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gesetzt werden, etwa indem man unerwünschtes Verhalten mit höheren Steuern belegt. Diese Zielsetzung verfolgte insbesondere das Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform, 68 in dem u. a. die Mineralölsteuer nach ökologischen Kriterien gestaffelt wurde. Zwar orientiert sich mittlerweile die Kraftfahrzeugsteuer auch am Abgasausstoß. 69 Es besteht aber auch eine ganze Reihe von negativen steuerlichen Anreizen. 70 Genannt sei etwa die pauschale Besteuerung privat genutzter Dienstwagen. Gegen die Energiesteuervergünstigung für Dieselkraftstoff hat sich bereits die Europäische Kommission gewandt. 71 Einflussmöglichkeiten der Kommunen bestehen auch insoweit nicht. 3.3.4 Fazit Grundsätzlich können monetäre Regelungsinstrumente ein gutes Mittel zur Erreichung umweltpolitischer Zielsetzungen darstellen. Die kommunalen Kompetenzen in diesem Bereich sind begrenzt, könnten aber im Hinblick auf Möglichkeiten zur Verkehrsreduzierung und -lenkung noch einmal untersucht werden. 4. Schlussfolgerungen Nur durch das Zusammenwirken adäquater Maßnahmen auf europäischer, nationaler und kommunaler Ebene kann es gelingen, die Luftqualität weiter deutlich zu verbessern. 72 Angezeigt ist kein Herumdoktern auf kommunaler Ebene, sondern eine gesamtheitliche Strategie zur Sen-
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kung der Immissionsbelastungen. 73 Allen voran wäre eine Verschärfung der Emissionsgrenzwerte für Fahrzeuge auf europäischer Ebene notwendig. Die in Immissionsgrenzwerten konkret festgelegten Ziele der EU-Luftreinhaltepolitik ermöglichen immerhin eine klare Benennung des Ausmaßes der Zielverfehlung. So kann der notwendige Druck entstehen, weitere Maßnahmen zur Luftreinhaltung zu ergreifen. 74 68) Gesetz vom 24. 3. 1999, BGBl. I S. 378. 69) Vgl. § 8 KraftStG. 70) Vgl. dazu im Einzelnen UBA, Umweltschädliche Subventionen in Deutschland, 2014, S. 35 ff. 71) Vgl. Aufforderungsschreiben – Vertragsverletzung Nr. 2015/2073, insbes. S. 15. 72) In seiner Empfehlung vom 23. 9. 2016 stellt der Bundesrat fest, dass viele Städte in Europa umfangreiche Anstrengungen zur Verbesserung des öffentlichen Raumes, zur Stärkung des Radverkehrs, etc. unternehmen. In diesem Zusammenhang wären Vorschläge förderlich, mit welchen rechtlichen und finanziellen Instrumenten die Mitgliedstaaten die Kommunen erfolgreich unterstützen können, BR-Drs. 387/1/16, S. 3. Als Beispiel kann die geplante Bezuschussung von Fahrrad-Highways durch den Bund herangezogen werden, vgl. ZEIT Online v. 28. 2. 2017, 2017-02/radabruf bar unter http://www.zeit.de/mobilitaet/ schnellwege-bau-berufspendler-ballungsraeume-foerderung, Stand 27. 3. 2017. 73) So auch Linnartz, UPR 2017, 86, 92; Köck/Lehmann, ZUR 2013, 67, 69 ff. 74) SRU, Umweltgutachten 2008, S. 173.
DOI: 10.1007/s10357-017-3188-x
Wildnis: Ein neues Naturschutzziel? Rainer Wolf © Springer-Verlag 2017
Wildnis hat eine wechselhafte Begriffskarriere erfahren. Kontrastiert in Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ Wildnis die frühmoderne Zivilisation mit dem Abenteuer in einer subtropischen Naturlandschaft und steht als „Sehnsuchtsort“ für Ursprünglichkeit, mit der „letzte Paradiese“ assoziiert werden, so imaginiert Schiller in seinen Räubern „die böhmischen Wälder“ als furchteinflößende Gegend, die weder vom Menschen domestiziert noch der politischen Ordnungsgewalt unterworfen ist und damit den Gesetzlosen einen Raum der Freiheit bietet. In der politischen Theorie der Aufklärung wird Wildnis schließlich vollends zum „Zauberwort“ 1, das in der ursprünglichen Natur eine Restgröße von Freiheit als Gegenbild zur durch Fürstenherrschaft reglementierten Gesellschaft aufscheinen lässt. Heute ist der Begriff „Wildnis“ in der deutschen Bevölkerung positiv besetzt. Er steht nicht mehr für Assoziationen unwirtlicher, lebensfeindlicher Orte, sondern verbindet sich mit Sehnsüchten nach einem Freiraum von der technisierten Zivilisation, die das Leben in der modernen Gesellschaft prägt, und nach einem Gegenpol zu ihr. 2 Als Folge der Modernisierung der Landwirtschaft finden sich solche Fluchtpunkte jedoch heute in Europa nur noch im Hochgebirge und in den Wüsten und Urwäldern ferner Kontinente, der Arktis und Antarktis sowie auf dem sturmgepeitschten Meer. In der Bundesrepublik gibt es nur noch marginale, von Eingriffen des Menschen unberührte Räume, auf die die Bezeichnung „Wildnis“ zutrifft. Sie machen lediglich Prof. Dr. Rainer Wolf, Dresden, Deutschland
0,6 % der Landesfläche aus. 3 Die Bundesregierung hat sich 2007 in ihrer Biodiversitätsstrategie zum Ziel gesetzt, bis 2020 Wildnis als vom Menschen unbeeinflusste Natur auf 2 % der Landesfläche entstehen zu lassen. 4 Gleichzeitig erfährt Wildnis damit einen Bedeutungswandel. Aus einer sozialromantisierenden Chiffre wird ein naturschutzfachlich zu begründendes Ziel. In einer modernen Gesellschaft Wildnis mit Naturschutz zu verbinden, erscheint als ebenso herausforderndes wie begründungsbedürftiges Projekt. 1. Paradigmenwechsel: Wildnis als europäisches und nationales Naturschutzziel Wildnis, besteht dort, wo Natur sich unberührt von menschlichen Einwirkungen entwickeln darf und nicht durch Menschen gestaltet wird. Dagegen war der Schutz von Natur und Landschaft lange Zeit auf die Bewahrung und Pflege der durch extensive menschliche Nutzungen 1) Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, 2017, S. 172. 2) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit/Bundesamt für Naturschutz, Naturbewusstsein 2013, 2014, S. 30. 3) Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU), Vorreiterrolle für eine ökologische Transformation, Gutachten 2015, 2015, S. 322. 4) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, 2007, S. 40.
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über viele Jahrhunderte kultivierten Natur orientiert. Damit sind spezifische Leitbilder von Landschaften verbunden, die eine kulturlandschaftstypische Vielfalt von Arten geschaffen haben. Die Sicherung der biologischen Vielfalt, der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts und der Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft, die durch zunehmend intensive und technisierte landwirtschaftliche Nutzungen, massiv gebaute In frastrukturen und urbane Siedlungsentwicklung beeinträchtigt werden, hat nach § 1 Abs. 1 BNatSchG durch Pflege, Entwicklung und, soweit erforderlich, durch Wiederherstellung zu erfolgen. Entsprechendes verlangt die EU für die Natura 2000-Gebiete. Hier ist durch Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen sicherzustellen, dass die Erhaltungsziele gewahrt bleiben (§ 32 Abs. 2 BNatSchG). Dazu können Bewirtschaftungspläne aufgestellt werden (§ 33 Abs. 5 BNatSchG). Naturschutz kulminiert danach nicht darin, zu gewährleisten, dass Natur sich selbst überlassen wird, sondern fordert in der Regel aktives Tun, um einen bestimmten naturnahen Status einer bereits durch menschliche Eingriffe gestalteten Natur zu bewahren. So müssen die Heide und Almen beweidet werden, um sie vor Verbuschung zu bewahren. Totholz muss aus dem Wald entfernt werden, um den Befall mit Borkenkäfern zu vermeiden. „Schutz durch Nutzung“ ist das prägende Leitbild des klassischen Naturschutzes. Der Begriff „Wildnis“ findet sich im hergebrachten deutschen Naturschutzrecht nicht. Während das Ziel des frühen deutschen Naturschutzes der Schutz von kleinteiligen Naturdenkmalen wie dem Drachenfels war, entstammt das Konzept des großräumigen Schutzes von Wildnis dem amerikanischen Naturschutz. Insbesondere John Muir setzte sich im 19. Jahrhundert für den Schutz der Areale von „wilderness“ ein, die von Nutzungen durch die amerikanischen Pioniergenerationen noch freigeblieben waren und auch in Zukunft sich selbst überlassen bleiben sollten. Nachdem bereits 1872 der Yellowstone-Nationalpark unter Schutz gestellt worden war, wurden 1890 auf sein Betreiben 800 000 Hektar kalifornischer Gebirgslandschaft als Yosemite-Nationalpark ausgewiesen und der Kontrolle der Bundesregierung in Washington unterstellt, um sie in ihrem ursprünglichen Zustand zu belassen. Muir und der von ihm mitbegründete Sierra Club sahen in den Schutzgebieten Räume der „outdoor recreation“, die Gelegenheit zur von gesellschaftlichen Zwängen freien Selbsterfahrung in der Natur bieten sollten. Mit ihrem Verständnis von „wilderness“ war allerdings auch vereinbar, dass in den Nationalparks die vermehrte Ansiedelung von jagdbaren Elchen und Rotwild betrieben wurde, die deren Ökosysteme nachhaltig veränderte. 5 Sie konnten auch nicht verhindern, dass 1906 auf Drängen der Stadt San Francisco in einem Seitental des Schutzgebiets ein großes Wasserreservoir angelegt wurde, um die Versorgung der wachsenden Metropole zu sichern. 6 Im zwanzigsten Jahrhundert beeinflusste der Gedanke des Schutzes der Wildnis die Einrichtung der großen Schutzgebiete in Afrika. In Europa etablierte sich das Nationalparkkonzept dagegen nur zögerlich. So wurde etwa 1909 im schweizerischen Val Cluozza eine Fläche von 25 km 2 als Nationalpark unter Schutz gestellt, der inzwischen auf 170 km 2 angewachsen ist. 7 Die Biodiversitätskonvention hat den Wert von Schutzgebieten für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Art. 8 lit. a CBD betont. Während in der Konvention das Thema „Wildnis“ nicht explizit angesprochen ist, hat die auf dieser Basis veranstaltete siebte Vertragsstaatenkonferenz auf das Klassifizierungssystem der Internationalen Naturschutz union (IUCN) verwiesen. Dieses ist 1974 erstmals vorgestellt 8 und danach mehrmals überarbeitet worden. Das aktuelle Klasifikationssystem der IUCN greift das Thema Wildnis in den Kategorien Ia und Ib auf. Als „strenges Naturschutzgebiet/Wildnisgebiet“ definiert die Schutzgebietskategorie Ia „streng geschützte, für Schutz und Erhalt
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der biologischen Vielfalt und ggf. auch der geologischen/ geomorphologischen Merkmale ausgewiesene Gebiete, in denen zur Sicherung der Naturwerte das Betreten, die Nutzung und Eingriffe durch den Menschen streng kontrolliert und stark eingeschränkt sind.“ 9 In die Schutzgebietskategorie Ib „Wildnisgebiet“ fallen „ausgedehnte ursprüngliche oder (nur) leicht veränderte Gebiete, die ihren natürlichen Charakter bewahrt haben, in denen keine ständigen oder bedeutenden Siedlungen existieren; Schutz und Management dienen dazu, den natürlichen Zustand zu erhalten.“ 10 Die konzeptionelle Divergenz zwischen den beiden Schutzkategorien liegt in der Größe und im Umfang der vorhandenen menschlichen Einflüsse. Gebiete der Kategorie Ia können danach kleiner sein als die der Kategorie Ib. Sie dürfen nur sehr geringen menschlichen Einflüssen ausgesetzt sein. Der Zutritt ist stark eingeschränkt. In den Schutzgebieten der Kategorie Ib können demgegenüber Nutzungen durch indigene lokale Gemeinschaften stattfinden. Dies ist von erheblicher politischer Bedeutung. Wird doch damit in diesen Gebieten ausgeschlossen, dass indigene Völker zugunsten der Einrichtung eines Schutzgebiets vertrieben werden. 11 Sie bieten auch die Möglichkeit zum touristischen Aufsuchen des Gebiets mit einfachen, leisen und unaufdringlichen Beförderungsmitteln. Die IUCN definiert im Weiteren in Kategorie II den Nationalpark als „zur Sicherung großräumiger ökologischer Prozesse ausgewiesene, großflächige natürliche oder naturnahe Gebiete oder Landschaften samt ihrer typischen Arten- und Ökosystemausstattung, die auch eine Basis für umwelt- und kulturverträgliche geistig-seelische Erfahrungen und Forschungsmöglichkeiten bieten sowie Bildungs- Erholungs- und Besucherangebote machen.“ 12 In ihnen ist nur eine Kernzone streng und nutzungsavers geschützt. Sie ähnelt dem Regime in Kategorie Ib und nimmt daher implizit auf das Thema „Wildnis“ Bezug. Im Übrigen ist eine touristische Begleitinfrastruktur zulässig. Neben dem typisierten Gebietszustand können in den jeweiligen Schutzgebieten auch andere Typen vorkommen. Sie sollen allerdings nicht mehr als 25 % der Fläche einnehmen. 13 Eine Adaption des Leitbildes der Wildnis als Konzeption des Naturschutzes in Europa wurde in Deutschland in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Hermann Remmert gefordert. 14 Daran schloss sich eine lebhafte Diskussion in der wissenschaftlichen Literatur an. 15 In diesem Kontext tauchte dann auch der Begriff „Prozessschutz“ auf. 16 Er impliziert das ergebnisoffene Ermög5) Suchanek, Mythos Wildnis, 2001, S. 42 ff. 6) Nash, Wilderness and the American Mind, 1982, 161. 7) Haller/Anderwald, Der schweizerische Nationalpark. 100 Jahre Richtung Wildnis, NuL 2015, 448. 8) IUCN, Classification and Use of Protected Natural and Cultural Areas, 1974. 9) Europarc Deutschland, Richtlinien für die Anwendung der IUCNManagementkategorien für Schutzgebiete, 2010, S. 17. 10) Europarc (Fn. 9), S. 19. 11) Vgl. zu dieser Problematik die Vertreibung der Massai aus der Serengeti Suchanek (Fn. 5), S. 45. 12) Europarc (Fn. 9), S. 21. 13) Europarc (Fn. 9), S. 47. 14) Remmert, Naturschutz, 1988, S. 152. 15) Scherzinger, Das Dynamik-Konzept im flächenhaften Naturschutz, NuL 1990, 292; Bibelriether, Natur Natur sein lassen, in: Prokosch, Ungestörte Natur. Tagungsbericht 6 der Umweltstiftung WWF Deutschland, 1992, S. 85 ff.; Jessel, Wildnis als Kulturaufgabe? Nur scheinbar ein Widerspruch! Zur Bedeutung des Naturschutzgedankens für die Naturschutzarbeit, in: Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege, Wildnis – ein neues Leitbild!? Möglichkeiten und Grenzen ungestörter Naturentwicklung für Mitteleuropa, 1997, S. 9 ff. 16) Fischer, Sammeln und Pflegen von Schutzgebieten, in: Lf U Baden-Württemberg, Landschaftspflege – Quo vadis, 1992, S. 87.
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lichen dynamischer Prozesse der Natur. 17 Es gilt die Maxime „Natur Natur sein lassen“. 18 Natürlichen Ereignissen wie Überschwemmungen, Sturmwurf, Lawinen, Eisgang, Trockenheit und Sukzession soll gestaltender Einfluss auf die Entwicklung von Ökosystemen gewährt werden. Hintergrund dafür ist die Abkehr von der Vorstellung, der Idealzustand ökologischer Systeme liege in einem prästabilisierten Gleichgewicht. Sie wird ersetzt durch ein Dynamik-Konzept, das Natur als offene Entwicklungsprozesse zu begreifen versucht. Ein solcher Prozessschutz war zunächst in den Regelungen des seit 1976 bestehenden § 14 BNatSchG 1974 zum Nationalpark nicht vorgesehen. 19 Danach setzte, an der Nationalpark-Definition der IUCN orientiert, eine Ausweisung als Nationalpark voraus, dass sich das Gebiet überwiegend in einem vom Menschen unbeeinflussten Zustand befindet. Die Naturdynamik blieb dabei allerdings in einem doppelten Sinne unberücksichtigt. Zum einen war der Entwicklungsaspekt bei der Beurteilung der Gebietseignung ausgeblendet. Dies verwehrte nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts eine Ausweisung eines Gebiets als Nationalpark, das sich erst durch gezielte Fördermaßnahmen zu einem vom Menschen unbeeinflussten Zustand entwickeln sollte. 20 Zum anderen wurde der Prozessschutz als Leitbild des Gebietsmanagements nicht aufgegriffen. Mit der Novellierung des BNatSchG wurde 2002 dem Entwicklungsaspekt und dem Prozessschutz Raum gegeben. 21 In § 24 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG 2002 wird als Voraussetzung für eine Erklärung zum Nationalpark gemacht, dass sich das Gebiet in einem vom Menschen nicht oder wenig beeinflussten Zustand befindet oder geeignet ist, sich in einen solchen Zustand zu entwickeln. § 24 Abs. 2 BNatSchG erklärt zum Ziel, den möglichst ungestörten Ablauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik in einem überwiegenden Teil des Gebiets zu gewährleisten. Eine 2003 zum Thema „Prozessschutz“ auf der Insel Vilm veranstaltete Tagung des Bundesamtes für Naturschutz hat danach die Brücke von der akademischen Diskussion zur Naturschutzpolitik gefestigt. 22 2007 hat die nationale Biodiversitätsstrategie, mit der die Bundesregierung versuchte, die Leitlinien der Biodiversitätskonvention für Deutschland zu operationalisieren, zum ersten Mal Wildnis zu einem politisch bedeutsamen Leitbild gemacht. Danach strebt die Bundesregierung an, dass sich Wildnis bis 2020 auf 2 % der Landesfläche entwickeln soll. 5 % der Waldfläche soll ohne Pflege- und Nutzungsmaßnahmen sich selbst überlassen bleiben. Für Wälder, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, wird ein Wildnisanteil von 10 % angestrebt. 23 Im Anschluss daran haben etliche Bundesländer diese Ziele in ihre Naturschutzagenden übernommen. 24 2010 wurde der Prozessschutz zum einem allgemeinen Naturschutzziel erhoben, das nicht nur auf Nationalparks begrenzt ist. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 6 der aktuellen Fassung des BNatSchG ist der Entwicklung sich selbst regulierender Ökosysteme auf geeigneten Flächen Raum und Zeit zu geben. Das BMUB hat das Thema „Wildnis“ im Rahmen seines Handlungsprogramms „Naturschutzoffensive 2020“ als eines der Handlungsfelder identifiziert, die eine besondere Beachtung verdienen. 25 Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat dieses Ziel in seinem Gutachten aus dem Jahr 2015 nachhaltig unterstützt. 26 Wildnis ist darüber hinaus auch zu einem europaweit gültigen Leitbild des Naturschutzes geworden. So hat sich die 2014 publizierte österreichische Biodiversitätsstrategie gleichfalls das Ziel gesetzt, bis 2020 auf 2 % der Landesfläche der natürlichen Entwicklung Raum zu geben und plädiert für die Ausweisung von „Naturgebieten“. 27 Auch das Europäische Parlament hat die Diskussion um die Wildnis aufgegriffen und 2009 in einer Entschließung von der Kommission gefordert, eine Bestandsaufnahme der letzten Wildnisgebiete Europas durchzuführen, eine Strategie für ihren Schutz zu entwickeln, ihnen im Rahmen des Natura 2000-Schutzes einen besonderen Status zu geben und einen
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robusten Rechtsrahmen für Maßnahmen gegen gebietsfremde invasive Arten zu schaffen. 28 Es hat die ökologische Funktion der Wildnis insbesondere in der Gewährung von Lebensraum für große Beutegreifer wie Braunbären, Wölfe und Luchse gesehen und dafür vom Menschen im Wesentlichen unberührten Gebieten mit einer Fläche von mindestens 10 000 Hektar als geeignet betrachtet. Für das gesamte Europa kommt das Europäische Parlament dabei auf eine bereits geschützte Fläche von 146 173 Hektar, vorwiegend im Osten und hohem Norden Europas. Die Europäische Kommission hat im Rahmen ihrer Biodiversitätsstrategie für die Bewirtschaftung von Wäldern die Erhaltung von Naturgebieten und einer optimalen Totholzmenge gefordert. 29 Sie hat für das Management von Wildnis im Rahmen des Natura 2000-Schutzes Guidelines vorgelegt. 30 2. Theorie: Anforderungen und Rechtsprobleme von Wildnisgebieten Ziel der „Wildnisvision“ ist, den im Kulturraum unterdrückten natürlichen Prozessen Spielraum zu verschaffen. 31 Allerdings ist Wildnis zumindest in Europa kein ubiquitär verfolgbares Ziel. Dies gilt nicht nur aufgrund der Raumansprüche der überall vorfindbaren konkurrierenden wirtschaftlichen Nutzungen, sondern auch aus naturschutzimmanenten Gründen. So wird sich in einer Kulturlandschaft in der Regel eine größere Artenvielfalt einstellen als in einem sich selbst überlassenen Waldgebiet. Schon im Lichte des Schutzes der Biodiversität kann der Prozessschutz nur ein räumlich limitiertes Naturschutzziel sein. Wildnisentwicklung ist somit nur eines unter mehreren Leitbildern des Naturschutzes. § 1 Abs. 3 Nr. 6 BNatSchG enthält daher keine universell und ubiquitär geltende Maxime, sondern muss mit anderen Naturschutzzielen und den sonstigen Anforderungen der Allgemeinheit an Natur und Landschaft abgewogen werden (§ 2 Abs. 3 BNatSchG). Der Prozessschutz setzt dafür geeignete Flächen voraus. Wildnisentwicklung benötigt nicht nur gebietsspezifsche Voraussetzungen, sondern muss durch einen geeigneten rechtlichen Rahmen flankiert werden, der das Spannungsverhältnis mit konkurrierenden gesellschaftlichen Anforderungen zu bewältigen hat. 17) Jessel, Aktuelle und künftige Herausforderungen für den Naturschutz, NuL 2014, 30. 18) Bibelriether (Fn. 15). 19) BGBl. 1976 I, S. 3674. 20) BVerwG, Beschl. vom 10. 9. 1999 – 6 BN 1.99, NuR 2000, 43. 21) BGBl. 2002 I, S. 1193. 22) Piechocki/Wierbinski/Potthast/Ott, Vilmer Thesen zum „Prozesschutz“, in: diess., Vilmer Thesen zu Grundsatzfragen des Naturschutzes, Bf N-Skripten 281, 2010, S. 29 ff. 23) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Fn. 4), S. 40; vgl. auch Deutscher Naturschutzring, Mehr Wildnis – die Zeit ist reif. Fachsymposium zum Gedenken an Prof. Dr. Wolfgang Engelhardt. 2007. 24) Vgl. dazu die Übersicht bei SRU (Fn. 3), S. 315 ff. 25) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Naturschutzoffensive 2020, 2015, S. 20 f. 26) SRU (Fn. 3), S. 301 ff. 27) Kohler/Enzenhofer/Plutzar/Zika, Wildnis in Österreich, Zum Status eines gefährdeten Schutzgutes, NuL 2015, 430. 28) Europäisches Parlament, Wildnis in Europa, Entschließung vom 3. 3. 2009, P6_TA(2009)0034. 29) Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Lebensversicherung und Naturkapital: Eine Biodiversitätsstratgie der EU für das Jahr 2020, KOM (2011) 244 end., S. 16. 30) Kommission, Guidelines on Wilderness in Natura 2000. Management of terrestrial wilderness and wild areas wthin the Natura 2000 Network, 2013. 31) Rosenthal/Mengel/Reif/Opitz/Schoof/Reppin, Umsetzung des 2 %- Ziels für Wildnisgebiete aus der nationalen Biodiversitätsstrategie, Bf N-Skripten 422, 2015, S. 16.
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2.1 These: Begründungsansätze und naturschutzfachliche Anforderungen für Wildnisgebiete 1 Wildnisgebiete fördern die Artenvielfalt, die nach § Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG zu sichern ist. Sie bieten Habitate für gefährdete und störungsempfindliche Arten mit großem Raumanspruch, die auf kultivierten Flächen keine für sie geeignete Lebensgrundlage mehr finden. Viele Rote-ListeArten sind auf Alt- und Totholz angewiesen. 32 Wildnisgebiete gehören zu den Kernzonen des Biotopverbundes 33, der nach § 20 Abs. 1 BNatSchG auf 10 % der Landesfläche zu schaffen ist. Damit sie jedoch diese Funktion erfüllen können, ist ihre Vernetzung mit anderen Lebensräumen sicherzustellen. Wildnisgebiete erbringen darüber hinaus Leistungen für den nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG zu schützenden Naturhaushalt. Intakte Flussauen sind nicht nur Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten, sie verbessern auch die Wasserqualität. Ihre besondere Bedeutung erhalten Retentionsräume als natürlicher Hochwasserschutz. 34 Wildnisgebiete unterstützen den Klimaschutz. Ihre Kapazität zur Speicherung von CO2 ist in der Regel höher als die von Gebieten, die durch intensive menschliche Nutzungen überprägt sind. 35 Wildnisgebiete können die Schönheit, Vielfalt und Eigenart der Natur erlebbar machen und damit in Übereinstimmung mit § 1 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG naturästhetische Erfahrungen vermitteln. 36 Sie bieten einen sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungsraum, der den Gegensatz zur technisierten Zivilisation bildet, die den Alltag des modernen Menschen dominiert. Wildnisgebiete dienen schließlich auch der wissenschaftlichen Forschung über natürliche Prozesse, die über lange Zeiträume ungestört und ergebnisoffen ablaufen. Die Förderung von Wildnis realisiert auch die internationale Verantwortung, zu der sich die Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe der Biodiversitätskonvention bekannt hat. Die Erhaltung der Artenvielfalt ist im Weiteren eine Aufgabe, die auch im Kontext der durch Art. 20 a GG und § 1 BNatSchG geforderten intergenerativen Verantwortung für zukünftige Generationen zu erfüllen ist. 37 Da sowohl von der Verfassung als auch von der Naturschutzgesetzgebung anthropozentrische Zwecke nicht mehr den alleinigen Schutzgrund darstellen, sondern der Natur ein eigener Wert zugemessen wird, manifestiert sich im Schutz der Wildnis ebenfalls der Eigenwert der Natur. 38 Die Förderung von Wildnis geht daher konform mit den nationalen und internationalen Zielen für Naturschutz und Landschaftspflege. Um sich als Wildnisgebiet zu eignen oder um Raum für natürliche Prozesse in Richtung auf die Entwicklung von Wildnis zu geben, muss das Gebiet über ein geeignetes ökologisches Potenzial verfügen und gegenüber Störungen von außen ein hohes Maß an Widerstandsfähigkeit aufweisen. Dies verlangt eine erhebliche Größe und ein relevantes Maß an immanenter Entwicklungsfähigkeit von Flora und Fauna. Damit ein Gebiet sich ergebnisoffen im Rahmen natürlicher Prozesse entfalten kann, muss es frei von Siedlungsentwicklung und Zerschneidungen durch Verkehrsinfrastrukturen sein. Dazu zählen für den allgemeinen Verkehr freigegebene Straßen, für den Zugverkehr genutzte Eisenbahntrassen, mit motorisierten Booten befahrene Wasserwege und Energiefreileitungen. 39 Alle erwerbswirtschaftlichen Nutzungen sowie das Einbringen von Gegenständen und Organismen sollten ausgeschlossen sein. In Puffer- und Pflegezonen kann das Sammeln von Pilzen, Früchten oder Kräutern zum Eigengebrauch gestattet werden. 40 Die im Gebiet freigesetzte Entwicklung muss auf Dauer gesichert sein. Dies verlangt den rechtsverbindlichen Ausschluss intensiver menschlicher Nutzungen. Den naturräumlichen Gegebenheiten nach kommen grundsätzlich als Wildnisgebiete in Betracht: Wälder, Hochgebirge, Moore, Meeresküsten und Flussauen, aber auch Bergbaufolgelandschaften und ehemalige Truppen-
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übungsplätze. Letztere aus der gesellschaftlichen Nutzung gefallene Flächen tragen lediglich das Potenzial in sich, dass sie sich zu Wildnisgebieten entwickeln können. Sofern auf ihnen eine solche Entwicklung möglich ist, werden sie als Wildnisentwicklungsgebiete bezeichnet. Dazu zählen auch die bisher forstwirtschaftlich genutzten Wälder, die sich zu nutzungsfreien Naturwäldern entwickeln sollen, und Flussauen, die durch Beseitigung der wasserbaulichen Gewässerbegradigungen renaturiert werden können. Von der Größe eines Gebiets hängt sein Bestand an Flora und Fauna, die Kapazität seiner Ökosystemdienstleistungen und seine Resilienz gegenüber Störungen ab. Idealtypischerweise sollte es alle Sukzessionsstufen vom Pionier- bis zum Klimaxstadium enthalten. Die erforderliche Größe von Wildnisgebieten wird kontrovers diskutiert. Nach Ansicht der deutschen Naturschutzpolitik sollten Wildnisgebiete in der Regel größer als 1000 Hektar sein, für Moore und Auen wird eine Größe von 500 Hektar als ausreichend angenommen. 41 Die Organisation „Wild Europe“ unterscheidet terminologisch zwischen kleineren „wild areas“ und größeren „wilderness areas“. 42 Sie schlägt dafür eine Mindestgröße von 3000 bzw. 10 000 Hektar vor. Die European Wilderness Society arbeitet mit unterschiedlichen Wertstufen. Als höchste Stufe mit Platinqualität gelten Wildnisgebiete mit einer Größe von mehr als 10 000 Hektar, Gebiete mit mehr als 500 Hektar werden mit Bronze attributiert. 43 Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz hat ermittelt, dass in der Bundesrepublik 517 292 Hektar als potenzielle Wildnisgebiete qualifiziert sind. Dies entspricht einem Anteil von 1,45 % der Bundesfläche. Dabei stellen Waldflächen den größten Anteil, gefolgt vom Hochgebirge, Küsten, Flussauen und Mooren. Flächen, die sich als Wildnisentwicklungsgebiete eignen, haben einen Umfang von 738 904 Hektar. Dies entspricht 2,07 % der Bundesfläche. Sie finden sich zumeist im Wald. Danach folgen die Flussauen. Auch die ehemaligen Militärflächen nehmen mit 150 417 Hektar einen beträchtlichen Anteil ein, während die Bergbaufolgeflächen mit 15 589 Hektar einen eher geringen Umfang haben. Insgesamt eignen sich 1 256 196 Hektar und damit 3,52 % der Landesfläche als potenzielle Wildnisgebiete bzw. Wildnisentwicklungsgebiete. 44 Das von der Bundesregierung verkündete Ziel, Wildnis auf 2 % der Landesfläche entstehen zu lassen, ist damit bundesweit auch quantitativ erfüllbar. Der geforderte Flächenanteil kann allerdings in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein sowie in den Stadtstaaten nicht erreicht werden. 45 Entsprechend mehr Potenzial bie32) SRU (Fn. 3), S. 304; Müller, Prozessschutz und Biodiversität. Überraschungen und Lehren aus dem Bayerischen Wald, NuL 2015, 421. 33) BMU (Fn. 4), S. 40. 34) SRU (Fn. 3), S. 310. 35) Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 95 ff. 36) BMU (Fn. 4), S. 41. 37) Lütkes, in: Lütkes/Ewer (Hg.), BNatSchG. Bundesnaturschutzgesetz. Kommentar. 2011, Rdnr. 17 zu § 1. 38) Lütkes (Fn. 37), Rdnr. 20. 39) Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 36. 40) Rosenthal u. a. (Fn. 3), a. a. O. 41) BMU (Fn. 4), S. 40; Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 43. 42) Wild Europe, A Working Definition of European Wilderness and Wild Areas (http://www.europarc.org/wp-content/uploads/ 2015/0 5/a-working-def inition-of-european-wilderness-andwild-areas.pdf ), Stand 6. 5. 2017. 43) European Wilderness Society, European Wilderness Quality Standard an Audit System (http://wilderness-society.org/europeanwilderness-definition/), Stand 6. 5. 2017. 44) Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 70 f.; Opitz/Reppin/Schoof/Drobnik/ Finck/Riecken/Mengel/Reif/Rosenthal, Wildnis in Deutschland, NuL 2015, 406, 408. 45) Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 72.
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ten die übrigen Bundesländer. Naturräumlich fokussieren sich die potenziellen Wildnisgebiete auf die Alpen und die Mittelgebirge, während die Wildnisentwicklungsgebiete insbesondere in der norddeutschen Tiefebene und im Alpenvorland zu finden sind. 46 Verwandt mit dem Ziel, Wildnisgebiete zu schaffen, ist der für städtische Bereiche entwickelte Begriff der Spontanvegetation. Er grenzt sich von der durch den Menschen gestalteten und gepflegten urbanen Natur der Parks, Gärten, Alleen, Flussufer und Gewässer ab und zielt auf brachgefallene innerstädtische Gewerbe-, Militär- oder Infrastrukturflächen, die aufgrund anthropogener Veränderungen nicht mehr den ursprünglichen naturräumlichen Gegebenheiten entsprechen, aber auch nicht mehr durch aktuelle menschliche Nutzungen geprägt sind. Dort entwickeln sich auf oft kleinteiligen Lebensraummosaiken Pioniervegetationen mit darauf folgender natürlicher Sukzession ohne Intervention des Menschen. 47 Es entfaltet sich Wildnis gleichsam im Mikrobereich. Sie zeichnet sich insbesondere auf Ruderalstandorten durch eine Vielfalt gefährdeter Arten aus. Dieser Gedanke ist auch in § 1 Abs. 3 Nr. 2 BNatSchG angesprochen. Danach sollen Böden, deren Entsiegelung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, der natürlichen Entwicklung überlassen werden. Aufgrund ihrer geringen Größe von wenigen Hektar kommen die innerstädtischen Brachflächen jedoch nicht als Wildnisgebiete im Sinne des Naturschutzes in Betracht. 2.2 Antithese: Spannungs- und Konfliktfelder Die Sicherung der natürlichen Entwicklung in einem vom Menschen nicht überprägten Umfeld ist zunächst ein offenkundig attraktives Ziel, scheint es sich doch von Vorstellungen über einen durch Freisetzung von anthropogen unbeeinflussten Prozessen erreichbaren ökologischen Optimalzustand der Natur zu speisen. Wildnis als Naturschutzziel für Flächen in Mitteleuropa steht allerdings im Konflikt mit der dort fast überall vorfindbaren Kultivierung naturnaher Flächen. Wildnis führt im ökologischen Status quo eine Nischenexistenz. Sie kann daher regelmäßig durch Bewahrung eines bestehenden Zustandes nicht geschützt, sondern muss zumeist durch Verzicht auf vorhandene Nutzungen und Eröffnung selbstregenerativer Prozesse in der Natur geschaffen werden. Dabei ist das durch Intensivierung der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Bodens erreichte Niveau des Überflusses an Nahrungsmitteln und anderen Naturprodukten die materielle Voraussetzung dafür, dass es sich die Gesellschaft leisten kann, auf die Nutzung einiger Quadratkilometer vom Menschen unbeeinflusster Natur zu verzichten und Wildnis zuzulassen. 48 Allerdings steht in Frage, ob die durch Verzicht auf gesellschaftliche Nutzungen eröffneten Naturprozesse wirklich so autochton natürlich sind, wie es zunächst scheint. Vom Menschen gänzlich unbeeinflusst sind sie schon deshalb nicht, weil es im Zeitalter des Anthropozäns auf der Erde keine von menschlichen Eingriffen gänzlich freien Prozesse in der Natur mehr gibt. So setzt der vom Menschen verursachte Klimawandel die maßgeblichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Natur und Landschaft auch dort, wo diese nicht durch räumlich verortbare Eingriffe überprägt wird. Das Wiederaufwachsen der Moore wird durch von außen eindringende Gewässereutrophierung beeinflusst. In die Wildnisgebiete können Arten einwandern, die häufig im Kontext der Globalisierung des Handels durch menschliche Tätigkeiten eingeschleppt worden sind. Es ist daher eine Chimäre zu erwarten, dass sich durch Verzicht auf menschliche Nutzung wieder die Natur etablieren würde, die mit der identisch wäre, die vor Einsetzen der die Erde global dominierenden menschlichen Nutzungen existiert hatte. Insoweit muss konzediert werden, dass eine Wildnisentwicklung im Rahmen eines Prozessschutzes in Mitteleuropa lediglich eine „sekundäre Wildnis“ ermög-
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lichen kann, die sich aus einem anthropogen überformten Zustand entwickelt. 49 Die Natur in entlegenen Gebieten der Arktis, des tibetischen Hochlands, der Savannen und Urwälder Afrikas und Amerikas, ist zwar noch frei von sichtbaren anthropogenen Beeinträchtigungen, aber nicht frei von jeglicher menschlicher Nutzung. Die Vorstellung, bei den dort vorfindbaren Naturräumen handele es sich um menschenleere unbewohnte Landstriche, erweist sich als „kolonialistischer Mythos“. 50 Seit vielen tausend Jahren leben dort indigene Völker, die diese Gebiete zur Jagd oder zur Hütung ihres Viehs nutzen. Das theoretische Konzept der Wildnis als nutzungsfreier Raum erweist sich danach als unzulänglich, das folgenreiche praktische Konsequenzen für die Einrichtung von Nationalparken mit sich gebracht hat. Bevor die IUNC die Bewahrung indigener Lebensformen in ihr Schutzgebietskonzept aufgenommen hatte, hat ein rigider Wildnisschutz in Form von Siedlungs- und Betretungsverboten bei der Einrichtung von vielen Nationalparks in Afrika, Amerika und Asien zur Vertreibung der dort lebenden Urbevölkerung geführt. 51 Diese Praxis ist im heutigen Mitteleuropa nicht zu befürchten, gleichwohl bleiben die theoriebezogenen Probleme des Wildniskonzepts bestehen. Der Schutz der Wildnis schließt den Menschen ein, soweit und solange er im Status eines Naturwesens lebt. In dem Maße, indem er sich durch Technisierung und Industrialisierung seiner Lebenswelt davon entfernt, steigen die Möglichkeiten und die Berechtigung zum Ausschluss der von ihm eröffneten Nutzungen zum Schutz der Wildnis. Nicht selten finden sich allerdings auf einem Gebiet, auf dem sich vom Menschen unbeeinflusste natürliche Prozesse wieder entwickeln sollen, bauliche Manifestationen menschlicher Nutzungen wie Mühlen, Bergwerke, Bauernhöfe, Almen oder Schutzhütten. Manche von ihnen können als Zeugnisse vergangenen kulturellen Schaffens unter Denkmalschutz stehen. Hier stellt sich die Frage, ob ihr Erhalt im Rahmen eines naturschutzbezogenen Schutzregimes gewährleistet und wie angepasste Nutzungen ermöglicht werden können. Ungestörte Prozesse in der Natur sind von großer Bedeutung für die Erhaltung vieler Arten und Lebensräume. 52 Häufig wird es jedoch nicht ausreichen, die Natur schlechthin sich selbst zu überlassen. Vielmehr werden Initialleistungen erforderlich sein, um anthropogen ungestörte Prozesse einzuleiten. Außer Funktion gesetzte Moore müssen vernässt werden. Flussbegradigungen und Verbauungen müssen beseitigt werden, um Flussauen wiedererstehen zu lassen und die Herstellung eines Überflutungsregimes wieder in Funktion zu setzen. Gebietsfremde Arten müssen entfernt, die Wiederansiedelung von Beutegreifern muss gefördert werden. Nicht weniger aufwändig ist die Einrichtung von Wildnisentwicklungsgebieten auf ehemaligen Truppenübungsplätzen und nicht mehr genutzten Tagebauen. Dort müssen Munitionsreste beseitigt, Böschungen gefestigt und die Flutung der Restlöcher reguliert werden. Wildnisgebiete liegen zumeist wie Inseln in den sie umgebenden Kulturlandschaften. Ihre Fläche ist oftmals nicht groß genug, um allen in ihnen vorkommenden Arten hinreichend Raum für Nahrungssuche und Revierverhalten zu erfüllen. Genaustausch und Wanderbewegungen 46) Opitz u. a. (Fn. 44), S. 408. 47) Vgl. auch Sukopp/Wittig, Stadtökologie, 1993; Kowarik, Wildnis in urbanen Räumen. Erscheinungsformen, Chancen und Herausforderungen, NuL 2015, 470. 48) Vgl. auch Radkau (Fn. 1), S. 84. 49) Piechocki/Wierbinski/Potthast/Ott (Fn. 22), S. 38. 50) Suchanek (Fn. 5), S. 58. 51) Suchanek (Fn. 5), S. 38 ff. 52) Vgl. Müller (Fn. 32), S. 421 ff.; zu den möglichen Auswirkungen von Wildnisgebieten auf den Schutz gefährdeter und seltener Arten auch Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 87 ff.
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sind eingeschränkt. Um die Funktion von Wildnisgebiete im Biotopverbund zu gewährleisten, müssen sie deshalb nach Möglichkeit mit anderen naturnahen Arealen vernetzt werden. Außerhalb des Gebiets sind Wanderkorridore mit Querungshilfen und Grünbrücken zu schaffen, Trittsteinbiotope müssen gesichert werden. Die Ermöglichung ungestörter Naturprozesse ist daher in der Regel voraussetzungsreich. Bis der Prozessschutz greift, verlangt die Entwicklung von Wildnis häufig aktives Tun. In welchem Umfang und mit welchen Maßnahmen die ungestörte natürliche Entwicklung eingeleitet werden soll, bedarf daher einer naturschutzfachlichen Entscheidung. Da externe, vom Menschen verursachte Störungen auf ein unter Prozessschutz gestelltes Gebiet permanent einwirken, stellt sich daher auch die Frage, ob sein Verlauf nicht auf Dauer durch menschliche Interventionen unterstützt werden muss. Die IUCN hat in ihren Leitlinien darauf verwiesen, dass es angesichts der rapiden Umweltveränderungen eine höchst riskante Strategie sein kann, ein Schutzgebiet sich selbst zu überlassen. 53 Während die Förderung bestimmter Arten in anderen Naturschutzkonzepten gezielt betrieben wird, lässt der Prozessschutzgedanke die konkrete Entwicklung eines Gebietes dezidiert offen. Das Zulassen nicht festgelegter Prozesse in der Natur und wird damit zum Programm des Prozessschutzes. Man kann zwar an das Ermöglichen von Prozessen, die vom Menschen nicht gestaltet werden, Erwartungen knüpfen. Dass sich bestimmte Arten entwickeln werden, ist allerdings nicht gesichert. Prozessschutz operiert damit mit prognostischen Unsicherheiten. Erweist sich eine Entwicklungsprognose als unzutreffend, verwehrt ein rigide verfolgter Prozessschutz auch eine korrigierende Intervention zugunsten der verfehlten Entwicklungsziele und kann zu kontraproduktiven Ergebnissen führen. Es erscheint daher plausibel, den natürlichen Entwicklungsprozess durch ein Beobachtungs- und Managementregime zu flankieren, in dessen Rahmen zu entscheiden ist, in welchem Umfang dem Axiom, „Natur Natur sein zu lassen“ Raum gegeben werden kann. Man kann den Prozessschutz auch befürworten, weil er weitere für die Umwelt bedeutsame Ziele fördert, etwa den Hochwasserschutz. Dies muss allerdings nicht in jedem Fall zutreffen. Vielmehr können auch die sozialen und ökologischen Folgen der von Menschen unbeeinflussten Prozesse in der Natur die Frage aufwerfen, ob ihnen nicht mit menschlichen Eingriffen entgegengewirkt werden muss. So können Deiche, die dem Küstenschutz dienen, durch Entwicklungen in der Natur ihre Stabilität verlieren, wenn sie nicht ständig gepflegt und unterhalten werden. Die sich hier stellende Alternative Prozessschutz oder Küstenschutz ist dabei vorentschieden, wo es um den Schutz des Lebens von Menschen geht. Entsprechendes gilt für die Pflege von Schutzwäldern, die Siedlungen vor dem Abgang von Lawinen bewahren sollen. Der Prozessschutz findet daher seine Schranken, wo er negative Effekte an hochrangigen externen sozialen Rechtsgütern verursacht. Der Verzicht auf menschliche Eingriffe in die Entwicklung der Natur kann jedoch auch zu immanenten Problemen in der Natur führen. Wird Totholz nicht in hinreichenden Mengen aus dem Wald entfernt, kann es nicht nur die Gefahr erhöhen, dass Waldbrände entstehen, sondern auch den Befall durch Borkenkäfer auslösen, der im Weiteren dann den gesamten Bestand an gesunden Bäumen bedroht. Dieses Phänomen ist im Nationalpark Bayerischer Wald zu beobachten gewesen und hat eine öffentliche Kontroverse über die Reichweite des Prozessschutzes ausgelöst. Gegen menschliche Interventionen wird zugunsten des Prozessschutzes angeführt, dass das Totholz selbst Lebensgrundlage vieler Lebewesen sei und der Befall mit Borkenkäfern nach einer gewissen Zeit neue Prozesse der Entwicklung eines widerstandsfähigen Lebensraumes mit neuer Biodiversität einleite. 54 Dies lässt sich für
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den Bayerischen Wald bestätigen. Auch Elementarereignisse wie Überschwemmungen, Lawinenabgänge, Sturm oder Waldbrände, die für den Menschen erhebliche Gefahren darstellen, können für die Entwicklung der Natur eine positive Funktion haben. 55 Sie sind deshalb im Rahmen des Prozessschutzes grundsätzlich zuzulassen, soweit sie sich nur auf das ökologische System des Wildnisgebiets allein auswirken. Für den Schutz der Wildnis spricht das Differenz-Argument. Der zivilisationsgeprägte Mensch kann in der Wildnis Differenzerfahrungen machen, die für sein Leben wichtig und prägend sind. 56 Zu einem Zeitpunkt, an dem die Natur auf dem gesamten Erdball durch menschliche Eingriffe überformt ist, erkennt der Mensch den Wert unberührter Natur. Sie wird als Gegenpol zur technischen Zivilisation geschätzt. Diese Wertschätzung ist mehr als die Romantisierung längst vergangener Zeiten, sondern beinhaltet auch die kritische Reflexion der gegenwärtigen Situation. Zur Realisierung dieser Paradoxieerfahrung muss sich der Mensch allerdings in die Wildnis selbst begeben können. In der Regel wird ihm dies durch die Einrichtung entsprechender Infrastrukturen wie Wege, Versorgungsstationen oder Beherbergungsmöglichkeiten ermöglicht, von denen wiederum Störungen der natürlichen Prozesse ausgehen. Insoweit bewahrheitet sich die Aussage von Hans Magnus Enzensberger, dass der Tourist das zerstört, was er sucht, indem er es findet. 57 Um dies zu verhindern, muss die Eröffnung von sozialer Wildniserfahrung daher mit dem ökologischen Prozessschutz regulatorisch flankiert werden. Zudem beschränken sich die von der Freizeitgesellschaft ins Spiel gebrachten Nutzungsoptionen nicht nur auf die kontemplative Wildniserfahrung. Sie bietet auch Raum für Aktivitäten wie Jagd, Fischfang, Bergsteigen, Skifahren oder Paddelsport, die die Wildnis in einem übernutzten playground der Freizeitgesellschaft umzuwandeln drohen. Solche Nutzungen sind in den Kernzonen der Wildnisgebiete auszuschließen. In ihnen kann die touristische Nutzung durch ein geeignetes Wegenetz gesteuert, durch die Begleitung mit Rangern flankiert und an neuralgischen Punkten durch ein Betretungsverbot eingeschränkt werden. In den sie umgebenden Pufferzonen können touristische Infrastrukturen zugelassen werden, sowie sie die natürlichen Prozesse in der Kernzone nicht beeinträchtigen. Ein Prozessschutz ohne flankierendes Managementkonzept für die Regulierung der Zugangsbedingungen ist daher unvollständig. Prägend für das Eigentum ist die Privatnützigkeit. 58 Der dem Prozessschutz immanente Ausschluss menschlicher Nutzungen wie die Bewirtschaftung des Waldes bedeutet daher für den privaten Eigentümer von Wildnisflächen eine schwerwiegende Einschränkung seines Eigentumsrechts. Im Nutzungsverbot ist keine förmliche Enteignung i. S. d. Art. 14 Abs. 3 GG zu sehen, 59 wohl aber eine Beschränkung gem. Art. 14 Abs. 1 GG. Diese kann der Gesetzgeber bestimmen. Sie muss jedoch nach Art. 14 Abs. 2 GG dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Dieses ist Grund und Grenze der dem Eigentum auferlegbaren Belastungen. 60 Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dient ohne Zweifel dem Wohl der Allgemeinheit. Für die Er53) Europarc (Fn. 9), S. 61. 54) Vgl. Müller (Fn. 32), S. 423. 55) Müller (Fn. 32), S. 423. 56) Piechocki/Wierbinski/Potthast/Ott (Fn. 22), S. 36. 57) Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, in: Einzelheiten I, 1962, S. 179 ff. 58) BVerfG, Urt. vom 2. 3. 1999 – 1 BvL 7/91, B VerfGE 100, 226, 241. 59) Vgl. nur BVerwG, Urt. vom 31. 1. 2001 – 6 CN 2/00, BVerwGE 112, 373, 376. 60) BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1999 – 1 BvL 7/91, BVerfGE, 100, 226, 241 – Denkmalschutz.
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möglichung der Entwicklung von Wildnis auf bestimmten Flächen durch eine Naturschutzverordnung, die den Prozessschutz im Sinne eines Nutzungsverbots regelt, ist jedoch auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. 61 Dabei ist die konkrete Wertigkeit des Schutzes der Natur gegen den Wert, den eine Nutzung für den Eigentümer hat, abzuwägen. Flächen, die wie Moore als gesetzlich geschützte Biotope, grundsätzlich nicht nutzbar sind (§ 30 Abs. 2 Nr. 2 BNatSchG), haben damit einen anderen Stellenwert als Flächen, die wie Waldflächen eine wirtschaftliche Nutzung erlauben. Wird jede für den Eigentümer sinnvolle Nutzung ausgeschlossen, ist ein Beschränkungsniveau erreicht, das den Namen „Eigentum“ nicht mehr verdient. 62 Es ist daher grundsätzlich unzulässig, Waldflächen, die im privaten Eigentum stehen, durch Gebietsschutzverordnung unter Prozessschutz zu stellen, der ein umfassendes Verbot jeder wirtschaftlichen Nutzung enthält. Entsprechendes gilt für bis zur Unterschutzstellung zulässige landwirtschaftliche Nutzungen. In die Unterschutzstellungsverordnung müssen zumindest Ausgleichsregelungen aufgenommen werden, die eine Kompensation vorgesehen. Solche Kompensationsregelungen sind durch die Begrenztheit der öffentlichen Mittel allerdings stark limitiert. Sofern keine Ausgleichszahlungen in Betracht gezogen werden, beschränken sich daher die für einen Prozessschutz zugänglichen Waldflächen auf solche, die im Eigentum der öffentlichen Hand oder von Naturschutzstiftungen und -verbänden stehen. In den potenziellen Wildnisgebieten sind die meisten Flächen zugleich Natura 2000-Gebiete. In ihnen sind nach § 33 Abs. 1 BNatSchG alle Veränderungen und Störungen, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebietes in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen können, unzulässig. § 33 Abs. 1 BNatSchG richtet sich nicht nur gegen Veränderungen und Störungen, die vom Menschen ausgehen, sondern auch gegen natürliche Entwicklungen, die den Erhaltungszustand von Arten und Lebensräumen in den besonderen Schutzgebieten verschlechtern können. 63 Danach ist auch bei einem nicht vom Menschen verursachten Wandel der natürlichen Gegebenheiten durch Schutz- und Pflegemaßnahmen grundsätzlich zu gewährleisten, dass sich der Erhaltungszustand der geschützten Lebensraumtypen und Arten nicht verschlechtert bzw. ein günstiger Erhaltungszustand erreicht wird. 57 FFH-Lebensraumtypen benötigen keine spezifischen Schutz- und Pflegemaßnahmen. Sie sind daher grundsätzlich als „wildnistauglich“ zu betrachten. 64 Offene Landschaftstypen verlangen für ihren Erhalt jedoch Pflegemaßnahmen. Tangiert die im Rahmen des Prozessschutzes freigesetzte natürliche Entwicklung in solchen Lebensraumtypen ihren Erhaltungszustand oder den von dort vorkommenden Arten, indem sich die Lebensbedingungen für einige Arten oder die Verhältnisse für bestimmte Lebensraumtypen verschlechtern, stellt sich die Frage, ob der Prozessschutz die Anforderungen des Naturschutzrechts der EU verletzen kann. Der vom nationalen Recht geforderte Prozessschutz und die Anforderungen des Naturschutzrechts der EU können damit in ein Spannungsfeld geraten. 65 Nach Maßgabe der von der Europäischen Kommission veröffentlichten „Guidelines of Wilderness in Natura 2000“ ist in solchen Fällen die Anforderung des günstigen Erhaltungszustandes nicht auf das einzelne Gebiet zu beziehen, sondern auf den Zustand der Lebensraumtypen und Arten in der gesamten biogeografischen Region. 66 Abweichende Veränderungen auf lokaler Ebene sind danach zulässig. 67 Die Durchsetzung eines regulatorischen Regimes, das Wildnis ermöglichen soll, ist schließlich auch geeignet, gesellschaftlichen Widerstand zu mobilisieren. Die in der Nähe des einzurichtenden Wildnisgebietes wohnende Bevölkerung verliert ihre gewohnte Umgebung. Die Verlustängste können durch kolportierte Risiken des Prozessschutzes, wie etwa dem Befall des Totholzes mit
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Borkenkäfern, noch verstärkt werden. In der Tat wird die Diskussion um die Errichtung weiterer Nationalparks wie etwa dem Nordschwarzwald und dem Steigerwald durch Verlustängste von Heimat stimuliert. 68 Dem wird nicht nur durch die Achtung der Grundrechtspositionen der betroffenen Grundeigentümer, sondern auch durch eine möglichst frühzeitige, transparente umfassende und intensive Beteiligung aller relevanten Gruppen im Prozess der Unterschutzstellung zu begegnen sein, die auch die möglichen Vorteile der Unterschutzstellung für die Bevölkerung thematisiert. 3. Praxis: Wildnisgebiete und rechtliche Anforderungen an das Schutzregime von Nationalparks Im Folgenden werden einige konkrete Schutzregimes im Hinblick auf die soeben entwickelten Anforderungen untersucht. In Betracht kommen dafür grundsätzlich Naturschutzgebiete und Nationalparke sowie die Flächen des Nationalen Naturerbes. Von einer Untersuchung der Unterschutzstellungsverordnungen von Naturschutzgebieten wird hier allerdings Abstand genommen, da die für sie einschlägigen rechtlichen Anforderungen des § 23 BNatSchG den Prozessschutz nicht ausdrücklich vorgeben und sie in der Regel nicht die erforderliche Größe von 1000 Hektar erreichen. Dies schließt Ausnahmen nicht aus. So entwickelt sich etwa in der Königsbrücker Heide, dem zwölftgrößten Naturschutzgebiet Deutschlands, auf 6932 Hektar ein Wildnisgebiet, das die Anforderungen der Kategorie Ib der IUNC erfüllt. 69 Die Flächen des Nationalen Naturerbes scheiden für eine Untersuchung gleichfalls aus, da hier ein rechtlich verfestigtes Schutzregime fehlt. Von den bestehenden 16 Nationalparken werden 5 Schutzregimes exemplarisch vorgestellt. Dabei fällt auf, dass nur auf wenigen Flächen der Status von Wildnis bereits vorhanden ist. Die vom Bundesamt für Naturschutz in Auftrag gegebene Studie zu den Wildnispotenzialen in Deutschland ist zu dem Ergebnis gekommen, dass auch in den bestehenden Nationalparken das Ziel, Wildnis zu gewährleisten, zumeist noch nicht erreicht ist. Es handelt sich daher mehrheitlich um Wildnisentwicklungsgebiete. 70 Die deutschen Nationalparke unterscheiden sich in Größe, naturräumlicher Struktur und Anteil der für eine vom Menschen unbeeinflusste Entwicklung vorgesehenen Flächen erheblich. 71 Lediglich drei der deutschen Nationalparke sind von der IUCN in die von ihr geführte Liste aufgenommen worden. 72 An deren Anforderungen lehnt sich das deutsche Recht zwar, sie sind für seine Regelungen jedoch nicht verbindlicher Maßstab. 73 61) Vgl. nur BVerfG, Urt. vom 8. 4. 1987 – 1 BvR 564/84, B VerfGE 75, 78, 97; BVerfG, Urt. v. 14. 1. 2004 – 2 BvR 64/95, BVerfGE 110, 1, 28. 62) BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1999 – 1 BvL 7/91, BVerfGE 100, 226, 243 – Denkmalschutz. 63) Heugel, in: Lütkes/Ewer, Bundesnaturschutzgesetz, 2011, § 33 Rdnr. 6. 64) Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 47. 65) Vgl. Europäische Kommission (Fn. 29), S. 44. 66) Europäische Kommission, a .a. O. 67) SRU (Fn. 24), S. 326. 68) Wachinger/Hilpert/Renn, Beteiligungsverfahren Nationalpark Nordschwarzwald, in: Dialogik, Innovativ und partizipativ. Einblicke in die Arbeit von Dialogik. 2014, S. 127 ff.; Jedicke, Der Steigerwald als Zankapfel, Geschützter Landschaftsbestandteil, Nationalpark und/oder UNESCO-Weltnaturerbe? NuL 2015, 30. 69) Sächsisches Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft, Naturschutzgebiete in Sachsen, 2010, S. 132 ff.; Die Zeit vom 23. 3. 2017, S. 11. 70) Vgl. Rosenthal u. a. (Fn. 31), S. 17. 71) Vgl. dazu Schumacher/Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, Bundesnaturschutzgesetz, 2011, § 24 Rdnr. 15. 72) Schumacher/Schumacher (Fn. 71), Rdn. 10 zu § 24. 73) Heugel (Fn. 63), Rdn. 2 zu § 24.
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Nationalparke sind rechtsverbindlich festgesetzte, einheitlich zu schützende Gebiete (§ 24 Abs. 1 BNatSchG). Dies erfordert ein einheitliches, in sich konsistentes rechtliches Schutzregime, 74 schließt allerdings eine räumliche Differenzierung der Intensität des Schutzes durch eine Gliederung in Kern-, Entwicklungs-, Pflege und Erho75 lungs-/Pufferzonen nicht aus. Nationalparke müssen großräumig, weitgehend unzerschnitten und von besonderer Eigenart sein (§ 24 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG). Eine bestimmte Mindestgröße wird damit allerdings nicht verlangt. Sie hängt von den naturräumlichen Gegebenheiten und den zu schützenden Lebensraumtypen ab. Unzerschnittenheit bedeutet, dass die ökologischen Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge in Nationalparken nicht durch die von Verkehrsinfra- und Siedlungsstrukturen ausgehenden Verinselungswirkungen erheblich beeinträchtigt sein dürfen. 76 Die weiter geforderte Eigenart besitzen Gebiete, wenn sie durch eine spezifische naturund landschaftsräumliche Typik geprägt sind, die sie unter den gewöhnlich vorfindbaren Landschaften heraushebt. 77 Nationalparke müssen in einem überwiegenden Teil ihres Gebiets die Voraussetzungen eines Naturschutzgebiets erfüllen (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG). Dies bedeutet, dass mehr als die Hälfte der Fläche des Gebiets den Anforderungen des § 23 BNatSchG genügen muss, ohne dass allerdings eine entsprechende Unterschutzstellung gefordert ist. 78 Schließlich verlangt § 24 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG, dass sich das Nationalparkgebiet überwiegend in einem vom Menschen nicht oder wenig beeinflussten Zustand befinden oder geeignet sein muss, sich in einen Zustand zu entwickeln, der einen möglichst ungestörten Ablauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik gewährleistet. Darin liegt nach § 24 Abs. 2 S. 1 BNatSchG auch das Ziel der Unterschutzstellung als Nationalpark. Die Gewährleistung der natürlichen Dynamik ist damit sowohl Unterschutzstellungsvoraussetzung als auch basaler Regelungsinhalt des Schutzregimes. Entscheidend ist dabei nicht der aktuelle Grad der menschlichen Einflussnahme, 79 sondern der Verzicht auf zukünftige menschliche Einwirkungen auf die natürliche Entwicklungsdynamik. Dies schließt aktive Maßnahmen zur Förderung der natürlichen Entwicklung, wie etwa den Rückbau von Deichen an Gewässern, nicht aus. 80 Mit dem Prozessschutz ist es gleichfalls vereinbar, wenn die natürliche Entwicklung zu Verlusten bei den im Gebiet vorkommenden Arten führt. 81 Um eine ungestörte Entwicklung der Natur zu ermöglichen, müssen störende menschliche Einwirkungen im überwiegenden Teil des Nationalparks durch das Schutzregime wirksam ausgeschlossen werden. Dies impliziert, dass seine Kernzone mehr als die Hälfte seines Gebiets umfassen muss. Allerdings ist dieser Anteil nur anzustrebendes Ziel und keine fixe Anforderung. Daneben sollen Nationalparke, soweit es der Schutzzweck erlaubt, nach § 24 Abs. 2 S. 2 BNatSchG auch der wissenschaftlichen Umweltbeobachtung, der naturkundlichen Bildung und dem Naturerlebnis der Bevölkerung dienen. Sie sind nach § 24 Abs. 3 BNatSchG unter Berücksichtigung ihres besonderen Schutzzwecks sowie der durch Großräumigkeit und Besiedelung gebotenen Ausnahmen wie Naturschutzgebiete zu schützen. Damit unterliegen sie dem allgemeinen Zerstörungs-, Beschädigungs-, Veränderungs- und Störungsverbot des § 23 Abs. 2 BNatSchG. Allerdings können unter Berücksichtigung der Großräumigkeit und Besiedelung auch Ausnahmen geboten sein. Das BNatSchG verlangt daher nicht, dass vorhandene zulässige Nutzungen vollkommen aufgehoben werden müssen. Vielmehr kann auch ein Bebauungsplan für ein peripheres Gebiet eines Nationalparks erlassen werden, wenn dies das Ziel der Eröffnung einer von Menschen unbeeinflussten natürlichen Entwicklung in seinen Zentralbereichen nicht beeinträchtigt. 82 Die rechtlichen Anforderungen an einen Nationalpark bleiben damit hinter denen eines rigiden Prozessschutzes zurück. Sie sind in Bezug auf
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die Tolerierung menschlicher Nutzungen auch weniger streng als die Kriterien der IUCN. 3.1 Nationalpark Bayerischer Wald Als Bestandteil des größten unzerschnittenen Waldgebiets Mitteleuropas wurde 1970 der Nationalpark Bayerischer Wald eingerichtet und 1997 erweitert. 83 Er umfasst eine Fläche von 24 250 Hektar. Weite Teile des Gebiets sind noch geprägt von seiner vormaligen forstwirtschaftlichen Nutzung, einschließlich der dafür erforderlichen Infrastruktur. Es finden sich auch Überreste früherer Glasproduktion. Die Flächen des Nationalparks stehen fast ausschließlich im Eigentum des Freistaates Bayern. Zweck des Nationalparks ist es, „die natürlichen und naturnahen Waldökosysteme zu erhalten, das Wirken der natürlichen Umweltkräfte und die ungestörte Dynamik der Lebensgemeinschaften zu gewährleisten“ (§ 3 Abs. 1 BayWNatPVO). Nur ein kleiner Teil ist allerdings noch von menschlicher Nutzung unberührter Mittelgebirgswald. Deshalb stellt sich die Aufgabe, „die bisher forstwirtschaftlich geprägten Wälder unter Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse langfristig einer natürlichen, vom Menschen unbeeinflussten Entwicklung zuzuführen“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 BayWNatPVO) und vom Wald umschlossene Lebensräume wie Moore, Felspartien und Wasserflächen sowie Quellen als feste Teile in der natürlichen Landschaft zu erhalten oder wiederherzustellen und Störungen von ihnen fernzuhalten“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 BayWNatPVO). Dem Grundsatz des Prozessschutzes wird damit hinreichend Rechnung getragen. Daneben gibt § 3 Abs. 2 Nr. 3 BayWNatPVO auch eine naturschutzexterne Anforderung vor. Danach sind kulturhistorisch wertvolle Flächen und Denkmale wie Weideschachten, ehemalige Glashütten standorte, Triftklausen und Triftkanäle in ihrer typischen Ausprägung zu erhalten. Im Weiteren ist die Dynamik der Lebensgemeinschaften des Waldes wissenschaftlich zu beobachten (§ 3 Abs. 2 Nr. 4 BayWNatPVO) und das Gebiet der Bevölkerung zu Bildungs- und Erholungszwecken zu erschließen, soweit es der Schutzzweck erlaubt (§ 3 Abs. 2 Nr. 5 BayWNatPVO). Zur Erreichung dieser Ziele ist ein Nationalparkplan auszuarbeiten, der auch das zu erhaltende Wegenetz festglegt (§ 7 Abs. 1 BayWNatPVO). Nach § 12 a BayWNatPVO sind 75 % des Nationalparkgebiets zum Jahr 2027 zu einer Fläche zu entwickeln, auf die der Mensch keinen Einfluss nimmt (Naturzone). Sie umfasst derzeit 56 % des Nationalparkgebiets. Zum Schutz des Nationalparks werden umfangreiche Verbote statuiert. Nach § 9 Abs. 1 BayWNatPVO ist jede Zerstörung, Beschädigung oder Veränderung der Landschaft oder ihrer Bestandteile, insbesondere durch Bodenabbau, Veränderung der Gewässer, Beeinträchtigung von Tieren und Pflanzen, Einbringen von Pflanzen und Aussetzen von Tieren sowie der Einsatz von chemischen Stoffen, verboten. Nach § 9 Abs. 3 BayWNatPVO ist weiter die Errichtung von baulichen Anlagen, die Anlage oder Erweiterung von Wegen, Straßen, Skipisten, Seilbahnen und 74) Appel, in: Frenz/Müggenborg (Hg.), BNatSchG, 2. Aufl. 2017, Rdn. 37 zu § 24. 75) Heugel (Rdn. 63), Rdn. 13 zu § 24. 76) Vgl. auch Schumacher/Schumacher (Fn. 71), Rdn. 34 zu § 24. 77) Appel (Fn. 74), Rdn. 16 zu § 24. 78) Heugel (Fn. 63), Rdn. 7 zu § 24. 79) So noch zur früheren Rechtslage OVG Lüneburg, Urt. v. 22. 2. 1999 – 3 K 2630/98, NuR 1999, 470 und BVerwG, Beschl. v. 10. 9. 1999 – 6 BN 1/99, NuR 2000, 43. 80) Appel, Fn. 74, Rdnr. 20 zu § 24. 81) VGH München, Urt. vom 15. 9. 1999 – 9 N 97.2686, NuR 2000, 278. 82) BVerwG, Beschl. vom 23. 7. 2003 – 4 BN 40.03, NuR 2004, 167. 83) GVBl. 1997, S. 513 ff.
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Schleppliften sowie die Errichtung von oberirdischen Versorgungsleitungen untersagt. Schließlich ist es auch gem. § 9 Abs. 4 BayWNatPVO verboten, Gewässer mit Booten zu befahren oder in ihnen zu baden, mit Fahrzeugen außerhalb der für den öffentlichen Verkehr gewidmeten Wege zu fahren, zu zelten und Wohnwagen aufzustellen, Hunde frei laufen zulassen und organisierte Führungen und Wanderung durchzuführen, es sei denn, sie werden durch die Nationalparkverwaltung oder andere nach § 11 Abs. 2 BayWNatPVO autorisierte Stellen durchgeführt. Intensive touristische Nutzungen sind damit ausgeschlossen. Von den Verboten sind nach § 11 BayWNatPVO ausgenommen unaufschiebbare Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben von Menschen oder für erhebliche Sachwerte, die Wiederansiedelung von vormals heimischen Tierarten, die Bewirtschaftung von Berghütten sowie Maßnahmen des Grenzschutzes, der Polizei und des Zolls. Damit wird den mit dem Prozessschutz konkurrierenden öffentlichen Belangen Rechnung getragen. Bestandsschutz nach § 11 Abs. 1 Nr. 8 BayWNatPVO genießen allerdings auch die bisherige ordnungsgemäße land- und forstwirtschaftliche Bodennutzung auf Flächen, die im Privateigentum stehen, und die Ausübung der Jagd auf verpachteten oder abgegliederten Flächen. Dies reduziert den Prozessschutz praktisch auf Flächen, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder mit deren Eigentümer entsprechende Nutzungsregelungen vereinbart worden sind. Da im Bayerischen Wald mit Ausnahme des Luchses große Prädatoren fehlen, wird die Regulierung des Wildbestandes, um den Verbiß an Waldpflanzen unter Kontrolle zu halten, auch auf Flächen für erforderlich gehalten, für die kein privates Jagdrecht besteht. Nach § 13 Abs. 2 BayWNatPVO reguliert die Nationalparkverwaltung den Schalenwildbestand und erforderlichenfalls auch den anderer jagdbarer Tierarten. Das Wildtiermanagement erfolgt fast ausschließlich außerhalb der Naturzone auf etwa ein Drittel der Nationalparkfläche. Fischfang ist nur zu wissenschaftlichen Zwecken zulässig (§ 13 Abs. 4 BayWNatPVO). Nach § 13 Abs. 1 BayWNatPVO sind Walderhaltungsund Waldpflegemaßnahmen ausschließlich an dem Zweck des Nationalparks zu orientieren. Ab 1995 kam es im Altbereich des Nationalparkes zu Schäden durch Borkenkäfer, der die alten Nutzwaldkulturen erheblich reduzierte. Obwohl sich die Situation nach einigen Jahren stabilisiert hatte, gab es in der Bevölkerung, die eine Ausdehnung des Borkenkäferbefalls auf die neuen Gebiete befürchtete, Proteste gegen die Erweiterung des Nationalparkes. Um dem Rechnung zu tragen, wurde der Prozessschutz modifiziert. Nach § 14 Abs. 3 BayWNatPVO ist in den neu unter Schutz gestellten Gebieten im Zeitraum bis 2027 die Ausbreitung des Borkenkäfers zu verhindern. In Waldbeständen, die bereits durch Borkenkäferbefall geschädigt sind, soll nach § 14 Abs. 4 BayWNatPVO der Prozess der natürlichen Walderneuerung ungestört ablaufen. Diese Regelung hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof für mit der bayerischen Verfassung für vereinbar und das Restrisiko der Ausbreitung des Schädlingsbefalls für private Waldeigentümer für zumutbar gehalten. 84 Außerhalb der Naturzone ist die Entwicklung von Fichtenmonokulturen zu naturnahen Beständen durch Pflanzmaßnahmen zu unterstützen (§ 13 Abs. 1 S. 2 BayWNatPVO). Obwohl der strenge Prozessschutz für die für den Nationalpark typischen Waldflächen dadurch entscheidend modifiziert worden ist, scheint die Wildnisentwicklung durch ein weitgehend günstiges Rechtsregime gesichert.
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Biosphärenreservates Berchtesgaden. Er ist der einzige im Hochgebirge gelegene Nationalpark Deutschlands. Das Nationalparkgebiet ist durch forst- und almwirtschaftliche Nutzungen sowie touristische Aktivitäten, insbesondere um Königssee und Watzmann, vorgeprägt. Zweck des Nationalparks ist es nach § 6 Abs. 1 NPBGVO, die gesamte Natur zu schützen, die natürlichen und naturnahen Lebensgemeinschaften zu erhalten und, soweit dies bei Wahrung der Eigentumsrechte und bei Erhaltung der Schutzfunktion möglich ist, einer naturnahen Entwicklung zuzuführen sowie das Gebiet der Bevölkerung zu Bildungs- und Erholungszwecken zu erschließen. Obwohl eine wirtschaftliche Nutzung nicht bezweckt wird (§ 6 Abs. 2 NPBG-VO), ist damit das Ziel der Gewährleistung des Prozessschutzes nicht stringent ausgestaltet, sondern den Nutzungsansprüchen des privaten Eigentums und der öffentlichen Sicherheit nachgeordnet. Nach § 13 NPBG-VO ist ein Nationalparkplan zu erarbeiten. Danach gliedert sich der Nationalpark in eine 139 km 2 umfassende Kern- und eine 69 km 2 große Pflegezone. Es ist nach § 9 Abs. 1 NPBG-VO verboten, Bodenbestandteile abzubauen, Ufer und Wasserflächen zu verändern, Pflanzen einzubringen und Tiere auszusetzen oder sie zu stören sowie Pflanzenbehandlungsmittel und sonstige Chemikalien auszubringen. § 9 Abs. 2 NPBG-VO untersagt, Pflanzen zu entnehmen und freilebenden Tieren nachzustellen. Desgleichen ist es verboten, Bau- und Erschließungsmaßnahmen sowie Nutzungsänderungen vorzunehmen für bauliche Anlagen und Gebäudesanierungen außer zu den nach § 10 NPBG-VO zulässigen land- und forstwirtschaftlichen Zwecken, öffentliche Unterkunftshütten anders als bisher zu verwenden, Wege, Straßen und Skiabfahrten anzulegen, Seilbahnen einschließlich Schleppaufzügen sowie Drahtleitungen zu errichten (§ 9 Abs. 3 NPBG-VO). Verboten ist es nach § 9 Abs. 4 NPBGVO schließlich auch, Gewässer mit Schwimmkörpern zu befahren und organisierte Tauchübungen durchzuführen, mit Kraftfahrzeugen außerhalb der dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Straßen zu fahren, zu zelten oder Feuer zu machen, zu lärmen, Gelände und Gewässer zu verunreinigen, Hunde frei laufen zu lassen sowie Bergläufe und Skiwettkämpfe zu veranstalten. Von den Verboten unberührt bleiben nach § 10 NPBG-VO die rechtstitelmäßige Ausübung der Forstrechte einschließlich der Lichtweide- und Waldweiderechte, die Verwendung von Mineraldünger und Herbiziden auf Almflächen sowie die Regulation der Wild- und Fischbestände durch die Nationalparkverwaltung. Dies gilt nach § 11 NPBG-VO auch für unaufschiebbare Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben von Menschen sowie für erhebliche Sachwerte, Maßnahmen der Nationalparkverwaltung nach § 6 NPBG-VO zur Gewährleistung des Schutzzwecks, die Wiedereinsetzung von Tierarten mit Ausnahme von Raubwild, das den Menschen gefährden kann, den Einsatz von Elektrobooten auf dem Königsee, das Ausgraben von Meisterwurz- und Enzianwurzeln, das bei Bergtouren unvermeidliche Biwakieren sowie die wirtschaftliche Nutzung im bisherigen Umfang, soweit dies den Zwecken des Nationalparks nicht widerspricht. Damit bleiben die hergebrachten Nutzungen im Wesentlichen unangetastet. Eine ungestörte Naturentwicklung ist nur in deren Rahmen möglich. 3.3 Nationalpark Sächsische Schweiz
3.2 Nationalpark Berchtesgaden
Der Nationalpark Sächsische Schweiz wurde 1990 ausgewiesen. 86 Er umfasst eine Fläche von 9350 Hektar. Sie ist
Der Nationalpark Berchtesgaden wurde 1978 gegründet. 85 Er umfasst eine Fläche von 20 800 Hektar und ist zugleich Schutzgebiet im Sinne der Vogelschutz-Richtlinie der EU sowie Teil des 1990 ausgewiesenen 46 700 Hektar großen
84) BayVerfGH, Urt. vom 4. 3. 2009 – 11-VII-08, VGHE 62, 30, NuR 2009, 431. 85) GVBl. 1987, S. 63 ff. 86) GVBl. 2003, S. 663 ff.
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räumlich in zwei Teile untergliedert, dem 2950 Hektar großen Gebiet der „Vorderen Sächsischen Schweiz“ und der 6400 Hektar umfassenden „Hinteren Sächsischen Schweiz“. Der Nationalpark ist zugleich FFH- und Vogelschutzgebiet. Er wird von einem 28 750 Hektar großen Landschaftsschutzgebiet umgeben und bildet mit ihm die Nationalparkregion Sächsische Schweiz. 93 % des Nationalparks bestehen aus Wald- und bizarren Felsbereichen, die restlichen sind Offenland. Das Nationalparkgebiet „Vordere Sächsische Schweiz“ ist stark mit der Kulturlandschaft verzahnt. Seit 200 Jahren wird das Gebiet des Nationalparks intensiv forstwirtschaftlich und touristisch genutzt. Es besteht ein dichtes Wegenetz von 625 km und eine entwickelte touristische Infrastruktur, die von 2,5 Mio. Besuchern im Jahr genutzt wird. Die Felsen des Elbsandsteingebirges sind durch 15 000 Kletterrouten erschlossen. Der Nationalpark Sächsische Schweiz steht zu 87 % im Eigentum des Freistaates Sachsen, 2 % gehören Körperschaften des Öffentlichen Rechts, 11 % sind privates Eigentum. Der Nationalpark dient nach § 3 Abs. 2 NLPR-VO den Zwecken, die Eigenart, Schönheit und naturräumliche Vielfalt von Ausschnitten des Elbsandsteingebirges … in naturnahem Zustand zu erhalten oder wiederherzustellen, ein von menschlichen Eingriffen weitgehend ungestörtes Wirken der Naturprozesse wie Verwitterung, Bodenentwicklung, Wasserhaushalt oder Fließgewässerentwicklung und Dynamik der Lebensgemeinschaften, insbesondere Waldentwicklung in Richtung vollständiger Mosaike der Entwicklungsstadien standortheimischer Wälder, auf möglichst großer Fläche nachhaltig zu sichern, offene Felsbildungen vor Beeinträchtigungen und Störungen zu schützen und die von Natur aus heimischen, wildlebenden Pflanzen- und Tierarten … zu erhalten und zu entwickeln sowie ursprünglich heimischen Pflanzen- und Tierarten, deren Vorkommen erloschen sind, eine artgerechte Wiederansiedelung zu ermöglichen. Daneben sind nach § 3 Abs. 3 NLPR-VO das Naturerlebnis der Bevölkerung und die naturkundliche Bildung zu fördern, die ungestörte Dynamik der Ökosysteme wissenschaftlich zu beobachten sowie landeskundlich besonders wertvolle Flächen und Denkmale wie Felsenburgen, Floßanlagen, Grenz- und Gedenksteine exemplarisch in ihrer typischen Ausprägung zu erhalten. Das Schutzregime erkennt damit die Dokumente historisch überkommener Nutzungen ausdrücklich an. Nach § 3 Abs. 4 NLPR-VO wird keine wirtschaftliche Nutzung von Naturgütern wie Holz, Wasser, Steinen und Erden bezweckt. Den historisch gewachsenen Nutzungen und Interessen der Wanderer, Bergsteiger und des Tourismus ist jedoch im Rahmen des Schutzregimes bei allen Maßnahmen und Planungen angemessen Rechnung zu tragen (§ 4 Abs. 2 NLPR-VO). Dies öffnet das Schutzregime im erheblichen Umfang für Kompromisse mit den Anforderungen des modernen Tourismus, soweit sie den Zielen des Naturschutzes nicht explizit widersprechen. Der zweigeteilte Nationalpark gliedert sich in drei Schutzzonen. In der Naturzone A, die 57 % des Gebiets ausmacht, ist der Schutz der Dynamik der Lebensräume und -gemeinschaften grundsätzlich zu gewährleisten. Dort soll sich die Natur weitestgehend ungelenkt und ungenutzt entwickeln können (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 NLPR-VO). In der Naturzone B sollen Flächen durch gezielte Maßnahmen so entwickelt werden, dass sie der ungestörten Entwicklung überlassen werden können (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 NLPR-VO). Das Ziel, dass der Prozessschutz auf 75 % der Fläche gewährleistet ist, soll bis 2030 erreicht werden – 40 Jahre nach Gründung des Nationalparks. Die Prozessschutzflächen sind dabei in viele Teilflächen mit einem Umfang von 60 bis 1600 Hektar zergliedert. Infolge des hohen Bestandes an Forststraßen, Wanderwegen, Bergpfaden und Zugangswegen zu Kletterfelsen weisen sie zudem einen hohen Zerschneidungsgrad auf. Die Pflegezone umfasst die im Nationalpark liegenden Kulturlandschafts- und Erholungsbereiche sowie bebaute Grundstücke, die ganzjährig bewohnt oder bewirtschaftet wer-
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den. Sie dient der Minimierung von Störeinflüssen auf die Naturzonen A und B. Sie soll nicht der natürlichen Entwicklung überlassen werden (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 NLPR-VO). In der besonders zu kennzeichnenden Kernzone ist zum Schutz der Natur eine besondere Besucherlenkung vorgesehen (§ 5 Abs. 3 NLPR-VO). Rahmenvorgaben zum Schutz, zur Pflege und Entwicklung werden im Nationalparkprogramm dargestellt (§ 14 NLPR-VO). Auf dieser Grundlage ist eine konkretisierte Pflege- und Entwicklungsplanung zu erstellen. Auf Grund des Bestandsschutzes für die verdichteten Strukturen sozialer Nutzung wird damit der Nationalpark als ein durch vielfältige nutzungshöffige Pflegezonen perforiertes Konstrukt aus insulären Naturzonen konzipiert. Im Nationalpark sind alle Handlungen verboten, die zu einer Zerstörung, Beschädigung, nachteiligen Veränderung des Schutzgebiets oder seiner Bestandteile oder zu einer sonstigen erheblichen Störung führen (§ 6 Abs. 1 NLPRVO). Dies gilt nach § 6 Abs. 2 NLPR-VO insbesondere für die Errichtung von baulichen Anlagen und in den Naturzonen A und B auch für deren Änderung. Das Gleiche gilt für die Anlage von Straßen, sonstigen Verkehrsanlagen sowie Leitungen. Verboten ist es weiter, Handlungen vorzunehmen, die den Boden, offene Felsbildungen und Gewässer verunreinigen oder in ihrer Gestalt, Struktur oder Beschaffenheit verändern, Ablagerungen einzubringen, neue Wasserkraftanlagen zu errichten, Pflanzen einzubringen oder zu entnehmen, Tiere auszusetzen, die Ruhe der Natur zu stören, außerhalb eingefriedeter Grundstücke Feuer anzuzünden oder Gewässer für Freizeitzwecke zu nutzen, außerhalb zugelassener Straßen mit motorgetriebenen Fahrzeugen zu fahren, die Kernzone außerhalb gekennzeichneter Wege zu betreten oder dort zu lagern sowie organisierte Veranstaltungen durchzuführen. Zulässig ist die Behandlung des Offenlandes im Rahmen der ordnungsgemäßen Landwirtschaft nach den Grundsätzen der guten fachlichen Praxis in der Pflegezone sowie in Hausgärten (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 NLPR-VO). Entsprechendes gilt für forstwirtschaftliche, jagdliche und fischereiwirtschaftliche Maßnahmen, soweit sie im Rahmen des Pflegeund Entwicklungsplanes erfolgen (§ 8 Abs. 1 Nr. 4, 5 u. 6 NLPR-VO), die bisher rechtmäßig ausgeübte Nutzung der Grundstücke, Gewässer, Straßen und Eisenbahnstrecken, der Versorgungs- und Entsorgungsleitungen (§ 8 Abs. 1 Nr. 8 NLPR-VO) sowie das Aufsuchen der im Rahmen der Pflege- und Entwicklungsplanung zugelassenen Klettergipfel (§ 8 Abs. 1 Nr. 10 NLPR-VO). Die Verbote der §§ 6 und 7 gelten im Weiteren nicht für Maßnahmen der Naturschutz- und Umweltbehörden (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 u. 2 NLPR-VO), unaufschiebbare Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben von Menschen sowie zum Schutz erheblicher Sachwerte und von Tieren (§ 8 Abs. 1 Nr. 18 NLPR-VO) sowie für Maßnahmen des Bundesgrenzschutzes, der Zollverwaltung, der Polizei und Feuerwehr im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse (§ 8 Abs. 1 Nr. 19 NLPR-VO). Im Schutzregime des Nationalparks findet zwar der Gedanke des Prozessschutzes Berücksichtigung, er ist jedoch gleichzeitig auf Kompromisse mit hergebrachten Nutzungen und den Anforderungen des Tourismus programmiert. Es erscheint offenkundig, dass die relativ geringe Größe des Gebiets, seine Zweiteilung und die Dichte der zulässigen Nutzungen eine störungsfreie Wildnisentwicklung im Sinne eines ambitionierten Naturschutzes nicht zulassen werden. 3.4 Nationalpark Hainich Der Nationalpark Hainich wurde 1997 auf Flächen gegründet, die vorher zum Teil als Truppenübungsplatz genutzt wurden. 87 Er umfasst eine Fläche von 7500 Hektar 87) GVBl. 1997, S. 546 ff.
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und wird durch Buchenwälder geprägt, die den größten zusammenhängenden Laubwaldbestand Deutschlands darstellen. Seit 2011 zählt er zum UNESCO-Weltnaturerbe. Nach § 3 Abs. 1 ThürNPHG liegt der Schutzweck des Nationalparks darin, das Gebiet von menschlichen Einflüssen weitgehend freizuhalten, um die Laubmischwälder in ihrer natürlichen Dynamik zu erhalten. Der weitgehend ungestörte Ablauf der Naturprozesse sowie die Erhaltung und Regeneration naturnaher Waldbestände soll gesichert werden. Im Weiteren soll der Nationalpark auch der naturnahen Erholung, der Entwicklung des Fremdenverkehrs, der Umweltbildung und der Forschung dienen. § 3 Abs. 2 ThürNPHG unterstreicht nochmals, dass der Nationalpark insbesondere der Entwicklung und Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der im Umfeld lebenden Menschen sowie der örtlichen gewerblichen Wirtschaft sowie des Fremdenverkehrs dienen und dazu beitragen soll, die Bewirtschaftung der Naturwaldreservate in der bisherigen Form zu erhalten. Damit wird dem Prozessschutz programmatisch im Vergleich zu den menschlichen Nutzungsansprüchen ein gleichwertiger Rang zugemessen. Nach § 7 ThürNPHG ist zur Umsetzung der Schutz-, Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen ein Pflege- und Entwicklungsplan aufzustellen. Das Gebiet wird in zwei Schutzzonen gegliedert (§ 4 Abs. 1 ThürNPHG). In der 1400 Hektar umfassenden Schutzzone 1 ist nach § 5 Nr. 1 ThürNPHG zu gewährleisten, dass die ungestörte natürliche Entwicklung sichergestellt, alle unmittelbaren menschlichen Einwirkungen vermieden sowie mittelbare menschliche Beeinflussungen so weit als möglich vermindert werden. In der Schutzzone 2 ist zu gewährleisten, dass die biotoptypische Vielfalt von Flora und Fauna auf der Grundlage des Pflege- und Entwicklungsplanes erhalten oder wiederhergestellt wird und sich die Art der Nutzung an den Ansprüchen der im Gebiet zu fördernden Tier- und Pflanzenwelt ausrichtet (§ 5 Nr. 2 ThürNPHG). Soweit die Wälder nicht der natürlichen Entwicklung überlassen bleiben, ist nach § 5 Nr. 3 ThürNPHG zu gewährleisten, dass sie durch eine entsprechende Bewirtschaftung erhalten bleiben. Zur Gewährleistung der ungestörten Entwicklung von Flora und Fauna sollen Maßnahmen der Verkehrsund Besucherlenkung erreichen, dass jeder Verkehr außerhalb der dafür bestimmten Flächen unterbleibt (§ 5 Nr. 4 ThürNPHG). Wesentlich deutlicher als § 3 akzentuiert damit § 5 ThürNPHG das Prinzip des Prozessschutzes. Diesem wird jedoch lediglich in der mit 1400 Hektar relativ kleinen Schutzzone 1 dezidiert Raum gegeben. Nach § 8 Abs. 1 ThürNPHG sind im Nationalpark alle Handlungen verboten, die das Gebiet, seinen Naturhaushalt oder einzelne Bestandteile zerstören, beschädigen, verändern oder nachhaltig stören können. Nach § 8 Abs. 2 ThürNPHG ist es insbesondere verboten, Bergbau zu betreiben und Bodenbestandteile abzubauen, oberirdische Gewässer auszubauen, Chemikalien und Düngemittel auszubringen, Laubwald in Nadelwald umzuwandeln oder Grünland aufzuforsten, Lebensbereiche der Pflanzen und Tiere zu stören, wildlebende Pflanzen abzuschneiden und wildlebenden Tieren nachzustellen, Tiere auszusetzen und Pflanzen anzusiedeln, bauliche Anlagen zu errichten, Schienenwege oder Straßen zu bauen, oberirdische Leitungen zu verlegen, außerhalb der gekennzeichneten Wege mit Kraftfahrzeugen zu fahren oder zu parken, sportliche Wettbewerbe zu veranstalten, zu zelten, unbefugt Feuer zu machen, Abfälle zu lagern und Hunde freilaufen zu lassen. In der Schutzzone 1 ist darüber hinaus jede Nutzung oder andere menschliche Einflussnahme, insbesondere durch Eingriffe in Natur und Landschaft, Bewirtschaftungs- und Pflegemaßnahmen untersagt, soweit sich nicht aus dem Pflege- und Entwicklungsplan etwas anderes ergibt (§ 8 Abs. 3 ThürNPHG). Zulässig sind nach § 10 ThürNPHG die notwendigen Maßnahmen des Katastrophenschutzes zum Schutz der Be-
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völkerung und zur Abwehr von gegenwärtigen Gefahren für Leib und Leben von Menschen sowie für Sachen von erheblichem Wert, Maßnahmen der Nationalparkverwaltung zur Erfüllung des Schutzzwecks, die notwendigen Arbeiten zur Unterhaltung bestehender Straßen und Wege, von Anlagen der Ver- und Entsorgung, von Gewässern sowie zur Betreibung von Telekommunikationsnetzen, zur Schaffung und Erhaltung der touristischen Infrastruktur, der Verkauf von Gegenständen des touristischen Bedarfs an genehmigten Standplätzen, Gewässerbenutzungen im Rahmen wasserrechtlicher Zulassungen und Düngemaßnahmen im Rahmen der Weidewirtschaft. Außerhalb des Waldes ist in der Schutzzone 2 nach § 13 ThürNPHG die ordnungsgemäße Weidewirtschaft im Rahmen der Nutzungsverträge zulässig, die am 1. Mai 1997 wirksam bestanden. Sie soll zur Verwirklichung des Schutzwecks reduziert werden. Die Bewirtschaftung des Waldes in der Schutzzone 2 hat dem Schutzzweck nach § 3 und den Anforderungen des § 5 ThürNPHG zu entsprechen (§ 14 ThürNPHG). Die ordnungsgemäße Ausübung der Jagd ist nach § 15 ThürNPHG zulässig. Nutzungsbeschränkungen sind nach Maßgabe der §§ 48 bis 52 ThürNatSchG zu entschädigen. Das Land soll Eigentum an der gesamten Fläche des Nationalparks erwerben (§ 17 ThürNPHG). Daraus wird deutlich, dass der vom Schutzregime eröffnete Prozessschutz sich auf die natürliche Entwicklung der Buchenwaldbestände fokussiert, während andere soziale Nutzungen im Wesentlichen unberührt gelassen werden. 3.5 Nationalpark niedersächsisches Wattenmeer Das im Wirkungsbereich der Gezeiten liegende Wattenmeer der Nordsee erstreckt sich über 450 km Länge und bis zu 50 km Breite von Dänemark im Norden bis zu den Niederlanden im Südwesten. Es umfasst 9000 km 2. Das Wattenmeer ist zwar neben den Hochalpen die letzte weitgehend naturbelassene Großlandschaft in Europa, wird jedoch zugleich durch intensive menschliche Nutzungen wie Schifffahrt, Fischerei, Tourismus und Eindeichungen geprägt. Der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer besteht seit 1986. 88 Er umfasst mit einer Größe von 345 800 Hektar das Gebiet zwischen dem Dollart im Westen und der Elbe im Osten unter Einschluss der Ostfriesischen Inseln. Er wurde 1992 als UNESCO-Biosphärenreservat anerkannt und ist zugleich als Vogelschutzgebiet und FFH-Gebiet im Rahmen des Natura 2000-Konzepts geschützt. Zusammen mit dem Nationalparken Hamburgisches Wattenmeer, Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und dem niederländischen Wattenmeer gehört er seit 2009 zum UNESCO-Weltnaturerbe. Nach § 2 Abs. 1 S. 1 NWattNPG soll im Nationalpark die besondere Eigenart von Natur und Landschaft der Wattregion erhalten bleiben und vor Beeinträchtigungen geschützt werden. Der Prozessschutz wird in Satz 2, wonach die natürlichen Abläufe in diesen Lebensräumen fortbestehen sollen, nur zurückhaltend angesprochen. Der Nationalpark gliedert sich nach § 5 NWattNPG in drei Schutzzonen mit unterschiedlichen Schutzregimes. Die Ruhezone macht 68,5 % der Fläche aus. Verboten sind dort alle Handlungen, die den Nationalpark oder einzelne seiner Bestandteile zerstören, beschädigen oder verändern (§ 6 Abs. 1 S. 1 NWattNPG). Nach § 6 Abs. 2 NWattNPG ist es verboten, die Ruhe der Natur durch Lärm oder auf andere Weise zu stören, wildlebende Tiere zu stören, Hunde unangeleint laufen zu lassen, auf anderen als den dafür festgelegten Plätzen Feuer anzuzünden und Drachen oder andere Kleinflugkörper zu starten. Weitere Verbote von menschlichen Vorhaben, etwa das Errichten von baulichen Anlagen, wie sie andere Nationalparkregimes kennen, sind nicht explizit 88) GVBl. 2001, S. 443 ff.
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formuliert. Stattdessen erlaubt Anlage 1 für einzelne, genau bestimmte Örtlichkeiten besondere Maßnahmen und Handlungen. So etwa das Betreiben einer Förderplattform, das Sammeln von Speisepilzen und Beeren oder das Schlittschuhlaufen. Im Weiteren ist nach § 7 NWattNPG zulässig die ordnungsgemäße landwirtschaftliche Bodennutzung auf den von einem Hauptdeich, Sommerdeich oder Schutzdünen geschützten Flächen einschließlich der Instandhaltung und Erneuerung der zugehörigen Anlagen mit Ausnahme der Planierung von Flächen, der Umwandlung von Grünland und der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Auf nicht durch Eindeichung geschützten Flächen ist die ordnungsgemäße landwirtschaftliche Bodennutzung in der bisherigen Art und Umfang zulässig (§ 7 Abs. 2 NWattNPG). In der Ruhezone ist auch die Ausübung der Jagd zulässig (§ 8 NWattNPG). Dort ist nach § 9 NWattNPG auch die Ausübung der berufsmäßigen Fischerei bis auf einige genau bezeichnete Flächen erlaubt. Die Ruhezone darf zur Ausübung dieser Nutzungen und zum Wandern nur auf dafür bestimmten Wegen betreten, öffentliche Straßen dürfen benutzt werden (§ 11 NWattNPG). Hergebrachte Nutzungen werden damit von der Landwirtschaft und Fischerei bis zum Betrieb einer Förderplattform auch in der Ruhezone des Nationalparks toleriert. Die Zwischenzone umfasst 31 % der Fläche. Hier gelten die Verbote des § 6 NWattNPG entsprechend (§ 12 NWattNPG). Soweit es der Schutzzweck erlaubt, sind jedoch zulässig die Entnahme von Sand oder Bodenmaterial, um Einrichtungen des Küstenschutzes oder Strände zu unterhalten, die in der Erholungszone oder auf den Ostfriesischen Inseln liegen. Unter den gleichen Voraussetzungen können nach § 12 Abs. 2 NWattNPG im Einzelfall zugelassen werden Maßnahmen, die zur Beschädigung der Pflanzendecke führen, das Aufstellen von Verkaufseinrichtungen, von Zelten und Strandkörben sowie das Anbringen von Werbeeinrichtungen. Die Zwischenzone darf auf ausgewiesenen Wegen ganzjährig betreten werden (§ 14 NWattNPG). Die Erholungszone umfasst 0,5 % der Fläche. Sie ist für Aktivitäten, die der Erholung dienen, freigegeben (§ 15 NWattNPG). Es ist allerdings dort verboten, Campingzelte oder Wohnwagen aufzustellen, lärmintensive Veranstaltungen durchzuführen, den Strand mit motorisierten Fahrzeugen zu befahren und bauliche Anlagen zu errichten. Die Siedlungsbereiche und die Flächen der gebauten Infrastruktur der bewohnten Inseln sind von den Regelungen des Nationalparks ausgenommen. Die Verbote des NWattNPG gelten nach § 16 nicht für die der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienenden Maßnahmen der Nationalparkverwaltung, zum Einsammeln von Abfällen, der Wasserwirtschaftsverwaltung mit Ausnahme des Neubaus von Deichen, der Fischerei- und Jagdverwaltung, der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, Erhaltungsmaßnahmen der Träger der Deicherhaltung, Unterhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten in bestehenden Hafenzufahrten, für bestehende Straßen und Wege, an bestehenden Sommerdeichen und im Deichvorland, an Leitungen der Ver- und Entsorgung, an den Einrichtungen des Post- und Fernmeldewesens, an bestehenden Bahn- und Luftverkehrseinrichtungen sowie an bestehenden Wassergewinnungs- und -versorgungseinrichtungen sowie zur Nutzung und Unterhaltung vorhandener genehmigter baulicher Anlagen. Das Schutzregime der Nationalparks ermöglicht damit auch die Unterhaltung von Deichen und Schifffahrtswegen sowie der Infrastruktur. Die natürliche Entwicklung ist damit nur dort eröffnet, wo sich keine zugelassenen menschlichen Nutzungen befinden. 4. Synthese: Eröffnung von Wildnisentwicklung und Bestandsschutz für soziale Nutzungen Das Zulassen von natürlicher Entwicklung durch den Menschen ist kein Naturprädikat. Es gibt keine natur-
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wissenschaftlichen Kriterien, wieviel Wildnis zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen erforderlich ist. Das Verständnis von Wildnis ist daher nicht zeit- und Raum übergreifend. Die Entscheidung, dass auf bestimmten Flächen wieder „Natur Natur sein“ darf, ist eine menschliche Kulturleistung, die den universellen Wert der Natur anerkennt. 89 Sie unterliegt gesellschaftlichen Wandlungen und gewinnt mit dem Ausmaß an Gewicht, in dem die Notwendigkeit zur allumfassenden Nutzung des Bodens als Quelle von gesellschaftlich nutzbaren Ressourcen schwindet. Eben deshalb bleibt jedoch die Umstellung der Nutzung der natürlichen Ressourcen auf Nachhaltigkeit die basale Aufgabe des Schutzes der natürlichen Lebens grundlagen. Zur Ermöglichung von Wildnis bedarf es ökologisch in Bezug auf Größe, Entwicklungspotenzial und konkurrierende Nutzungen geeigneter Flächen. Ein solches Gebiet muss in einen flankierenden rechtlichen Rahmen eingebettet sein, der Art und Umfang des Schutzes definiert. Dazu gehört insbesondere der Ausschluss menschlicher Nutzungen und von Infrastrukturen. Die untersuchten Nationalparke legen den Schluss nahe, dass sie zwar von ihrer Flächengröße her als geeignet für die Entwicklung von Wildnisgebieten betrachtet werden können, aber diese mit großzügigen Zeithorizonten ausgestattet ist, bis wann der von der IUCN angestrebte Zustand eines Anteils von 75 % vom Menschen unbeeinflusster Wildnisfläche erreicht sein soll. Damit rückt auch das 2 %-Ziel, das die Bundesregierung in ihrer Biodiversitätsstrategie verkündet hat, in weite Ferne. Nicht überall wird dem Gedanken des Prozessschutzes so dezidiert Rechnung getragen wie in § 3 Abs. 1 u. 2 BayWNPVO. Häufig werden die Qualitätsmerkmale der Unzerschnittenheit und der Freiheit von sozialen Nutzungen nicht stringent gewährleistet. Dazu müssten insbesondere bestehende Nutzungen beseitigt werden. Dagegen steht vielfach der aus Art. 14 GG resultierende Bestandsschutz. Damit beschränkt sich die Realität des Prozessschutzes auf Flächen, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen. Die Analyse des Rechtsregimes der Nationalparks konfrontiert die Leitidee einer von menschlichen Einwirkungen freien Entwicklung der Natur mit der Tatsache, dass auch Gebiete, in denen die Kultivierung der Natur nur zurückhaltend erfolgt ist, durch markante Spuren menschlicher Nutzungen geprägt sind. Nach Maßgabe der Unterschutzstellungsverordnungen sollen sie nicht aufgegeben oder zurückgebaut, sondern können in der Regel weiter genutzt und unterhalten werden. Die ordnungsgemäße Landwirtschaft darf regelmäßig im vor der Unterschutzstellung bestehenden Rahmen weiter betrieben werden. Entsprechendes gilt für die Ausübung der Jagd und des Fischfanges im Wattenmeer und die Bewirtschaftung der im privaten Eigentum stehenden Wälder. Den Bedürfnissen des Tourismus wird überall so weit wie möglich entgegengekommen. Ausgeschlossen werden nur solche Nutzungen, die, wie die Anlage von Skipisten, mit massiven Eingriffen in die Landschaft verbunden sind. Die Nationalparkverordnungen statuieren statt eines strikten Rückbaugebotes ein Veränderungsgebot. Überall werden nicht nur massive Eingriffe durch die Neuanlage baulicher Anlagen oder Bergbau und Bodenabbau ausgeschlossen, sondern es werden auch störende menschliche Verhaltensweisen wie das unangeleinte Laufenlassen von Hunden, das Entfachen von Feuer, das freie Campieren oder das Verursachen von Lärm untersagt. Die auf den Erhalt des Status quo gerichtete Verbotskulisse der Nationalparkverordnungen gleicht damit der von Naturschutz89) Pekny/Leditznig, Das Wildnisgebiet Dürrenstein – das derzeit einzige IUCN-Kategorie-I-Schutzgebiet in Österreich, NuL 2015, 235, 237.
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gebieten. Dies entspricht zwar dem Regelungsansatz des § 24 Abs. 3 BNatSchG, trägt jedoch dem Gedanken des Prozessschutzes nur insoweit Rechnung als sich Natur im Rahmen hergebrachter Nutzungen entfalten kann. Eine ungestörte Wildnisentwicklung ist somit nur in den davon freien Parzellen möglich. Dies mag den Anforderungen der Kategorie II der IUNC zu den Nationalparken noch genügen, denen der Kategorie Ib zu den Wildnisgebieten wird das Rechtsregime für die deutschen Nationalparke jedoch nicht hinreichend gerecht. Der Prozessschutz verlangt ein flankierendes Managementkonzept. Die meisten Nationalparkverordnungen sehen einschlägige Maßnahmen zur Gebietsentwicklung, wie etwa die Wiederansiedelung von Tieren und Pflanzen, die Entnahme nicht standortgerechter Pflanzen oder die Wildbestandsregulierung, vor. Dies widerspricht zwar der reinen Lehre zur Wildnisentwicklung, trägt aber der Einsicht Rechnung, dass in einer durch menschliche Einwirkungen überprägten Natur, eine Wildnisentwicklung häufig durch menschliche Initialleistungen gefördert werden muss. Freigesetzte natürliche Entwicklungen können unvorhergesehene ökologische und gesellschaftliche Folgen haben. Auch dies wirft die Frage nach der Reichweite des Prozessschutzes auf. Ungeplante und unvorhergesehene ökologische Folgen sind dabei grundsätzlich ohne mensch-
Schrader, Drohnen und Naturschutz(recht)
liche Interventionen hinzunehmen. Wenn § 14 Abs. 3 BayWNPVO und andere Nationalparkverordnungen die Bekämpfung des Borkenkäfers zulassen, liegt darin keine Ausnahme vom Prinzip des Prozessschutzes, sondern die Bestätigung, dass die Abwehr von Entwicklungen mit problematischen Folgen für die Gesellschaft dem Gedanken des Prozessschutzes nicht widerspricht. Sie schafft vielmehr erst die Voraussetzungen, dass sich Natur ungestört in einem Umfeld intensiver sozialer Nutzungen entwickeln kann. Der Prozessschutz muss daher durch Bedingungen für Interventionen im Falle riskanter Nebenwirkungen auf hochrangige soziale Rechtsgüter flankiert werden. Sie sind in allen Unterschutzstellungsverordnungen zugelassen. Das Rechtsregime der Nationalparke ist eine Kontribution der Leitidee der Wildnisentwicklung an die naturräumliche und gesellschaftliche Realität. Wildnisentwicklung wird nicht offensiv durch Gebote zum Rückbau bestehender Nutzungen betrieben, sondern adaptiv durch Förderung von Wildnis innerhalb geduldeter Nutzungen. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Tourismus zu. Für alle Nationalparks bestätigt sich der Eindruck, dass die touristische Attraktivität des Gebiets von den zuständigen Verwaltungen als das dominante Lebenselixier der Nationalparke begriffen wird. Sie werden so zu Wildnis erlebnisparks.
Drohnen und Naturschutz(recht) Christian Schrader
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Drohnen werden durch Anzahl und Anwendungsbreite zu einem Massenphänomen, das den Naturschutz negativ wie positiv berühren kann. Das Luftverkehrsrecht bezieht seit 2017 verstärkt Naturschutzaspekte des Drohnenbetriebs ein. Das Naturschutzrecht geht nur in Schutzgebietsvorschriften vielfältig auf Drohnen ein. Es bedarf der Ergänzung um drohnenbezogene Standards und Konventionen, insbesondere um den Vollzug des Naturschutzrechts zu unterstützen. In einigen Anwendungen können Drohnen die Naturschutzaufgaben unterstützen. 1. Begriff und Stand der Drohnennutzung Dieser Beitrag verwendet für unbemannte Fluggeräte den umgangssprachlichen Begriff Drohnen. Die Fach- und Rechtssprache enthält verschiedene andere Begriffe. 1 Das Luftverkehrsrecht der EU spricht in der englischen Fassung von Unmanned Aircraft, auf deutsch von unbemannten Luftfahrzeugen. Das deutsche Luftverkehrsrecht trifft eine zentrale Unterscheidung nach dem Verwendungszweck einer Drohne. Flugmodelle werden zum Zweck des Sports oder der Freizeitgestaltung eingesetzt, § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 9 LuftVG. Werden Drohnen zu einem sonstigen Zweck betrieben, etwa für gewerbliche Bildaufnahmen mit dem Zweck des Verkaufs, sind es unbemannte Luftfahrtsysteme, § 1 Abs. 2 S. 3 LuftVG. Zivile 2 Drohnen werden gewerblich vor allem für Luftbildaufnahmen, in der Infrastrukturüberwachung oder Prof. Dr. jur. Christian Schrader, Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland
in der Land- und Forstwirtschaft 3 eingesetzt. Im Testbetrieb ist die Bereitstellung von Internetzugang 4 und der Transport von Waren. 5 Für Private gibt es günstige Modelle, die ohne Vorkenntnis nutzbar sind. Insbesondere die Nutzer außerhalb eines Modellflugvereins verursachen Risiken im Luftraum sowie für Dritte am Boden. In Deutschland sind derzeit 400 000 Drohnen im Gebrauch. 6 Für Europa werden bis 2050 etwa 150 000 Arbeitsplätze vorhergesagt. 7 1) Überblick bei Kornmeiner, Der Einsatz von Drohnen zur Bildaufnahme, 2012, 9 ff. 2) Zur militärischen Drohnennutzung siehe BVerwG, Urt. v. 5. 4. 2016 – 1 C 3/15, NVwZ 2016, 1176. 3) Beispiele sind die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln in Weinbausteillagen sowie die Bekämpfung des Eichenprozessionsspinners, BR-Drs. 337/15, S. 75, ansonsten „ungemein vielseitig“, Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft; Das Wissen kommt von oben: Drohnen und Fernerkundung für die Landwirtschaft, Pressemitteilung vom 15. 4. 2014. 4) www.spiegel.de/netzwelt/gadgets/aquila-facebooks-internetdrohne-absolviert-ersten-testflug-a-1104281.html (25. 11. 2016). 5) Brahms/Maslaton, NVwZ 2016, 1125, 1126; COM (2014) 207, S. 2; FAA, Aerospace Forecast, Fiscal years 2016–2036, www.faa.gov/ data_research/aviation/aerospace_forecasts/media/FY2016-36_ FAA_Aerospace_Forecast.pdf, 33 (11. 7. 2016). Näherrückende Fantasie ist der Transport von Personen: o. V., Selbstfliegende Taxis, taz.de/Autonome-Fluggeraete/!5332394/(2. 9. 2016). 6) Deutsche Flugsicherung fordert Registrierung von Drohnen, www.aerointernational.de/airlines-nachrichten/deutsche-flugsicherung-fordert-registrierung-von-drohnen.html (18. 8. 2016). 7) COM (2014) 207, S. 4.
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