Zum Begriff der Boheme Von HELMUT KREUZER (Stuttgart)
I. BOHEME UND VERWANDTE BEGRIFFE IN DER LITERATUR SEIT DER GOETHEZEIT 1 )
BoMmiens (oder bohemes, bohemes) (= Bohmen) werden, seit ihrem Auftreten im 15. J ahrhundert, die Zigeuner in Frankreich genannt. Itali Cingaros vocant, Galli Bohemos, stellte Bonaventura Vulcanius fest 2). DasWort nahm einen Unterton von Ketzerei in sich auf, der auf den Vorwurf des Heidentums zurtickging und sich aus einer alten Legende nahrte, die urspriinglich zum Schutz der Zigeuner diente und besagte, daB die Wanderschaft ihnen als BuBe auferlegt sei, weil ihre Vorvater sich geweigert hatten, die Heilige Familie bei ihrer Flucht in Agypten bei sich aufzunehmen. Der Charakter der Herkunftsbezeichnung ging der Vokabel verloren; dafur weitete sich ihre Bedeutung bald in anderer Richtung aus: Vie de boheme wurde zu einem Ausdruck ftir unordentliche, liederliche Sitten 3). Vagabond, gueux, boMmien wurden in einem Atemzug genannt und gleichermaBen verfolgt; der Name des letzteren ging auch auf die ersteren tiber, umfaBte les diseurs de bonne aventure, les gens sans aveu, sans asile et d'une mauvaise reputation'). Entsprechendes gilt auch ftir Deutschland. »Unter aHem 'fahrenden Yolk' wirkt auf uns der Zigeuner als das Urbild des nichtseBhaften Menschen. Dieser Eindruck hat es mit sich gebracht, daB das Wort Zigeuner im Volksmund wie in der Polizeisprache schlieBlich ganz unabhangig von der rassischen Herkunft auf jeden Umherziehenden angewandt wurde, der mehr oder minder verwahrlost ein scheinbar wildromantisches und sorgloses Leben ftihrte, d. h. also ein 'Zigeunerleben'.« 5) 1m 18. Jahrhundert entdeckten die Schriftsteller und ihr Publikum den pittoresken Reiz des Zigeunerlebens und die Schonheit der »schmucken« Nomaden. 1) Wir beschranken uns auf die deutsche Entwicklung und beziehen die franzosische nue soweit ein, als sie ftir die deutsche odee fur deren Verstandnis von Bedeutung ist. Wir beziehen uns hier auf dieekte Aussagen zur Boheme und verwandte Phiinomene, nicht auf literarische Boheme-Gestaltungen, die Boheme als literarisches Motiv (ein Thema, das eine eigene Studie erfoedert), mtissen jedoch urn ihrer wortgeschichtlichen Bedeutung willen schon hier auf einzelne Romane und sonstige Boheme-Dichtungen hinweisen und charakteristische Boheme-Reflexionen daraus zitieren. 2) Zit. nach Grellmann, Historischer Versuch tiber die Zigeuner, 2. Aufl. Gottingen 1787, S.19·
3) Vgl. F.Baldensperger, Boheme et Boheme: un doublet linguistique et safortune litteraire. In: Melanges pubiies aI'honneur de M.le Professeur Vdclav Tille a I'occasion de son 60eme anniversaire, Prag 1927, S. I I If. Diesem Aufsatz verdanke ich manchen wertvollen Hinweis auf franzosische Quellen und Belege. •) J.Peuchet, Memoires tides des Archives de fa Police de Paris, Bd. I-VI, Paris 1838, S. 89. 5) R.Ritter, Zigeuner und Landfahrer. In: Der nichtseBhafte Mensch. Ein Beitrag zue Neugestaltung dee Raurn- und Menschenordnung im GroBdeutschen Reich, Mtinchen 1938, S. 71.
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»Waren die Zigeuner nur eine vortibergehende Erscheinung in Europa gewesen, von deren Daseyn wir allein die Jahrbticher der vorigen Jahrhunderte befragen konnten, so wtirde es schwer seyn, sie flir etwas anderes, als eine Schaar von Ungeheuern und Beelzebubs zu halten. Immer wird in jenen Jahrbtichern geredet von einem wlisten Volke, von schwarzen und greulichen Leuten. Nun aber, da sie sich bis auf unsere Zeiten erhalten haben ... sind sie so glticklich gewesen, Schriftsteller zu tinden, die sogar ihre Schonheit preisen und mit vieler Mtihe ihre Vorzlige zu beweisen suchen«.6) Ein pragnantes Beispiel dieser Umwertung ist Hagedorns »Lob der Zigeuner«, aus dem hier die erste Strophe zitiert sei: »Uraltes Landvolk, eure Htitten Verschont der Stadter Stolz und Neid. Und fehlt es euch an feinen Sitten; So fehlts euch nicht an Frohlichkeit. Ihr scherzt auf Gras und unter Zweigen, Ohn' allen Zwang und ohne Zeugen.«') Der Geist Rousseaus breitete sich aus und mit ihm »die Idee von wackern Vagabunden, edeln Raubern, groBmtithigen Zigeunern und sonst allerlei idealisiertem Gesindel« 8) (mit Goethe zu sprechen); die Romantik ftihrte den ProzeB der Idealisierung und Poetisierung zu seinem ersten Hohepunkt. Wir brauchen ihn hier nicht genauer darzustellen - Verfasser romanesker Trivialliteratur forderten ihn ebenso wie flihrende Geister, Goethe und Puschkin, Beranger und Borrow, C. M. von Weber und Brentano, E. T.A.Hoffmann und Morike, Hugo und Merimee, aber auch Autoren wie Houwald und Brachvogel. Glorifier Ie vagabondage, notiert Baudelaire, mit dem Zigeuner zugleich den Ktinstler ins Auge fassend, et ce qu'on peut appeler Ie bohemianisme, culte de la sensation multipliee ... 9) Ein paralleler Vorgang verwandelte das Selbstverstandnis des Ktinstlers, ruckte den Schriftsteller - als Ktinstler - aus der Nahe des Gelehrten in die Nahe des MaIers und anderer Ktinstler (z. B. des Komodianten, der sich - ein gegenlaufiger ProzeB - allerdings dem Btirgertum schon genahert hat) und entfernte, alles in allem, das Kiinstlerbild mehr von den Daseinsmustern der btirgerlichen Welt. Je ne vois pas pourquoi, dit-if (der Poet Gringoire in Hugos • Notre-Dame de Parii), les poetes ne sont pas rangis parmi Ie! truands. Vagabond,Aesopus Ie Jut; mendiant Homerus Ie Jut; voleur, Mercurius I'itait . .. '0) SoIche Brtickenschlage ermoglichten einen zweiten, neuartigen Bohemebegriff. Charles Nodier hatte in seiner 'Histoire du Roi de Boheme et de Se! sept Chateaux' (1830) »die neue Boheme bereits kraftig angedeutet. Gegen 1835 weiB man, wenigstens in Frankreich, bereits, daB die Boheme ... nicht 'hergewandertes Volk' ist, sondern umgekehrt zumeist aus Landeskindern zusammengesetzt ist, die Sohne der mittleren, gutbtirgerlichen, manchmal selbst groBbtirgerlichen Klassen sind.«l1) Petrus Borel, Theophile Gautier, Gerard de Nerval 8) Grellmann, a.a.O., S. 35. Allerdings falIt, z. B. in den Gestaltungen des Preziosastoffs, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts auch in die deutsche Romanliteratur eindringt, oder durch das altere Schwankmotiv vom »wahrsagenden« - die Wahrheit sagenden und daflir libel belohnten Zigeuner, gelegentlich schon vor dem 18. Jahrhundert eine Spur freundlicheren Lichts auf den »Beelzebub«. Vgl. W.Ebhardt, Die Zigeuner in der deutschen Literatur bis zu Goethes 'Gotz von Berlichingen', Diss. Gottingen 1928. ') Friedrich von Hagedorn, Sammtliche poetische Werke, IV. Theil, Wien 1791, S. 67. 8) Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Sophien-Ausgabe, p. Bd., S. 189 . •) Baudelaire, Mon coeur misa nu, Oeuvres completes, Paris, 1954, S. 1227. 10) Victor Hugo,Notre-Dame de Paris, Bielefeld, 1845, S. 85. ") R. Michels, Zur Soziologie der Boheme und ihrer Zusammenhange mit dem geistigen Proletariat. Jahrbiicher fur Nationalokonomie und Statistik Bd. 136, 1932, S. 801.
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(,Petits Chateaux de Boheme', 'La Boheme galante'), Arsene Houssaye, Philothee O'Neddy (der, nach Schillers Drama, dem Boheme-Cenacle des Impasse duDoyenne den Dbernamen les brigands de la pensee 12 ) verlieh) bekannten sich zu ihr. Houssaye besang sie als la verte oasis loin du desert des hommesI3 ); und iihnlich beschrieb sie Gautier: Un campement de bohemes pittoresques et litteraires menait une existence de Robinson Crusoe, non dans I' fie de Juan Fernandez, mais au beau milieu de Paris, afa face de la monarchie constitutionelle et bourgeoise U). In George Sand erkannte man une bobemienne de pensee et de sentiment 15) ; auch sie feierte eine »grtine Boheme«, als patrie fantasque des ames sans ambition et sans entraves I6 ). Narguons I'orgueil des grands, rions de leurs sottises, depensons gaiement la richesse quand nous I' avons, recevons sans souci la pauvrete, si elle vient,' sauvons avant tout notre liberte, jouissons de la vie quand meme, et vive la Boheme/I?) Eine scharf kontrastierende Auffassung entwickelte Balzac. Er schilderte die Boheme nicht als Inbegriff von Freiheit und Natur, kiinstlerischem LebensgenuB, Unabhangigkeit von Besitz und Karriere; im Gegenteil: noch unbekannte, aber ehrgeizige, noch mittel-, aber nicht wunsch- und ziellose junge Manner von »Genie«, zwischen zwanzig und dreifiig, bilden seine »Boheme« von Paris. L' Esperance est sa religion, la Foi en soi-meme est son code, la Charite passe pour etre son budget / 18) Diese »Boheme« hat der Gesellschaft nicht den Riicken gekehrt, sondern erwartet und sucht die Chance des Aufstiegs, sie ist ein sozialer microcosme, in dem nicht die Kunst allein regiert. On y rencontre des ecrivains, des administrateurs, des militaires, des journafiftes, des artistes / Enfin tous les genres de capacite, d' esprity sont representes! 19) Markante Positionen waren damit bezogen und einander konfrontiert. Ihre weiterwirkende Kraft in der Bedeutungsgeschichte des Begriffs ist noch heute nicht gebrochen; bestimmend geworden aber ist - nicht nur dank Puccini - die Auffassung, die Murger (,Scenes de la vie de Boheme') in den 40er Jahren gewann und mehrfach (im Feuilleton, in Buchform, als Biihnenstiick) erfolgreich publiziert hat. Murger versah seinen Roman mit einer Einleitung, deren Widerspriiche auf viele Erben seines Wortgebrauchs iibergegangen sind. Er definierte in ihr die Boheme als Lebensform und soziale Heimat eines jeden Menschen qui entre dans Ie! arts, sans 12) Zit. nach Gautier, Souvenirs romantiques, Paris 1929, S. 82. Edouard Roditi beschreibt in einem leider unveroffentlichten Manuskript 'Die Geburt der politischen und kiinstlerischen Boheme' lebendig die c:enacles der franzosischen Romantik und die bousingots. 18) Poesiescompletes, 1850, S. 41. 14) Revue des Deux Mondesv. 1. Juli 1848, S. 56. 16) A. Barbier, zit. nach Baldensperger, a. a. 0., S. 6. 16) Revue des Deux Mondes v. 15. Juni 1835, S. 73 I. Wie sich in einem solchen Zusammenhang die ursprungliche geographische Bedeutung wieder einstellen kann, zeigt deutlich z. B. die folgende Stelle der'Letlres d'un Vl!)'ageur': Je presume que vous allezfonder, dans la belle Hefvetie ou dans la verte Boheme, une sainte colonie d' artistes. Heureux amis! (Revue des Deux Mondesv. I. Juli 1835, S. 531.) 17) Revue des Deux Mondesvom I. Januar 1838, S. 58. 18) Balzac, Un Prince de la Boheme. Oeuvres completes, Bd. 18, Paris 1947, S. 360f. Die Erzahlung erschien erstmals 1840, unter anderem Titel, in der Revue Parisienne. 19) Ebda. Delvau, Dictionnaire de fa langue verte ... , Paris 1867, auBert, allerdings eingegrenzt auf Kiinstler und Literaten und skeptischer gestimmt, eine verwandte Auffassung: Boheme s. f Etat de chrysalide, - dans l' argot des artistes et des gens de lettres arrives al' etat de pail/ons; Purgatoire, save de creanciers, en attendant Ie Paradis de la Richesse et de la Reputation,' vestibule des honneurs, de la gloire et du million, sous lequel s' endorment - souvent de toujours - une foule de jeunes gens trop paresseux ou trop decourages pour enfoncer la porte du temps. Boheme s. m. Paresseux qui use ses manches, son temps et son esprit sur les tables des cajes lilliraires et des par/olles artistiques, en croyant al' eternite de la jmnesse, de la beaute et du credit, et qui se reveille un malin a I'hOpital comme phtisique ou en prison comme escroc.
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autre moyen d' existence que /' art lui-meme, als Durchgangsstation vor dem Kreuzweg, dessen Arme entweder zur Academic oder aber zum Hotel Dieu und zur Morgue ftihren 10). Zugleich aber erklarte er sie ftir eine lokale Spezialitat, tief tiberzeugt que la Boheme n' existe et n' est possible qu' aParis. Das wiederum verhinderte nicht, daB er neben Franzosen wie Gringoire, Villon, Moliere und d' Alembert - auch Tasso und Shakespeare zur »Boheme« zahlte (ausdrticklich zu der Art von Boheme dont s'il agit dans co livre), die auch am Beginn der Einleitung de tous temps et partout existiert. Neben dem tiberzeitlichen ftihrte Murger auch zeitliche Gesichtspunkte an: die modische Vergotterung gerade der unglticklichen, gescheiterten Ktinstler der Vergangenheit verftihre eine wachsende Zahl von maBig Begabten, sich einzuschreiben au martyrofoge de fa mMiocrite. Sie drangten sich auf den Gleisen der Kunst, die sich jedoch von Tag zu Tag immer mehr verengten: et par consequent jamaisla Boheme neJut plus nombreuse 11). Seit Murger ist die Reihe der literarischen Boheme-Darstellungen und der reflektierenden Stellungnahmen in Frankreich nicht mehr abgerissen 22). Nachahmung und Verwerfung Murgers, enthusiastische Bejahung (La Sainte Boheme;as) und heftige Vemeinung (auch Selbstverneinung) der Boheme ( ... aux reprobations ef aux avanies demoniaques de la vie d'artiste )24) losten sich ab, riefen sich gegenseitig hervor und durchdrangen einander in ambivalenten AuBerungen. 1849 sieht Gautier sie bestimmt durch/' amour de l' art et l' horreur du bourgeois 25). 1859 schreibt Charles Hugo tiber die Boheme dorec 26 ) (ein Begriff, der 1895 durch Willy Pastor auch in deutschen literarischen Zir keln heimisch gemacht wurde) 27), 1868 Gabriel Guillemot tiber den Grand Boheme: den tMillionenjagerc (in der Art von Wedekinds Marquis von Keith)27&). Vnter den Kritikem Murgers ist Jules Valles wohl der wichtigste 28 ). Seine Auffassung der Boheme entfernt sich ebensoweit von der »romanhaften« Boheme in den 'Scenes' Murgers wie von den Erfolgsjagern Balzacs 20) Henry Murger, Sfenes de fa Vie de Boheme, Paris 1883, S. Iff. (Max. Harden, Die Boheme [Die Zukunft, 3. Bd. 1893, S. 178ff.] rechnet im Unterschied zu Baldensperger und Michels auch 'Frederic et Bernerette' und 'Mimi Pinson' von Musset zur Welt der Boheme; den Begriff fiihrt auch er allerdings »auf geschickte Kunsthandwerker wie Henri Murger, Champfleury und ... Paul de Kock« zuriick. Harden streift auch die Biihnenbearbeitungen des Murger-Romans von Theodore Barriere und von Paul Lindau.) 21) Doch hat Murger natiirlich weniger mit diesen vorangestellten begrifflichen Bestimmungen als mit dem Roman seiber die allgemeine Auffassung der Boheme beeinfluBt. Die romanhafte Gestaltung aber vermittelt (anders als das Vorwort) eine fur viele verfuhrerische Vorstellung von Boheme als dem J ugendabenteuer des Kiinstlers . ..) Der unermudliche Chronist der franzosischen Boheme im 20. Jahrhundert ist Francis Carco. Vgl. auBer Romanen (Scenes de fa vie de Montmartre, 1919, u.a.m.) und Gedichten (La Boheme et mon coeur, 1912, u. a.) vor allem die zahlreichen Baade mit Erinnerungen wie Promenades pittoresques a Montmartre, 1922, De Montmartre au Quartier fatin, 1927, Montmartre a vingt ans, 1938, Boheme d'artiste, 1940, Nostalgie de Paris, 1941, L'ami des peintres, 1944, Ombresvivantes, 1947, u.a.m . ••) Th. Banville, zit. nach Baldensperger, a. a. 0., S. 12; Maillard, Les Demiers Bohemes, Paris 1874. ..) Leon Bloy, L'Oeuvre complete, Le Desespere, Paris 1948, S. 10 . ..) Zit. nach Baldensperger, a.a.O., S. 9f. 'S) Charles Hugo, La Boheme dorie, Paris 1859, S. lOf.: Bile avail iii aimee par fa fleur des pois de ce monde qui dipense, soupe,joue, se ruine, s'enrichit, mele a son or I'alliage du vice de bouton, realise dans toute son itendue et avec toutes ses variantes Ie prospectus du plaisir, ef merite Ie beau titre de Boheme dorie. "') Kurt Martens, Schonungslose Lebenschronik, Bd. I, S. 155, 2. Aufl., Wien 1921. 27&) Guillemot, Le Boheme, Paris 1868, S.24; vgl. Henri Rochefort. La Grande Boheme (les Franc;ais de la Decadence), Paris 1826. 'S) Valles, Jacques Vingtras, 1879-1886, dt. Hamburg 1951, Weimar 1964; Valles, Les Rijractaires, r 865, dt. Hbg. 1946.
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oder von der »griinen« Boheme der George Sand (der ideale »griine« Gegenpol der stadtischen Bourgeoisie ist fiir Valles die Welt des Bauern). Fiir ihn ist »Boheme« der Inbegriff des schwarzen Elends, zu dem das intellektuelle Proletariat der iiberfliissigen bacheliers verurteilt ist, eine Existenz am Schnittpunkt von Verzweiflung und Drohung. Die Befreiung aus ihr durch den kiinstlerisch-literarischen Triumph ist vereinzelter Zufall, der Ausweg in eine »biirgerliche« Tatigkeit entweder versperrt oder nur urn den Preis des ideologischen Verrats zu erkaufen; die einzige moralisch legitime und situationsgerechte Hoffnung des Bohemiens und Refraktars 2D) ist die Revolution, seine sinnvoHste Funktion: die Rolle des »Insurgenten«. Valles beginnt erst heute in Deutschland bekannt zu werden; ahnliche Tendenzen finden sich jedoch auch hier schon friih, vor aHem in der anarchistischen Tradition zwischen Stirner und Miihsam. Unsere franzosischen Beispiele zeigen eine Rivalitat von Boheme-Auffassungen, die wir als Bilder einer »griinen«, einer »schwarzen« und einer »roten« Boheme bezeichnen wollen. Das erste spiegelt starker den Glanz (Freiheit, Heiterkeit, Farbigkeit)30), das zweite das Elend (Armut und Verzweiflung), das dritte den Trotz und Kampf der Boheme. Diese Aspekte werden - ohne erneuten Hinweis - auch an den folgenden Beispielen sichtbar werden. (Natiirlich hat der erste Aspekt die breiten Erfolge von Boheme-Literatur, - Film und -Tourismus ermoglicht.)
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Heute unterscheidet man im aHgemeinen in Frankreich orthographisch Boheme (Bohmen) von der (Kiinstler-)boheme, sowie den bohemien (Zigeuner) vom boheme (dem Bohemien des deutschen Wortgebrauchs) 31). Da im Deutschen keine Notwendigkeit zur Differenzierung bestand, ist die Form: der Boheme (oder: der Boheme) - statt Bohemien - nur selten anzutreffen 32). Das Differenzierungsbediirfnis kam im Deutschen offenbar der Form Bohemien (oder: Bohemien) zugute, wie sich an einem Wort Erich Miihsams ablesen laBt: »Das Wort Bohemien ist, wie mir sprachkundige Leute versichern, falsch. Es muB richtig auch »der Boheme« heiBen. Trotzdem werde ich den Vertreter der Boheme einen Bohemien nennen, da mir eine Vokabelunterscheidung zwischen dem Gattungsbegriff und der Bezeichnung der einzelnen zur Gattung gehorigen Personen sprachlich willkommen erscheint«.18) Die eigenstandige deutsche Entwicklung (die auf die franzosische eingewirkt hat) traf sich in der jungdeutschen Generation mit dem franzosischen EinfluB. In 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' lesen wir: »... tiber alles pries man die reizende Wirtschaft eines Zigeunerhaufens. Man beneidete die wunderlichen Gesellen, die in ••) Flir den deutschen Gebrauch dieses Begriffs vgl. z. B. Gustav Sacks Schauspiel 'Der Refrakw' und die Skizzen' Aus dem Tagebuch eines Refraktars', Gesammelte Werke, 2. Band., 1920. 80) Charakteristisch sind Verse von Tandou: Toi qui vas, oiseau charmanl, I Si gaiement I Parmi lesverles bohemes! (Zit. nach Maillard, Les derniers Bohemes, 1874, S. 56.) 31) Vgl. Michels, a.a.O., S. 801; Baldensperger, a.a.O., S. I. U) Vgl. z. B. Else Lasker-Schiiler iiber R. J. Schmied: »... er ist ein aristokratischer Boheme«, Essays, Berlin 1920, S. 27. Boheme in diesem Sinn auch bei Michels, a.a.O. (mit Pluralform: den Bohemen, S. 804), bei Ferdinand Hardekopf (vgl. z. B. seine Andre GideUbersetzung 'Stirb und Werde', Stuttgart 1947), u.a.m. Die Adjektive »boheme« (vgl. 'abschnitte', unabhangige Zeitschrift der jungen Generation, 1. Jg., Stuttgart 1961, Nr. 1, S. 1) und »bohemianistisch« (vgl. u. a. H.Karasek, Stuttgarter Zeitung vom 27.8.1961, S. 2) sind noch seltener. »Bohemianistisch« diirfte vom englischen bohemianism (nachweisbar seit 1861) hergeleitet sein; bohemians in der iibertragenen Bedeutung ist - nach Murray, A new English Dictionary, Oxford 1888 - durch Thackeray 1848 ('Vaniry Fair') eingefiihrt worden. 33) E. Miihsam, Boheme. In: Die Fackel, Nr. 202, 8. Jg., Wien 1906, S. 7.
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seligem Mtil3iggange aIle abenteuerlichen Reize der Natur zu genieGen berechtigt sind; man freute sich, ihnen einigermallen ahnlich zu sein«.34) Selbstverstandlich erschien auch den Romantikern die »ungebundene lebensweise« der Zigeuner, »ihre malerische kleidung, ihr musizieren nachahmenswert oder wenigstens unterhaltsam«.36) Heine sah sie im Spiegel von Arnims 'Isabella von Agypten' als »das seltsame Marchenvolk mit seinen braunen Gesichtern, freundlichen Wahrsageraugen und seinem wehmtitigen Geheimnis«36). Und Lenau schlieGlich sprach ihrer Haltung in seinem bertihmtesten Zigeunergedicht (,Die drei Zigeuner') den Rang beispielgebender, tiberlegener Weisheit und Lebenskunst zu. »Dreifach haben sie mir gezeigt, Wenn das Leben uns nachtet, Wie man's verraucht, verschlaft, vergeigt Und es dreimal verachtet.«87) Entsprechendes gilt ftir den »wackern Vagabunden«. Malus homo qui in pago facial et non habeat, ubi consistat, nee res unde componat et per silvas vadet, so hatte ihn das Mittelalter gesehen 38), das im 15. Jahrhundert nicht nur gemeinsame Gruppen von Zigeunern und Vagabunden kannte, sondern auch von Zigeunern und Spielleuten, deren Ruf z. T. nicht weniger schlecht war. Wer alles nach dem Dreil3igjahrigen Krieg zur verachteten Klasse der Fahrenden gerechnet wurde, erkennen wir aus einer offen bar charakteristischen Polizeiordnung von 1665, die »die jungen starken Bettler, welche arbeiten, Vieh und dergleichen htiten kannen, insgleichen die Tartaren, Zigeuner, Wahrsager, Schalksnarren, Landfahrer, unntitze Sanger und Reimsprecher« in einem Atemzug beschuldigt, daG sie »oftmals viel Bases vertiben«39). Das Wort Lessings, er kanne sein Leben beschlieGen, wie er es angefangen habe: »als ein Landstreicher, und als ein weit argerer als ehedem«oO), verbindet die Tendenz zur Dbertragung und Aufwertung mit dem tiberlieferten Charakter des Unheimlichen und Drohenden, wahrend der neue idyllisierende Wortgebrauch etwa bei Adolf Stahr rein zutage tritt, dem ein streunender Knabe als »ein Rousseau'scher Wilder vom reinsten Wasser« erscheint, ein »Bild gltickseligsten Vagabundenthums«U). »In der Welt herumvagieren«, die »brotlosen Ktinste und unntitzes Zeug treiben« sind in Eichendorffs 'Aus dem Leben eines Taugenichts' so verwandte wie positiv-gutartige Tatigkeiten "). Danach lag es nahe, wie Freiligrath vom »Dichter-Vagabunden« zu sprechen und tiber die »blade Angst« vor ihm zu ztirnen 43), oder wie Max Stirner vom »geistigen Vagabonden «. Doch schon 0') Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Sophien-Ausgabe, 22. Bd., S. 36. ..) Grimmsches Worterbuch, 15. Bd., Leipzig 1956, Sp. 1263. as) Heine. Samtl. Werke, Hamburg 1861, 6. Bd., S. 211. 17) Lenau, Samtliche Werke. Mit einer biographischen Einleitung von R. PreuB, Bd. I, Berlin o. J., S. 187f. 08) Vgl. W. Polligkeit, Die Haltung der Volksgemeinschaft gegenuber dem nichtseBhaften Menschen. In: Der nichtseBhafte Mensch, a.a. 0., S. 17. ..) Artikel 137 der Polizeiordnung des Koiner Erzbischofs Maximilian Heinrich, zit. nach H. G. Marek, Der Schauspieler im Lichte der Soziologie, 2. Teil, Wien 1956, S. 20. 0.) Lessing, Samtliche Werke, Stuttgart 1886 f., Bd. 18, S. 340. n) A. Stahr, Zwei Monate in Paris, Oldenburg 1851, Bd. 2, S. 268ff. Dieser und andere Belege aus dem 19. Jahrhundert sind schon bei Sanders, Worterbuch der deutschen Sprache, 2, 2, Leipzig 1865 vermerkt. Weitere Nachweise in Sanders, Erganzungsworterbuch, Berlin 1885, Stichworte Vagabund, Zigeuner. U) Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, Samtliche Werke, hg. v. G.Baumann in Verb. m. S. Grosse, Stuttgart o. J., 2. Bd. S. 352. Dagegen rUckt Gottfried Keller »Vagabond« und »Poet« zusammen wieder mehr ins Nicht-Geheure. Vgl. sein Sonett
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hier erhiilt dieser Begriff wieder eine aggressive Farbung, bezieht er sich doch auf die radikale Intelligenz des Vormarz, »diese extravaganten Vagabonden«, deren »vagabondierende Lebensart« dem Burger miBfalle. »Die Stimmung gegen diese 'Unmoralischen' bezeichnet der wackere Burger als seine 'tiefste Entrustung'. Es fehlt diesen Allen die Ansassigkeit, das Solide des Geschlifts, ein solides, ehrsames Leben, das feste Einkommen usw., kurz, sie gehoren, weil ihre Existenz nicht auf einer sicheren Basis ruht, zu den gefahrlichen 'Einzelnen oder Vereinzelten' .,. Sie bilden die Classe der Unstaten, Ruhelosen, Veranderlichen, d. h. der Proletarier, und heiBen, wenn sie ihr unseBhaftes Wesen laut werden lassen, 'unruhige Kopfe' «.44) (Stirner beruft sich - am SchluB seines Buches - ausdrucklich auf Lenaus 'Die drei Zigeuner' und spielt auf Franz Moors »ausschweifende Bonmots uber Moralitat und Religion« an, die die anonyme Selbstkritik des jungen Schiller nur einem »Kreis Vagabunden« zutrauen wollte. U» Die ubertragene Ausdrucksweise wird von den nachromantischen Intellektuellen jedoch auch (ohne Stirnersche Ironie) abschatzig benutzt, wenn etwa Gutzkow 1843 den »Landstreichern und Landverderbern«46) in der Publizistik entgegentritt oder Robert Prutz es Gottsched ubel vermerkt, daB er in Shakespeare einen »literarischen Vagabunden« und »Taugenichts« gesehen habe 4?). 1m Leben Friedrich Ludwig Schroders findet Prutz »jene Zerfahrenheit, jenes geniale Vagabundenthurn, das die Dichter der Sturm- und Drangperiode in ihren Buchern schilderten«48). Dem Tieck-Biographen Kopke erscheint der Magister Kindleben als »literarischer Landstreicher«49). Heine wirft den Stucken der Birch-Pfeiffer vor, die »Komodianten« fanden darin »ihr ganzes, affektiertes Kunstzigeunertum«50). 1m Tone der Verachtung bezeichnet er die Schauspieler der Wanderbuhnen »niedrigsten Ranges« als »Kunstvagabunden«51), im Ton des Mitleids die franzosischen Aktricen als »Parias«, die in den »liederlichen Pantoffelchen einer Philine« existieren muBten, d. h. »im verjahrten Zustande des glanzend schmutzigen Zigeunerthums«52). Den konservativeren Zeitgenossen wie Vilmar erschienen Freilich gerade die Jungdeutschen selber als »Marodeurs der Wissenschaft, welche das Vagabundenleben der Literatur unter dem Namen Literatenthum eingefuhrt haben«53). Auch Bogumil Goltz (1860) halt slch an den negativen Wortgebrauch von »Vagabonden und Lumpe«54). Er scheidet die »echten Genies« von den »poetischen Tauge44) Stimer, Der Einzige und sein Eigenthum, Leipzig 1845. S. 148. Wie wenig sich die Positionen seit Stimers Zeit geandert haben, mogen zwei Antworten bezeugen, die 1961 auf eine Umfrage »Was halten Sie von einer bohemen Lebensauffassung?« gegeben wurden. Eine Sekretarin: »Nicht viel. Das ist kein geregeltes Leben, das die fuhren, die haben keinen Sinn fur Seflhaftigkeit ... kein VaterlandsbewuBtsein ... kein VerantwortungsbewuBtsein.« Eine Graphikerin: »Sehr vie!. Ich finde es sehr schon, daB alles sehr frei ist und daB es keine Konvention gibt. DaB man einfach so lebt, wie man es furrichtig halt.« C'abschnitte' a. a. 0., S. I f.) 45) Schiller, Sakularausgabe, 16. Bd., S. 2.8f. 'S) Gutzkow, Telegraph, Mai 1843, Nr. 69, S. 2.75 f., zit. nach A. Gombert, Noch einiges tiber Schlagworte und Redensarten. In: Zeitschr. f. dtsche Wortforschg. 3, 19°2. (7) R. Protz, Vorlesungen tiber die Geschichte des Theaters, Berlin 1847, S. 290. 48) Protz, a.a.O., S. 327 . ..) R. Kopke, Ludwig Tieck ... Erster Theil, Leipzig 185;, S. 9. 60) Heine, a. a. 0., Bd. 6, S. 2.49. 6l) Heine, a.a.O., Bd. 7, S. 175. 62) Heine, a.a.O., Bd. II, S. 2.90. 63) Vilmar, Schulreden, 1846; zit. nach Gombert, a.a.O.; das Original war mir nicht zuganglich. 64) B. Goltz, Typen der Gesellschaft, 2. Ausgabe, I. Theil, Berlin 1863, S. I;.
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n i c h t sen «: diese sind »heimath- und brodlose Menschen, welche durch Edelsinn, Traumerei und ein leicht verletzliches Gemtith zu jeder Lebenspraxis unttichtig wurden«55). Scharfer geht er mit der Boheme (ohne diesen Ausdruck zu benutzen) seiner Epoche ins Gericht; unermtidlich schleudert er Invektiven gegen die »Taugenichtse im genialen Styl«, (auf Grabbe anspielend) »diese verdammten Ableger von Faust und Don Juan, in denen die Geniestreiche ... zu ... Skandalern abgeschwacht sind«, die »Halb-Genies« und »Cultur-Fratzen ... deren Gehirn und Herz ein Tummelplatz aller Damonie und Kobolde geworden ist« 56), gegen die »WinkelGenies«, die »wissen, daB sie in dem Rufe von Original-Menschen stehen«51), gegen »diese unausstehlichen attentaterischen Subjekte ... diese vacierenden Genies, denen es urn die dtinnen, zusammengekniffenen Lippen und urn die fein ausgearbeiteten, impertinenten Nasenfltigel wie eitel Hohn und Weltverachtung spielt« 58). Diese verschiedenen Arten des Wortgebrauchs lassen sich - in allen literarischen Schichten - bis in die Gegenwart verfolgen. In zahlreiche Titel gingen die - alles in allem - stets attraktiver gewordenen Vokabeln ein, von Hebbel und Holtei tiber E.M. Vacano und Baumbach bis Zu Bonsels und Reiser, urn nur wenige Namen zu nennen 59). Holteis Held bewegt sich »als Kunstzigeuner in allen Kreisen des wandernden MeBvergnugens«60), der Artisten, Puppenspieler, »theatralischer Vagabunden«61), trifft aber auch Devrient und die Serapionsbruder und groBe Virtuosen wie Paganini. »Und der fremde Meister«, heiBt es an einer charakteristischen Stelle tiber »eine wahre Kunstlernatur«, »nannte sich selbst so und dane ben einen 'argen Lump'? Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau nie gebrauchen harte, dessen Bedeutung ihm aber klar schien. Mtissen denn aIle wahren Ktinstlernaturen, so dachte er bei dies em Vergleich, andere Leute sein, wie die anderen Leute?« 62) Die romantisierenden Vagabundenbucher wurden nicht selten zu Best- und Steadysellern, wie Hesses 'Knulp', in dem dem »LeichtfuB« und »Vagabund« die Aufgabe zugedacht wird, »Kindertorheit und Kinderlachen« und »Heimweh nach Freiheit« in die Welt zu bringen 63). Ais ein neuer Vagabundentyp, der tlothard oder »Stadtstreicher«, den Schriftstellern aufzufallen begann, wurde auch er in den ProzeB der Romantisierung einbezogen: »... die Pennbrtider der GroBstadte, die ja auch nichts weiter sind als eine moderne Art von Landstreichern. Sie haben das Lebensprinzip der Landstreicher: ohne jede PHicht, ohne Sorge und ohne Kummer das Leben zu verbringen. Sie fragen nicht nach Ehre, nach Stellung, nach glanzender Lebenshaltung. Auch sie stellen den romantischen, fast bewundernswerten Gegensatz zu unserer mit PHichten und Sorgen tiberburdeten burgerlichen Existenz dar. Es muB unter ihnen wie unter den Landstreichern viele geben, die tiber das eitle Gebaren derWelt lacheln •.. «a.) So konnte ein echter »Kunde«, Emil Nicolai, nicht ganz mit Unrecht urn die Jahrhundertwende sagen: ..) Ebda. ..) Goltz, a. a. 0., 2. Theil, S. 97. •') Ebda., S. 47. .S) Ebda., S. 96. is) Hebbel, Die heiden Vagabonden. Ein Fragment, 1847 (entst. 1837); Holtei. Die Vagabunden, Breslau 18p (1843 begonnen);Vacano, ModemeVagabunden, 1863/64; R.Baumbach, Lieder eines fahrenden Gesellen, 1878 (u.a.m.); Bonsels, Aus den Notizen eines Vagabunden, 1918-23; Reiser, Binscham, der Landstreicher, 1920. a.) Vgl. Unsere Zeit,Dt. Revue derGegenwart,hg. v.R. v.Gottschall, 1880, LBd., S. 505. 61) Holtei, Die Vagabunden, 3. Aufl., Breslau 1860, 2. Bd., S. 43. a,) Holtei, a.a.O., 1. Bd., S. 35. 63) Hesse, Knulp, Berlin 1915, S. 144f. Auch bei einem Bestseller-Autor und Unterhaltungsschriftsteller der »Rechten« wie Ettighoffer treten die »Kunden« als »Kinder« und »Naturmenschen« auf. »Wer kann denn in soleh ein Kumpelherz schauen? Ein SpieBbiirger gewiB nicht«. P. C. Ettighoffer, Servos, Kumpe!, Koln 1932, S. 2 I o. •') H. Ostwald, Landstreicher, Berlin 1903, S. 35. 12
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»Der Salonpoeten Zunft lebt von unserem Leben I Die uns, wenn wir dalfend nahn, keinen Poscher geben.«61i) So wenig wie diese Stilisierungstradition ist die korrespondierende, die den Kiinstler als Vagabunden und Zigeuner sieht, jemals unterbrochen worden. Der iibertragene Gebrauch war in der zweiten Jahrhunderthiilfte durchaus konventioneil, auch wenn er in einzelnen Texten romantischen Glanz oder Aggressivitat behauptete und erneuerte. DaB nach dem Grimmschen Worterbuch »fiir das ungezwungene Leben in Kiinstler-, besonders Malerkolonien ... der Ausdruck Zigeuner zu kraB und Zu plump«66) ware, hat weder erfolgreiche biirgerliche Autoren ailer »Lager« gehindert, ihn auf sich anzuwenden, noch Damen der Geseilschaft, Literaturkritiker und -Wissenschaftler, ihn als Pradikat zu vergeben 67 ). Einige bunte Beispiele: Ida von Diiringsfeld: »Der ganze Theil des literarischen Zigeunerthums, welches sich eben unter den griinen Kupferdachern ... herumtrieb, sah sie als Person an, die unaufhorlich besucht werden konne«68). »Waren zwischen acht und zehn noch Vagabunden statthaft gewesen, Cacilie hatte auch diese beiden Stunden nicht frei gehabt«69). »Sie ... hatte die Freiheit so iiberdriissig, war des Vagabundenlebens so miidel«10) Karl Frenzel: »... das lustige Zigeunerthum der Schriftsteiler«ll). Rosalie Braun-Artaria (Freundin Geibels und Heyses): »Es betrifft den genialen ... Noe ... dessen Zigeunernatur in keiner, seinem bedeutenden schriftsteilerischen Talent angemessenen SteIlung lange aushielt, sondern immer wieder ins freie Vagabundenleben ausbrach«1'). Helene Bohlau: »... wenn ein Kiinstler nicht Zigeuner ist I Ihr seid aIle wie Kaufleute« 13). Else Lasker-Schwer riihmt das Berliner »Cafe des Westens« als den »Zigeunerwagen« der Kiinstler 14). Hanns Johst nannte sich ebenso einen »Zigeuner«'Ii) wie Emil Ludwig 1.); Thomas Mann schreibt seinem Gefiihl fiir Pf1tzners »Kiinstlerleben« eine »trotzige und, ich mochte sagen, vagabundenhafte Innigkeit« zu "); Friedrich Sieburg bezeichnet Samuel Johnson als »Zigeuner« 18), Walter M uschg - ohne negative Wertung - eine Reihe von Autoren (Kalidasa und Li-tai-po, Hutten und die Autoren der »sachsischen Dichterrunde«, Goldsmith, Lessing, Shelley, Baude.') E. Nicolai, Kundentrost, In: Ostwald, Lieder aus dem Rinnstein, Bd. 1, 1903 . •0) Grimmsches Worterbuch, 15. Bd., Sp. 1263. DaB man als »Zigeuner und kultivierter Burger zugleich« gelten konnte, beweist 'Roda Rodas Roman', Munchen 1925, S.609 . •') Natiirlich tauchen diese Ausdriicke auch oft in Obersetzungen auf. Wenigstens drei Beispiele: »Mein Leben ist traurig, ist schwer, eintonig, weil ich ein Kiinstler bin, ein seltsamer Mensch, seit friihester Jugend zerrissen durch Neid, Unzufriedenheit mit mir seIber, Zweifel an meiner Arbeit, ich bin arm, ich bin ein Vagabund« (Tschechow, Meistererzahlungen, hg. v. Iwan Schmeljow, 1946, vgl. S. 551 ff.). - »Denn die Dichter sind ihrem Ursprung nach kein fest ansassiger Stand, der Steuem bezahlt. Vagabundenseelen sind sie, den Leierkastenmannem verwandt«. (Knut Hamsun, zit. nach Tore Hamsun, Mein Vater, Munchen 1953, S. 232.) - »Der Zigeuner vom Bateau-Lavoir wurde SchloBherr« (A. Vallentin, Pablo Picasso, Koln/Berlin 1958, S. 300) . •S) 1. v.Duringsfeld, Die Literaten. Socialer Roman, Wien 1863, S. 88 . ••) Ebda., S. 89. 70) Ebda., S. 104. ") K.Frenzel, Dichterund Frauen, 3. Slg., Hannover 1866, S. 210. ") R.Braun-Artaria, Von beriihmten Zeitgenossen. Lebenserinnerungen einer Siebzigerin, 22 Aufi., Munchen 0.]., S. 127f. 73) H.B6hlau, Der Rangierbahnhof, Stuttgart 1924, S. 78 (Erstausg. 1896). 74) E.Lasker-Schuler, a.a. 0., S. 77. 76) H. Johst, Dramatisches Schaffen, Chemnitz 1922, S. 16. 7.) E.Ludwig, Geschenke des Lebens, Berlin 1931, S. 704; vgl. auch ebda. S. 196. ") Th.Mann, GesammelteWerke in 12 Biinden, Bd. X, Frankfurt/Main 1960, S. 418. 78) F. Sieburg, Nur fur Leser, Stuttgart 1955, S. 178.
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laire u. a.) als »Zigeuner« oder »Taugenichtse«, »Vagabund«, »Bruder LeichtfuB«, »Landstreicher« oder »Desperado« 79). Die Selbstbezeichnung der Dichter als Wanderer, Gaukler, Narr, Abenteurer, Verbrecher, Bettler usw. ist kaum weniger haufig und hat genau den gleichen Sinn der Entburgerlichung des Kunstlerbildes 80), wobei »burgerlich« sich nicht auf eine begrenzte Gesellschaftsklasse bezieht, sondern auf den sozial angepaBten Nicht-Kunstler schlechthin. DaB der Vagabund, wie zum Poeten, so auch zum Rebellen, zum Ketzer, zum Weisen stilisiert wird, kann in diesem Zusammenhang nicht ganz ubergangen werden. Auch hier korrespondiert eine Stilisierung des Revolutionars, des Pilgers, des Heiligen usw. zum »Kunden«. So kann sich auch an die religiOse und die politische Terminologie, die im »burgerlichen Zeitalter« auf den Dichter angewandt wird, die Assoziation der Unstetheit heften. Das gilt etwa fur die Begriffe »Rebell« und »Apostel«. Hans Sterneder gibt seinem Roman uber einen »Kundendichter« den Titel 'Der Wunderapostel'81), und Hugo Sonnenschein (Sonka) stellt sich in einem Gedicht »glaubig an Lenins Seite im Kreml«, als »der alte Bettlerrebell: Sonka, / Morgen derselbe, ein ewiger Kunde der Wahrheit«82). Sogar Christus wird bei ihm ein »Vagabund mit langen Haaren«, die Junger zu »Traumern ohne Schollensinn«83). Die Starke dieser Traditionen hemmte im 19. Jahrhundert das Eindringen und die Verbreitung der franzosischen VokabelB<). Die ethnologische Bedeutung (Bohemien = Zigeuner) begegnet fast nie (ein vereinzelter Beleg bei Schiller: »ein braun Bohemerweib«)86); die neue Bedeutung setzt sich nur langsam in der zweiten Jahrhunderthalfte durch. Noch 1890 erschien eine Nachahmung Murgers dessen Roman bereits 1851 in deutseher Dbersetzung als 'Pariser Zigeunerleben' erschienen war - unter dem Titel 'Berliner Zigeunerleben' 86), noch 1919 (in Neuauflage 1925) eine Dbersetzung Murgers als 'Zigeunerleben'. Zwar war schon 1864/65 eine Prager Bearbeitung als 'Seenen aus dem pariser Boheme-Leben' ersehienen; aber erst seit 1906 (seit der Insel-Dbersetzung Paul Greves) behauptet sich das Fremdwort im Tite!. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts verwenden zwar Romane und Reportagen die Fremdworter Boheme, Bohemien, auch Bohe7.) W. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, 3. Aufl., Bern 1957, S. 245-276.
60) Vgl. auch Benno von Wiese, Der Kiinsder und die Gesellschaft. In: Akzente 1958. Dort weitere Zitate, u. a. von Th. Mann und Gottfried Benn (S. 117). BI) H. Stemeder, Der Wunderapostel, Leipzig 1924. Zur literarischen »Apostel«-Gestalt in der Modeme vgl. Rosenhaupt, Der deutsche Dichter urn die Jahrhundertwende und seine Abgelostheit von der Gesellschaft, Bern-Leipzig 1939, S. 215. Der Begriff spielt jedoch schon viel fruher eine Rolle; vgl. z. B. Tieck: »da jetzt Kiinstler und gebildete Menschen im schneidendsten Kontraste mit der Menge stehen '" muB fur aile bangen Rlicksichten, flir Brot und Kleidung ein Schwert kaufen, wer irgendeinen tiichtigen Apostel des guten Geistes vorstellen will.« (zit. nach der Tieck-Ausgabe von Kasack und Mohrhenn, Berlin 1943, Bd. 2, S. 195); vgl. auch Heine, der solche Dichter ruhmt, »die zu gleicher Zeit Kiinsder, Tribune und Apostel sind. Ja, ich wiederhole das Wort: Apostel, denn ich weiB kein bezeichnenderes Wort«. (Heine, a.a.O., Bd. 6, S. 225.) Einer der jiingsten Belege bei Muschg, a.a.O., S. 256: »In Quirinus Kuhlmann .. , trat auch der vagabundierende Apostel wieder als literarisches Argernis in Erscheinung.« B') Hugo Sonnenschein, Der Bruder Sonka und die allgemeine Sache oder Das Wort gegen die Ordnung, Berlin-Wien-Leipzig 1930, S. 139. OS) Ebda., S. 88. B') Vgl. Sanders, Verdeutschungsworterbuch, 1884; Fremdworterbuch, 2. Aufl., 1891. Dort sind die fruhesten bekannten Belege angegeben; fruhere kennt auch die Berliner Arbeitsstelle des Deutschen Worterbuches gegenwiirtig nicht (briefl. Mitteilg. v. 17.4.62). Die seltene Form »die Bohemie« (fur »die Boheme«) auch bei Michels, a.a.O., S. 807. ••) 'Die Jungfrau von Orleans', V. 171. S.) Hans R.Fischer, Berliner Zigeunerleben, Berlin 1890.
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mie, bezeichnenderweise aber noch mit erklarenden Floskeln, wo sie sich nicht speziell auf die Pariser Verhaltnisse beziehen. »Die Ingenue hat meist etwas burschikoses (sic) in ihrem Wesen, das sie trotz ihrer Equipage und ihrem Mobiliar Louis XV. und Louis XVI. immer an die Boheme fesselt, wenn auch der geographische oder ethnographische Begriff derselben ganz veri oren gegangen. Die niedre Journalistik und das gewohnliche KOOstlerthum werden sie in ihrem Salon, vielleicht auch im Cafe de Suede immer gemiithlich finden.«87) »Trunkne, lustige Stimmen singen zwischen den Tapeten der Cabinets ihre Zigeunerlieder, denn es ist die hahere Boheme, die hier ihre Orgien feiert. Decken wir den Schleier dariiber. Spiegel, Teller und Glaser werden zerschlagen, Kiisse gewechselt; es geht oft wild, sehr wild zu ... « 88) »Ich konnte wahrhaftig wie der Hauptmann einer Zigeunerbande sagen: Wir sind unserer so viel, wie Sterne am Firmament I - Ich kann Europa in kurzen, bequemen Tagereisen durchwandern ... und iiberall bleibe ich in der Atmosphare, in der ich geboren worden bin - in der Kunst - oder wenn Sie wollen, in der boheme, wie die Franzosen es zu nennen belieben.« 80) Dieser Bezug auf Paris hat sich bis heute nicht v611ig verloren, teils wegen der sprachlichen Herkunft, teils wegen des Rufes, den Paris - »Zigeunerparis«90) in weiten Kreisen genoB und noch immer genieBt, der »k1assische Boden« der Boheme zu sein 91). Dieses deutsche Paris-Bild findet in Hesses 'Peter Camenzind' 92) einen typischen Niederschlag, in dem kursorischen Bericht tiber: »diejenige Zeit meines Lebens, welche scheinbar belebter und bunter war als das bisherige und allenfalls einen kleinen Moderoman abgabe ... Wie ich in diesem verfluchten Nest [Paris] zigeunerte, verbummelte und auf verschiedenen Gebieten einen starken Tobak rauchte ... Der Sinn fiir die Romantik der Boheme ist mir seither abhanden gekommen ... Paris war schauderhaft: Nichts als Kunst, Politik, Literatur und Dirnengewasch, Nichts als Kiinstler, Literaten, Politiker und gemeine Weiber«. Noch 1916 ignorierte Adolf Genius - vielleicht aus dem politischen Affekt der Kriegszeit heraus - die Internationalitat des Phanomens vollkommen, wenn er Boheme als die »Gesamtheit der Studenten, minderwertigen Kiinstler und Schriftsteller, die in Paris ein ziemlich abenteuerlicbes Leben fiihren«, bestimmte 93). Dem damals wie heute dominierenden Wortgebrauch widersprach diese Definition; ein Menscbenalter vorher hatte ihn Daniel Sanders bereits als »die ungebundne (£lotte) Schriftsteller-Ktinstlerwelt« lexikalisch fixiert 94). Der Ausdruck war - als Selbst- wie als Fremdbezeichnung - auch in Deutschland auf keine bestimmte Richtung beschrankt. Paul Heyse benutzt ihn zumindest seit 1874: »Sie diirfen sich gar nicht genieren. Sollte es Ihnen unter uns Bohemiens 87) Hans Wachenhusen, Paris 1867. Weltausstellungsbilder, 2. Aufl., Berlin 1867. S. 59 . ••) Wachenhusen, Eva in Paris, Berlin o. J. (1868), S. 104. •0) Fanny Lewald, Villa Riunione, Berlin 1869, Bd. I, S. 14. 00) O. A. H. Schmitz, Biirgerliche Boheme, 7. Aufl. von 'Wenn wir Frauen erwachen .. .', MOOchen u. Leipzig 1918, S. 287. 91) Leo Berg, Gefesselte Kunst, Berlin 1901, S. 30. 0') Hesse, Peter Camenzind, Berlin 1904, S. 126. 0') Adolf Genius, Neues GroBes Fremdworterbuch, Regensburg 1916. 0') Sanders, Verdeutschungsworterbuch, Leipzig 1884. Ahnlich erlautert er im Encydopadischen deutsch-englischen Warterbuch von Muret-Sanders, Berlin 1901/02, Boheme als »die zigeunernde, bummelnde Literaten- und KOOstlerwelt«. Hans Schulz, Deutsches Fremdworterbuch, StraBburg 1913, verweist auf Murger und datiert fur Deutschland (zu spat) auf die achtziger Jahre. In Heyses Fremdworterbuch fehlt Boheme noch 1870, 1875 und 1879; spater verdeutscht er mit »Zigeunerbande, Bummlergesellschaft« (vgl. 2I. Aufl., 1922). Fechter, Kleines Worterbuch fur literarische Gesprache, 1950, definiert Boheme als Bezeichnung »fiir den Schauspieler, den Maler, den Schriftsteller, der auBerhalb der biirgerlichen Daseinsformen in Ateliers, moblierten Zimmern haust«.
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nicht behagen, so betrachten Sie die Sache wie ein Schauspiel«95). In den 80er Jahren begriinden seine »jiingstdeutschen« Gegenspieler eine kontinuierliche reiche Tradition deutscher Boheme-Romane, -Dramen, -Erzahlungen und -Gedichte (z. T. unter dem Einflufi von Hans Jaegers 'Kristiania-Boheme' (1885)96). Die Maler und Zeichner stellten Boheme-Cafes, -Kneipen und -Ateliers dar; 1896 und 1897 folgten die Opern von Puccini und Leoncavallo; und bis heute scheint das Sujet nicht erschopft zu sein 97). 1m Riickblick wurde der franzosische Begriff jetzt auch auf Gestalten angewandt, die ihn noch nicht benutzt hatten, so von Julius Bab auf die Kreise urn E. T. A. Hoffmann, Heine, Grabbe, Bruno Bauer 98); und Ludwig Pietsch erzahlt in seinen Memoiren »von jenen phantastisch romantischen Bohemiens, den jungen Dichtern und Kiinstlern, welche meinen intimsten Berliner Preundeskreis wahrend der ersten vierziger Jahre gebildet hatten; von den kaum minder zigeunerischen, verwegenen, jede altgeheiligte Norm und Ordnung in Staat und Gesellschaft verhohnenden, streitbaren Jiingern der 'absoluten Kritik', den 'Preien', in deren Umgang ich dann wenig spater so viel von der unwiederbringlichen Jugendzeit verzettelt hatte«99). Auch bei den Kritikern und Essayisten der Moderne - Bahr, Leo Berg, Brahm, Karl Kraus, Lublinski, Blei usw. - begegnet das Wort. Es ist seither gelaufig geblieben (die Publizitat, die der zeitgenossischen westlichen, vor allem de! amerikanischen Boheme der »heiligenBarbaren«100), der hipsters, de! »weifien Neger«101) - urn die charakteristischsten Schlagworte zu zitieren - gegenwartig zuteil wird, hat die Diskussion iiberWesen, Sinn oder Unsinn einer Boheme erneut belebt). Stets hielten und halten sich (wie auch die noch folgenden Belege z. T. erkennen lassen) Zigeuner und Vagabund gleichbedeutend, austauschbar oder erlauternd 10') neben dem Premdwort, das allerdings in unserem ••) P.Heyse, Gesammelte Werke, 1,2, hg. v. E.Petzet, 1924, S. 423, u.a. 422. Diesen Beleg verdanke ich der Berliner Arbeitsstelle des Deutschen Worte!buches. Dort auch hie! nicht zitierte Belege von Halbe, Liebermann, Rathenau, Werrel, G.Hauptmann, E. v. Winterstein, O. M. Graf, St. Zweig, Max Frisch, F. C. Weiskopf, E. Niekisch u. a. m. (vgl. Anm.84)· 'S) Vlg. die Beispiele bei F. Martini, Boheme, Reallexikon der dt. Literaturgesch., 2. Aufl., hg. v. W.Kohlschmidt u. W.Mohr, I. Bd., Berlin 1958, S. 182; Hamann/Hermand, Naturalismus, Berlin 1959, S. 65 If.; 'Urn die Jahrhundertwende', Kunstlergeschichten, Berlin 1959, u.a.m. - Wortgeschichtlich besonders ergiebig sind die Tiraden uber Boheme und »Musettismus« in Bierbaums 'Stilpe', auf den eine motivgeschichtliche Studie noch naher eingehen wird. ") Einige charakteristische deutsche Titel mit dem zugkraftigen Wort: A.Ludwig, Boheminchen. Ein freier, allzu freier Verszyklus. 10. Tausend, 1910; Margarete Beutler, Leb' wohl, Bohemel Ein Gedichtbuch, Munchen und Leipzig 1911; L.Huberman, Boheme, Heidelberg 1913; Smeykal, Lieder eines Bohemien, Leipzig 1914; Sandrock, Pariser Boheme, Roman, Charlottenburg 1914; Gurtler, Der Konig der Boheme, Gedichte, Mannheim 1915; Schone, Theater-Boheme, Leipzig o. J.; Scharfenberg, Lieder der Boheme, Munchen o.J.; Rene Prevot, Boheme, 1922; Joachim MaaB, Boheme ohne Mimi, 1930; Lorenz, Eine deutsche Boheme. Roman, Berlin 1939 . •8) Bab, Die Berliner Boheme. GroBstadtdokumente Bd. 1,1906 . ••) Pietsch, Wie ich ein Schriftsteller geworden bin, Berlin 1893, S. 156. 100) Lawrence Lipton, Die heiligen Barbaren, Dusseldorf 1960. 101) Friedrich Hansen-Love, Die weiBen Neger Amerikas, Hochland, 51. Jg., 1959; K.O.Paetel, Norman Mailer und der »WeiBe Neger«. In: Die Kultur, v. 21.6.1959. Der Ausdruck geht zurtick auf Mailer, The White Negro. In: Dissent, 1957, auch in den City Light Books und in der Anthologie The Beat Generation and the Angry Young Man, ed. by Gene Feldm an and Max Gartenberg, New York 1958, und in Mailers Advertisements for myself New York 1959, dt. 1963. 10') Fur das Moment der Erlauterung eine charakteristische Probe aus einer wissenschaftlichen Arbeit: »... de! Bohemien, der als Zigeuner im Geiste, als spiritueller Vagabund die Wurzeln seines Daseins aus dem Erdreich der burgerlichen Gesellschaft gerissen
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Jahrhundert dominiert. In der Regel bezieht es sich auf einen »unburgerlichen« Literaten - oder Kiinstlertyp, dessen Definition gelegentlich in hitzigen Debatten umstritten wird. »Bei Apoll und der Freiheit:«, verkundete Senna Hoy, »es gibt eine Boheme in Berlin, eine Boheme, der nur Eines fehlt, es ganz zu sein: ein Marchenmantel, der im Augenblick in ein Sternenland tragt, darinnen es kein Denken und kein Sinnen gibt, keine Problema und keine hirnzermarternden Fragen ... Und St. Petrus [= Hille], Tinos [= E. Lasker-Schuler] Freund, hat solchen Mantel getragen, Sommer und Winter ... « 103) - »Boheme aber«, replizierte Rene Schickele, »ist Decadence mit schlechter Haltung. Verlaine. Das ist ihr Klassiker ... Peter Hille war Asket und das Gegenteil. Boheme ist das lasterhafte Genie, das hangende Garten von Perversitaten zuchtet (in denen plOtzlich die ewigen himmelerfullten Teiche liegen 1), Boheme ist Verkommenheit und ihre Holle, im Spiegel der reinsten Menschenseele« 104). Selten erweitert sich der Begriff so weit, daB er entweder auch noch den hochstaplerischen Bourgeois-Kapitalisten oder, in anderer Richtung, den »echten« Vagabunden umgreift. Die erste dieser Moglichkeiten ergibt sich am ehesten auf aristokratisch-konservativem Standpunkt, die zweite auf anarchistischem. Jene deutet sich schon bei E. M.Arndt an, wenn er seiner Zeit vorwirft, sie habe zum Grund und Boden kein »festes und ehrbares VerhaltniB«, sondern »ein kramerliches und judisches und fast vagabundisches« 106); sie verwirklicht sich bei Maximilian Harden, der der »harmlos«-inaktuellen Boheme Murgers die aktuelle, die Grande Boheme einer (von Henri Rochefort erdachten) »Szene« gegenuberstellt, »wo ein Mann verherrlicht wurde, weil er dreimal bestraft worden war: zuerst wegen einer Betrugerei bei Militarablieferungen, dann wegen falschen Spiels in einem fashionablen Klub und endlich wegen schwerer Wechselfalschungen. Leider ist diese wahrhaft moderne Komodie nicht geschrieben worden; solche mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattete Boheme hatte man auch im Lessing-Theater gewiB verstanden.«106) Die andere Moglichkeit der Erweiterung ist in einem 'Fackel'-Aufsatz Muhsams realisiert: »Verbrecher, Landstreicher, Huren und Kunstler - das ist die Boheme, die einer neuen Kultur die Wege weist«107). Hier wird der vierte Stand, als »verburgerlicht«, zur alten Kultur der Bourgeoisie geschlagen, das »Lumpenproletariat« mit der Boheme der »Kunstlernaturen« vereinigt und beide zur kulturellen A vantgarde erkiart.
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1m ganzen zeigen sich drei Grundtypen des Wortgebrauchs, die gleichzeitig gegeben sind und sich wechselseitig herausfordern. Sie sind am leichtesten zu unterscheiden, wenn man nach den Gegenbegriffen fragt, auf die sie - ausdrucklich oder unausdrucklich - jeweils bezogen sind. Das erste Gegensatzpaar lautet: Bohemien und Burger. Jener wird positiv, dieser negativ gewertet. Zwei Unterarten sind voneinander abzuheben. Den Bohemien der ersten kennzeichnet Gautiers oben zitierte Formel: Liebe zur Kunst und Abscheu gegen den Burger. Nur der Bohemien gilt als echter Kunstler; nur der »Philister« als echter Burger. Der musische ist hier im hat.« (Th. Geiger, Aufgaben und Stellung dec Intelligenz in dec Gesellschaft, Stuttgart 1949, S. 136.)
103) Senna Hoy, Berliner Boheme. In: Das neue Magazin, 73. ]g., 1904, S. 234. 10') R. Schickele, Boheme und Berlin, ebda., S. 263 f. 10') E. M. Arndt, Erinnerungen aus dem auBecen Leben, Leipzig 1840, S. 301. 108) Harden, a. a. 0., S. 180. An anderer Stelle sieht ec in 'Mimi Pinson' die »holde UncegeimaBigkeit der Boheme verherrlicht« (Harden, Literatur und Theater, Berlin 1896, S. 35). Zur fcanzosischen Grande Boheme dec »Millionenjager« vgl. Guillemot, Le Boheme, Paris 1868. (Wedekinds 'Marquis von Keith' spiegelt den Typ.) 10') Muhsam, Boheme, a. a. 0., S. 10.
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Grunde kein wahrer BUrger; der »bUrgerliche« im Grunde kein wahrer Kiinstler. Das heiBt: Nicht im Werk, sondem im Leben bezeugt sich das »KUnstlertum«, weshalb Muhsam »unter Kiinstlem nur soIche verstanden wissen will, die ihre Kunst nicht zum Gewerbe emiedrigen, die es also unter allen Umstanden ablehnen, ohne kunstlerischen Antrieb zu produzieren. Dagegen gehoren zu den KUnstlem, die ich als outsider der Gesellschaft behandle, auch soIche, die ohne kUnstlerisch uberhaupt produktiv Zu sein, in allen ihren LebensauBerungen von kUnstlerischen Impulsen geleitet werden.«I08) »Kiinstlernatur« und »bUrgerJiche Existenz« gelten als unvereinbar; Kunst und Gesellschaft (oder »Geist« und Gesellschaft) sind hier feindlich geschieden (wobei Gesellschaft die Gesellschaft Uberhaupt oder die jeweils zeitgenossische meinen kann). Einige Beispiele: Erich Klossowski: »Montmartre ... ist ... in Wahrheit die Metropole, das geistige Centrum des Universums ... Eine .,. Welt der Poesie ... der Boheme ... mit ihrem ewigen auf und ab zwischen Leid und Lust, zwischen Not und Schwelgerei ... Nur hier ... lohnt es sich zu leben, zu lieben, zu leiden und zu dichten«.'O') Orto Flake: »Ein ausschweifendes Verhaltnis mit dem Leben fUhren zu konnen, ist daher die tiefste Lockung, die von der Idee des Ktinsderdaseins ausgeht ... einmal war man dem Ideal, vom Leben und zugleich von der Kunst einen moglichst intensiven Geschmack zu erhalten, so nahe, wie es Menschen sein konnen - damals, in den J ahren der Boheme«. "0) Ludwig Meidner: »Schwarze, unvergeBliche Raucherkammer, mit deinem BohemeRitual! ... HoI der Deibel die Vergangenheit, dacht ich begliickt; hier ist das wahre Leben I Und waren auch die meisten meiner Genossen verlaust, verwahrlost und arm, sie wurden hoch geachtet und geliebt. Jeder war ein Dichter und umflattert yom Genius«.lll) Der Bohemien der anderen Unterart erscheint als Frondeur und Rebell, in permanenter Auflehnung begriffen oder Vorkampfer einer neuen Epoche (der Kunst oder des sozialen Lebens Uberhaupt). Sein bUrgerlicher Gegentyp ist nicht der amusische »Banause« und »Bootier«, sondern der autoritatshorige, der orthodoxe oder opportunistische »SpieBer«. Beispiel: Miihsam: »Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium fur die Boheme, sondem Freiheitsdrang, der den Mut tindet, gesellschafdiche Bindungen zu durchbrechen ... Bewul3t oder geahnt - der Rebellentrotz der Fronde war bei all den Boheme-Naturen lebendig, die nur je meinen Weg gekteuzt haben«. 112) Der zweite Grundtyp konfrontiert Bohemien und Kiinstler. Hier wird jener negativ, dieser positiv gewertet. Die Aussage des ersten Typs wird ins Gegenteil verkehrt. Eine Antinomie von Kunst und Boheme wird behauptet (absolut oder fUr die jeweilige Gegenwart). Wieder sind zwei Unterarten voneinander abzuheben. Die eine bezieht sich auf das Konnen des Bohemiens oder das Niveau seines Werkes, die andere auf die Haltung des Bohemiens oder die Art seines Werkes. Die Vertreter der einen berufen sich auf ein Leistungsgefalle zwischen dem »wahren Konner« und dem Bohemien; sie bezeichnen (wie Heine, s. 0.) nur unbedeutende KUnstler als Bohemiens, Zigeuner, Vagabunden, oder sie nennen die Boheme schlechthin unschopferisch und talentlos. So Gustav Sack: »Und greife ich noch aus dem Mitarbeiterverzeichnis [der Zeitschrift 'Revolution', MUnchen 1914] die Namen auf: Erich MUhsam, Klabund, emmy hennings, Else Lasker-SchUler und das Pseudonym 'hihi', so weiB man genug ... Aber diese Schwabinger 'Kulturtat' •.. wirft ein peinlich helles Licht auf die intellektuelle Zucht- und Gewissenlosigkeit, den vol'OS) Ebda., S. 6. 10') Erich Klossowski, Die Maler von Montmartre. In: Die Kunst, hg. v. Richard Muther, Bd. 15, Berlin 1903, S. I7ff. "0) Flake, Die Boheme als soziales Problem. In: Die neue Gesellschaft, 1908, S. 22.5f. 111) Ludwig Meidner, 1m Nacken das Stemenmeer, Leipzig 1918, S. 61. 111) Miihsam, Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1958, S. 29f.
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ligen Mangel ktinstlerischer Fahigkeit und die ergotzlich harmlose Beschranktheit ... einer Boheme-Schriftstellerei, deren Zusammenhang mit der Litteratur endlich gestrichen werden sollte«1l3). - Die Vertreter der anderen Unterart stellen eine »wahre« Kunst der Boheme-Kunst oder eine »wahre« Kiinstlerexistenz (oder Rebellenhaltung) dem Bohemetum gegeniiber U4 ), dem »Sumpf der Boheme«1l5). Die tichtigen (bzw. zeitgemaBen) Prinzipien der Kunst - oder des Lebens - wiirden von der Boheme verkannt oder verraten; ihre Kunst sei dahet Unkunst oder iht Verhalten vetwerflich (unkiinstlerisch, destruktiv, unrevolutionar, cliquenhaft usw.). Auch hierher gehort sehr Verschiedenartiges, neben humanitarer und konservativ-biirgerlicher (s. o. Vilmar und Goltz) sowohl die »volkische« und nationalsozialistische ll6 ) wie die marxistische Boheme-Kritik, aber zugleich die Versuche, das Biirgertum selber (s. o. Harden) oder aber die sozialistischen bzw. faschistischen Fiihrer und Ideologen herabzusetzen: als bohemehaft, als wurzel- und skrupellos zu verdachtigen. Beispiele: Ivan Goll: »Wundere dich nicht, du kleiner zentrifugaler Erotiker aus den Boheme-Ateliers und Cafes, wenn man dich nicht versteht, verkanntes Genie: du hast keine Liebe«. 117) Johannes R. Becher (1957): »Die Boheme selber, die sich dem Burokratismus und dem SpieBburgertum so lachelnd uberlegen fuhlte, war keineswegs deren Gegensatz, sondern nur deren andere Seite. « 118) Peter Viereck: That is why a leading Munich journalist labelled the Nazi parry of the early I920's 'an armed bohemia.' This was no idle bon mot nor intended as a scornful epithet. Nor did it minimize their menace, but rather was intended to maximize it. 119)
Beide Unterarten konnen natlirlich ineinander iibergehen, wie bei Leopold Huberman: »Diese Bohemes, Pferdeverkaufer der Seele, RoBtauscher des Geistes, die wahrlich selbander gesichtstauschten, waren ihre gegenseitigen Markthandler, welche, nach Art der Zigeuner, ihre aufgestutzten Schindgaule aneinander verkauften, aber den echten Araber fiir eine Mahre ausgaben.« 120) Der dritte Grundtypus konfrontiert Boheme und Boheme, eine »echte« und eine »unechte«. In der Regel treffen wir ihn in Texten, die bestimmte Boheme-Gruppen ablehnend beurteilen. Besonders charakteristisch sind die regelmaBig wiederkehrenden Behauptungen, nur die Boheme einer bestimmten Stadt (Paris, Miinchen, Wien, Greenwich Village, San Francisco usw.) oder einer bestimmten »Generation« (der Romantik, der po8ies maudits der Moderne, der 20er Jahre usw.) sei die wahre Boheme. Meist wird, teils polemisch, teils auch nur melancholisch, eine raumlich oder zeitlich fernere gegen eine jiingere und nahere Boheme ausgespielt, von Nicht-Bohemiens im Angriff gegen die Boheme ihrer Umwelt, auch von alternden Bohemiens, die ihre Jugendboheme beschworen, und von jungen, deren Phantasie das Ferne verklart und sich an den »Legenden« iiber beriihmte Kreise entziindet. 1m iibrigen ist ein gemeinsamer Nenner fiir die jeweils positivere oder negativere Boheme nicht zu entdecken. In dies en Zusammenhang gehoren auch die 113) Gustav Sack, Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1920, S. 296. m) Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Bd. 2, Munchen 1953, S. 135 bezeichnet es geradezu als charakteristischen Zug »des modemen arrivierten Kiinstlers«, daB er »auf den Unfug der Boheme mit ubertriebenerVorsicht reagiert«. m) R.Dehmel, Ausgewahlte Briefe, 1923, S. 298. 118) Vgl. z. B. Mobius, Die letzten Bohemiens. In: Die Kunst fur Alle, 55. Jg., Munchen 1939, S. 165. 117) Yvan Goll, Appell an die Kunst, In: Portner, Literatur-Revolution 1910-1925, Darmstadt 1960, S. II4. 118) J. R. Becher, Das poetische Prinzip, Berlin 1957, S. 319. Auch Georg Lukacs lieBe sich in diesem Zusammenhang zitieren. Vgl. etwa Lukacs, Schicksalswende, Berlin 1949, S. 196. 119) Viereck, Metapolitics. From the Romantics JoHitler, New York 1941, S. I H. 120) Huberman, a.a.O., S. 15.
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zahlreichen, seit einem Jahrhundert immer wieder begegnenden AuBerungen tiber das »Ende« der Boheme oder den »letzten Bohemien«l21), ebenso der Streit, ob der »geborene« Bohemien oder der Ktinstler, der die Boheme nur als Durchgangsstadium passiert (wie Balzac, Murger, Bab, Flake [u.a.] a.a. O. erklaren), die positive Boheme reprasentieren, ob die echte Boheme-Existenz innerlich und indi viduell bedingt sei oder auBerlich, durch die Verhaltnisse, ob sie Ausdruck einer Weltanschauung oder einer Veranlagung sei, »gewollt« werden dtirfe oder nicht, ob sie historisch gebunden sei oder nicht. Beispiele: Georg Fuchs: »Man muB zweierlei 'Bohemiens' unterscheiden: soIche, die es nur 'faute de mieux' sind, solange ihnen der noch nicht errungene auBere Erfolg keine andere als eine zigeunernde Existenz erlaubt, und solche, die es von Natur sind und daher auch bleiben ... echt genialische Zigeunertemperamente ... wie Bellermann (sic) in Schweden und Verlaine«.'22) Miihsam: »Die Boheme ... wird dadurch nicht lebendig, daB von soIchen, die sich heute Boheme diinken, ihre Gesten kopiert werden«. '23) Mascha Kaleko: »Aber es ist nicht das alte ... ein Bohemien aber ist einer nur, solange er es nicht absichtlich sein mochte«. 104) Albert Mitringer: »Boheme, alter Klang mit leise schabigem Glanz, wo sind deine Jahrzehnte. Heute stiehlst du dich ins Leben recht nebenher, als ein kleines Gluck am Abend, nach des Tages Brotarbeit als eine Flucht nur in die ... Qual, ein kleiner Schopfer zu sein. Heimatlos ist die Boheme geworden und ausgestoBen wie die alten Zigeuner ... und klopft an jedes Burgers Tur ... « 126) Nicht immer ist eine eindeutige Zuordnung moglich. Ais Beispiel aus der groBen Klasse der kombinierenden AuBerungen, die an allen oder mehreren Typen partizipieren, sei einer der jtingsten Belege zitiert. Walter J ens: »Die wahren Kanner lieben Schlichtheit und Zurtickhaltung ... Offen gesagt, ich betrachte die CafehausPose, die Boheme-Attitude als Eigenrumlichkeit des MittelmaBes ... [Typ II] Boheme war einmal eine Revolution; wer aber heute, im Jahrhundert der Automation, revoltieren will, kann sich nicht damit begntigen, eine Nelke im Knopfloch zu tragen oder im Delirium dahinzuvegetieren« [III] 126). In anderen Fallen ist zwar die Zuordnung klar, aber das Urteil dennoch zwiespaltig. Wie in Verurteilungen der Boheme Faszination und Bewunderung durchschlagen konnen, so kann umgekehrt der AuBenseiter (mit Thomas Mann zu sprechen) der Sehnsucht nach den 121) Einige internationale Belege: F. Maillard, Les Derniers Bohemes, 1874; A. Lamande (1926): Ce n'est plus de boheme et de pohie que nos intellectuels de vingt ans sont affamis (zit. nach Baldensperger, a. a. 0., S. 14); Aressy, La derniere boheme, Paris 1923; H. W. Otto, Dussel-
dorfer Bohemeleben vor vierzig Jahren, Dusseldorf, 2. Aufl., 1926, S. 13 u. S. 31: »0 Jean Marx, du letzter Witt der Boheme ... Das Kunstzigeunertum paBt eben nicht mehr in unser modernes Leben hinein«; M.Raval, Leon-Paul Fargue oder der letzte Bohemien, Querschnitt 1928; J.B. Sterndale Bennett: .. . we so frequently read of the 'death of last Bohemians', that the subject is worth exploring a little further ('Bohemian Gents'. In: The Nation and Athenaeum v. 1. 6.1929, S. 3°5); M.R. Mobius, Die letzten Bohemiens, a. a. 0.; G. Cavallucci: II n'y a plus de vrais bohemes, (,Les derniers grands salons litteraires Franrais', Naples-Paris 1952, S. 57); W. Mehring: »Vernichtet ist der freie Oberstaat Boheme, seit Europa sich in ein Zigeunerlager aufgelost hat« (Die verlorene Bibliothek, Hamburg 1952, S. II5); Horst Kruger, Nachruf auf den Bohemien, Aral-Journal, Fruhjahr 1962, usw. Die nichtdeutschen Belege sind mit angefuhrt, damit ganz deutlich wird, daB es sich hier urn ein uberregionales Phanomen handelt, das notwendig mit der Boheme verbunden ist. 122) Georg Fuchs, Sturm und Drang in Miinchen urn die Jahrhundertwende, Munchen 1936, S. II6f. '23) Muhsam, Unpolitische Erinnerungen, a.a.O., S. 32. m) Mascha Kaleko, Boheme unterWolkenkratzern. In: Christund Welt, 9. Jg., Nr. 15, 195 6, S. 9. 126) Mitringer, Die Boheme vom Grund, Wien 1947. "S) Umfrage der 'abschnitte', a. a. O.
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»Wonnen der Gewohnlichkeit« verfallen. Dies kann zwar zu radikalem Umschlag der Wertung ftihren (zum Renegatentum) gemaJ3 der Beschreibung Nietzsches: »Deine Gefahr ist keine kleine, du Freier Geist und Wanderer I ... Solchen Unstaten, wie du, dtinkt zuletzt auch ein Gefangnis selig. Sahst du je, wie eingefangene Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie genieJ3en ihre neue Sicherheit ... Dich namlich verftihrt und versucht nunmehr jegliches, das eng und fest ist«1I7). Doch kann sich auch ein Zwischenzustand ohne Eindeutigkeit des Urteils befestigen, wie bei Thomas Mann, der in soIcher Ambivalenz geradezu ein Charakteristikum des Ktinstlers gesehen hat: »... der Urheber soIcher SpaJ3e (der Kunstwerke) hat unbedingt nicht das Geftihl, einer besonders achtenswerten Beschaftigung obzuliegen. Nach seiner Auffassung ... treibt er Allotria, mit denen er dem Ernst des Lebens auf recht abseitige und unerlaubte Weise ein Schnippchen schlagt, und sein Gewissen als Mitglied der menschlichen Gesellschaft, deren Ansprtiche bei so unseriosen Neigungen zu kurz zu kommen pflegen, ist denn auch nicht das beste. Ich beschreibe da die Boheme-Stimmung des Ktinstlers, denn Boheme, psychologisch gesehen, ist ja nichts anderes als soziale Unordentlichkeit, das in Leichtsinn, Humor und Selbstironie aufgeloste schlechte Gewissen im Vcrhaltnis zur btirgerlichen Gesellschaft und ihren Anforderungen. Der Boheme-Zustand des Ktinstlers, den er ganzlich niemals verlaJ3t, ware jedoch nicht vollstandig bestimmt, wenn man ihm nicht einen Einschlag von geistigem und selbst moralischem Dberlegenheitsgeftihl tiber die ztirnende btirgerliche Gesellschaft zusprache ... so daJ3 denn die Boheme-Ironie mindestens doppelseitigen Charakter gewinnt und sowohl Selbstironie wie auch Ironie gegen die btirgerliche Gesellschaft ist.«128) Die meisten Be1ege zeugen von einem affektbesetzten, ideologisch-polemischen Wortgebrauch, dessen Grundtypen, aufeinander bezogen, sich wechselseitig aufheben, vermutlich aber auch in Zukunft unverandert in Erscheinung treten werden 129). Unsere Aufteilung hat den Nachteil, AuJ3erungen, die verschiedenen Mo117) Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Klassiker-Ausgabe, 6. Ed., Stuttgart 1921, S·39 8f. 128) Th.Mann, a.a.O., Bd.X, S. 389f. 109) DaB diese Grundtypen auch die gegenwartige deutsche Diskussion tiber die amerikanischen »Beatniks« bestimmen, ist leicht zu zeigen. Die 'Welt' Nr. 189 v. 16.8.1958 klassifiziert die Beatniks als »echte Boheme« im positiven Sinne (I): »Sie will dem Rattenrennen, das die heutige Mittelklasse Leben nennt, entrinnen und ihre eigene Welt schaffen, in der sie ihre Kunst schopferisch-unabhangig entwickeln kann« (R.A.Braun). Hans Sahl in der 'Stiddeutschen Zeitung' v. 18.7.1959 reagiert ablehnend (II); auch er erkennt sie als »Boheme«, zieht aber gerade daraus den SchluB, Amerika hole nun auch Europas »Auflosungserscheinungen« nacho Hansen-Love, a. a. 0., klassifiziert die Beatniks als »Pseudorevolutionare, Mochtegem-Radikale« und gleichzeitig als »die Nachmacher und die Nachmacher der Nachmacher der Mochtegem-Bohemiens« (IIT), a. a. 0., S. 522. Mit umgekehrter Wendung setzt K.O.Paetel in der 'Kultur' V. 15.9.1959 die Beatniks positiv gegen die »parasitaren, unschopferischen Bohemiens« abo Neben den AuBerungen, die die Beatniks als eine spezifisch amerikanische Auspragung der Boheme betrachten, begegnet neuerdings oft ein erweiterter Beatnik-Begriff. So schreibt z. B. R. Dohl in der Studentenzeitung 'Notizen' (5. Jg., Juli 1960, S. 25) tiber eine »deutsche Spielart des beatniks«, W.BronskaPampuch in der 'Stuttgarter Zeitung' V. 7.12.1961 tiber die sowjetische Kritik an derVerherrlichung der russischen »'Stiljagi', Beatniks und Nichtstuer«, E.Freundlich in der 'Kultur', 10. Jg., Nr. 170, tiber Peter Altenberg unter dem Titel: »Der erste Beatnik«. Auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Harry T. Moore internationalisiert den Begriff: I've even seen Beatniks (native) in Switzerland. They're reported in Prague and other places in the Soviet bloc,' there are Japanese versions of them, too. I've seen the beginnings of colonies of Beats on the Left Bank in Paris and in London's bohemian Soho section. (In: Parry, Ga"ets and Pretenders, 2. Aufi., New York 1960, S. 389). DaB in USA der Begriff gleichfalls schon aufhistorische Phanomene tibertragen wird, bezeugt ebenfalls Moore (a. a. O. S. 387): The Hipscan
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tiven in verschiedenen historischen Situationen entspringen und sich auf verschiedene konkrete Objekte beziehen, »formalistisch« abstrahierend zusammenzufassen. Indessen verwehrt die subjektive Willktir des Wortgebrauchs ein anderes Ordnungsprinzip, solange wir den Ausdruck undnicht das konkrete Phanomenins Auge fassen. Unser wortgeschichtlicher Dberblick bestatigt die »Meinung« Gustav Landauers, »daB solche zusammenfassende Bezeichnungen, wie Boheme, An3rchismus, Nihilismus sich jeder formelhaften Definition entziehen. Es sind historisch gewordene Sammelnamen, deren voller Inhalt sich nur in historischer Betrachtung darstellen laBt«130) 131). Eine solche setzt allerdings doch wieder eine Begriffspragung voraus, eine soziologische Abgrenzung, die die Auswahl des historischen Materials bestimmt. Wissenschaftliche Versuche in dieser Richtung liegen schon vor; ihnen ist der nun folgende Teil gewidmet. II.
ZUM BOH:EMEBEGRIFF IN DER WISSENSCHAFT
Der Boheme-Begriff wird heute auch in der Wissenschaft, meist ohne spezielle Definition, mit Selbstverstandlichkeit angewandt 1). Eine Boheme-Forschung gibt es allerdings noch kaum, wenn man darunter eine Spezialliteratur von innerem und auBerem Zusammenhang versteht, in der gesicherte Erkenntnisse weitergegeben, Thesen wechselseitig kritisch erortert, neue Ansatze jeweils auf den Stand der Forschung bezogen werden. Die internationale Boheme-Literatur ist zwar tiberaus umfangreich, ftir einen Einzelnen Hingst untiberschaubar, aber sie setzt sich, auBer aus fiktionalen Werken, hauptsachlich aus biographisch-autobiographischer Literatur, aus Essays, Anekdoten, Feuilletons u. a. zusammen und ist im ganzen weniger aufVermittlung kontrollierbarer geschichtlich-soziologischer Erkenntnisse bedacht als auf literarische Wirkung: in der hingebenden Schilderung der bizarren Ztige und im Bericht von ungewohnlichen Einzelepisoden des Boheme-Lebens wie in der pointierenden Erinnerung an bekannte Personlichkeiten. Die Geisteswissenschaften betrachten bertihmte Schriftsteller, Ktinstler oder Politiker der Boheme i. a. naturgemaB nicht aufgrund ihres Bohemetums und im Hinblick aufjenes, sondern ordnen sie in ganz andere Beztige ein und weisen sie den verschiedensten Disziplinen zu. Literatur tiber bestimmte empirische Boheme-Zentren (wie Montmartre, Schwabing, Ascona, Greenwich Village) ftigt sich z. T. in lokalhistorische Zusammenhange ein, fand auch mehr oder weniger regionale Beachtung, hat aber keinerlei Konnex zur entsprechenden Literatur anderer Regionen und ist nicht selten auch so stark von den historisch-regional bedingten (nicht schon im Boheme-Charakter call Baudelaire a Beat ... but he wasn't ... Noch weiter geht Lipton (s. Anm.loo), der die Vaganten die »Beatniks des zwolften Jahrhunderts« nennt (S. 187). Ob sich hier die
Verdrangung der alten franzosischen Vokabel durch eine synonyme amerikanische anbahnt oder ob es sich (wie ich vermute) urn einen ephemeren Wortgebrauch handelt, bleibt abzuwarten. 130) Das gilt nicht nur fur Deutschland. Sterndale Bennet erkIart daher zu der Frage What is a Bohemian? unumwunden: The truth is, of course, that we can, wilhjuslice, supPlY any description we please, a. a. 0., S. 305. 181) Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen. Vnter Mitwirkung v. Ina BritschgiSchimmer hg. v. Martin Buber, Bd. I, Frankfurt/Main 1929, S. 126. ') Willkiirlich herausgegriffene Beispiele: F.J.Schneider wendet ihn auf Grabbe an (Schneider, Christian Dietrich Grabbe, Moochen 1934, S. 5), Viktor Klemperer auf die Frtihzeit von Diderot (Diderot, Erzahiungen und Gesprache, Leipzig 1953, S. XIX); E. T. Sehrt im 'Kleinen Literarischen Lexikon' (3. Auf!. 1961) auf verschiedene englische Autoren. Allgemeinere Bemerkungen finden sich wiederholt in verschiedenen Arbeiten von Richard Alewyn und Marianne Thalmann usw.
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begrtindeten) Besonderheiten ihres Objekts gepragt, daB sie nur mittelbar zur Boheme-Literatur zu rechnen ist. Da es zur Boheme weder Bibliographien noch eine internationale communis oppinio der Wissenschaft gibt, tendierten Autoren mit andersgerichteter Fragestellung, die auch die Boheme bertihren, dazu, ihren Boheme-Begriff weniger aus der Sache als aus dem tibergreifenden Zusammenhang ihrer Untersuchung zu gewinnen, und die speziellen Studien entstanden, in wirkungsschwacher Vereinzelung, fast ohne Kenntnis voneinander, so daB auch sie bisher keinen Forschungszusammenhang begrtindeten, durch Zitat, Zustimmung und Kritik. Die internationale Verbreitung der Boheme und die Vielfalt ihrer Aspekte sind einer Boheme-Forschung also noch nicht zugute gekommen, im Gegenteil. »Technische« Grtinde mogen mitspielen: Dokumente der Boheme sind untiberblickbar zahlreich (da tiberall Schriftsteller und Ktinstler zu ihr zii.hlen), andererseits aber zu einem wesentlichen Teil schwer auffindbar oder zuganglich (da es Dokumente von Anfii.ngern oder AuBenseitern sind). Wohl noch schwerer wiegen die Hemmungen der Wissenschaftler, sich mit einem »unseriosen« Objekt zu befassen (ohne den Druck praktischer Interessen, wie er z. B. im Fall der Landstreicherei oder der Kriminalitat gegeben ist), um so mehr, wenn es den Rahmen einer Disziplin durchbricht. Eine nattirliche Spannung zwischen Wissenschaft und Bohemetum macht sich hier geltend (die Freilich die Existenz einer - begrenztenWissenschaftsboheme nicht ausschlieBt.) So ist es gewiB bezeichnend, daB die erste Studie, die kurz nach der J ahrhundertwende, mit wissenschaftlichem Anspruch, die Geschichte der Berliner Boheme zwischen E. T.A.Hoffmann und Erich Mtihsam skizziert, von Julius Bab stammte - d. h. von einem jungen Kritiker und Dichter, der den »ziinftigen« Normen entruckt war -, und daB sie - als Zwitter von Feuilleton und historiographischtypologischem Versuch - sowohl als Artikelfolge der 'Berliner Volkszeitung' (Marz 1904) wie in Buchform erschien Z). Sie war als kleine Vorarbeit »zu einer groBen historisch kritischen Arbeit« (die nie erschienen ist) gedacht, »in der das Kultur-Zigeunertum, d. i. die zentrifugalen Elemente der Menschheit eine Betrachtung finden sollen, die sich zum GrundriB einer neuen Wissenschaft auswachsen dtirfte: der As 0 z i 0 log i e« (Vorwort). Bab will alle Trager »antisozialer Opposition« unter den Boheme-Begriff subsumieren, »vom Pratorianer- und Verbrechertum bis zum Handwerksburschen und Commis voyageur« (S. 9), beschrankt aber seine Darstellung klugerweise trotzdem auf die Boheme in dem seiner Meinung nach »willktirlich verengten Sinne«, der »nur die gesellschaftsfltichtigen Elemente der oberen Kulturschicht, speziell des Ktinstler- und Literatentums meint« (S. 8, Anm.). Er spaltet seinen zweiten, engeren Begriff noch weiter auf: er bedeutet erstens eine zeitlose »Lebensart des Bohemiens« und zweitens die »moderne«, also geschichtlich begrenzte »Gemeinschaft der Bohemiens« (S. 33, Anm.) Die erste sieht Bab immer und tiberall entstehen, wo Trager unkonventioneller Ideen sich mit den »herrschenden Lebensgewohnheiten« nicht vertragen und die wirtschaftliche Lage von Ktinstlernaturen schlecht ist (S. 6). Sie kann eine »heilsame Jugendkrankheit« sein, bei solchen, »die sich ins Geftige der hemmenden Kulturgemeinde hineinfanden, um nun von innen aus zu bess ern und auszubauen«, oder ein Dauerzustand, bei solchen »Naturen«, die »sich nie den 2) Julius Bab, Die Berliner Boheme, GroBstadtdokumente, Bd. 2, Berlin u. Leipzig 1904. Der nun folgende Dberblick erstrebt keine Vollstandigkeit (die gar nicht zu erreichen ware), beabsichtigt jedoch, die aufgefundenen Definitionsversuche aus dem Bereich der Wissenschaft sorgfaltig wiederz ugeben und kritisch zu vergleichen, so daB sich eine zureichende Ausgangsbasis u nd ein nlitzlicher Bezugspunkt flir kiinftige Neuansatze ergibt.
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Schranken der sozialen Gemeinschaft zu fiigen« vermagen. Shakespeare (gegeniiber Marlowe), Goethe (gegeniiber Lenz), Hebbel (gegeniiber Grabbe), Dehmel (gegeniiber Conradi) werden dem ersten Typ zugeordnet - schon die Auswahl Hil3t erkennen, daB Bab ihn haher bewertet. Aber auch das asoziale »Wesen« der »eigentlichen Bohemiens« wird gerechtfertigt - durch einen paradoxerweise sozialen »Sinn«: »sie zeigen jedes Gebrechen am Karper der Gesamtheit, sie dekken jede Wunde auf - sie werden so die Anreger der Heilkunst, die Treiber des Fortschreitens - sie sind yom Geschlecht Mephistos, der stets verneint und deshalb ewig bewegt« (S. 8zf.). Boheme im zweiten Sinn (der »Gemeinschaft«) wird »erzeugt« von den groBstadtischen »Zentren moderner Kultur«, in denen »kritische Erkenntnis und Neuschapfungswille weit schneller keimt und reift als eine soziale Maglichkeit ihnen innerhalb der Gesellschaft nachzuleben - und da entstehen die trotzig genialen AuBenseiter, die Bohemiens. Die GroBstadt ziichtet und sammelt und verbindet sie - Bohemiens einzelne hat es immer gegeben, eine »Boheme« gibt es aber erst, seit es moderne GroBstadte gibt.« (S. 33) Der kleine Band ist nicht nur eine Arbeit iiber die, sondern zugleich ein Dokument aus der Boheme, auf dessen Inhalt Autoren wie Richard Dehmel und Gustav Landauer EinfluB nahmen. Bab erhielt den AnstoB zu seiner Studie offenbar aus der persanlichen Verbindung mit Zeugen der fiir ihn schon legendaren »neuromantisch individualistischen [Boheme] der 90er Jahre« (S. 73) und aus seiner Antipathie gegen die Kabarett- und Cafeboheme (»Cafe des Westens«) nach 1900, die er aus eigener Anschauung kannte. Darin liegt der Wert seiner Studie, wahrend die soziologisch-historische Abgrenzung und Erklarung der Boheme allzu vage bleibt. Er vermittelt zwischen den (ihm unbekannten) Chronisten der Boheme, die zu ihr gehoren (im 19. Jahrhundert sind Delrau und Maillard in Frankreich hervorzuheben), und den Gelehrten, die sie von auBen betrachten. Auch noch der Aufsatz des Soziologen Paul Honigsheim 3) scheint durch eigene Beobachtungen (im Heidelberger Cafe Haberlein) angeregt worden zu sein. Aber im Gegensatz zu Bab erstrebt er nicht eine vorwiegend historisch individualisierende, inhaltliche, sondern eine vorwiegend formale, generalisierende Betrachtung. Er erreicht als Gewinn eine sinnvoll vergleichende Beschreibung »des« BohemeKreises als unverwechselbar spezielle »Beziehungs- und Wirkungsform«. Weniger iiberzeugend sind seine Antworten auf die Fragen nach der historisch-sozialen Funktion und dem historisch-konfessionellen Ursprung der Boheme. Er faBt die geschichtliche Entwicklung seit dem Mittelalter - mit den soziologischen Kategorien von Tonnies - als einen Dbergang von der »Gemeinschaft« zur »Gesellschaft« auf, der bestimmte »Verbande« wie »Familie, privilegierte Stande usw.« in eine widerspriichliche Position geraten lasse: da sie »Formen« seien, die auch dann noch »als typischer Ausdruck des Gemeinschaftsdaseins angesehen werden« und »mit dem Anspruch auf absolute Giiltigkeit und auf verpflichtende Bindung des Individuums auftreten«, wenn sie bereits »tatsachlich weitgehend zweckrational und vergesellschaftet worden sind« (S. 67). Boheme gilt Honigsheim als Protest »gegen diesen Rest von Gemeinschaft oder diese Pseudogemeinschaft« (S. 67), als »Gegenschlag gegen Seinsformen, die mit dem Anspruch auftraten, bindende heilige Gemeinschaften zu sein, in Wahrheit aber reine Gesellschaften geworden waren« (S. 70). Das Verengende dieser Deutung wird schon sichtbar, wenn man sie an Honigsheims eigenen Beobachtungen miBt: lassen sich doch z. B. die exzentrische S) Honigsheim, Die Boheme. In: KaIner Vierteljahreshefte f. Soziologie, ill. Jg. 19Z3/ 19 z4·
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»Tracht« der Boheme oder die Ablehnung der »Geldwirtschaft« (zwei Ziige, die er selber hervorhebt) ebensowenig ohne Zwang als »Schlag« gegen scheinhafte Gemeinschaftsreste interpretieren wie etwa die Abneigung gegen einen »biirgerlichen Beruf«. Entsprechendes gilt fiir die historische Genese. Honigsheim verficht die These, »dafi sich im gegenreformatorischen Kulturkreis der Typ der Boheme entwickelt, der von da aus weiter urn sich greift, und der schliefilich bei zunehmender Internationalisierung und Interkonfessionalisierung der Kultur auch in protestantischen Stadten auftritt« (S. 69). Die Boheme-Lokale oder -Zirkel, die er fiir die katholischen Stadte Paris, Miinchen und Diisseldorf anfiihrt, gehoren jedoch aIle ins 19. oder 20. J ahrhundert (fiir die er auch eine protestantische Boheme konzediert); dafi sich in der Gegenreformation die Opposition der Boheme »in ganz einzigartiger Ungehemmtheit« habe entfalten konnen (S. 69), wird durch kein Beispiel belegt; es erscheint auch zweifelhaft genug, wenn wir aufs 17. oder 18. J ahrhundert blicken, ob das Literatentum in Wien oder Miinchen - urn zwei katholische Metropolen zu nennen - tatsachlich bohememafiiger anmutet als in London oder Leipzig. So richtig es ist, dafi calvinistische oder lutherische Glaubigkeit orthodoxer Pragung sich schlecht mit Boheme-Tendenzen vertragen, so verfehlt ist doch die Konstruktion einer »Kausalrelation zwischen Katholizismus und Boheme« (S. 67). Zusammenhange zwischen der konfessionellen Spaltung und der Entstehung der Boheme existieren sicherlich nur in vielfaltig vermittelter Form, und der Einflufi der Gegenreformation diirfte darin eher geringer sein als das geistige Erbe etwa religioser Ketzerbewegungen und der utopistisch-revolutionaren Intelligentsia der Reformationsepoche. 4) Der russische Literarhistoriker Vladimir Frice 6 ) definiert 1930 die Boheme als den literarisch-kiinstlerisch tatigen Teil eines Intelligenzproletariats, das sich im Zuge der kapitalistischen Entwicklung aus abgewanderten, deklassierten jungen Intellektuellen des pauperisierten dorflichen, grofistadtischen, vor allem aber provinzstadtischen Kleinbiirgertums abseits des sozialistischen Arbeiterproletariats bildet, in den Schenken der Metropolen versammelt und mehr oder weniger der Bourgeoisie opponiert. Mit Recht beschrankt Frice die breite, soziologisch interessante Boheme auf das 19. und 20. Jahrhundert. Wenn er die englische Boheme dennoch schon in den Kneipen der elisabethanischen Theaterwelt beginnen lafit, die franzosische so gar schon mit Frans:ois Villon, wenn er Dichter wie Marlowe, Greene und Theophile de Viau als typische Bohemiens bezeichnet (verfiihrt durch Bohemiens des 19. Jahrhunderts, die diese Dichter fiir die Boheme reklamieren), so stellt er seine historisch-soziologische Definition selber in Frage, auch noch mit der Zurechnung Bellmans und J.Chr.Giinthers zur Boheme (als angeb.) So meint Norman Cohn CDas Ringen urn das Tausendjiihrige Reich', Bem u. Munchen 1961), daB in der »Unruhigen Welt der deklassierten Intellektuellen und Halbintellektuellen« des Mittelalters der »revolutionare Messianismus« geboren worden sei, der die radikalen Bewegungen des zoo Jahrhunderts bestimme. Er beschreibt diese »enttauschte und eher minderwertige Intelligentsia« mit fast denselben polemischen Worten (und in der gleichen politischen Einstellung) wie Albert Salomon CFortschritt als Schicksal und Verhiingnis', Stuttgart 1957) die »messianischen Bohemiens« des franzosischen Friihsozialismus. - Man denke auch an die Rolle der Bauemkriegsideologen in der Literatur, im Drama bis hin zu Friedrich Wolf und Sartre, oder an Gustav Landauers Berufung (Die Revolution. Die Gesellschaft Bd. XIII, 1907, S. 57) auf »die Landordnung Michel Geismairs«, den »Aufruf der oberliindischen Bauem«, die »weitverzweigte Fulle von Geist und Tatgenie, deren hochste Vertreter Carlstadt und Thomas Miinzer waren«. ") Vladimir Frice, Bogema. Literaturnaja Enciklopedija, Moskau 1930. - Eine Dbersetzung dieser und anderer russischer Definitionen danke ich Dr. Anja Winkler.
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licher Gegner des Feudalismus). Frice lal3t aul3er acht, dal3 nicht nur intellektuelle Proletarier zur Boheme zahlen, sondern auch Ktinstler aus reichen Kreisen, dal3 andererseits die proletoiden Schriftsteller und Ktinstler aus dem Kleinbtirgertum nicht als soIche schon Bohemiens sind, - sondern lediglich der soziale Hauptnahrboden der Boheme, die durch Gesinnung und Lebensstil bestimmt wird. Hohepunkte der Boheme sieht Frice mit Grund bei den Romantikern und Symbolisten Frankreichs, den Naturalisten und ihren Nachfolgern in Deutschland, den Futuristen in Rul3land. Die angelsachsiche Boheme halt er ftir (auch quantitativ) unbedeutend (was bedingt sei durch geringeBedeutung des Kleinbtirgertums und rasche kapitalistische Fortschritte in England und Amerika) - eine zweifelhafte These, die ftir die Vereinigten Staaten durch lokale Boheme-Studien (s. u.) eben so widerlegt wird wie ftir England, wo Arthur Ransome schon 1907, in einem Band ohne wissenschaftlichen Anspruch die Londoner Boheme beschrieb, whose existence is denied by the ignorant 6 ). Wahrend Friee der »btirgerlichen« Boheme immerhin Sinn und Berechtigung zugesteht, halt er die sowjetische Boheme flir unbedingt sinnlos und schadlich. Jene beurteilt er, wie wir sahen, mit Hilfe historisch-soziologischer, diese - in allzu unbektimmertem Methodenwechsel- mit Hilfe psychologisch-moralischer Kategorien (als undiszipliniert, einsichtslos usw.). Der bolschewistische Politiker und Schriftsteller Lunacarski ') hatte schon einige Jahre zuvor die Boheme aus den gleichen 6konomischen Entwicklungen wie Fritsche erklart, ihre Entstehung aber - konsequenter, wie mir scheint - auf den Anfang des 19. Jahrhunderts datiert. 1m Nachkriegsmilieu der im Ersten Weltkrieg besiegten Lander findet er ihre politisch, unter den Futuristen, Surrealisten und Dadaisten ihre literarisch radikalste Auspragung, doch zahlt er zu ihr auch Heinrich Mann und Sternheim, Georg Kaiser und Chesterton. Ais ein Derivat des bedrohten Kleinbtirgertums neige sie zwar zum Kommunismus, in den sie ultraradikale Tendenzen hineintrage, stehe sie aber auch dem Faschismus offen. Lunacarski betont das Streben des Bohemiens nach klar umrissener Individualitat, programmatischer Originalitat, ohne diese Erscheinungen historisch zu erklaren und ftir die begriffiiche Unterscheidung von pauperisierter Intelligenz schlechthin zu benutzen. Dies hat wenig spater Robert Michels 6) nachgeholt. Ohne Kenntnis seiner wissenschaftlichen Vorganger, aber ausdrticklich im Anschlul3 an Murger definiert er das Bohemetum als Durchgangsstadium junger Ktinstler und Intellektueller in den Erfolg oder die Niederlage (der »gescheiterten Existenz«), konstatiert er in seiner »psychologischen Analyse« u. a. Gleichgtiltigkeit gegen materielle Werte, Flucht vor Einsamkeit und vor Zwang, Ablehnung von Konventionen und »Liebe zur individuellen Freiheit« (nicht zuletzt zur Geschlechtsfreiheit) als seine Kennzeichen. So hebt es sich als »Willensakt«und »Lebensstil«,als »Laune« oder »Dberzeugungssache« vom rein 6konomisch bedingten »geistigen Proletariat« ab, wahrend der gleichfalls benachbarte Typ des »Hobo« sich durch parasitaren Charakter und Faulheit unterscheide, »Eigenschaften, die bei den Bohemes, wenn tiberhaupt vorhanden, nicht konstitutionell, sondern nur Fiktion und Pose sind« (S. 807). Diese Abgrenzung tiberzeugt nicht, da auch beim Hobo Parasitentum und Arbeitsscheu schwerlich »konstitutionell« sind. Was ihn als wandernden Gelegenheitsarbeiter vom Bohemien unterscheidet, sind eher das Vorwiegen manueller Tatigkeiten, die geringere Ortsfestigkeit, der im ganzen niedrigere soziale Status, die geringere 6) A.Ransome, Bohemia in London, London 1907, S. 10. ') A.Lunaearski, Bogema. Bol'saja Sovetskaja Enciklopedija Bd. 6, Moskau 1927. 8) RobertMichels,a.a.O. (s.I, Anm. II).
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(uncharakteristische, namlich auf eine Minoritat beschrankte) lntellektualitat und Verflechtung mit dem intellektuellen Leben 9). Die geschichtliche Geburt der Boheme versetzt Michels in die nachnapoleonische Zeit in F rankreich wie in Deutschland (seine Beispiele: E. T. A. Hoffmann und Jean Paul), wo sie starker Wurzel gefal3t habe als in Italien oder England. Paris sei ihr eigentliches »Vaterland«, ihr gunstigster Nahrboden, wahrend sie sich in Deutschlandlangsam entfaltet und erst am Ende des 19.J ahrhunderts verbreitet habe (Beispiele: Peter Hille, Schwabing). Michels sieht die Boheme vorbereitet durch die Tendenz Zu freien Studien und die Konkubinatsverhaltnisse im Frankreich Ludwigs XV. und Ludwigs XV!., in ihrem Gedeihen begtinstigt durch die Existenz eines schwachen, aber geordneten Staates und eingebettet in die Zeitstromungen des Pazifismus (in der Reaktion auf die Kriege) und der Begeisterung fur Kunst, Wissenschaft und Personlichkeit (auf Kosten starker ethischer Prinzipien). Michels konnte sich auf nicht wenige franzosische Aul3erungen zur Boheme berufen, die ebenfalls die romantischen Pariser Zirkel urn 1830 und Murgers 'Vie de Boheme' als festen Mal3stab nehmen, Abweichendes nicht als Boheme klassifizieren (auch dann nicht, wenn es ins Radikale abweicht) und z. T. sogar die Konsequenz ziehen, den Begriff (wenn nicht ausdrlicklich und theoretisch, so doch praktisch) auf Phanomene der romantisch-realistischen Phase der franzosischen Literatur (und des Quartier Latin) im 19. Jahrhundert zu beschranken. Das gilt nicht nur fur antiromantische, politisch engagierte Schriftsteller wie Paul Reboux 'O), dem z.B. ein Jules Valles nicht eine spatere, politisch radikalere Boheme reprasentiert, sondern einen Gegensatz und die historische Ab16sung des Vie de Boheme, das er aus der Langeweile angesichts eines stagnierenden sozialen Lebens erklart: das gilt auch fUr Henri Bourrelier l1), der in seiner Geschichte des Quartier Latin la Vie du Boheme nur im Rahmen der Epoche des Romantisme behandelt und sich daher ohne Vorbehalt an die folgende pragnante Formel von Charles Seignobos zu halten vermag: Cette revolte se manifestait dans la vie, par un costume excentrique, une allure provocante, des moeurs /ibres; dans /a /itterature, par Ie mepris des oeuvres c/assiques, des sujets antiques, du sty/e nob/e, et par I' admiration des /itteratures Itrangeres '2 ). Zu diesem apolitisch-romantischen Bild der Boheme bilden einige politische Theorien ihrer geschichtlichen Rolle einen schroffen Kontrast. Fur Theodor Geiger 'S ) ist die Boheme eine »unangepaBte Sondergruppe an der Peripherie der burgerlichen Gesellschaft« (S. 87), in der sich »der ewige, leibhaftig gewordene Protest der reinen lntelligenz gegen ihre eigene Unfreiheit in der Gestalt der Burgerlichen lntelligenz« verkorpert (S. 135). Sie besteht »nicht nur aus Malern und Dichtern, sondern auch aus Komponisten und Philosophen, Soziologen und Politikern« (S. 134ff.). lndem er eine Masse sogenannter «Mitlaufer und Nachaffer« abtrennt, prapariert Geiger eine »echte« und »wirkliche« Boheme heraus, die »keine kunstlerisch-asthetische Erscheinung« sei, sondern eine »politische«, namlich die 9) A hobo 'works and wanders', a tramp 'dreams and wanders', definiert Ben L. Reitman nach dem Dictionary oj the Underworld, New York 1950. Zum Hobo vgl. noch N.Anderson, The Hobo, Chicago 1923, und Hanna Meuter, Die Heimlosigkeit, Jena 1925. 10) Reboux, La vie de Boheme. In: La vie parisienne a I'Cpoque romantique, Paris 1931. Das Beispiel ist ebenso beliebig herausgegriffen wie das folgende in Anm. 11. ") Henri Bourrelier, La vie duQuartier-Latin des origines ala Cite Universitaire, Paris 1936. Charakteristisch ist unter diesem Gesichtspunkt ein Titel wie der der Nimwegener Dissertation von J. P. van der Linden: Alphonse Esquiros. De /a Boheme Romantique ala Republique Socia/e, Heerlen/Paris 1948. Dagegen flihrt z.B. Ernest Raynaud, La Boheme sous Ie second empire, Paris 1930, S. 8, die Bohemejusqu'au vagabond Homere zuNck. 12) Charles Seignobos, Histoire sincere de la nation jranraise, Paris 1946, S. 287f. 13) Geiger, a.a. O. (s. I, Anm. 102).
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»Erzfeindin der Burgerlichen Gesellschaft« in der Gestalt einer »Hyperintelligenz« von extremem Spiritualismus, die den heillosen Bruch von Idee und WirIdichkeit, Geist und Macht erkannt und daraus in »absurdem Radikalismus« die Konsequenz reiner A- und Antisozialitat oder »des absoluten und permanenten Aufruhrs« gezogen habe. »Der Erztyp der Boheme ist der Anarcho-Nihilist« (S. 138). Damit ist der Begriff des Anarchismus beruhrt, den - neben anderen - spater noch Salomon (s. u.) auf die Einstellung des Bohemiens ubertrug und den bereits Bab auf sie anzuwenden versucht hatte. Trotz der Erkenntnis, daG der Anarchist, oft genug »von unserer Gesellschaft ausgestoGen«, die gleiche »Lebenslage« und gleiche »Lebensformen« wie der Bohemien hat, setzt Bab ihn dies em »hart« entgegen: der Anarchist sei der »soziale« Kampfer fur eine andere, der Bohemien der »asoziale« Gegner aller Gesellschaft; jenerverneine» bIos die beherrschte «, dieser aber »j ede Form des sozialen Lebens«U). Bab wie Geiger scheinen hier unhistorisch und unsoziologisch Zu verfahren. Statt ihre Definitionen auf ihre empirischen Beobachtungen abzustimmen, messen sie die Empirie an ihrer vorgefaGten »Idee« des Objekts. So laGt Geiger die empirisch vorgefundenen Elemente der Boheme nicht als solche gelten, erklart sie ohne historisch-soziologisches Kriterium - fur un-»echt« und beschrankt den Begriff auf einen einzigen uberzeitlichen, psychologischen Typus, der unleugbar in der Boheme eine wesentliche Rolle spielt, aber auch auGerhalb ihrer vorzukommen vermag, und der die Boheme nie allein konstituiert, sondeen nur in Verbindung mit anderen, unter denen nicht nur »Nachaffer« einer politis chen Alles-oderNichts-Haltung sind, nicht nur »Mitlaufer eines politisch aktivistischen Nihilismus«, sondern auch Personen mit anderen Einstellungen, Wegen und Zielen. Die Boheme Schwabings und des Dadaismus (der Geiger seine empirischen Exempel entnimmt) fugt sich nicht in das Prokrustesbett seiner Definition, die anclererseits in geschichtlicher Anwendung so unbestimmt und dehnbar ist, daG Geiger sich versucht sieht, Diogenes »denersten Bohemien« zu nennen (a.a.O., S. 136). Entsprechendes gilt fur Bab. DaG nicht jeder Anarchist (wenn man den Begriff, wie hier Bab, im engeren Sinne nimmt und nur auf die bewuGten Verfechter einer hochgradig zwangs- und damit staatsfreien Gliederung der modeenen Gesellschaft bezieht) ein Bohemien ist (und nicht jeder Bohemien ein Anarchist), liegt Idar zutage; das eine ist man aufgrund seiner Lebensweise, das andere aufgrund seines sozialpolitischen Programms. Wenn jedoch ein Anarchist, aus welchen Griinden auch immer, in die Boheme eintritt, dort heimisch wird und ihre »Lebensformen« teilt, dann ist damit auch er zum Bohemien geworden und kann nur noch anderen (nicht-anarchistischen) Gliedern der Boheme entgegengesetzt werden, nicht aber dem Bohemien schlechthin. Die Begriffe der Boheme und des Bohemiens sind mithin so zu formulieren, daG sie den Boheme-Anarchisten samt den anderen charakteristischen Gliedern der Boheme mitumfassen (wie denn auch Bab selber im beschreibenden Teil seine theoretische Spaltung unwillkurlich vergiJ3t und [vgl. S. 79ff.] Muhsam mit Selbstverstandlichkeit sowohl als »Anarchisten« wie als »Bohemien« klassifiziert). lC) Bab, a.a.O., S. 48. Landauer (Bd. I, S. 126f., s. I, Anm. 131) schrieb an Bab zum Verhaltnis Anarchist/Bohemien: »... wenn Sie Anarchist und Bohemien vergleichen, vergleichen Sie Heterogenes ... DaB der Anarchist ... sein Leben oft als Bohemien ftihren mull, ist richtig, andert aber gar nichts daran, daB er etwas erstrebt, was zur Boheme in grolltem Gegensatz steht, weil es eine Ordnung ist. Das Streben aber ist das tertium comparationis des Anarchismus und der Dinge, die sich mit ihm vergleichen lassen; die Lebensfuhrung ist das tertium comparationis der Boheme und wiederum der Dinge, die sich mit ihm vergleichen lassen.« 13 Sonderheft
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Der deutschamerikanische Soziologe Albert Salomon 15) wendet den Begriff des Anarchismus im weiteren, fast schon umgangssprachlichen Sinne auf die Boheme an: »Die unentrinnbare Armut [des Bohemiens] hat offenbar einen Abwehrmechanismus erzeugt, der seit dem 18. J ahrhundert zur liblichen Haltung des Nichtkonformisten gehort: die anarchistische Einstellung gegenliber den bestehenden sozialen Lebenswerten und die Weigerung, den normativen Anspruch der Umgangsformen, Mode und Sitten anzuerkennen.« (S. 21) Die Armut flihrt er auf die Abhiingigkeit des Schriftstellers vom Verleger in der Neuzeit zurlick. Als sich das Verlagswesen »Zu einem richtigen Wirtschaftszweig entwickelt hatte«, waren besitzlose Intellektuelle »der Gnade des Geschaftsmannes ausgeliefert« und »von jedem Kulturtrager abgetrennt.« »ZU Anfang des 18. Jahrhunderts begannen sie sich zusammenzufinden und gegenliber einer feindlichen Umwelt eine eigene Gesellschaft mit einer Art eigener Lebensform zu bilden.« (S. 21) Diese »eigene Gesellschaft« der »Kaffeehausintellektuellen« sei ihrem »Idealtyp« nach Boheme; als historische Gestalten, »die den Lebensstil der Boheme fast idealtypisch darstellen«, beschreibt er - in betonter Steigerung - u. a. Diderot, Saint-Simon und Comte. In ihnen habe der ressentimentgeladene Intellektuelle eine welthistorische Rolle von verhangnisvollen Auswirkungen ergriffen und ausgebildet: die moderne Prophetenrolle des »messianischen Bohemiens«, durch die »die Intellektuellen zur Elite einer revolutionaren Welt werden konnen« (S. 29). Jene Denker hatten den Vernunftkult des 18. Jahrhunderts und die »Idee der Ordnung« mit einem »eschatologischen Zug« verbunden: dem religiOsen, scheinbar wissenschaftlich fundierten Glauben an ein »bestimmtes Ziel der Geschichte«. Sie hatten damit die geistige Saat flir die Tendenz zur »totalen Organisation«, die »totalitaren Bewegungen« und den »totalen Staat« des 20. Jahrhunderts ausgestreut. In der Auseinandersetzung mit Saint-Simon und Comte kritisiert er scharf deren »Schllisselwort« (S. 5 I), den Begriff der »Anarchie«, in dem ihre Vorwlirfe gegen die nachnapoleonische Epoche zusammengefaBt sind. »Anarchie« - konstatiert er - »ist einfach keine wissenschaftliche Kategorie. Ein derartig unrealistisches Werturteil kann nur einem Wertsystem entspringen, das zur Wirklichkeit in keiner Beziehung steht. Unserer Ansicht nach ist 'Anarchie' eine mythische Kategorie« (S. 53), - was Salomon Freilich nicht hindert, sie seinerseits auf den Bohemien anzuwenden (s. 0.). Die Boheme erscheint hier als ein rein literatursoziologisches Phanomen (daB z. B. bildende Klinstler Zu ihr gehoren, wird nirgends erwahnt) von ideengeschichtlicher und politischer Bedeutung. Wie bei Geiger bestimmt die Affinitat zur politlschen Revolution ihr Bild, aber dieses erhalt hier einen historischen Rahmen: ihre Entstehung wird auf die Zeit nach 1700 datiert, ihre extremste und folgenreichste Auspragung auf die nachnapoleonische Periode; sie wird zwar rein okonomisch erklart; ihre Reprasentanten aber werden psychologisch charakterisiert durch die paradoxe Verbindung von »antisozialer Einstellung« und »anarchistischer Personlichkeit« (vgl. S. 25) mit der Propagierung von totaler Ordnung und Organisation. Die Auswahl der behandelten Personlichkeiten ergibt sich jedoch primar aus der Absicht des Buches, eine geschichtliche Brlicke von der franzosischen Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsphilosophie zwischen Diderot und Comte zu den »Totalitarismen« der Gegenwart Zu schlagen, nicht also aus einer unbefangenen Betrachtung der Boheme. Sie wirkt daher nicht reprasentativ, sondern willklirlich, ungeeignet als Basis einer Theorie der Boheme; der BohemeBegriff wird aufgesttilpt auf einen anders begrlindeten Zusammenhang, im Dienst einer polemischen Funktion. Daraus ergeben sich Widersprtiche, wie z. B. bei der 10) Salomon,a.a.O. (s.Anm.4)
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Behandlung von Diderot, der einerseits, wie wir sahen, den Bohemien »fast idealtypisch« reprasentieren, das »Muster der Boheme« (S. 22) gepragt haben solI, wahrend andrerseits Salomons biographische Skizze von ihm berichtet, er habe »einige Zeit am Rand der Boheme« gelebt (ebda.)16). Amold Hauser 17) hat mit Salomon (und Michels) gemeinsam, daB er die Boheme als geschichtlich begrenztes Phanomen versteht und sich u. a. auf ihre franzosische Entwicklung konzentriert, obwohl er sich tiber ihre Intemationalitat im klaren ist. Die »Entfremdung« des Kiinstlers und Schriftstellers »vom praktischen, gesellschaftlich fest verwurzelten und politisch eindeutig gebundenen Leben« (S. 203) im Zeitalter der Bourgeoisie ist ftir Hauser die geschichtliche Gegebenheit, aus der sich die Boheme erklaren laBt. In England und Deutschland erkennt er Vorformen der Boheme schon im I 8. ] ahrhundert; die eigentliche Entstehung fixiert er zeitlich auf die dreiJ3iger Jahre des 19. ] ahrhunderts, raumlich auf die »von Theophile Gautier, Gerard de Nerval und ihren Freunden bewohnten Ateliers der rue du Doyenne« (S. 202). Die Entwicklung ftihrt vom »comantischen Irrealismus und Individualismus« zur extremen Boheme der »impressionistischen Zeit« (prototyp: Rimbaud), d. h. von einer Boheme, die ihre Haltung noch als »tibermtitiges Spiel«, freiwillige »Demonstration«, reversible »Emanzipation« vom Btirgertum verstehen konnte (vgl. u. a. S. 441), Zu einer Boheme der »Verzweifelten«, der »Vagabunden und AusgestoBenen« (S. 44Zff.), an der offenbar werde, daB aIle Provokationen der Boheme nicht nur »Bekundung des Willens« waren, »sich von der btirgerlichen Gesellschaft abzusondem«, sondern von vomherein auch Ausdruck des Wunsches, »die bereits vollzogene Absonderung als gewollt und willkommen darzustellen« (S. 204). An diese These Hausers schlieBen sich unmittelbar Ubeclegungen Dieter Weidenfelds 18) an. Er konstatiert, daB die historische Situation seit der Entstehung der romantischen franzosischen Boheme sich in vieler Hinsicht geandert, die Boheme aber - im Wesen unverandert - sich ausgebreitet und bis heute behauptet habe. Er erkliirt dies mit der (von Robert K. Merton tibemommenen) »Theorie der latenten Funktion«. Die bewuBten Motive, vordergriindigen Anliisse und proklamierten Zwecke der Boheme-Existenz wechseln, nicht aber die latente Funktion, der sie ihre Stabilitiit verdankt: die »Spannung« zu mindem, die sich aus dem Frustrationszwang des von der Gesellschaft abgesonderten Ktinstlers ergibt; sie zu mindern durch die (geduldeten, weil nur) »symbolischen Aggressionen« der Boheme-Existenz. Einmal entstanden, aus welchem AnlaB auch immer, wurde sie zum »Verhaltensmuster, das der Kanalisierung der aggressiven Bedtirfnisse eines weiten Kreises von Menschen dient« (S. 62). Dieses Muster werde auch von alteren, schon vor seiner Entstehung abgesonderten, Zu gesellschaftlicher Spannungsexistenz verurteilten Gruppen usurpiert, z. B. von den Schauspielem, und ebenso von jiingeren, z. B. von den »Halbstarken«, so daB die institutionalisierte Boheme in ihrer »Eigengesetzlichkeit« auch dann nicht zu verschwinden brauche, wenn sie (wie Weidenfeld ftir die Gegenwart vermutet) ftir die urspriinglich zentrale Triigerschaft, d. h. »ftir den Ktinstler an Bedeutung verliert« (S. 63). Hier wird der Historiker nicht mehr folgen. Ftir ihn ist der Boheme-Begriff brauchbar, solange dieser sich (im AnschluB an den wortgeschichtlichen Gehalt) allein auf die gewollt unkonventionell existierenden Gruppen der »Intelligenz« in einem Zeitalter historisch bedingter Spannung zwischen der Hauptgesellschaft und einer Subkultur von Literaten und Ktinstlem bezieht. Randseitige und aggres18) Von mir gesperrt. H. K. 17) Hauser, a.a. O. (s. I, Anm. II4). 18) D. Weidenfeld, Der Schauspielerin der Gesellschaft, K61n u. Berlin 1959.
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sionsbedurftige Gruppen ohne Einbeziehung in eine historische Kunsderproblematik und ohne intellektuelles Geprage (wie die »Halbstarken«) sprengen ihn und machen die Einfuhrung neuer Begriffe erforderlich. Die Nahe Weidenfelds (unter diesem einen Gesichtspunkt) zu den ihm unbekannten Theorien zweier amerikanischer Sozialpsychologen aus den 30er Jahren laBt vermuten, daB hier wohl eine Kollision zwischen historischer und psychologischer Denkweise vorliegt und der formal betrachtende Soziologe dieses Differenzierungsbedurfnis nicht von vomherein teilt 19). GeorgeS. Snyderman and William Josephs 20) (gestutzt auf Material der amerikanischen Boheme - several hundred cases - und die Boheme-Romane von Murger, Balzac und George du Maurier) erklarten die Entstehung der Boheme aus dem Verlust des aristokratischen Patronats, aus den okonomischen Bedingungen des beginnenden industrialistisch-kapitalistischen Zeitalters, das die Kunstwerke zu konkurrierender Ware stempelte: and in this financial competition there was a value set on uniqueness: Individuality, therefore became a requisite of art, and individualism an artistic trait. (S. 188) Der Kunsder war gezwungen, eine Lebensform und eine Ideologie Zu entwickeln, die ihm den Verzicht auf angemessene Bezahlung, die Reduktion seiner Bedurfnisse, den Verlust sozialer Integration ertraglich machten: he ... made an honor of the antagonism, or worse, the indifference, of an uncomprehending public; in short, he could live in squalor and maintain his self-respect (S. 188). Diese Methode der Kunstler, der Deklassierung und sozialen AusschlieBung zu trotzen, wurde alsbald von den »Individualisten« ubemommen. An individualist is one who does not, perhaps cannot, satisfy the requirements of a particular group: he differs from the established and expected norms of behavior or opinion (S. 190). Dieser »Individualist« - Trager von personality defects (S. 192) - bleibt dennoch angewiesen auf soziales Leben, und zwar in einer Gruppe ohne Normenkontrolle. Da die union of the individualists themselves (S. 190) als soIche nicht entstehen und bestehen kann (: Disorganization cannot be a principle of organization, S. 190), existiert sie nur als Parasit eines geeigneten »Wirts« (host), einer parent group (ebda.), an deren Lebensformen und Wertungen sie sich angleicht. Die Kiinsderschaft ist Wirt der speziellen Form des Esthetic Bohemianism (S. 192). Obwohl sie von einer historischen Kiinsderproblematik ausgehen und ihr empirisches Material ganz dem Kiinsder- und Literatenmilieu entnehmen, gelangen Snyderman/Josephs auf diesem Weg zu soziologisch-psychologischen Definitionen, die jeden historischen Gesichtspunkt und jeden Bezug auf die Kiinsderschaft eliminieren: any individualist group is a bohemia (S. 190); bohemia is a parasitic social group (S. 192); it is the guild of the crippled spirit (ebda.); so long as society produces individuals whose social life it cannot accomodate, so long will there be bohemians and with them bohemia (S. 195). Belege fur eine vorasthetische Boheme fehlen; einziger Hinweis der Autoren auf eine »nachasthetische« Boheme ist die Aufzahlung von Indizien fur den ProzeB einer Auflosung der »asthetischen« Boheme und ihrer Ablosung durch eine »liberale« Boheme, derenparent group die Arbeiterbewegung sei (S. 195-199). DaB diese Prognose verfehlt war, hat sich mitderweile so greifbar herausgestellt, daB wir uns ersparen konnen, die Briichigkeit der Beweiskette im einzelnen aufzuzeigen. Aber auch in anderer Hinsicht iiberzeugen Pramissen und Folgerungen von Snyderman/Josephs nicht. Wenn - wie sie annehmen - Erfolg auf dem freien Kunstmarkt Individualismus voraussetzt und aus diesem Grund individualism lO) Ein Vergleich (statt einer Gleichsetzung) der Boheme mit den »Halbstarken« mag jedoch niitzlich sein, wie andererseits ein Vergleich mit nichtabendlandischen Literatentypen, z.B. denen, die Wu Jingzi (1701-1754) in Rutin waishi (dt. 1962) den akademischen Beamtentypen Chinas entgegensetzt. 10) Snyderman/Josephs, Bohemia: The Underworld ofArt. Social Forces, 1939.
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Boheme
an artistic trait ist, HH3t sich, wenn andererseits Individualismus zur Boheme tendiert, schwer einsehen, wie sich ohne A.nderung des Wirtschaftssystems der Zusammenhang zwischen Klinstlertum und Boheme auflosen soll, und ebenso schwer, warum gerade erfolgreiche Kiinstler (gleichfalls nach Snyderman/Josephs) als Nicht-»Individualisten« auBerhalb der Boheme existieren. Mit ihrem ersten Schritt schreiben die Autoren dem neueren Kiinstlertum Individualismus zu, um seine Anziehungskraft flir »Individualisten« zu erklaren, mit dem zweiten scheiden sie die Kiinstlerschaft von den Individualisten, um jene als produktiven Wirt, diese als bloB parasitare Psychopathen klassifizieren zu konnen, mit dem dritten aber vermengen sie die damit theoretisch geschiedenen Bereiche wieder auf mehr als bedenkliche Weise. Daflir noch ein abschlieBendes Beispiel: The ideal bohemian, if there were one, would show many definitelY psychopathic traits: melancholia, satyriasis, claustrophobia. hyperestesia, apathy, 4Jspepsia, and chronic alcoholism. Such are the leading [sic I] characteristics of the traditional idols of Bohemia: Goethe [I], Byron, ShellfY, Coleridge, Wilde, Verlaine, Baudelaire, and the decadents on, down to Van Vechten, Bodenheim, Hecht, and O'Neill. (S. 192)
Ais diese Arbeit erschien, lagen bereits historische und soziologische Untersuchungen der empirischen amerikanischen Boheme vor, Studien, auf die sich Snyderman/Josephs nirgends beziehen, so daB auch die amerikanische wissenschaftliche Boheme-Literatur an der eingangs konstatierten Diskontinuitat teilhat. Albert Parry") sammelte als erster ein weites Material tiber die Boheme der Vereinigten Staaten in einem voluminosen Band, der mit Poe begann und mit Hart Crane endigte. Die Theorie der Boheme, die er dem (im Grunde von ihr unabhangigen) beschreibenden Hauptteil vorausschickt, gipfelt in folgendem Absatz: But on the whole, French gqy melancholY took well enough in the major countries of Europe and America to allow a definition of world Bohemianism in one single paragraph, to wit: Bohemianism is not a class feature,. its adherent.r are not a class because there is less of a hereditary character in their group than in any other group of society. Theirs is a temporary, flexible group. Very seldom are Bohemians the sons and daughtm' ofBohemians and begetters of Bohemians in their turn. Artist's cajes and attics are the meeting ground for many classes, the middle-class scions predominating. Bohemians are declassed, as the Marxians tell us. Some Bohemians never return to any social class while others do. These others graduate from their cheery or skulking unconventionality into petit-bourgeois, big-bourgeois, and even the plutocratic classes - as soon as their spirit ofrevolt evaporates sufficientlY, and the right opportunity for a career presents itself. (S. XI)
Parrys Starke ist die liebevolle Schilderung der amerikanischen Episoden und Einzelgestalten, nicht die terminologische Konsequenz, die generalisierende Feststellung oder die historische Ableitung; er vermag in seinem Buch (das eine historisch sinnvolle Auswahl der behandelten Kreise und Gestalten trifft) »Bohemia«, »Murgeria«, und »Villonia« synonym zu gebrauchen und bereits auf der ersten Seite des Einleitungskapitels, das jene (von Vladimir Frice abhangige und daher ganz auf die Klassenkampfsituation des 19. Jahrhunderts bezogene) Definition enthalt, Fransois Villon zu zitieren als the veriest rake and lounger, and almost as the founder of that state of mind and that mode of living which centuries after his death became known as La Boheme (S. IX) - wiewohl auf der Hand liegt, daB (so aufschluBreich die hundertfache Berufung der Boheme auf Villon auch ist) die Banden, zu denen Villon sich zeitweilig schlug, mit den Intellektuellenzirkeln am Rande des modernen Blirgertums soziologisch fast nichts gemein haben und daB der Konflikt Villons mit der Gesellschaft seiner Zeit vom Konflikt etwa der franzosischen Romantiker mit 11) Parry, Garrets and Pretenders, New York 1933. (Mit reicher Spezialbibliographie zur amerikanischen Boheme-Geschichte.) Die zweite, verbesserte und erweiterte Auflage (New York 1960) enthalt auch den schon zitierten Aufsatz von Moore, Enter Beatniks: The Boheme of I900 (s. I, Anm. 129).
Boheme
Helmut Kreuzer
der franzosischen Bourgeoisie historisch grundverschieden ist. Parrys Blicke auf den world Bohemianism sind zu fltichtig, um die gangigsten nationalen Stereotype zu durchbrechen. Die Revolte der franzosischen Boheme erscheint ihm vague and harmless and, at times, quite merry -for thry were Frenchmen, the race of the bon mot (5. X) . The French light-heartedness became somewhat clumsy in its English version and rough and uncivilized in some ofits American imitation. The pre-revolution Russians put too much emphasis on drink, while the Germans could not at all duplicate the humour of the Latin Quarter; thry took the mansarde lift and its feature ofphilosophizing too earnestlY. (5. XI) Parry schatzt - wie unsere Zitate sichtbar werden lieGen - die Bohemians for the colour they bring into our drab society (S. XVI); dieser MaGstab bestimmt seine Urteile und laGt ihn sein Buch mit dem Rat an die marxistische Boheme vom Beginn der dreifiiger Jahre beschlieGen, Bohemian laughter (S. 357) nicht zu vergessen: they could do well to sing of love and do a little laughing some of the time ... (S. 356). The local people und the Villagers sind die sozialen Grundkategorien in den von Caroline F. Ware geleiteten und publizierten Untersuchungen tiber 'Greenwich Village I920-I930'22) (1935). Den tiefsten und charakteristischsten sozialen Rill konstatiert sie also nicht etwa zwischen sozialen Klassen oder ethnischen Gruppen (so wichtig gerade diese - Iren, Italiener usw. - ftir die soziale Aufgliederung der local people in Greenwich Village sind), auch nicht zwischen Altansassigen und Einwanderern und schon gar nicht zwischen angepaGten Schichten und einer illegalen Unterwelt (die sich hier tief durchdringen), sondern vielmehr zwischen den two social worlds der Villagers auf der einen und allen anderen (sehr heterogenen) Gruppen auf der anderen Seite. Der Begriff des Villager lieGe sich - im Hinblick auf Mtinchen - dem des »Schwabingers« vergleichen, der ja nicht die Einheimischen bezeichnet, sondern die »zugereisten« Intellektuellen mit unkonventioneller, teils mehr teils weniger zur Boheme (d. h. ftir Mtinchen: zum »Schlawinertum«) tendierenden Lebensweise. Was die Villagers gemeinsam haben, bei aller sonstigen Verschiedenheit, ist: disregard for money values and for prestige based on either income or conspicuous expenditure, an awareness of some sort of cultural values, and tolerance of unconventional conduct even when their own habits were more constrained (S. 236). Die kulturellen Werte, Zu denen sie sich bekennen, sind vor allem Kunst und Literatur. Hence, practically all groups in one way or another, even though they had no artistic capacities themse/ves, attempted to justify themselves to themselves and to society in some artistic or literary terms or longed to be able to do so (S. 240). Ware teilt sie in drei Untergruppen: die erste verneint zwar die »bourgeoisen«, nicht aber die »alten amerikanischen Werte«; die zweite wirft programmatisch jene wie diese tiber Bord zugunsten »volliger Freiheit«; die dritte - weitaus groGte - entschlieGt sich auf gleitenden Skalen ftir Kompromisse, ftir eine partielle Abkehr vom jeweiligen sozialen »Hintergrund« und seinen Normen (S. 236). Nur mit der zweiten verbindet die Autorin den Begriff der Boheme - jedoch bezeichnenderweise in Steigerungsformen, die unausdrticklich sichtbar machen, daG die Welt des Bohemianism sich von dem beschrieII) Caroline F. Ware, Greenwich Village I920-}0, Boston 1935. - Die jiingste Darstellung der Boheme von Greenwich Village entspringt der Lust am bizarren Stoff und seiner anekdotischen Behandlung: Allen Churchill, The Improper Bohemians. A Re-creation of Greenwich Village in ItsHryday, New York 1959. Churchill bemft sich auf die schon von Parry zitierte Boheme-Definition, die Ada Gare, known to New York as the Queen of Bohemia, 1860 aufgestellt hat: The Bohemian is ~ nature, ifnot ~ habit, a cosmopolite, with a general sympathyfor the fine arts, and for all things above and bryond convention. The Bohemian is not, like the creature of society, a victim of rules and customs; he steps over them with an easy, graceful,jf!Yous unconsciousness, guided ~ the principles ofgood taste and feeling. Above all others, essentiallY, the Bohemian must not be narrow minded; if he be, he is degraded back to the position of mere worldling. (5. 25)
Zum Begriff der Boheme
Boheme
benen Extrem mit flieBenden Grenzen in angepaBtere Gruppen der Gesellschaft erstreckt: the out-and-out-bohemians ... discarded money values to the point of making little or no provision for self-support and tossed all trace of moral earnestness and other aspects of old American culture into the scrap-heap as well (S. 25 1). Unverkennbar, daB in diesen Beschreibungen nicht nur the Villagers getroffen sind, sondem (zieht man rein inhaltlich bedingte Besonderheiten wie das Verhaltnis zu den »alten amerikanischen Werten« ab) mit ihnen wesentliche Ziige des Bohemetums schlechthin. Bruce A. Watson 23) hat, auf dieses Werk gestiitzt, die Entwicklungsgeschichte von Greenwich Village dahin verallgemeinert, »daB eine Boheme wie Greenwich Village im Laufe ihrer Geschichte durch drei Phasen geht« (S. 63). Die erste, »die schopferische«, wird »durch individuelle schopferische Aktivitat und zweckdienliche Auseinandersetzungen gekennzeichnet«, die zweite - »Pseudo-Boheme« benannt - durch »mittelmaBige Talente« und »Dilettantismus«, Auseinandersetzungen als Selbstzweck, »Kommerzialisierung zur Anlockung von Touristen, exzentrische Kleidung und ein entsprechendes Verhalten«; die dritte, die »institutionelle Phase«, sieht wieder »schopferische Elemente«, aber in der Abwendung von der Pseudo-Boheme: »Um der Oberfliichlichkeit der zweiten Phase zu entgehen, wird in Galerien und Museen eine festere Basis fiir die Kunst gesucht, wodurch gleichzeitig auch eine Atmosphare des Vertrauens fiir kiinstlerische Tiitigkeiten geschaffen wird« (S. 63), gleichzeitig aber auch der Exodus einer »neuen Boheme« denkbar wird, als Reaktion auf die »Institutionaliserung der Kunst«. Diese Formulierungen gehorchen, wie sehr Watson auch seine Niichtemheit und Vorsicht betont, streng dem alten triadischen Denkschema, das einer positiv verkliirten, schopferisch »urspriinglichen« Phase eine ins Negative »entartete« folgen laBt, um in einer dritten die Positivitat wiederzugewinnen, in der Form nicht der Spontaneitiit, sondem der Institution, also dauerhaft, sozial verliiBlich, aber freilich ohne den Glanz der »Friihe«, so daB die Erwartung eines neuen Ursprungs, sich regt. Verdachtig auch, wie konfliktlos hier die Typen des Wortgebrauchs verfiigbar werden, indem die »gute« Boheme in Phase I verwiesen wird, die »schlechte« in Phase II, deren positives Komplement, die biirgerliche Kunst, in Phase III. Watson liiBt auBer acht, daB die Befragungen zwischen 1920 und 1930 mehr iiber den »Mythos« als iiber die Realitat des iilteren Greenwich Village aussagen. Dennoch ist die Hypothese Watsons theoretisch plausibel, wenn wir sie lediglich auf Akzentverschiebungen, auf bloBe Anderungen von Quantitaten und Relationen bei ungestorter Entwicklung eines Boheme-Viertels, beziehen und also daran festhalten, daB aIle Elemente und aIle Grundtypen der Boheme in jeder Phase einer lokalen Boheme-Geschichte vorhanden sind, zumindest sein konnen, - das produktive Talent wie der Dilettant, der »ganze« wie der »halbe« Bohemien, Rebellen-, Spekulanten- und Parasitentum, Auseinandersetzungen mit und ohne bestimmten Zweck, exzentrische Trachten und Manieren wie Institutionalisierungstendenzen. Der Tourismus freilich setzt in der Regel eine Anfangsphase voraus; das gilt aber nicht fiir die biirgerliche Faszination durch die Boheme, die ihn ermoglicht, die sich in ihm wie in vielen anderen Formen auBem kann und die mit der Boheme als soIcher verbunden ist. - Erinnern wir uns, daB auch Hauser eine Boheme-Entwicklung konstatieren wollte: von einer freiwilligen, reversiblen Emanzipation zu einer zwanghaften, irreversiblen AusstoBung. Tatsachlich ergibt sich dieses Bild nur bei starker Blickverengung auf einzelne Kreise. Beide Formen des Bohemetums erscheinen in beiden Epochen, wie sie in allen Phasen der Boheme allerorten erscheinen konnen. '") Watson, Kunst, Kiinstler und soziale Kontrolle, Kola u. Opladen 196 I.
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Nach Watson existiert eine Boheme »bereits im 17. Jahrhundert« (doch gibt er keine Belege); die Geburt der »modernen Boheme«, auf die es ihm ankommt, datiert er auf IS30, jedoch im Hinblick nicht auf die Wort- oder Literaturgeschichte (wie Michels, Hauser oder die franzosische literarische Tradition), sondern auf die Kunstgeschichte: die »heftigen Diskussionen tiber die Werke Gericaults und Delacroix'« (S. 60). Ihre historische Funktion sieht er darin, daB sie die filr die neuere Kunstgeschichte charakteristische Emanzipation der Kunst von den traditionellen Instanzen sozialer Kontrolle, beziehungsweise (passiv gewendet) die Existenz undEntwicklung der Kunst trotz »Entfremdung«, trotz »Verlust der Gemeinschaft« ermoglicht 24). Da ihm Emanzipation und Entfremdung noch immer filr die soziale Situation der Ktinstler bestimmend und eine wirksame soziale Kontrolle durch Geschmackstrager auBerhalb der Kilnstlerschaft praktisch nicht erreichbar erscheinen (jedenfalls in westlich-liberaldemokratischen Staaten), stellt sich filr Watson die Frage nach einem Ende der Boheme nicht. Anders bei Fritz Martini in der ersten Spezialarbeit, die die Germanistik der Boheme gewidmet hat"). Er bestimmt die Boheme als gegen die »bilrgerliche Welt« gerichtete, aus der GroBstadt erwachsende Emanzipations- und Oppositionsbewegung vor aHem der »revolutionaren Geister« in Literatur und Kunst, zugleich aber als »Verfallserscheinung des Bilrgertums«, »in innerer Dialektik als Randerscheinung an seinen Bestand gebunden«. Positiv an ihr ist der Protest gegen »die Erstarrung der bilrgerlichen Gesellschaft, die Funktionalisierung der Kunst und des Geistes« in dieser; vorzuwerfen ist ihr, daB ihr Protest »wesentlich in der Negation blieb und nur zu einer bis zum Zilgellosen gelockerten ... Lebensfilhrung auswuchs, die oft genug auch der Absturz in das Nichts bedrohte.« Geschichtliche Vorformen findet Martini filr die deutsche Literatur »im Sturm und Drang (Lenz, Klinger, Heinse), in der Romantik (Brentano, E. T.A.Hoffmann, Waiblinger), auch bei Lenau, Grabbe, Griepenkerl und vor allem bei H. Heine«, eine vollentwickelte Boheme filr Frankreich seit IS30, filr Italien seit den sechziger Jahren (Scapigliatura), filr Deutschland (u. a. durch Hille, Przybyszewski, Peter Altenberg, F. v.Reventlow, Wedekind) und England (mit der Sonderform des Dandysmus) »erst in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.« Der Zusammenbruch »einer im Moralischen und Sozialen fixierten btirgerlichen Welt« hat der Boheme filr Martini ihren »Sinn« geraubt: »Mit derWandlung seiner Lebensformen seit 1915 ist in Deutschland auch die Boheme als Emanzipationsbewegung trotz einzelner Resterscheinungen (Romanisches Cafe in Berlin) erloschen«. Diese SchluBthese erklart sich aus der Entstehungszeit des Aufsatzes. Mittlerweile hat sich die Situation wieder geandert. Die Beatnik-Bewegung, ihre weite Beachtung und Ausstrahlung, hat gezeigt, daB die Boheme virulent geblieben oder doch wieder geworden ist, auch filr Deutschland und sicherlich im Zusammenhang mit der Restauration einer »bilrgerlichen Welt«.
III. HlSTORlSCH-SOZIOLOGlSCHE BEMERKUNGEN ZUR BOHEME 1) 1m ganzen zeigen sich auffallige Differenzen in der historischen Fixierung des Boheme-Ursprungs. Eine Hauptgruppe von Autoren findet ihn im 17. oder IS. 24) Watson folgt in der Definition von Entfremdung M. Seeman, On the Meaning ofAlienation, American Sociological Review, 1959 .
••) Fritz Martini, a.a.O. (5. I, Anm. 96).
1) Das Folgende beansprucht nicht, die Boheme und die Typen des Bohemiens erschop-
fend zu charakterisieren, sondem versucht, so viele Kennzeichen bereitzustellen, als fur die Bestimmung des Materials zum Zwecke der Charakterisierung und historischen Darstellung notwendig sind.
Zum Begriff der Boheme
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Jahrhundert, Salomon z. B. mit dem Blick auf das Pariser, Watson und andere mehr (wie Walter Mehring) 2) mit dem Blick auf das Londoner Kaffeehausleben, Walter Muschg 3) mit dem Blick auf Leipzig, wo er in den »Dichterlumpen Reuter, Giinther, Henrici und andern« die »Erstlinge der literarischen Boheme, des von der biirgerlichen Gesellschaft geachteten Dichtertums« (S. 2.57) sieht (das allerdings auch fiir ihn erst in Baudelaire, Verlaine, Rimbaud seine vollkommenste Verkarperung findet). Eine andere Hauptgruppe datiert die »Geburt der Boheme« auf 1 830 fiir Frankreich, - fiir andere Lander auf die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts. Mancherlei Griinde fiir diese Divergenz sind erkennbar. Wo z. B. die Entstehung der Boheme historisch abgeleitet wird aus dem zunehmenden Verfall mittelalterlicher Traditionen, aus der fortschreitenden Entwicklung der neuzeitlichbiirgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, - dort herrscht die Tendenz zu friiher Datierung (ins 16., after ins 17. oder 18. Jahrhundert). Wo sie jedoch aus einem »Verfall« des Biirgertums (und als dessen Symptom) erklart wird, aus selbstsiichtigreaktionarer Erstarrung oder Verflachung der biirgerlichen Welt, dort herrscht die Tendenz zu spater Datierung (ins 19. Jahrhundert). Diese letztere hat (wie immer es urn ihre Begriindung bestellt sein mag) datenmaBig das grafiere Recht. Bezeichnenderweise nennt fast jedermann, nach Beispielen fiir Boheme befragt, unwillkiirlich zunachst Personen oder Gruppen der Kiinstlerwohnbezirke der Epoche zwischen der Restauration und dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Existenz einer Boheme wird (bei iibernationaler Fragestellung) fUr diese Zeit von niemandem bestritten, wohl aber von manchen fiir die spatere oder die friihere Zeit. Fragen wir nach einer Boheme im 18. oder 2.0. Jahrhundert, nehmen wir den Mafistab offensichtlich aus jener Epoche, urn zu entscheiden, ob Boheme schon oder noch existiere. Doch ware es verfehlt, die altere Datierung rigoros als Irrtum abzutun. Zweifellos sind die Urspriinge der spateren Boheme in den friiheren Epochen zu suchen, und zweifellos hangen sie auch mit dem Aufstieg des Biirgertums zusammen, mit den kiinstlerischen und kunst- oder literatursoziologischenAuswirkungen der von ihm getragenen Tendenzen zu Marktwirtschaft, Liberalismus und Individualismus, mit der Zerstarung entgegenstehender Institutionen, Traditionen und Anschauungen feudalistischer und absolutistischer Provenienz. Indessen darf etwa die Herausbildung des neuen Standes der freien Schriftsteller im 18. Jahrhundert - neben dem alteren, humanistisch-akademischen Typus mit seiner direkten Abhangigkeit von einem mazenatisch gesinnten Mitglied der Oberschicht oder von den Kirchenamtern, Professuren und ahnlichen Stellungen des Staates - nicht zugleich als Herausbildung einer literarischen Boheme verstanden werden (wie es Salomon u. a. tun), sondern lediglich als Bedingung ihrer Maglichkeit. Die Armut einer Intellektuellenschicht erlaubt uns auch dann noch nicht, von Boheme Zu sprechen, wenn die Bindungen an Hof, Katheder und Kanzel gelast sind und die aufiere Existenz Ziige der Boheme vorwegnimmt. Der Bohemien mag das Kaffeehaus besuchen wie Dryden, Addison, Steele und Swift, wie Savage und Diderot (oder Rameaus Neffe), er mag den Alkoholismus mit Bellman gemeinsam haben, die Achtung durch die Familie mit Giinther, die Verfolgung durch Kirche oder staatliche Institutionen mit Voltaire oder Schubart - seine Einstellung zur Gesellschaft (und zum Verhaltnis von Geist und Gesellschaft) ist anders, geschichtlich jiinger. Wir wissen, dafi etwa Giinther sein Aufienseitertum nicht bejaht, sondern unfreiwillig erlitten hat; und auch ein Hunold hat zwar (aufiedich betrachtet) als ") Mehring, a.a.O. (s. I, Anm. 12.1). 8) Muschg, a. a. O. (s. I, Anm. 79).
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»eine Art von Bohemien« gelebt, »ebenso unzuverlassig und bedenklich wie ein fahrender Komodiant«4), hat aber sicherlich die AuBenseiterrolle als soIche niemals gesucht oder gar aus einem ernstgenommenen Schriftstellertum abgeleitet. Betonen wir zunachst, daB sich der Boheme-Begriff nicht auf den »praktischen Individualisten« vorindividualistischer Epochen bezieht, sondern nur auf Gruppen, denen der Individualismus zur ideellen Legitimation ihres kollektiven Verhaltens gegeniiber der Gesellschaft dient 6 ). Zu den weiteren geistesgeschichtlichen Faktoren, die die Boheme ermoglichten Cohne dadurch selbst schon Boheme-Tendenzen Zu sein), zahlen noch der Genieund Vbermenschenkult, die Wirkungen Rousseaus Cals Existenz) und des Rousseauismus, mit seiner Parteinahme flir die plebejischen Schichten und seiner machtvollen Absage an die Unnatur der institutionalisierten, konventionalisierten, ungerecht privilegierenden Gesellschaft, zahlen nicht zuletzt die Postulate einer Emanzipation der Kunst von auBerkiinstlerischen Zwecken und Schranken, einer Emanzipation des Kiinstlers von der »Kontrolle« durch Geschmackstrager auBerhalb der kiinstlerisch-intellektuellen Welt. Eine Kiinstler- und Literatengruppe erfiillt den Boheme-Begriff nur dort uneingeschrankt, wo auch ein Boheme-BewuBtsein gegeben ist, bewuBte Verneinung der biirgerlichen Welt und ihrer Konventionen, bewuBte Bejahung der eigenen Gegenposition, samt ihren proletoiden oder provokativen Aspekten, - was bedeutet, daB ein Biirger-Kiinstler-Gegensatz als soIcher bewuBt geworden sein muB, daB auch der Dichter sich zuerst als Kiinstler und daB er seine »Kiinstlernatur« und ihre soziale Rolle aus diesem Gegensatz heraus versteht, eine Gemeinschaft von Kiinstlern der Gesellschaft der Biirger entgegensetzt. Wir definieren die Boheme als Gesamtheit der intellektuellen Gruppen (literarischer oder kiinstlerischer Aktivitat oder Ambition), die in diesem Sinne gewollt un- oder antibiirgerlich existieren 6 ). Sie setzt sich aus einzelnen (meist relativ »offenen«) Kreisen zusammen, die regelmaBige Treffpunkte haben (Lokale, Ateliers, Wohnungen), meist urn einzelne Personlichkelten von besonderem Prestige zentriert sind und sich primar durch personliche Bindungen erhalten. Die BohemeKreise kennzeichnet eine praktische Opposition gegen die Geldwirtschaft, geringe Zeitokonomie, starker Individualismus, der sich ungescheut von (wechselnden) Konventionen sittlicher, asthetischer und politischer Art emanzipiert und Unkon') Herbert Singer, Der galante Roman, Stuttgart 1961, S. 36. &) Uberdehnt man die historischen Grenzen, behalt man nur noch auBerlich-formale Gemeinsamkeiten oder gerat in Gefahr, tiberepochale Gegebenheiten als geschichtliche Boheme-Phanomene zu fassen. Haretisch-rebellische Gruppen mit Sendungsbewu13tsein, parasitare Gruppen, literarisches AuBenseitertum oder auch literarisches Vagantentum mag es immer geben, doch andem sich Bedingungen und Erscheinungsformen, Motivationen, Rationalisierungen, Ideologien. Und nicht den psychologischen oder sozialen »Schwebezustand« (urn einen Terminus Hugo Kuhns aufzugreifen), der mit dem ktinstlerischen Schopfungsakt allgemein verbunden ist, gilt es unter dem geschichtlichen Gewand zu erfassen, sondem vielmehr eine epochale Existenzform von Intellektuellen von anderen Moglichkeiten der gleichen Epoche abzugrenzen. Dementsprechend sehen wir den Bohemien auch nicht als einen epochalen Reprasentanten tiberzeitlicher Dichterproblematik (wie Walter Muschgs 'Tragische Literaturgeschichte'), sondem als einen unter den ktinstlerisch-intellektuellen Reprasentanten epochaler Gesellschaftsproblematik. Keine der verschiedenen Fragestellungen schlieBt die Berechtigung der anderen aus. ") Dieser Abschnitt stiitzt sich auf einen frtiheren Aufsatz des Vf.: Exkurs tiber die literarische Boheme. In: Dt. Literatur im 20. Jahrhundert, 4.Aufl., Bd. 1, Heidelberg 1961. Vgl. auch Honigsheim u. Michels, a.a.O. Unsere »Bemerkungen« beruhen auf einem breiten historischen Material. Diese Belege wilrden jedoch den hier gegebenen Rahmen sprengen; sie werden im Rahmen einer groBeren Studie vorgelegt werden.
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ventionalitat der Lebensfiihrung als hohen Wert betrachtet. Oft haben sie ihren eigenen Jargon. Sie bestehen vor allem in den GroBstadten (seltener in Kiinstlerkolonien auf dem Lande) und bevorzugen die Kiinstler- und Studentenviertel oder Vororte, wo die Lebenskosten geringer sind. (Eine »eingeborene« Dorf-Boheme - Zu unterscheiden yom einzelnen AuBenseiter einer Dorfgemeinschaft - gibt es nicht, und die Kleinstadt-Boheme, nach dem Muster der GroBstadt-Boheme entstanden, ist atypisch und im ganzen unbedeutend.) Sie setzen sich - auBer aus einer Minoritat alternder Bohemiens, die sich in kein anderes Milieu mehr zu fiigen vermogen - aus einer Majoritat meist (aber nicht durchwegs) unbemittelter junger Kiinstler und Schriftsteller zusammen, fiir die die Boheme oft nur Durchgangsstadium ist, schlieBlich auch aus (z. T. zahlungskraftigen) Dilettanten und »Hospitanten« der Boheme, die an dem »freien« Milieu zeitweise partizipieren, ohne ihre biirgerlichen Berufe und Bindungen aufzugeben. Auch in Fallen, wo auBere Notwendigkeiten die Abweichungen von der konventionellen Lebensweise mitbedingen, dominiert eine betonte Bejahung der Boheme-Existenz. Deren Stil ist nicht unabhangig von den jeweils herrschenden Konventionen und Moden: er andert sich (bis in die Details der Kleidung und Frisur) als Kontraststil mit ihnen. Die Bohemiens - Gestalten unterschiedlichster Begabung und Individualitat - kommen aus allen Schichten (so daB sich eine Boheme doree, eine mittlere und eine untere, bei flieBenden Grenzen, unterscheiden lassen) - aus der Aristokratie in der Flucht vor der Verbiirgerlichung, dem GroBbiirgertum auf der Suche nach einer zugleich »kultivierten« und »interessanten«, innerlich erregenden und unbanausisch-geistigen Lebensform, zahlreicher aus dem Kleinbiirgertum, im Ausbruch aus engen VerhaItnissen, seltener aus dem Arbeiter- und dem Bauernmilieu oder aus der Boheme selber. Entsprechendes gilt fiir die Frauen und Madchen in ihrem Willen zur Emanzipation. Relativ oft drangt der Widerwille gegen die prosaische Welt der »Vater«, die Anspriiche des biirgerlichen Berufs, den Zwang der Familie und staatlicher Institutionen wie Schule, auch Militar und Kirche, starker als die Bewahrung formaler Talente zur Entscheidung fiir Kiinstlerschaft und Boheme. Schwacher als im Herkunftsmilieu ist die Rolle bewuBter standischer, klassenhafter, konfessioneller und nationalcr Bindungen, starker die sympathisierende Offenheit zu radikalen und revolutionaren Bewegungen, zu neuen Ideen und kiinstlerischen Stilrichtungen, zu Modernismus und Avantgardismus (ohne daB es je an Vertretern apolitischer oder konservativer Gesinnung und traditioneller Gestaltung fehlen wiirde). Bemerkenswert sind die Fahigkeiten zur Reduktion der Bediirfnisse innerhalb der Boheme, die zwanglose Kameraderie und finanzielle Solidaritat innerhalb des Milieus, die parasitare Existenzen ermoglicht und die UnregelmaBigkeit der Einkiinfte ausgleicht. Unterscheidend gegeniiber dem Herkunftsmilieu, aber auch anderen Gruppierungen des literarisch-kiinstlerischen Lebens, wirken auch eine verstarkte Anfalligkeit fiir Megalomanie und Depressionen, ein sichtbarer Alkoholismus (z. T. auch Narkotismus), ein programmatischer sexueller Libertinismus und ein Hang zur Improvisation (im Kiinstlerischen wie in anderen Bereichen). Die psychische Instabilitat und auBere Bedingungen und Schwierigkeiten des Boheme-Lebens, das oft von Gelegenheitsarbeiten abhangt, bedingen eine unregelmaBige Mobilitat, die zum Austausch der BohemeZentren beitragt. Wieweit die mitgenannten psychischen Ziige die Boheme-Existenz mitbegriinden, wieweit sie sich aus ihr ergeben, ist individuell verschieden. Offensichtlich miissen verschiedenartige Faktoren zusammenwirken, urn dieses Milieu in soziologisch auffalliger Breite hervorzubringen. Zu ihnen zahlt die stetige rapide VergroBerung des Marktes fiir kiinstlerisch-literarische Produkte im
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18. und in der erstenHalfte des 19. Jahrhunderts; einerseits iiberstieg das wachsende Angebot an Kraften und Produkten stets die wachsende Nachfrage, andererseits konnten sich doch viele eine reelle Chance fiir Erfolg und sozialen Aufstieg auf diesem Felde errechnen und wenigstens sicher sein, literarisch-kiinstlerische Gelegenheitsarbeiten Zu £lnden. Schliefilich muBten die neuen (kapitalistisch-industriellen) Publikations- und Erfolgsbedingungen die friiheren so eindeutig iiberwunden haben, daB sie nicht mehr als Freiheitschance angestrebt zu werden brauchten, dafiir aber aufs sichtbarste den schneidenden Widerspruch hervorkehrten, der zwischen dem Wesen und der Entstehung des Kunstwerks und dem Wesen und der Herstellung der industriellen Ware besteht 7). Zu den notwendigenFaktoren zahlt ferner die Konzentrierung des kiinstlerischen und literarischen »Lebens« auf die GroBstadt, die einen Zustrom von Intellektuellen - zur Ausbildung oder zum beruflichen Start - in die Metropolen bewirkte, wo sie auf Gemeinschaftsbildung angewiesen waren: aus Armut und Ehrgeiz auf den AnschluB an Cliquen, aus Einsamkeit auf den AnschluB an Kameraden in der gleichen Situation, an Fiihrer und »Meister«, die die Rolle von Ersatzvatern iibernehmen konnten. Vielen von ihnen widerfuhr in den Hungerjahren des Anfangs eine soziale Deklassierung, die sie die Nachtseite der bestehenden sozialen Ordnung selber erfahren und zugleich dem Massenelend der Unterschicht innerhalb derjenigen GroBstadtviertel begegnen lieB, in die ihre eigene Mittellosigkeit sie verwies. »Die Unarten und Unverschamtheiten der Boheme, ihre oft kindische Ambition, den ahnungslosen Biirger in Verlegenheit Zu bringen und zu entriisten, ihr krampfhaftes Streben, sich von den normalen, durchschnittlichen Menschen zu unterscheiden, die Sonderbarkeit ihrer Kleidung, ihrer Haartracht, ihrer Barte, die rote Weste Gautiers und die ebenso auffallende, wenn auch nicht immer so grellfarbige ~1askerade seiner Freunde, ihre ungenierte und paradoxe Ausdrucksweise, ihre iiberspitzten, aggressiv formulierten Ideen, ihre Invektiven und Unanstandigkeiten« (urn eine kritische Aufzahlung Hausers, a.a.O., S. 204, zu zitieren, die auf die spatromantische Boheme Frankreichs gemiinzt, aber durchaus generalisierbar ist) - all das sind symbolische Aggressionen, durch die eine nicht eingegliederte (in der Sprache der biirgerlichen Kulturkritik: »entwurzelte«) und groBenteils deklassierte Intelligenz Entlastung vom Druck der Verhaltnisse suchte. Wo der HaB einer biirgerlichen Intelligenz sich in erster Linie gegen ein groteskes Stereotyp des »Biirgers« richtet, wo gerade dieser als geist- und herzlos, amusisch, borniert verlastert, als heuchlerischer Reprasentant einer doppelten Moral gedacht, als »Philister«, »SpieBer« oder square beschimpft wird (wie es in der Boheme der Fall ist), muB offenbar ein sozialer Entwicklungsstand erreicht sein, auf dem der »dritte Stand« in der Perspektive der Kiinstler und Autoren zu der okonomisch, sozialpolitisch und in Geschmacksfragen maBgeblichen Schicht geworden ist, sich zumindest mit den »hoheren Standen« und tradierten Institutionen soweit arrangiert hat, daB er bereits als Stiitze und als privilegierter NutznieBer der bestehenden (von dem »jungen« Kiinstler so feindlich erlebten) Ordnung (desjuste milieu, des establishment) erscheinen kann (wobei allerdings zu beriicksichtigen ist, daB der vorgestellte Typus des »Biirgers« als Antityp des Kiinstlers - ein literarischer Typus ist, der sich im ideologischen Traditionszusammenhang der Boheme auch an und iiber solche Individuen vererbt, deren personliche Begegnungen ihn »eigentlich« nicht bestatigen).
') Keinesfalls kann jedoch die Opposition der Intellektuellen einfach auf Mangel an Chancen und ihr Gruppeninteresse zuruckgeftihrt werden. Der Vorrang ideeller Prinzipien vor unmittelbaren Interessen ist weithin typisch. Vgl. Michels a.a.O.; Pipes (Hg.), Die russische Intelligentsia, Stuttgart 1962.
Zum Begriff der Boheme
Boheme
Es versteht sich, daJ3 die sozial- und geistesgeschichtlichen Bedingungen fUr und Tendenzen zur Boheme in unserem Sinne in den verschiedenen Regionen Deutschlands, Europas, Amerikas zu je verschiedenen Zeitpunkten erfiillt wurden und nirgends so zusammentrafen, daJ3 sich die »Geburt« der Boheme mit einem bestimmten Datum verbinden lieJ3e. J e nach dem gewahlten Aspekt und Kriterium kann man England, Frankreich oder Deutschland auf dem Weg zur Boheme an der Spitze sehen, bis dann am Ende der Restaurationszeit Paris sich ohne Widerspruch zur Kapitale einer ihrer selbst bewuJ3ten Boheme erklaren konnte8 ); es behauptet sich als solche bis in die Zeit der »Existentialistenkeller«, trotz der wachsenden (und wechselnden) Konkurrenz vieler GroJ3stadte von Rom und Wien bis Kristiania, von Moskau und Petersburg bis New York und Chicago. Einer der Grunde liegt wohl im Anteil einer besonders breiten (mit der Pariser Literaturund Kiinstlerboheme sich iiberschneidenden) Studenten-Boheme, die sich durchaus als Boheme bezeichnen laJ3t (im Unterschied etwa zu »ziigellosen« Studentenzirkeln an deutschen Universitaten des 18. Jahrhunderts), da sie sich bewuJ3t nach Mustern aus der Boheme-Literatur (im 19. Jahrhundert u. a. nach den Cenacles von Murger) stilisieren 9 ) (was uns auf eine generelle Eigentiimlichkeit des Bohemiens verweist: seinen Versuch, die eigene Existenz moglichst primar asthetisch zu betrachten, sie romanhaft-literarisch zu erleben). Anfechtbar wie die Verbindung der Boheme mit dem Aufstieg des Biirgertums erscheint nun auch die Auffassung der Boheme als Symptom seines auJ3eren Verfalls. Eher schon lassen sich der Verfall des Biirgertums und der Verfall der Boheme historisch zusammensehen (wenn, wie in der NS-Ara, die ideologische Verneinung des Individualismus, des Liberalismus, der Autonomie der Kulturbereiche auch die Grundlagen der Boheme bedroht)1°). An der Empfindung einer Zusammengehorigkeit von Boheme und Biirgertum hat es in allen Hauptepochen der Boheme nicht gefehlt; sie kommt z. B. in der wechselseitigen relativen Bejahung 8) Parry (S. X) erkliirt die historische Rolle von Paris folgendermaBen: France remained the classical country of Bohemianism, perhaps because there, in the first half of the nineteenth century, the process of factory production, the pushing out of the crafts, was much slower than in England, America, or Germany, and the readjustment of the sons of the craftsmen and small shopkeepers to the new conditions was more painfully dragged out ... French industrialism •.. had not itself developped and prospered sufficiently to need all these bright young men as managers, engineers, clerks, salesmen, or entertainers in the seven arts. So, the bright sons of desolate craftsmen and shopkeepers flocked to Paris and other big cities only to find very little demand for their services or talents. Diese Berufung auf die angeblich langsamere okonomische Entwicklung Frankreichs befriedigt noch nicht, da sie - gesetzt, sie ware nachweis bar - hochstens die Proletarisierung kleinbiirgerlicher Schichten erklaren konnte, allenfalls noch die Vermehrung des intellektuellen Proletariats, nicht aber die Hinwendung zum Bohemetum der Literaten und Kiinstler (und nicht die Boheme-Nachfolge der anderen genannten Lander). Gewisse proletarisierte Schichten und das Lumpenproletariat werden urn 1830 von der Boheme romantisiert (auch von der nichtproletarisierten) und von den neuen Autoren in einem Atem mit den Kiinstlem genannt (vgl. Pierre Citron, La Polsie de Paris dans la Litterature fran;aise de Rousseau a Baudelaire, Bd. 2, Paris 1961, S. pof.), sie sindjedoch als Gruppen strikt zu unterscheiden. 9) DaB diese Boheme imitativ ist, schrankt ihr Bohemetum nicht ein, wie noch einmal unterstreichend gesagt sei: Wer Boheme als solche wirklich imitiert, d.h. ihre Kennzeichen erkennbar iibemimmt, ist damit Bohemien. Dber die Urspriinglichkeit oder NichtUrspriinglichkeit ihrer Haltung mag bei der Betrachtung von einzelnen geurteilt werden, fur die historisch-soziologische Abgrenzung der Boheme-Gruppen ist (wie schon oben gegeniiber Geiger betont) diese Unterscheidung irrelevant. 10) Die revolutionare und nachrevolutionare Boheme der Sowjetunion mag teilweise eine Spatform der antibiirgerlichen, antiautoritaren Boheme der zaristischen .Ara sein. Sie scheint in der Zeit des Stalinismus abgestorben zu sein. DaB die sowjetische Gesellschaft die Spannung zwischen den kiinstlerisch-literarisch produktiven Intellektuellen und der Hauptgesellschaft nicht aufgehoben (sondem nur zeitweilig durch Zwang verdeckt) hat,
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Helmut Kreuzer
durch betrachtliche Teile beider Lager zum Ausdruck: etwa in der verbreiteten Erwartung und Akzeptierung einer Kiinstlermoral fur Kunstler, einer Burgermoral fur Burger, oder in dem Umstand, »daB das literarisch anspruchsvolle Publikum yom Schriftsteller jetzt den Skandal erwartete«ll). Hier liegt einer der Grunde fur die Duldung der Boheme durch die Gesellschaft. Auf beiden Seiten verhielt man sich zur eigenen wie zur Gegenposition ambivalent, betrachtete man einander nicht nur mit HaB oder Spott und dem Gefuhl der Dberlegenheit, sondern auch mit Neid, Bewunderung und schlechtem Gewissen. Schien doch auch im Gegenuber von Boheme und Burgertum der vielberufene Gegensatz von »Geist« und »Leben« auf eine spezielle Weise objektiviert, so daB jede Position der Unvollkommenheit der anderen ihr Urteil sprach. Nicht also schon die burgerliche Aufstiegs- oder erst die (auBere, politischokonomische) Verfallssituation schemen eine vollentwickelte und soziologisch augenfallige Boheme hervorzubringen, eher vielleicht (urn die schon erorterten, unabdingbaren geistes- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen hypothetisch mit einem wirtschaftsgeschichtlichen Faktor zu verbinden) eine Gesellschaft in der Entwicklung zum Hochkapitalismus; daB dieser jedoch nur ein Faktor unter anderen sein kann, zeigt sich schon am Dbergewicht der franzosischen uber die englische Boheme. Mit Epochen burgerlichen »Verfalls« lassen sich die ersten Blutezeiten der internationalen Boheme allenfalls unter moral- und ideengeschichtlichem Aspekt verbinden, sofern man namlich unter dem »Verfall« (wie Fritz Martini) die (kollektivmoralisch begrundete) Praxis breiter burgerlicher Schichten des 19. Jahrhunderts versteht, dem Klasseninteresse vor dem progressiven Anspruch und humanitaren Impuls der alteren burgerlichen Ideenwelt bewu.Bt den Vorrang zu geben, wo jenes mit diesem kollidierte. Die Problematik dieser Situation - mit ihrer auffallig verstarkten Tendenz zu »doppelter Moral« und ideellem KompromiB forderte in besonderem MaBe die Kritik intellektueller AuBenseitergruppen heraus (eine Kritik im Zeichen der geistigen Radikalitat und Intransigenz, der absoluten Forderung) und ermoglichte ein verstarktes Zusammengehorigkeitsgefuhl und -bewuBtsein gegenuber der Gesellschaft aus der Einigkeit im Negativen (die in der AuBenseitersituation genugt und erst dann nicht mehr zureicht, wenn eine Boheme-Gruppe - etwa durch politischen U msturz - Kontakt mit der Machtbekommt). Die proletoiden, exzentrischen, radikalen Intellektuellengruppen der Phase vor der im Zuge dieser »Bemerkungen« beschriebenen Konstellation sind als Vor- oder Fruhformen zu klassifizieren (sieht man davon ab, daB sich das Verhaltensmuster der Boheme, einmal sichtbar geworden, bis zu einem gewissen Grad wohl auch in Gebiete mit anderer Sozialstruktur ubertragen laBt, - wie man es auch in spateren Stadien Zu behaupten oder unter Umstanden Zu erneuern vermag). Die Denk- und Stilrichtungen der Literaturgeschichte zeigen eine stark wechselnde Affinitat zur Boheme oder zu den einzelnen Boheme-Tendenzen. Die auBere Entfaltung mag im ganzen bis ins 20. Jahrhundert relativ kontinuierlich verlaufen sein; sehr ungleichartig sind jedoch in den einzelnen Jahrzehnten und Regionen - je nach der zeigt die russische Bohemekritik urn 1930, zeigen auch die gegenwartigen Auseinandersetzungen zwischen einem Teil der Intellektuellen und der Partei, zwischen den emanzipatorisch-individuellen Gestaltungs- und Verhaltensintentionen der einen und den Geschmacksnormen und Zweckpostulaten der anderen Gruppe. Ob sich daraus bei weiterer Veranderung der neue Typus einer mimikryfreien, der westlich-»burgerlichen« vergleichbaren »sozialistischen« Boheme herausbilden wird, bleibt abzuwarten. Vgl. Reisner, Bogema i Kul'lurnaja Revolucija. In: Pelal i Revolucija, Moskau 1928; Frice a.a.O.; s. auch I, Anm. 129. Der »Biirger« der alteren Bohemetradition scheint dort durch das Stereotyp des verhaBten »Burokraten« abgelost zu sein. Vgl. Pipes a.a.O. ") Muschg, a. a. 0., S. 273.
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geschichtlichen Situation - die historische Rolle und Bedeutung der Boheme, ihr Wille und ihre Kraft zur Provokation, ihre Wirkungschance und ihre Attraktivitat ftir die hervorstechenden Talente 12). In Deutschland sind im 18. J ahrhundert Vor-, im 19. Jahrhundert Friihformen zu konstatieren; das wilhelminische Zeitalter ftihrt die Hauptepoche herauf (ein halbes Jahrhundert spater als in Frankreich). Deren Spatformen existieren in der »spatkapitalistischen« Krisenzeit zwischen den Kriegen (die zeitweilig einzelne Gegensatze zwischen Boheme und Gesellschaft verwischt), wahrend die (amerikanisch beeinfluBten) Boheme-Tendenzen der Gegenwart einer neuen historischen Phase zuzurechnen sind. 1S ) DaB die Boheme in allen Epochen - ungeachtet betrachtlicher historischer Variationen ein identisches »Wesen« bewahrt hat, das sich als Idealtypus beschreiben laBt, daB die Grundtypen des Bohemiens in allen Phasen erscheinen, ist - wie vorwegnehmend noch ohne Beweis behauptet sei - sowohl durch eine Untersuchung der realhistorischen Boheme wie durch eine Untersuchung der fiktionalen Boheme-Literatur (in der der Bohemiens zur fiktiven Hauptfigur und seine Problematik zum Thema wird) zu erweisen. Solche Untersuchungen - auf die diese begriffsgeschichtHche und begriffskritische Vorstudie hinzielt - k6nnten nicht nur einen Beitrag zur Typologie und Geschichte des Schriftstellers (oder Ktinstlers) leisten, sondeen wohl auch zur Geschichte der neueren Literatur (oder Kunst), auf deren Schicksale (einschliefilich der stilgeschichtlichen Wandlungen) sich nicht nur die allgemeinere geschichtliche Problematik, die in der Boheme eine ihrer Ausdrucksformen findet, sondeen auch die Existenz einer Boheme ganz unmittelbar ausgewirkt hat. 12) Wahrend die deutsche Aufkliirung jedenfalls im ganzen noch bohemefern ist (weit mehe als die gleichzeitigen »Philosophen« in Paris), mit der charakteristischen Gesellungsform der Gesinnungsgemeinschaft, die sich urn ein publizistisches Organ zentriert (ohne der Ortsgemeinschaft zu bediirfen), inkliniert die empfindsame Richtung mit ihren schwarmerischen Freundschaftsbiinden, z. T. vom Meister-Jtinger-Verhaltnis gepragt, durch rauschhafte Emotionen bedingt und mit einer Verkliirung des Dichters als solchem verbunden, schon erwas starker zu Gesellungsformen der spateren Boheme. Dal3 Sturm und Drang und Romantik eine Affinitat zu Boheme-Tendenzen haben und bereits Vor- und Friihformen der Boheme aufweisen, haben schon Martini u. a. betont. Nehmen im Vormatt Byronianer, »Zerrissene«, Jungdeutsche, Junghegelianer von historischem Interesse an der Boheme teil, vermag in der bohemefernen Literatur des »poetischen Realismus« (wie zuvor des Biedermeier) »Biirger« wieder ein Ehrenname zu werden, was nicht ausschlieBt, daB sich an den groBen Autoren dieser Richtung (wie Keller) die Spannung zwischen »biirgerlicher« und »kiinsderischer« Existenz in dieser Epoche beispielhaft erfassen !ieBe (wie spater an bedeutenderen Bohemiens die Spannung zwischen Kiinstlertum und Boheme-Existenz). Die nennenswerten Schriftstellervereine (wie der Berliner 'Tunnel') oder Musenh6fe der Zeit (wie der Mtinchener) nehmen zwar unbiirgerliche Charaktere wie Scherenberg oder Leuthold auf, haben jedoch kein gesellschaftsfeindliches Geprage. Die zweifellos zahlreichen Boheme-Kreise, die sich an die Traditionen des Theaterlebens oder des Atelier- und Akademielebens anschlossen, sind ohne antibiirgerliche Radikalitat und ohne historisches Gewicht. Das andert sich nach 1880. Dal3 die charakteristischen Gruppierungen des Naturalismus und seiner Gegenstromungen, aber auch des Expressionismus und Dadaismus sich der Boheme annahern, oft mit ihr iiberschneiden, z. T. ganz in ihr aufgehen, wurde schon an anderer Stelle gezeigt (Kreuzer, Exkurs iiber die literarische Boheme, s. III, Anm. 6). 13) Unter sozialgeschichtlich-politischem Aspekt kann man m.E. terminologisch eine feudalistisch-absolutistische Vor- und Friihboheme von der biirgerlichen und spatbiirgerlichen Boheme im 19. und 20.Jahrhundert abheben, in der Gegenwart wohl eine westliche von einer ostlich-sozialistischen und von der Boheme der Enrwicklungslander. Die »moderne« Boheme bezeichnet man besser als nonkonformistisch (statt als antibiirgerlich), da z.B. in der »Mittelklasse« im Westen, den »Biirokraten« im Osten offenbar die dem System »angepal3te« Existenz iiberhaupt attackiert wird und der Begriff des »Biirgers« an Symbolgehalt eingebiiBt hat.