach Gabe von Edrophonium (0,5–1 mg i.m. oder s.c.) bzw. innerhalb von etwa 30 min nach Gabe von Neostigmin (0,15 mg i.m.) tritt eine deutliche Besserung der myasthenen Symptomatik auf. Als Nebenwirkungen können muskarinerge Reaktionen, wie z. B. Bradykardien oder hypotone Kreislaufreaktionen beobachtet werden, die mit Atropin als Antidot zu beheben sind.
der Wirkungsmechanismus der Immunglobulintherapie noch nicht geklärt. Die Wirksamkeit beider Therapieformen wird in der Literatur kontrovers diskutiert: Eindeutigen Therapieerfolgen stehen eine ausbleibende oder verzögerte Symptomrückbildung gegenüber, die sich nicht vom spontanen Krankheitsverlauf unterscheiden lässt. Indiziert ist ein Therapieversuch in schweren Fällen mit respiratorischer Insuffizienz und verzögerter oder ausbleibender spontaner Symptomrückbildung [2, 3, 11, 13, 27, 32] Sowohl AChR-AK als auch Cholinesterasehemmer können durch die Muttermilch auf das Kind übertragen werden und dadurch eine Verstärkung der myasthenen Symptomatik bzw. z. B. gastrointestinale (parasympathomimetische) Nebenwirkungen hervorrufen. Aus diesem Grund sollte ein Neugeborenes nur dann gestillt werden, wenn der AChR-AK-Titer der Mutter niedrig ist und diese keine für das Kind potenziell toxischen Medikamente erhält [10].
Prognose Die Prognose der transienten neonatalen MG – nach Überwindung möglicher initialer respiratorischer Probleme – ist gut. Üblicherweise klingen die Symptome in einen Zeitraum von maximal 8–16 Wochen ab [26, 30]. Zur Objektivierung der klinischen Symptome hat sich dabei der in Abb. 1 wiedergegebene Score bewährt. Bei der Betreuung der Schwangerschaft einer Patientin mit MG muss in ca. 40% der Fälle mit einer Verschlechterung der myasthenen Symptome der Mutter und in ca. 30% der Fälle mit Komplikationen unter der Geburt gerechnet werden. Die mütterliche Letalität beträgt bis zu 4% [21, 29].Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass 10–20% der Neugeborenen von Müttern mit einer MG selbst eine Myasthenie mit der möglichen Gefahr von postnatalen Komplikationen entwickeln, ergibt sich die Notwendigkeit der interdisziplinären Betreuung einer Schwangeren mit MG (Gynäkologie, Neurologie, Neonatologie), um mögliche Komplikationen während der Schwangerschaft und unter bzw. unmittelbar nach der Geburt bei Mutter und Neugeborenem rechtzeitig erkennen und behandeln zu können [21]. Der Nervenarzt 8•2002
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Ergebnisse & Kasuistik Die von uns geschilderten Fälle belegen eindrucksvoll, dass eine vorgeburtliche Risikoabschätzung hinsichtlich des Auftretens und der Schwere einer transienten neonatalen MG bei dem Kind einer MG-Patientin nicht mit Sicherheit möglich ist. Es zeigt sich auch, dass selbst bei initial ausgeprägter Symptomatik eine gute Prognose der transienten neonatalen MG mit spontaner Rückbildung der Symptome besteht. Auch die Langzeitprognose ist gut: Es kann eine normale Muskelfunktion und psychomotorische Entwicklung erwartet werden [1].
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