KONTRAKTRAUM
Theo Siegert*
Was ich immer schon sagen wollte: Kontraktraum, Dissonanzinformationen und Serendipity**
Zusammenfassung Eigentumsrechte bilden die Grundlagen von Finanzwirtschaft und Unternehmensführung. Der Kontraktraum ist derjenige Raum, in dem sich Vorstellungen von Käufern und Verkäufern von handelbaren Eigentumsrechten decken. Rechtssicherheit sowie entwickelte Risikomärkte sind wichtig für die Ausdehnung der Kontrakträume. Um Eigentumsrechte bewerten zu können, sind Mess- und Wertsysteme notwendig, die als Zahlen allerdings nur eindimensional abgebildet werden. Diese Mess- und Wertsysteme sind ergänzungsbedürftig um Dimensionen wie „brand capital“, „customer capital“ oder „human capital“. Unternehmensführung und Finanzwirtschaft beschäftigen sich zu wenig mit Dissonanzinformationen, die dem herrschenden Weltbild widersprechen. In beiden ist der Abbau von „perverse incentives“ vordringlich. „Serendipity und Torheit“ werden als Ansätze dargestellt, die beschriebenen Unzulänglichkeiten abzubauen. JEL-Classification: A10, A12, A13, D4, G3. Keywords: Brand Capital; Contract Space; Customer Capital; Economics of Sharing; Human Capital; Informational Dissonance; Perverse Incentives; Property Rights; Serendipity. Dissonanzinformationen; Eigentumsrechte; Kontraktraum; Kundenzufriedenheit; Reputationskapital; Strategeme; Transaktionsraum; Torheit.
1 Dank
Zunächst danke ich Ihnen allen ganz herzlich, dass Sie heute zu diesem Symposium gekommen sind. Mein besonderer Dank gilt den Initiatoren, Referenten und Veranstaltern für dieses Kolloquium, den Professoren Ballwieser und Picot, aber auch Frau Neuburger. Ich danke auch dem Dekan der Betriebswirtschaftlichen Fakultät, Professor Richter, ganz herzlich für seine liebenswürdige Einführung und ebenso für sein übertriebenes Lob. *
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Professor Dr. Theo Siegert, Geschäftsführender Gesellschafter der de Haen-Carstanjen & Söhne, Königsallee 24, 40212 Düsseldorf, Honorarprofessor und externer Lehrbeauftragter am Institut für Information, Organisation und Management der Ludwig-Maximilians-Universität München, E-Mail:
[email protected]. In diesem Beitrag wurde die Redeform des am 6. Juni 2012 gehaltenen Vortrags beibehalten.
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Ich freue mich, von den ehemaligen Vize-Präsidenten der Schmalenbach-Gesellschaft die Herren Busse von Colbe, Coenenberg und Herzig zu begrüßen und außerdem die ehemaligen Präsidenten Funk und Esser. Von meinem Vorgänger im Amt des SchmalenbachPräsidenten, Herrn Börsig, soll ich Sie herzlich grüßen. Wenn es eine Alma Mater gibt, so gibt es wahrscheinlich auch einen Almus Pater, in meinem Fall nämlich Arnold Picot. Unter seiner Ägide lernte ich das Sprechen in Vorlesungen. Ich danke ihm insofern für das Wagnis der Erstvorlesung vor über 20 Jahren. Ich bin mir nicht sicher, ob es noch Überlebende dieser Aktion gibt. Der Titel „Was ich immer schon sagen wollte“ ist natürlich gefährlich. Insbesondere in der Position als letzter Redner. Als meine Frau die Einladung las, murmelte sie etwas von „hat immer gern das letzte Wort“. Bei Verabschiedungen ist es ja üblich, dass man seiner Frau dafür dankt, dass sie einem „den Rücken freigehalten hat“. Dies hat meine Frau wirklich nicht als ihre Aufgabe gesehen – aber sie war immer präsent, wenn „Not am Mann“ war. Dafür danke ich ihr ganz herzlich, vor allem aber dafür, dass sie mir die Unterscheidung zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ klargemacht hat. Wichtig war Freiheit für München, Freiheit für Vorlesungen und für Schmalenbach. Und auch sonst danke ich ihr für viel Ungesagtes. Sie werden von mir in der LMU nur wenig Bibelworte gehört haben – jetzt kommt die Ausnahme – Matthäus 12-36: „Ich aber sage Euch, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben, am jüngsten Gericht von jeglichem unnützen Wort, das sie geredet haben.“ 2 Der gefährdete Ordnungsrahmen: Rechtstitel, Transaktions- und Kontraktraum
Grundvoraussetzungen von Finanzwirtschaft und Unternehmensführung sind Eigentumsrechte – wie zum Beispiel das Kontrollrecht, das Wertzuwachsrecht und das Dividendenrecht. Eigentumsrechte oder „property-rights“ können nur existieren in einer freien Eigentumsordnung, die diese Rechtstitel garantiert. Der Garant für Eigentumsrechte ist der Staat als Enforcement-Agent. Ist der Enforcement-Agent klug, dann sorgt er für die Partizipation möglichst vieler Bürger an den Staatsangelegenheiten. Klug geführte Staatswesen zeichnen sich durch Institutionen aus, die für Partizipation der Bürger und für Transparenz sorgen. Ein kluger Enforcement-Agent sorgt für „inclusiveness“ gemäß der Differenzierung von Acemoglu/Robinson in ihrem opus magnum „Why nations fail“1. Den Gegenpol markieren „extractive“-Societies oder Organisationen. In „extractive“-Societies profitiert nur eine 1
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Acemoglu/Robinson (2012).
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kleine Clique von Auserwählten oder Günstlingen des Regimes von der Privilegierung. Beispiele hierfür gibt es zu Hauf – nicht nur in der Geschichte. Ein intakter Rechtsraum bildet also die Voraussetzung und den Rahmen, in dem möglichst zahlreiche kaufmännische Transaktionen (der Wechsel von Eigentumsrechten) möglich werden. Der Transaktionsraum ist derjenige Rechtsraum, dessen institutionelle Rahmenbedingungen durch den Staat/die Rechtsprechung garantiert werden. Der Kontraktraum ist derjenige Raum, in dem sich die Vorstellungen von Käufer und Verkäufer von Rechtstiteln decken. Entwickelte Risiko-Märkte sind wichtig für die Ausdehnung der Kontrakträume. Die generellen Determinanten für Wachstum oder Konzentration von Transaktions- und Kontraktraum sind: n n n n n n
Rechtssicherheit – und ein Schuss Altruismus die Zinshöhe die Stabilität oder Labilität der Erwartungen Optimismus oder Pessimismus Technologische Entwicklungen eine voraussehbare und transparente Fiskalpolitik.
Die uns begleitende Finanzkrise ist von dem peruanischen Ökonomen Hernando de Soto als „Krise des Rechts“ bezeichnet worden. Seine Diagnose beruht unter anderem auf der unklaren und überkomplexen Rechtsposition vieler MBS (mortgage backed securities). Aus diesem Grund schlägt de Soto vor, eine weltweite Datenbank zu schaffen, in der für jedermann zugänglich jeder Rechtstitel mit allen seinen Spezifikationen verzeichnet ist. Finanzspezialisten haben keinen Anreiz zu dieser Arbeit. Andrew Haldane von der Bank of England hat entsprechend vorgeschlagen, alle Wertpapiere mit einem LEI-Index (legal entity identification) zu versehen. In der Diskussion mit Herrn Schredelseker tauchte zu Recht das Thema auf, ob dieser Versuch ein bürokratisches Monster ergibt oder die notwendige Transparenz schafft. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass die muslimische Bruderschaft in Ägypten de Soto gebeten hat, einen Entwurf für die Rückkehr Ägyptens in einen vernünftigen Rechtsrahmen vorzulegen: Denn aufgrund der Komplexität des ägyptischen Rechtes musste ein Großteil der kaufmännischen Transaktionen im quasi rechtsfreien Raum stattfinden. Und in der Schattenwirtschaft dominieren Aasgeier und Kredithaie. Die diagnostizierte Krise des Rechts hat deshalb Bedeutung, weil in der derzeitigen Finanzkrise sowohl der Transaktionsraum wie der Kontraktraum wesentlich beschädigt worden sind. Der Rechtsraum ist reparaturbedürftig.
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Zur wiederholten Beschädigung des Transaktionsraumes ein Zitat von Schumpeter: „Nichts sagt so deutlich, aus welchem Holz ein Volk geschnitzt ist, wie das, was es währungspolitisch tut.“2 Und Schumpeter beschreibt die Gefahr, dass „allgemeine Mutlosigkeit die Gelddispositionen der Leute verändert, ehe noch etwas geschehen ist (...). Jede Art von Politik kann so zur Währungspolitik werden; jede Art von Ereignis zum währungspolitischen Ereignis.“3 Der Transaktions- und Währungsraum ist im Laufe der Geschichte vielfach stark beschädigt worden. Natürlich gefährden ausufernde Kreditschöpfung und negative Realzinsen den Transaktionsraum und damit die Eigentumsordnung. Das Vertrauen in die Stabilität der Finanzwirtschaft ist gefährdet, wenn die Schlagworte der Zeit lauten: „financial repression“ und „Schulden-Restrukturierung“. Oder wenn beispielsweise Boston Consulting unter dem beziehungsreichen Titel „Back to Mesopotamia“4 ausrechnet, dass für Deutschland ein vollständiger Schuldenverzicht der privaten Haushalte von 11% nötig sei, in USA und UK dagegen von rund 26%. Und damit würde lediglich das Ziel erreicht, die Staats-Schulden auf das Niveau von 180% in Relation zum BSP zu drücken. Schuldenverzicht ist ein Mittel, um die von Pareto5 liebevoll beschriebene „Zirkulation der Eliten“ zu befördern. Denn Pareto hatte keine Sympathie für die Leiden der Rentiers-Klasse. Die Funktionsfähigkeit des Kontraktraumes wird auch in Frage gestellt, wenn neben der Gefährdung des Transaktionsraumes das Thema „counterparty-risk“ dominierend wird oder konkret: Wie soll die Kreditfinanzierung über Banken funktionieren, wenn die CDSSätze von Banken wesentlich über denen der zu refinanzierenden Unternehmen liegen? Das Gleiche gilt natürlich auch für Staaten. Die Frage nach der Verantwortung der Finanzkrise trifft viele unfreiwillige Väter: Die Zentralbanken, deren Garantenfunktion für Finanzstabilität gelitten hat, Aufsichtsbehörden, Regierungen und Rating-Agenturen ebenso; natürlich aber auch die privaten Akteure, ob in Banken, Versicherungen oder als Konsumenten – also auch uns. Paradebeispiel: moral hazard bei Bankeinlagen. Warum auf 0,2% verzichten, wenn der höhere Zins doch garantiert wird? Allerdings: Die Kassen der Garanten sind leer. Dass auch die Akademiker im Chor der Verantwortlichen eingeschlossen sind, hat Herr Schredelseker schon deutlich und kritisch als „Design-Verantwortung“ herausgearbeitet. Neben der Vielzahl von Verantwortlichen gibt es dementsprechend zahlreiche Handlungsentwürfe. Es gibt Rezepte für soft-skills, aber auch für hard-skills, wie das folgende Saloon-Cartoon verdeutlicht: 2 3 4 5
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Schumpeter (1970), S. 2. Schumpeter (1970), S. 1f. (im Original zum Teil kursiv). Rhodes/Stelter (2011). Pareto (2009).
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Quelle: Barron’s.
3 Bewertungs- und Messsysteme: Reduktion und Zurechnung
Grundlage der Finanzwirtschaft sind Wert- und Messsysteme. Die Sprachwelt von Wertund Messsystemen sind Zahlen. Und Zahlen sind leider eine ziemlich eindimensionale Reduktionsform. Beispiele: n n n
das Bruttosozialprodukt ist um 2% gestiegen; der Marktwert von Allianz hat 2% verloren; die Fairness-Opinion hat einen Unternehmenswert von 116 Mio. € festgelegt.
Reduktion bedeutet, dass eine Vielzahl möglicher Optionen, Bewertungsparameter und Entwicklungspotentiale in einer Zahl abgebildet werden soll. Das ist schlichtweg unmöglich – aber die Quelle der besten Anwaltshonorare. Das Grundproblem von Bewertungsund Messsystemen liegt außerdem in der Frage: „Was wird gemessen – und was nicht?“
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Nach der Management-Weisheit: „What gets measured, gets managed“, kann man vermuten, dass Vieles nicht richtig „gemanaged“ wird, wenn es nicht zuvörderst richtig gemessen würde. Nun liegt ein Grundproblem in der Unternehmensführung darin, dass oft nur das leicht Messbare gemessen wird. Zynisch ausgedrückt: Seit Luca Pacioli gilt: „Im Westen nichts Neues“. Dementsprechend kann man die Betriebswirtschaft als Skizze der lösbaren Probleme samt lösbaren Lösungen bezeichnen. Die Beratungsindustrie hat diesen Ansatz sogar noch verfeinert, wie das nachfolgende Cartoon zeigt:
Quelle: Barron’s.
Ergänzend zum bekannten Lösungsraum der bekannten Probleme wäre eine Kartografie des nicht oder selten Vermessenen notwendig, wie zum Beispiel: n n
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customer capital (Kundenzufriedenheit) brand capital (Reputationskapital)
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n n
economics of sharing (im Sinne der Kartographie unterbenutzter freier Kapazitäten und Ressourcen) human capital.
Man könnte die Kosten der Arbeitslosigkeit sicher besser transparent machen, wenn man den Wert des beschäftigungslosen human capitals messen würde. Stattdessen werden die Kosten der Arbeitslosigkeit im Allgemeinen nur als Bedarf an Transferleistungen dargestellt. Definiert man das human capital als Summe aller Arbeitsentgelte eines Menschen während seines Arbeitslebens, so kann man auch besser erklären, warum hochbezahlte Manager gerne so lange am Arbeitsplatz verharren: In den letzten Jahren verdient ein Manager rund 25% seines Lebensarbeitseinkommens. Statt „Say on pay“ gilt stattdessen offensichtlich eher „Stay on pay“. Auch diese Grundhaltung lässt sich graphisch illustrieren:
Quelle: Barron’s, September 2011.
Messsysteme zur Managementkompensation haben vor allem ein Zurechnungsproblem, verbunden mit einem Zeitraumproblem.
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Beispiel: Ein Markenunternehmen der Getränkeindustrie wird verkauft: Beck’s. Viele Jahre ist die Marke aufgebaut worden, es wurde geworben, promoted und investiert und die Gewinnund Verlustrechnung zeigte deshalb nicht das volle erreichbare Ergebnispotential. Jetzt wird Beck’s verkauft: Der Hauptbonus geht an den Geschäftsführer, der zufälligerweise zur rechten Zeit am richtigen Ort ist. Nur zu geringem Teil jedoch an das ManagementTeam, das die Marke über Jahre aufgebaut hat. Ein derartiges Kompensationsverhalten beweist „bad-signalling“: Es fördert perverse Anreize. 4 Dissonanzinformationen, Risiko und Perverse Incentives
Unternehmensführung bedeutet unter anderem, die widerspenstigen Fakten in ein Muster mit hohem Wiedererkennungswert zu ordnen, verständlich zu kommunizieren und die Teilhabe für jeden erstrebenswert zu machen. Elemente der Unternehmensführung sind demnach: n n
Unsicherheiten abbauen Demotivations-Mechanismen beseitigen.
Soweit zur positiven Unternehmensführung. Aber wie schafft man es, ein sinnstiftendes Organisationsziel zu etablieren und gleichzeitig den Spürsinn, die Wachheit für Änderungen, Schocks oder Trendbrüche wachzuhalten? Es geht um das systematische Sammeln von Dissonanzinformationen, die dem herrschenden Weltbild widersprechen; es geht um Wettbewerbsanalyse und das scheinbar paradoxe Verhalten von Wettbewerbern; es geht um Technologiesprünge und Innovationen aller Art. Es geht um Verhaltensänderungen der Menschen in unterschiedlichen Wirtschaftsphasen und unterschiedlichen Kulturen. Beispiel: Ein Energieunternehmen besitzt den Vorteil langfristig kontrahierter Gaslieferungen zu einem „günstigen Preis“. Wer in der Organisation wagt es (und mit welchem Erfolg), ein Szenario durchzuspielen, bei dem sich der langfristig günstige Bezugspreis plötzlich als bedrohliche Verlustquelle erweist? Zu Ihrer Beruhigung: Diese Dissonanzinformation wurde geliefert: Die Analyse des Planungsstabes wurde als hervorragend gelobt – aber auch als beliebig unwahrscheinlich von den Vertriebs-Mächtigen entsorgt. Die Frage ist deshalb: Wie schafft man es organisatorisch sicherzustellen, dass solche Fragen nicht permanent, aber in regelmäßigen Abständen und gründlich gestellt werden? Firmen, wie beispielsweise die US-Firma Koch-Industries, haben ketzerhafte Fragestel-
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lungen an ein „Discovery Committee“ delegiert, das sich in regelmäßigen Abständen solch unangenehmen Aufgaben unterzieht. Zur Problematik von Finanzwirtschaft und Unternehmensführung gehört natürlich auch die Risiko-Dimension. Nachdem ich glaubte, Black-Scholes verstanden zu haben, war meine zweite Reaktion: Und wenn dieses Risikomaß falsch misst – was dann? Glücklicherweise veröffentliche Mandelbrot bald darauf sein Buch „A Fractal View of Risk, Ruin and Reward “, in dem unter anderem die Preisänderungen von Baumwolle über einen sehr langen Zeitraum untersucht werden6. Und in seinem Gefolge schwamm der Schwarze Schwan von Taleb7, mit der Botschaft: Es gibt in der real existierenden Welt wesentlich mehr „Outliers“ oder „Fat tails“ als es die herkömmlichen Risikomodelle erwarten lassen. Begreift man Risiko als Prozesseigenschaft von Sachverhalten, dann wundert man sich wenig über gleichförmige Korrelationen in Krisenzeiten. Insofern lehrt die Risikogeschichte unterschiedliche Zeitphasen differenziert – und nicht unbedingt linear – zu bewerten. Die gleiche Fragestellung wird im Rahmen der „intergenerational equity“ aufgenommen und berührt das Problem der Zeitpräferenz und damit die aktuellen Probleme von risikobereinigten realen Negativrenditen; aber auch die Frage, ob für unterschiedliche Zeitperioden nicht unterschiedliche Zinssätze anzuwenden sind. Dies führt uns auch zu der unternehmerischen Entscheidung über die folgende Fragestellung: Wenn der Kontraktraum nur Renditen von 4% über die nächsten 5 Jahre ermöglichen würde, wäre es dann klug, wenn Investoren oder Aufsichtsräte Normrenditen von 8% fordern würden? Wenn man den Renditeerwartungen der Analysten und Investoren folgen würde: Wären die programmierten Marktanteilsverluste jemals wieder aufholbar? Oder anders gefragt: Drängt man nicht das Management mit einer alten überhöhten Erwartungsbildung höherer ex postRenditen nicht ungewollt in höhere Risikoklassen von Investitionen? Oder verwirft man durch dieses Normvorgehen nicht leichtsinnig Innovationspotentiale? Man könnte hierbei von einem „perverse incentive“ zu Akquisitionen und Investitionen sprechen. Wo sonst noch finden wir „perverse incentives“ zu Hauf? Wir hatten am Lehrstuhl Picot vor Jahren ein hinreißendes Seminar zu „perverse incentives“ – allerdings mit der Sorge, dass wir die falschen Interessenten unter den Studenten ansprechen würden. Dem war aber nicht so. Überreichlich kommen „perverse incentives“ im Gesundheitswesen vor: Der Patient löst die Nachfrage aus, kann aber weder die Leistung des Arztes beurteilen noch kennt er 6 7
Vgl. Mandelbrot (2004). Vgl. Taleb (2007).
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die Kosten, denn die Krankenkasse vergütet sämtliche Leistungen. In der klassischen chinesischen Medizin war man schlauer: Der Arzt erhielt vom Patienten monatlich eine Zahlung, so lange der Patient sich wohlfühlte – und der Patient stoppte die Zahlung sobald er krank wurde – offensichtlich ein gesundes Anreizsystem: zu gesundem Leben und zu mehr OMEGA-3-Fettsäuren. Auch in der Finanzwirtschaft stoßen wir auf zahlreiche „perverse incentives“: n
n n
n
Zum Beispiel kann man ungedeckte CDS vergleichen mit einer Feuerversicherungsprämie auf die Scheune des Nachbarn – das empty-creditor-Problem; ein unangenehmes Gefühl: handelt es sich tatsächlich um ein valides versicherbares Interesse? Oder die Vergütung von Fondsmanagern nach der Höhe des verwalteten Vermögens: Sie führt wie nachgewiesen nicht zur Outperformance, sondern zur Indexierung. In der US-Mortgage-Finanzierung gibt es den Anreiz, Zahlungen einzustellen, obwohl man noch zahlungsfähig ist, wenn der weitere Wertverfall des Hauses wahrscheinlich ist. Der Grund: Es haftet nicht der Käufer, sondern nur das Haus. Selbst bei längeren Haltefristen für Bonifikationen im Rahmen der ManagementKompensation hat Inderst entdeckt, dass es perverse Effekte auf das Risikoverhalten gibt: Auch hierzu folgt die passende Illustration, wobei die Betonung auf „considering“ liegt:
Quelle: Barron’s, Mai 2009.
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Generell kann man sagen, Systeme, Organisationen oder Transaktionsräume werden desto instabiler oder fragiler, je mehr „perverse incentives“ sie erdulden müssen. Lassen Sie mich noch ein letztes Beispiel aus der Management-Kompensation, erwähnen: Die Verkürzung der Vertragsdauer von Top-Managern, zum Beispiel in Großbritannien, wird sicherlich langfristige Investitionsprogramme wenig begünstigen. Die EBITDAFokussierung in vielen Management-Kontrakten führt außerdem dazu, dass die Investitionskatastrophen vor allem von den Investoren, aber weniger vom Management gespürt werden. Man kann durch die EBITDA-Präferenz ebenfalls erklären, weshalb M&A-Transaktionen gegenüber dem langwierigen und kostspieligen Aufbau von Märkten, also dem internen Wachstum, bevorzugt werden. Die unbeabsichtigten Kosten von Incentives können dementsprechend relativ hoch sein. Insofern gilt: „Financial economics and the cost of incentives“ bleibt ein anspruchsvolles Forschungsgebiet. 5 Torheit und Serendipity
Freiwillige Bekenntnisse zur Torheit sind selten. Zur Legitimation führe ich das „Lob der Torheit“ von Erasmus von Rotterdam an, das er vor 503 Jahren auf seiner Reise zu Thomas Morus schrieb: „Die Torheit wurde geboren auf der Insel der Seeligen. Wo niemand sät und niemand pflügt und selbst alles sprießt. Mein Vater ist nicht Chaos, nicht Saturn, sondern Plutus, der Reichtum in Person. Mit Neotes zeugte er mich, der anmutigsten und schalkhaftesten Nymphe und er tat es auch nicht in der Fron der öden Ehe, nein, er hatte sich ‚in Liebe gesellet‘, um mit Freund Homer zu reden – eben mitten auf der Insel der Seeligen.“8 Soweit zum Lob der Torheit. Diese Beschreibung leitet eigentlich unmittelbar über zu Hyman Minsky und seiner These von der „Inherenten Instabilität der kapitalistischen Wirtschaft“. Denn Minskys Diagnose lautet, dass der Erfolg Reichtum erzeugt und der Reichtum Leichtsinn. Und der Leichtsinn erzeugt finanzielle Übertreibungen aller Art und führt damit zum vielzitierten Minsky-Moment9. Bitte beachten Sie in der folgenden Karikatur die kleine Anmerkung rechts unten: „I’ve divided the risk into little pieces“.
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Rotterdam, v. (1985), S. 23. Vgl. Minsky (1986; 2008).
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Quelle: Boston Sunday Globe, 2.11.2008.
Toren und Narren gibt es nicht nur heutzutage. Sun-Tse wie Clausewitz sind hier wohl bekannt, wohl besser als die 36 chinesischen Strategeme aus der Ming-Zeit. Unter dem Titel „Geheimbuch der Kriegskunst“ werden 36 Strategeme oder Überlebensmaßregeln beschrieben10. Strategem 27 lautet: „Den Toren spielen, ohne den Kopf zu verlieren“. Oder anders ausgedrückt: Verrückt sein spielen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Manchmal kann Torheit oder Narretei eine gute Nachhaltigkeitsstrategie sein. Positiv ausgedrückt plädiere ich aus diesem Grund für die Revitalisierung des Narren in der strategischen Planung, sozusagen eine „amour fou“. Durch Erasmus von Rotterdam fühle ich mich bestätigt: „Ganz richtig verhasst ist Königen (Erasmus meinte wohl auch Regierungschefs oder CEOs, A.d.V.) die Wahrheit. Doch nun kommt das Merkwürdige: Aus dem Munde 10
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Vgl. v. Senger (1988).
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meiner Narren hören sie nicht nur Wahrheit, nein auch Grobheit, mit wahrer Wonne an; was einem Waisen den Kopf kostete – spricht es der Narr aus, so macht es ihnen unglaublich Spaß.“11 Im Allgemeinen; sonst gibt es unerwünschte Konsequenzen.
Quelle: The New Yorker, Juni 2012.
Auch bei Goethe spielt der Narr eine wichtige, eine warnende Rolle. Als Mephisto im Faust II dem skeptischen Kaiser das Instrument der Geldschöpfung erklärt, zieht nur der alte Hofnarr die logische Konsequenz aus der Einführung des Papiergeldes12: „Die Zauberblätter! Ich versteh’s nicht recht“ und später „Heut Abend wieg‘ ich mich im Grundbesitz!“ „Wer zweifelt noch an unseres Narren Witz!“ kommentiert Mephisto daraufhin trocken. Kluge Herrscher haben von je her Narren einen hierarchiefreien Raum zugewiesen, in dem kritische Fragen leicht getarnt zulässig waren. So muss es auch in der Unternehmensführung die Ermunterung zu kecken Fragen geben, die das herrschende Paradigma in Frage 11 12
Rotterdam, v. (1985), S. 73. Goethe (1832).
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stellen. Es muss nicht gerade mit Paul Feyerabend „Against Method“13 sein. Ein besserer Titel würde wahrscheinlich lauten „Against common corporate practices“. Sei es: n n n
beim CAPM im Risikomanagement oder in der Artikulation von Mega-Trends für Mega-Honorare.
Die Sehnsucht nach dem Meer von St. Exupery ist vielfach zitiert, ebenfalls der Nietzsche-Ausruf „Nach neuen Meeren“. Und damit möchte ich zu „Serendipity“ überleiten, nach der Suche nach unerwartet Neuem oder dem unbeabsichtigtem Erkunden von Neuartigem. Diese Art schöpferische Wissbegier halte ich für ein wesentlich wichtigeres Ausbildungsziel für Studenten als das häufig strapazierte praxisnahe Wissen. Natürlich aber bleibt die Grundvoraussetzung: die solide Schulung durch die LMU und besonders durch die Betriebswirtschaftliche Fakultät anhand einer Vielzahl theoretischer Konzepte. Zu Serendipity eine kleine Anekdote: In der Abitur-Rede wurden wir aufgefordert, weiter Briefe nach „Tristan da Cunha“ zu schreiben – einer kleinen Insel, ziemlich genau zwischen Afrika und Südamerika, die Ihnen vielleicht durch die wunderschöne Erzählung von Raoul Schrott bekannt ist. Voraus ging der erfolglose Versuch, mit den Bewohnern von Tristan da Cunha Briefkontakt aufzunehmen, um mehr über das Leben der kleinen Gemeinde von Abkömmlingen von Schiffbrüchigen zu erfahren. Und die Aufforderung lautete, auch wenn nie eine Antwort kam: „Immer wieder Briefe nach Tristan da Cunha schreiben.“ Lassen Sie mich zum Schluss auf die Geschichte des letzten Schülers des chinesischen Philosophen Lao-Tse zurückkommen: Er fragt seinen dem Tode nahen Meister, welches die wichtigste Lehre sei, die er seinem getreuen Schüler geben könne. Lao-Tse antwortet nicht – stattdessen sperrt er seinen zahnlosen alten Mund weit auf. Wären wir auf einem Dentisten-Kongress, würde ich Ihnen jetzt ein wenig ansehnliches Farbbild zeigen. Am nächsten Tag wiederholt der Schüler seine Frage. Der Meister zeigt wieder seinen zahnlosen Mund und seine hässliche Zunge. Der Schüler verlässt ihn betrübt. Am dritten Tag wiederholen sich Frage und Antwort. Hoffnungsvoll fragt plötzlich der Schüler: 13
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Feyerabend (1975).
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„Meister, ist es so, dass das Weiche beständiger ist als das Harte?“ Oder in der Sprache unseres Saloon-Cartoons: Sind soft-skills ebenso wichtig wie hard-skills? Lao-Tse antwortet nicht. Matthäus 12-36: „Ich aber sage Euch, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben, am jüngsten Gericht von jeglichem unnützen Wort, das sie geredet haben.“ Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihre Zuneigung. Und ich danke der betriebswirtschaftlichen Fakultät für die Ausrichtung dieses prachtvollen Kolloquiums und natürlich der LMU als Alma Mater. Und ich danke den vielen Studenten in mehr als 20 Jahren. Vor allem aber danke ich allen Geschäftsführerinnen und meinen Vorstandskollegen der Schmalenbach-Gesellschaft für eine besonders fruchtbare und anregende gemeinsame Zeit. Literatur Acemoglu, Daron/Robinson James A. (2012), Why Nations Fail – The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, New York. Feyerabend, Paul (1975), Against Method, London. Goethe, Johann Wolfgang von (1832), Faust II – Ende der Lustgarten-Szene. Mandelbrot, Benoit B. (2004), The (mis)Behavior of Markets – A Fractal View of Risk, Ruin and Reward, New York. Minsky, Hyman P. (1986/2008), Stabilizing an Unstable Economy, New York u.a. Pareto, Vilfredo (2009), Klassiker des ökonomischen Denkens – Von Pareto bis Sen, München. Rhodes, David/Stelter, Daniel (2011), Back to Mesopotamia – The Looming Threat of Debt Restructuring, The Boston Consulting Group (Hrsg.), ohne Ort. Rotterdam, Erasmus von (1985), Lob der Torheit, Stuttgart. Schumpeter, Joseph A. (1970), Das Wesen des Geldes, Göttingen. Senger, Harro von (1988), Strategeme, Bern. Taleb, Nicholas Nassim (2007), The Black Swan, New York/London.
Summary
Property rights are the foundation of corporate finance and management. When expectations of sellers and buyers of property rights meet, we speak of “contract spaces”. Mature markets for risk and legal security are essential for the expansion of contract spaces. To make property rights measurable, suitable valuation systems are necessary. However, these systems normally only produce one-dimensional numbers. Therefore, suitable valuation systems need to be supplemented by dimensions like “brand capital”, “customer capital” or “human capital”. Management and corporate finance very often suffer from “informational dissonance”, i.e., both overlook information that contradicts the common view of the world. Therefore a reduction of “perverse incentives” is paramount. This paper shows how “serendipity” and “foolishness” can contribute to this objective.
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