Originalien Z Gerontol Geriat DOI 10.1007/s00391-017-1228-0 Eingegangen: 10. Juni 2015 Überarbeitet: 8. März 2017 Angenommen: 21. März 2017 © Springer Medizin Verlag GmbH 2017
Melanie Siegel1 · Yuliya Mazheika1 · Regina Mennicken2 · Stefanie Ritz-Timme1 · Hildegard Graß3 · Britta Gahr1 1
Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland ServiceValue, Köln, Deutschland 3 Akademie für öffentliches Gesundheitswesen, Düsseldorf, Deutschland 2
„Weil wir spüren, da müssen wir was tun“ – Barrieren in der Gewaltprävention sowie zentrale Handlungserfordernisse Eine qualitative Interviewstudie mit professionellen Pflegefachkräften und Führungskräften aus dem Bereich Altenpflege
Gewaltprävention in Einrichtungen der Altenpflege kommteine zunehmende Bedeutung zu. Publizierte Prävalenzdaten belegen, dass es auch in professionellen Pflegebeziehungen zu Gewaltanwendungen kommt. In einer Befragung aus den USA mit Angehörigen von Pflegeheimbewohnern berichteten 24,3 % der Angehörigen von mindestens einem Vorfall mit körperlicher Gewalt, ausgehend vom Pflegepersonal gegenüber den Pflegebedürftigen [22]. In einer Befragung mit Pflegekräften ambulanter Pflegedienste berichteten 21,4 % der Befragten von psychischer Misshandlung/ verbaler Aggression, und 9,6 % gaben an, einen Pflegebedürftigen auf Wunsch von Angehörigen bzw. aus arbeitsökonomischen Motiven eingesperrt oder fixiert zu haben [20]. Eine deutsche Erhebung zur Prävalenz von freiheitseinschränkenden Maßnahmen (FEM) in Pflegeeinrichtungen [17] ergab, dass bei 40 % der Pflegebedürftigen innerhalb eines Jahres FEM durchgeführt wurden. Das im Oktober 2014 in Kraft getretene Wohn- und Teilhabegesetz besagt, dass Einrichtungen der Altenpflege dazu verpflichtet sind, Maßnahmen zur Gewaltprävention durchzuführen und
die Beschäftigten zur Vermeidung von Gewalt entsprechend zu schulen [25]. Eine Interventionsstudie aus Taiwan liefert Hinweise, dass Gruppenschulungsprogramme für Pflegekräfte zu einer Reduzierung psychischer Gewalt und zu einer Verbesserung in geriatrischer Pflege führen [12]. Ursachen und Risikofaktoren, die das Auftreten von Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen begünstigen, sind bekannt. So gelten demenzielle Erkrankungen, störende und aggressive Verhaltensweisen, geistige Behinderungen, fehlende Angehörige und/oder Fürsprecher, Abhängigkeit von Dritten und soziale Isolation als Risikofaktoren auf der Seite der Pflegebedürftigen, wohingegen Überforderung, mangelnde berufliche Qualifikation, eigene Gewalt(opfer)-Biografie, psychische, finanzielle und Suchtprobleme auf der Seite der Pflegekräfte prädisponierende Faktoren darstellen [6, 11, 14]. Weitere Faktoren sind die psychischen und die körperlichen Belastungen der Pflegekräfte sowie die zunehmende Arbeitsverdichtung und Zeitnot infolge von Ökonomisierungsdruck [3, 8, 10, 11]. Das Erkennen von Gewalt in der Pflege erweist sich oftmals als schwie-
rig, da besonders im Alter verschiedene gesundheitliche Störungen mehrdeutige Symptome hervorrufen [7, 8]. Die Kenntnis der „red flags“ kann helfen, Gewalt frühestmöglich zu erkennen, z. B. wenn die pflegebedürftige Person verängstigt oder aggressiv wirkt und/oder es unerklärliche Verletzungen gibt, kann dies auf Gewalt hindeuten, ebenso wenn die Pflegekraft im Kontakt gleichgültig oder verärgert wirkt [7, 27]. Obwohl also gut belegte Daten vorliegen, gibt es kein Indiz dafür, dass die Prävalenz von Gewalt in der Pflege sinkt. Dies lässt darauf schließen, dass der Transfer von Wissen und Konzepten aus der Forschung in die Praxis nicht gelingt. Vor diesem Hintergrund adressiert die vorliegende Interviewstudie die Frage, welche Barrieren in der Pflegepraxis diesen Transfer hemmen.
Methode Zehn Einrichtungen der Altenpflege aus dem Raum Düsseldorf wurden zum Thema Gewalt in der Pflege mit dem Ziel befragt, die Situation in den Einrichtungen zu erheben und mögliche Barrieren für einen Wissenstransfer in die Praxis zu Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
Originalien Tab. 1 Charakteristika der teilnehmenden InterviewpartnerInnen und der Pflegeeinrichtungen InterviewpartnerInnen Pflegekräfte (n = 10) Leitungskräfte (n = 10)
4 Unsicherheiten im Umgang mit
Gewalt
Geschlecht Weiblich
7
8
Männlich
3
2
Durchschnittsalter (Jahre)
39,8 (Range 24–54)
44,7 (Range 36–56)
Durchschnittliche Berufserfahrung (Jahre)
16,7 (Range 7–36)
19,0 (Range 2,5–37)
Durchschnittliche Tätigkeitsdauer in der jetzigen Einrichtung (Jahre)
9,2 (Range 1–27)
4,5 (Range 0,5–11)
Vollzeitbeschäftigt Teilzeitbeschäftigt
7 3
8 2
Eigenschaft der Pflegeeinrichtungen
Pflegeeinrichtung (n = 10)
Durchschnittliche Anzahl pflegender MitarbeiterInnen
55,5 (Range 24–80)
Durchschnittliche Anzahl zu pflegender Personen
122,9 (Range 39–220)
Beschäftigungsverhältnis
Tab. 2
Standards im Umgang mit Gewalt Pf L Ges
Ankerbeispiel
Gibt es in Ihrer Einrichtung einen Standard zum Umgang mit gewaltbehafteten Situationen? Nein/Unbekannt
10
6
16
„... [lacht] vielleicht. Sie ist mir aber jetzt so nicht bekannt“. Pf
Ja
0
4
4
„Wir haben einen Leitfaden „Gewalt in der Pflege“, wie man damit umgeht“ L
Pf Pflegekraft, L Leitungskraft
identifizieren. Aufgrund der explorierenden Forschungsfragen wurde ein qualitativer Ansatz gewählt. Aufbauend auf der Literatur (u. a. [5, 7, 11, 14, 18, 21, 23]) und nach theoretischen Vorüberlegungen wurden separate Interviewleitfäden für Pflege- und Leitungskräfte erstellt. Die Interviewleitfäden enthielten grundsätzlich dieselben Fragen, wobei der Interviewleitfaden für Leitungskräfte u. a. zusätzliche Fragen zu Schulungen und Personalauswahl enthielt, während der InterviewleitfadenfürPflegekräfte ergänzende Fragen zu Erfahrung und Umgang mit Gewalt aufwies. Vom Fördermittelgeber als Empfehlung formuliert, sollten 7 stationäre und 5 ambulante Einrichtungen in die Studie einbezogen werden. Es wurden zunächst 5 ambulante und 14 stationäre Einrichtungen akquiriert. Aus Gründen enger personeller und finanzieller Ressourcen sagten 4 ambulante sowie 5 stationäre Einrichtungen ab. Letztlich nahmen an der Studie 20 Pflege- und Leitungskräfte Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
aus 9 stationären Pflegeeinrichtungen und einer ambulanten Pflegeeinrichtung teil (. Tab. 1). Die qualitativ erhobenen Interviewdaten wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring [16] und der Technik der induktiven Kategorienbildung mit abschließender Häufigkeitsanalyse ausgewertet. Die IntercoderReliabilität wurde anhand Cohens κ berechnet und ergab einen κ-Wert von 0,702, was für eine gute Übereinstimmung spricht [9]. Zur Unterstützung der qualitativen Datenanalyse wurde die Software MAXQDA eingesetzt; die Auswertung der quantitativen Daten zu den demografischen und den strukturellen Daten erfolgte computergestützt mithilfe der Statistik-Software SPSS 22.
Ergebnisse Im Folgenden werden die wesentlichen Aussagen zusammengefasst dargestellt und durch Zitatbeispiele verdeutlicht.
Fünfzehn der 20 Befragten berichteten, schon einmal Gewaltsituationen an Pflegebedürftigen im Kollegium beobachtet zu haben, wobei am häufigsten das Miterleben verbaler Gewalt angegeben wurde. Die Dokumentation der Gewalt schien für die Befragten nur dann eine Rolle zu spielen, wenn Pflegekräfte Opfer von Gewalt sind. Fünf Pflegekräfte gaben an, dass sie in solch einem Fall dokumentieren würden, während bei beobachteter Gewalt im Kollegium gegenüber Pflegebedürftigen nur eine Pflegekraft eine Dokumentation vornehmen würde. Während körperliche Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen klar abgelehnt wird und Maßnahmen folgen, war die Handlungsbereitschaft in Fällen verbaler/psychischer Gewalt geringer ausgeprägt. Folgende Aussage soll dies verdeutlichen: „. . . weil ich, nur, ich war mit einer ganz anderen Tätigkeit beschäftigt, es hätte bedeutet, ich hätte von meiner Sache, die ich gerade getan habe, weglaufen müssen . . . Man, man schreitet aus vielen Gründen nicht ein. . . . Einmal, wie gesagt, in der Situation vielleicht sowieso nicht, ne!? Die kann man ja erstmal dann vorbeigehen lassen. Das ist ja auch immer nur ein kurzer Moment, aber . . . im Nachhinein, mit dem Kollegen zu sprechen, das, das ist ja auch ein Wagnis, weil der könnte sagen: „Hömma, du hast doch selber schon mal so und so reagiert“, ja? Dann könnte er sagen: „Dann mach doch deinen Krempel in Zukunft alleine. . . . Wenn du meinst, es besser zu können.“ . . . .“ Pflegekraft (Pf.) 4 Keine bekannten verbindlichen
Standards/Leitlinien/Empfehlungen zum Umgang mit Gewalt Nur 4 befragte Leitungskräfte gaben an, dass es bei ihnen einen Standard zum Umgang mit gewaltbehafteten Situationengebe, jedochhatte keine derbefragten Pflegekräfte Kenntnis über einen solchen Standard (. Tab. 2). 4 Mangelnde Rahmenbedingungen Es gibt mehrere Faktoren, die Gewalt auslösen können. Aus der Sicht der Befrag-
Zusammenfassung · Abstract Z Gerontol Geriat DOI 10.1007/s00391-017-1228-0 © Springer Medizin Verlag GmbH 2017 M. Siegel · Y. Mazheika · R. Mennicken · S. Ritz-Timme · H. Graß · B. Gahr
„Weil wir spüren, da müssen wir was tun“ – Barrieren in der Gewaltprävention sowie zentrale Handlungserfordernisse. Eine qualitative Interviewstudie mit professionellen Pflegefachkräften und Führungskräften aus dem Bereich Altenpflege Zusammenfassung Hintergrund. Gewaltprävention in der Pflege ist in den letzten Jahren verstärkt in den Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Interesses gerückt. In den vergangenen Jahren wurden zwar wissenschaftliche Studien durchgeführt und Präventionskonzepte entwickelt, dennoch gibt es keinen Hinweis dafür, dass die Prävalenz von Gewalt in der Pflege sinkt. Es ist nach wie vor von einem hohen Dunkelfeld auszugehen. Ziel der Arbeit. Die vorliegende Studie untersucht die Barrieren, die für den Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis hinderlich sind. Des Weiteren wird der Frage
nachgegangen, wie ein Interventionskonzept aussehen muss, um praxistauglich zu sein und diese Barrieren effizient zu adressieren. Material und Methoden. Die Daten wurden über qualitative Interviews erhoben (n = 20) und inhaltsanalytisch ausgewertet. Ergebnisse. Es zeigten sich Unsicherheiten im Umgang mit Gewalt. Eine klare Gewaltdefinition fehlte in den Einrichtungen, und es war den Befragten häufig unklar, wo und wann Gewalt beginnt. Ein hoher Anteil der Befragten gab an, dass Gewalt im Pflegealltag in verschiedenen Formen auftritt, allerdings waren keine konkreten Handlungsstrategien vorhanden. Nur wenige
Fälle wurden überhaupt dokumentiert. Des Weiteren wurde über einen Mangel an praxisnahen Fortbildungen berichtet. Die Sichtbarkeit dieser Barrieren eröffnet Ansätze zur Entwicklung von Präventionsmaßnahmen, die in der Praxis greifen. Schlussfolgerungen. Von zentraler Bedeutung für die Gewaltprävention in der Pflege sind u. a. ein gemeinsamer Gewaltbegriff, klare und verbindliche Standards, regelmäßige Fortbildungs- und Schulungsmaßnahmen. Schlüsselwörter Gewalt · Altenpflege · Prävention · Intervention · Dokumentation
“Because we feel, we have to do something” – Barriers in the prevention of violence and key areas requiring action. A qualitative interview study with professional nurses and managers in the field of elderly care Abstract Background. In recent years, politics and society have shown an increasing interest in the prevention of violence. Despite the scientific studies and prevention programs that have been conducted over the past few years, there is no indication that the prevalence of violence in elderly care is falling. A high number of unreported cases may still be assumed. Objective. The present study examined the barriers in transferring research knowledge into practice. Furthermore, it dealt with the requirements of an interventional approach
ten waren es auf der strukturellen Ebene: Personalmangel (n = 9), Zeitdruck (n = 8), ungleiches Machtgefüge (n = 4), lange Arbeitsperioden (n = 4). Zu den gewaltbegünstigenden Faktoren aufseiten der Pflegebedürftigen gehörten insbesondere: Demenz (n = 11), aggressives Verhalten (n = 11), störende Verhaltensweisen (n = 10), andere Erkrankungen (n = 7). Gewaltbegünstigende Faktoren aufseiten der Pflegekräfte waren: Überforderung (n = 17), geringe Qualifikation (n = 13), private Probleme (n = 6), eigene Gewalterfahrungen als Opfer (n = 5),
which is practical and which effectively addresses the barriers. Material and methods. The data were collected in qualitative interviews (n = 20) and analyzed by using qualitative content analysis. Results. The study revealed uncertainties in dealing with violence. The institutions lacked a clear definition of violence and the respondents did not have a clear concept of when and where violence starts. A high proportion of the respondents stated that violence occurred in various forms in daily nursing care but that there were no specific strategies for action. Only very few cases
eine mangelnde Identifikation mit dem Beruf (n = 5), soziale Herkunft (n = 4), älteres Pflegepersonal (n = 2). Der Faktor „mangelnde Identifikation mit dem Beruf Altenpflege“ hatte für die Pflegekräfte eine besondere Relevanz, da er nur von ihnen thematisiert wurde. Zur Verdeutlichung soll folgendes Zitat dienen: „Aber ich merke auch. Ich hab’ das in meiner Ausbildung gesehen, dass viele Leute die Ausbildung machen, weil sie die machen müssen. Weil das Arbeitsamt sagt: „Och, wissen Sie was!? Sie haben
were documented at all. Moreover, a lack of practical further training was reported. The visibility of these barriers opens up new approaches to developing preventive measures which work in practice. Conclusion. A common definition of violence, clear and binding standards, regular training and education measures are central to the prevention of violence in care. Keywords Violence · Elderly care · Prevention · Intervention · Documentation
ja eh keinen Job, sie brauchen was. Gehen Sie doch in die Altenpflege. Und das Arbeitsamt immer noch sagt: „Wir schicken die trotzdem in die Altenpflege, weil wir die anders nicht unterkriegen“ und Altenpflege nimmt ja alles. Werden Sie das Problem immer haben. . . . Und dann, ist meine Meinung nach, wird sich das Problem auch nicht bessern.“ Pf. 4 Mangel an Fortbildungen
Die befragten Personen berichteten, im Umgang mit aggressiven, dementen PatiZeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
Originalien Tab. 3
Institutionelle Barrieren
Kategorienname
Pf
L
Ges
Ankerbeispiel
Gewalt wird vertuscht
8
6
14
„Ich glaube, keiner im Team traut sich, irgendwas richtig zu sagen, sodass die Leitung es gar nicht so erfahren kann. Man möchte einfach nicht dem Kollegen schaden.“ L
Unklarer Gewaltbegriff
4
7
11
„Weil vielleicht wird das nicht so richtig wahrgenommen, was bedeutet Gewalt.“ Pf
Zu wenige Schulungen
7
4
11
„Ich glaube, dass die Leute nicht richtig geschult werden. Auch von den Häusern her.“ Pf
Unklare Zuständigkeiten
4
3
7
„Ich glaube, das ist das Problem in den Häusern, dass man oft nicht weiß, an wen wendet man sich.“ L
Pf Pflegekraft, L Leitungskraft Tab. 4
Pflege kann gewaltfrei werden, wenn ... Pf L Ges Ankerbeispiel
Eine klare Gewaltdefini- 1 tion besteht
7
8
„Ich denke, dass die beteiligten Personen in Pflege zunächst einmal, ..., eine Sensibilisierung brauchen, was ist Gewalt.“ L
Sich die Rahmenbedingungen ändern
3
3
6
„Viel mehr Personal“. L.
Pflegende den Beruf freiwillig ausüben
4
0
4
„Sollten doch lieber Leute machen, die auch Spaß daran haben, die sagen: ,Das ist ein Job, den würde ich gerne tun und mir liegen die alten Leute am Herz‘, als, wenn jemand von Schlecker das macht, weil er das machen muss.“ Pf
Offen mit dem Thema umgegangen wird
1
3
4
„Also einfach ganz offen damit umgehen. Und ich denke, das ist das Problem, dass viele das sehen, dass ein Mitarbeiter eben eine falsche Handlung tätigt, aber nicht eingreifen.“ L
Pflegekräfte geschult sind
0
3
3
Ja, geschultes Personal L
Pf Pflegekraft, L Leitungskraft
enten sei insbesondere fundiertes fachliches Wissen sehr hilfreich. Allerdings betonten einige Pflegekräfte, ihnen fehle das notwendige Wissen im Umgang mit psychisch kranken Bewohnern, und es mangele an internen Schulungen (. Tab. 3). 4 Fehlende Kultur des Vertrauens und der Transparenz im Umgang mit Gewalt
tungen die Grenze zu gewalttätigem Verhalten oft unklar sei und verbale, psychische Gewalt dadurch unterschätzt werde (. Tab. 3). Daher sei auch eine klare Gewaltdefinition wichtige Voraussetzung für eine gewaltfreie Pflege (. Tab. 4).
Die Tatsache, dass Gewalt vertuscht werde und im Team bleibe, wurde sowohl von den Pflege- als auch von den Leitungskräften thematisiert und als zentrale Handlungsbarriere innerhalb der Einrichtung gesehen (. Tab. 3). 4 Unklarer Gewaltbegriff
Die qualitative Herangehensweise ermöglichte eine in die Tiefe gehende Betrachtung des Themas Gewalt in der Pflege und Einsichten in individuelle Perspektiven. Es lassen sich Barrieren erkennen, die für den Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis hinderlich sind. Die Sichtbarkeit dieser Barrieren eröffnet Ansätze zur Entwicklung von Präventionsmaßnahmen, die in der Praxis greifen. Von zentraler Be-
Eine weitere wichtige Barriere ist das Fehlen einer klaren Gewaltdefinition. Die Befragten gaben an, dass aufgrund eines unklareren Gewaltbegriffs in den EinrichZeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
Diskussion und Schlussfolgerungen für die Praxis
deutung für die Gewaltprävention in der Pflege sind:
1. Gemeinsamer Gewaltbegriff Es wurde deutlich, dass es in den untersuchten Einrichtungen keine klar definierte und bekannte Definition von Gewalt gibt, die Grenze zwischen korrektem und gewalttätigem Verhalten für die Pflegekräfte so nicht klar fassbar ist. Für die Gewaltprävention ist es aber wichtig, dass bestimmte Aussagen und Handlungen als Gewalt wahrgenommen werden. Hierfür ist ein einheitliches, fundiertes Wissen über Gewalt und ihre Definition unabdingbar [2].
2. Bekannte, klare und verbindliche Standards/Richtlinien für den Umgang mit Gewalt Ein hoher Anteil der Befragten gab an, dass Gewalt im Pflegealltag in verschiedenen Formen auftritt. Standardisierte Handlungsempfehlungen und -abläufe zum Umgang mit problematischen Situationen fehlten; Handlungsentscheidungen wurden intuitiv getroffen. Dies führt offensichtlich dazu, dass entsprechende Fälle nicht immer angesprochen oder dokumentiert werden, eben gar nicht gehandelt wurde. Damit Gewalt als solche richtig eingeschätzt wird, sollten Gewalt und Aggressionsereignisse dokumentiert werden, Probleme und Risiken lassen sich so rechtzeitig erkennen [4, 24]. Die Bedeutsamkeit der Pflegedokumentation scheint Pflegekräften jedoch nicht ausreichend bewusst zu sein. So stellen Garms-Homolová und Roth in ihrer Studie fest, dass Pflegekräfte die Pflegedokumentation nicht als Maßnahme für die Pflegebedürftigen und als Erleichterung der eigenen Arbeit verstehen, sondern als Erledigung bürokratischer Anforderungen [4].
3. Kultur der Offenheit, des Vertrauens und der Transparenz im Umgang mit Gewalt Gewalt vor ein hervor, Gewalt
im Pflegealltag ist nach wie Tabu. Aus der Befragung ging dass Pflegekräfte beobachtete nicht ansprechen. Eine Lei-
tungskraft war auch der Meinung, dass Gewaltvorkommnisse oftmals von Leitungskräften vertuscht werden, weil diese aus Angst vor Negativschlagzeilen nicht den Mut zur offenen Bearbeitung aufbringen. Huhn [13] spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Wegsehens“, denn häufig seien die Gewaltbereitschaft und -anwendung von Kollegen bekannt. Will man Gewalt in der Pflege entgegenwirken, ist es allerdings unverzichtbar, die Probleme klar zu benennen, zu dokumentieren und in Gesprächen zu analysieren. Um dies zu ermöglichen, muss in den Pflegeeinrichtungen eine Kultur der Transparenz, des Vertrauens und der gegenseitigen Wertschätzung entwickelt werden. In dieser Kultur muss es möglich sein, dass sich Pflegekräfte, die Gewalttätigkeiten beobachtet haben oder selbst aggressiv waren, offenbaren, ohne Repressalien fürchten zu müssen.
ren entscheidend. Die Befragten nannten eine Vielzahl an gewaltauslösenden Faktoren, die auch aus bereits oben zitierten Studien bekannt sind [3, 14]. Trotz einiger Kenntnisse zum Umgang mit gewaltbegünstigenden Faktoren beklagten die Befragten einen Mangel an Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Gewalt, über die nur als singuläre Ereignisse berichtet wurde. Dabei gibt es wissenschaftliche Hinweise, dass Gruppenschulungsprogramme für Pflegekräfte zur Reduzierung von psychischer Gewalt und zu einer Kenntniszunahme in der geriatrischen Pflege führen können [12]. Allerdings liegen für Deutschland hierzu keine validen Daten vor; es mangelt an kontrollierten Interventionsstudien [26]. Verlässliche Daten existieren hingegen für den Bereich FEM: In einer kontrollierten Studie zeigten Köpke et al., dass durch eine leitlinienbasierte Intervention der Einsatz von FEM signifikant reduziert werden kann [15].
4. Klare Präventionsstrategie 6. Personalauswahl In den untersuchten Einrichtungen war keine klare Präventionsstrategie zu erkennen. Die Pflegeleitungen fühlten sich allgemein zuständig, allerdings waren keine Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten für das Thema definiert, insbesondere nicht nah an der Ebene der unmittelbar Pflegenden. Das von der Europäischen Union geförderte Projekt „Monitoring in Long Term Care Pilot Project on Elder Abuse“ (MILCEA) [18] empfiehlt, dass Leistungserbringer wie Pflegeheime sowie ambulante und häusliche Pflegedienste das Thema Gewalt in ihr internes Qualitätsmanagementsystem aufnehmen. Durch die Übernahme des Themas werden Voraussetzungen geschaffen, die eine gezielte Gewaltprävention möglich machen. Eine strategische Ausrichtung der Gewaltprävention signalisiert Zuständigkeit und Verantwortlichkeit. Hierzu gehört es auch, AnsprechpartnerInnen zu benennen und diese öffentlich auszuweisen.
5. Fortbildungen Für die praktische Gewaltprävention ist die Kenntnis gewaltauslösender Fakto-
Die Befragten kritisierten den Einsatz von Pflegehilfskräften und waren der Meinung, dass unfreiwilliges Arbeiten im Altenpflegebereich aufgrund von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit mitverantwortlich dafür sei, dass Gewalt in Einrichtungen der Altenpflege auftritt. Interessant hierbei ist, dass diese Problematik nur von den unmittelbar Pflegenden angesprochen wurde. Die Tatsache, dass der Altenpflegesektor als „beschäftigungspolitisches Auffangbecken“ [19] dient, führt nach Meinung der Befragten dazu, dass ungeeignete Personen leichter Zugang zu diesem Bereich finden. Auch das Negativimage des Berufs der Altenpflege und die geringen Qualifikationsanforderungen fördern nach Ansicht der Befragten Gewalt im Pflegealltag. Gewaltfreies Arbeiten in der Altenpflege stellt aber hohe Anforderungen an das Sozialverhalten, an kommunikative Kompetenzen und an die Sensibilität der Beschäftigten, die erst durch qualitativ hochwertige Ausbildungs- und Schulungsmaßnahmen erworben können. Solche Qualifikationen sind nicht in ausreichendem Maß vorhanden [1, 19]. Hier
liegt eine besondere Herausforderung bei den Trägern und den Einrichtungen der Altenpflege. Viele Institutionen haben angesichts des Fachkräftemangels Schwierigkeiten, qualifizierte und sozialkompetente Arbeitskräfte zu finden. Personallücken durch Aushilfskräfte zu kompensieren, ist jedoch sicher ein falscher Weg, da sich ein solches Vorgehen erheblich auf die Qualität der Pflege auswirken kann [4, 24]. Der Einsatz unqualifizierter und ungeeigneter Mitarbeiter im Bereich Altenpflege führt nicht nur zu Qualitätsverlusten, sondern kann so auch gefährlich für die Gesundheit und das Leben pflegebedürftiger Personen werden [4, 19]. Damit liegen weitere und sehr wesentliche Ansatzpunkte fürGewaltprävention in einer sensibleren, nicht nur ökonomisch gesteuerten Personalauswahl sowie in der Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs durch eine adäquate Bezahlung und attraktive Arbeitsbedingungen. Die vorliegende Studie ist nicht repräsentativ; eine Positivselektion der Stichprobe ist anzunehmen. Die Einrichtungen beteiligten sich freiwillig an der Befragung; sie schienen schon fürs Thema sensibilisiert zu sein; insbesondere war das Thema Vermeidung von FEM in den Einrichtungen sehr präsent. Daher wurde im Ergebnisteil nicht näher auf diesen speziellen Bereich eingegangen. Die hier identifizierten sowie mögliche weitere Barrieren könnten und sollten im Rahmen einer größeren Studie unter Kombination quantitativer und qualitativer Verfahren detaillierter beleuchtet werden.
Korrespondenzadresse Dipl.-Soz.-Wiss. M. Siegel Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf, Deutschland
[email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. M. Siegel, Y. Mazheika, R. Mennicken, S. Ritz-Timme, H. Graß und B. Gahr geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
Originalien Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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