DIGITALISIERUNG
Zivile Luftfahrtindustrie im Wandel der Digitalisierung
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Kostenreduktion, Produktivitätssteigerung, mehr Flexibilität und Qualität gelten auch in der Luftfahrt als Vorteile der Digitalisierung und Automatisierung. Der VDI-Fachbeirat Luft- und Raumfahrttechnik zeigt, welche Veränderungen entlang des gesamten Produktlebenszyklus eines Flugzeugs durch Luftfahrt 4.0 zu erwarten sind.
Marc Fette, M. Sc. ist Doktorand bei der CTC GmbH in Stade und Mitglied des VDI-Fachbeirats Luft- und Raumfahrttechnik.
HERAUSFORDERUNGEN
Prof. Dr.-Ing. Axel Herrmann ist Geschäftsführer der CTC GmbH in Stade und Vorsitzender des VDI-Fachbeirats Luftund Raumfahrttechnik.
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Die digitale Transformation und die vierte industrielle Revolution stellen auch die Luftfahrtindustrie vor große Herausforderungen. Die Komplexität eines modernen Verkehrsflugzeugs mit einer enormen Zahl an Bauteilen und die tief gestaffelte Wertschöpfungskette, die sich heute bereits auf tausende, internati-
onale Zulieferer verteilt, bilden die Rahmenbedingungen der zivilen Luftfahrt. Gerade in der zivilen Luftfahrt zählt Individualisierung, beispielsweise in den Bereichen der Kabine und Außenlackierung, zu den wesentlichen Marktanforderungen. Die Realisierung individueller Kundenwünsche wird sich künftig, wie in anderen Branchen, zu einer Schlüsselanforderung mit wachsender Bedeu-
tung entwickeln. Das setzt im Gegenzug eine signifikante Steigerung der Anpassungsfähigkeit und Flexibilität entlang der gesamten produktiven Wertschöpfungskette voraus. Globale Megatrends, wie Individualisierung, Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Konnektivität, sind Anforderungen an die aktuelle sowie künftige Entwicklung in der Luftfahrtindustrie. Erste Ansätze des digitalen Wandels und der vernetzten Fabrik befinden sich bereits in der Umsetzung [1]. DIGITALISIERUNG UND AUTOMATISIERUNG
Aufgrund des hohen Potenzials für Kostenreduktion, Produktivitätssteigerung, Flexibilität und Erhöhung der Qualität in der Luftfahrtindustrie werden entlang des gesamten Produktlebenszyklus eines Luftfahrzeugs zahlreiche Aspekte in Hinblick auf Digitalisierung und Automatisierung betrachtet. Flugzeughersteller, Zulieferer, Fluggesellschaften, Instandhaltungsunternehmen, Flughäfen sowie auch Passagiere müssen sich mit den Herausforderungen des digitalen Wandels in der Luftfahrt auseinandersetzen. Gleichzeitig ergeben sich durch die wachsende Digitalisierung zahlreiche Chancen. Die im Luftfahrtbereich tätigen Unternehmen müssen sich stärker miteinander vernetzen und die Automatisierung ihrer Prozesse vorantreiben, um nachhaltig und zukünftig im globalen Markt wettbewerbsfähig zu bleiben [1, 2].
der Leistungsfähigkeit und Kapazitäten von Flughäfen sowie die Erfüllung wachsender Qualitätsstandards sind von zentraler Bedeutung. Mit der Aufrechterhaltung hoher Standards für Flugsicherheit und Gefahrenabwehr kommen weitere Aspekte hinzu, die vor allem durch die Digitalisierung weiter optimiert werden können. Gleichzeitig bedeutet dies die Auseinandersetzung mit den enormen Datenmengen, die auch unter dem Stichwort Big Data bekannt sind. Zusammenfassend verfolgen die laufenden Initiativen der Europäischen Kommission als ein wesentliches Ziel die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Konnektivität in der Luftfahrt [2, 3, 4]. FABRIK DER ZUKUNFT
Die digitale Transformation erleichtert es Unternehmen, gezielt Informationen über ihre Produkte, Dienstleistungen und Prozesse zu sammeln und besser nutzen zu können. Grundvoraussetzungen dafür sind digitale Vernetzung, Automatisierung und Entwicklung sowie Implementierung sogenannter Smart Services. Betrachtet man das Internet of Things (IoT), kann man darunter einen signifikanten Wandel durch automatisierte Steuerungsmechanismen in Produktion und Logistik verstehen, die in Echtzeit und auf Grundlage intelligenter Datenverarbeitungsprozesse ablaufen. Schon heute gehört die zivile Luftfahrt mit ihren
laufenden Vorhaben im Bereich des Industrial Internet of Things (IIoT) und der Industrie 4.0 zu den Vorreitern. Das und die Innovationskraft der Luftfahrtindustrie zeigen sich beispielhaft im Einsatz von Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR), BILD 1, oder Mixed Reality zur Visualisierung von Flugzeuginnenräumen, zur Veranschaulichung sowie zur Durchführung von Analysen von Produktionsumgebungen oder zum Abgleich von realen Komponenten mit den digitalen CAD-Modellen in Echtzeit [1, 4]. Auch neue Technologien, wie die in der zivilen Luftfahrt bereits etablierte und enorme Potenziale versprechende additive Fertigung, revolutionieren diesen industriellen Sektor. Durch additive Fertigungsverfahren können nicht nur eine höhere Funktionsintegration und enorme Leichtbaupotenziale mit gänzlich neuen Gestaltungsmöglichkeiten für Bauteile realisiert werden. Auch Logstik und Warenwirtschaft werden durch die On-Demand-Produktion revolutioniert. Dadurch kann der Weg von einer Waren- zu einer Datenlogistik beschritten werden, da die für die Herstellung von Bauteilen erforderlichen 3-D-Daten, Materialkenndaten und Prozessparameter genau dort verfügbar gemacht werden können, wo sie zur Produktion von Komponenten benötigt werden. Daraus ergeben sich vollkommen neue Geschäftsmodelle im Luftfahrtsektor [5].
INITIATIVEN DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION
Die durch die Europäische Kommission definierten Begriffe „Open and Connected Aviation“ [3] zeigen bereits, wie sich die Interaktionen zwischen Passagier, Flughafen, Fluggesellschaft und Flugzeughersteller künftig entwickeln sollen. Hier wird von der „Einleitung einer neuen Ära durch Innovation und digitale Technologien“ [3] gesprochen, die eine wesentliche Rolle für die Luftfahrtbranche spielen muss, um nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit, Flugsicherheit und Leistungsfähigkeit in der Luftfahrt zu verbessern. Auch die Einführung und Weiterentwicklung von Kommunikations- und Informationstechnologien zur Steigerung Sonderheft für die VDI-FVT
BILD 1 Augmented-Reality-Anwendung MIRA zur Inspektion und Qualitätskontrolle (© Airbus)
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ROBOTIK
Weitere neue Felder sind die fortgeschrittene Robotik, neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion und Unterstützungssysteme für den Menschen. Ein reales Testszenario für die Kooperation eines humanoiden Roboters mit Menschen in der Flugzeugmontage zeigt BILD 2. Ziel ist die Integration dieser Technologien in die Produktion oder Instandsetzung von Luftfahrzeugen, um den Menschen zu unterstützen. Die anvisierten Vorhaben reichen von kollaborierenden Robotern über Mensch-Maschine-Schnittstellen und Exoskeletten bis hin zum Einsatz von tragbaren Unterstützungssystemen zur Effizienzerhöhung, Qualitätssteigerung oder Verbesserung der Ergonomie am Arbeitsplatz. Besonders die ergonomische Unterstützung stellt eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an den Stellen dar, wo sehr stark körperlich gearbeitet werden muss. Einfache, sich ständig wiederholende Tätigkeiten sollen künftig weitestgehend maschinell durchgeführt werden. Tätigkeiten, die Feingefühl und hohe kognitive Fähigkeiten erfordern, sollen aber weiterhin von Menschen ausgeführt werden. Durch die Betrachtung und Entwicklung eines breiten Spektrums an Produktionsweisen und -systemen für die Luft-
fahrt können künftig optimierte und effizientere Arbeitsweisen und Produktionslösungen entstehen. Darüber hinaus bieten Mensch-Maschine-Interaktionen (Touch-Schnittstellen) eine zusätzliche Verbesserung bei der Übertragung von digitalen Anweisungen auf die physische Welt und Rückkopplung relevanter Daten [4, 6].
Ansätze und Techniken versprechen auch hohe Potenziale bei der Entwicklung von unbemannten Flugsystemen (unmanned aerial vehicle, UAV) und Luftfahrzeugen. Mit der zunehmenden Vernetzung und in Verbindung mit Opensource-Techniken bieten auch sogenannte FabLabs vor allem KMUs und Start-ups neue Wertschöpfungsmöglichkeiten und Geschäftsmodelle [7].
CROWD SOURCING
Beim Transfer zwischen digitaler und physischer Welt kommen neue Methoden und fortgeschrittene analytische Systeme bereits bei der Produktentwicklung zum Einsatz und verkürzen Entwicklungszeiten und -kosten. Crowd Sourcing und Opensource-Ansätze bei der Entwicklung von HardwareProdukten durch Online-Communities sind ebenfalls neue Wege, die die Luftfahrtindustrie bereits seit einiger Zeit beschreitet und weiter ausbauen wird. Die Airbus Cargo Drone Challenge, 2016 durch den gleichnamigen Flugzeugbauer in Kooperation mit dem USamerikanischen Automobilhersteller Local Motors aufgesetzt, verdeutlicht beispielhaft den Beitrag einer OnlineCommunity bei der Konzeption neuer Flugsysteme im Rahmen eines öffentlichen Wettbewerbs. Diese vor allem aus der Softwareentwicklung bekannten
ÜBERWACHUNGSFUNKTIONEN
Intelligente Sensoren, Komponenten und Strukturen werden die Produktion, den Betrieb und die Instandsetzung von Luftfahrzeugen revolutionieren. Informationen zu Zustand, Ort, Zeit und weiteren Parametern in der Produktion oder im Betrieb von Flugzeugen können durch intelligente Sensoren in Echtzeit gesammelt, verarbeitet, gespeichert und ausgewertet werden. Dadurch kann die Produktivität verbessert, die wirtschaftliche Effizienz und ökologische Nachhaltigkeit in Produktion und im Betrieb gesteigert werden. Die Triebwerkshersteller setzen durch Big Data und Predictive Maintenance zur Überwachung von weltweiten Triebwerksflotten bereits seit Jahren Maßstäbe. Komponenten und Systemen können überwacht, der Wartungsbedarf frühzeitig erkannt und die erforderlichen
BILD 2 Test von humanoiden Robotern in der Flugzeugmontage (© Airbus)
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BILD 3 Mögliche Implementierungsstrategie für Industrie 4.0 (© Airbus)
Maßnahmen geplant werden. Die Entwicklungen in diesem Bereich gehen immer weiter. Die Ausweitung auf Luftfahrzeugstrukturen bis hin zum Structural Health Monitoring (SHM) in Echtzeit sollen an dieser Stelle nur beispielhaft für laufende Entwicklungsvorhaben genannt werden [8, 9]. CHANCEN
Fluggesellschaften können das Internet of Things nicht unmittelbar auf ihre Angebote übertragen, da ihre Kernkompetenzen im Personen- und Gütertransport durch die Luft liegen. Auch hier wird ein Umdenken und eine Angebotserweiterung unter Einbeziehung der Kunden notwendig. Das Fliegen als Erlebnis für Passagiere, die ganzheitliche Vernetzung mit Kunden und Herstellern, die stetige Steigerung der Effizienz sind Stichworte zu den Chancen der digitalen Transformation [8, 9]. Die stabile An- sowie Einbindung von ERP-, PLM- und MES-Systemen ist eine unmittelbare Voraussetzung für die Vernetzung aller Unternehmensbereiche sowie der Interaktion mit Kunden und Zulieferern, BILD 3. Es gilt, vor allem Produktions-, Produkt- und Servicedaten unter Beachtung der Sicherheitsanforderungen verfügbar zu machen. Die Lösungen müssen ganzheitlich umgesetzt, langzeitorientiert und skalierbar sein. Eine erfolgreiche, wertschöpfende Realisierung setzt ein tiefes Prozessverständnis aller Beteiligten voraus und erfordert in der Umsetzung die enge Abstimmung unter allen beteiligten Parteien. Darüber hinaus spielen NutzerSonderheft für die VDI-FVT
freundlichkeit und Mitarbeiterakzeptanz eine zentrale Rolle für die nachhaltige Nutzung von ganzheitlich vernetzten digitalen Systemen im Unternehmen sowie unternehmensübergreifend. RISIKEN
Nicht alle Akteure sind der digitalen Transformation, den globalen Megatrends und den benannten Möglichkeiten gegenüber positiv aufgeschlossen. Ursache hierfür ist, dass sich etablierte Wertschöpfungsketten verändern oder hinfällig werden. Große Angst besteht vor allem vor dem Wegfall von Arbeitsplätzen infolge einer Erhöhung des Automatisierungsgrads sowie zunehmender Digitalisierung. Auch die Ausbildung von Fachkräften und ein möglicher Umbau des aktuellen Personals muss bewältigt werden. Weitere Voraussetzungen für ein Gelingen der digitalen Transformation sind die Entwicklung robuster Systeme und Prozesse, die Datensicherheit sowie die Abwehr von Cyberangriffen. AUSBLICK
Das Tempo der Veränderung im Luftfahrsektor wird langsamer sein als das, was im Consumersektor beobachtet werden kann. Es entstehen neue Wertschöpfungsmodelle im zivilen Luftfahrtsektor. Dabei sollten die Nutzung der Chancen und Beachtung der Risiken für alle Beteiligten im Fokus stehen. Zu den relevantesten Aufgaben des digitalen Wandels im Luftfahrtsektor sollten bereits heute die Strukturierung der digi-
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talen Transformation im Unternehmen, die Ausbildung des Personals sowie die Gewinnung entsprechender Talente und die Generierung von Lösungen im Bereich Datenmanagement sowie Cybersicherheit gehören. Wesentliches Ziel des VDI-Fachbeirats Luft- und Raumfahrttechnik ist es, bei der Motivation und Vernetzung aller beteiligten Parteien zu unterstützen. LITERATURHINWEISE [1] Spohr, C.: Mehr als nur die Hardware Flugzeug: Wie Industrie 4.0 die internationale Luftfahrt revolutioniert. In: Digitales Neuland – Warum Deutschlands Manager jetzt Revolutionäre werden. Wiesbaden, 2015, S.75-86 [2] Luftfahrtindustrie setzt auf digitale Innovationen und Industrie 4.0. Online: https://www.bmwi. de/Redaktion/DE/Meldung/2016/20160629-luftfahrtindustrie-digitale-innovationen-industrie-40. html/, aufgerufen am 08.10.2017 [3] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine Luftfahrtstrategie für Europa. Brüssel: Europäische Kommission, 2015 [4] Nof, S.Y.: Springer Handbook of Automation. Berlin, 2009 [5] Airbus Group - Pioneering Bionic 3D Printing: Learning from Nature. Online: http://additivemanufacturing.com/2016/01/27/airbus-group-pioneeringbionic-3d-printing-learning-from-nature/, aufgerufen am 08.10.2017 [6] Weidner, R.; Redlich, T.; Wulfsberg, J.P.: Technische Unterstützungssysteme. Wiesbaden, 2015 [7] Redlich, T.: Wertschöpfung in der Bottom-upÖkonomie. Berlin, 2011 [8] Wittpahl, V.: Digitalisierung: Bildung, Technik, Innovation. Berlin, 2016 [9] Schubert, K.: Beitrag zur Strukturzustandsüberwachung von faserverstärkten Kunststoffen mit Lamb-Wellen unter veränderlichen Umgebungsbedingungen. Bremen, Universität Bremen, Dissertation, 2013
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