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Evolution von Entwicklungsmechanismen
Beinentwicklung und GliedmaßenEvolution bei Spinnen MATTHIAS PECHMANN, SARA KHADJEH, NATASCHA TURETZEK, NIKOLA-MICHAEL PRPIC JOHANN-FRIEDRICH-BLUMENBACH-INSTITUT UND GÖTTINGER ZENTRUM FÜR MOLEKULARE BIOWISSENSCHAFTEN, UNIVERSITÄT GÖTTINGEN
The amazing biology of arthropods, their diversity in lifestyle and behaviour, is largely based on evolutionary adaptations of their appendages. Our studies on spiders provide insight into the evolution of this diversity of appendage morphology and also answer the question why spiders have (only) eight legs. DOI: 10.1007/s12268-012-0192-x © Springer-Verlag 2012
ó Bei vielen Menschen lösen Spinnen (Abb. 1) Ängste oder Abscheu aus. Dabei wird oft übersehen, dass es gerade die Spinnen sind, die faszinierende und einzigartige Lebens- und Verhaltensweisen entwickelt haben. Man denke nur an die Spinnseide, die zu den stabilsten Biopolymeren überhaupt zählt und aus der viele Spinnenarten kunstvolle Netze bauen, die selbst menschliche Architekten staunen lassen. Diese Vielfalt an Fertigkeiten der Spinnen wird durch ihre spezialisierten Körpergliedmaßen ermöglicht. Ohne die beweglichen Spinnwarzen am Hinterleib könnten keine Spinnfäden erzeugt werden, und ohne die besonderen Klauen und Borsten an den Laufbeinen würden sich die Spinnen in ihren eigenen Netzen verfangen. Aber nicht nur bei der Fortbewegung und beim Beutefang spielen die Gliedmaßen eine entscheidende Rolle. Selbst so fundamentale Lebensäußerungen wie Atmung und Fort-
˘ Abb. 1: Spinnenarten in unserem Labor. A, die Kammspinne Cupiennius salei (Ctenidae) aus Mittelamerika. B, die Vogelspinne Acanthoscurria geniculata (Theraphosidae) aus Südamerika. C–F, die einheimischen Arten Pholcus phalangioides (Zitterspinne) (Pholcidae) (C), Tegenaria atrica (Hausspinne) (Agelenidae) (D), Parasteatoda tepidariorum (Gewächshausspinne) (E) und Parasteatoda lunata (Mond-Kugelspinne) (F) (beide Theridiidae). Maßstab: A–D: 1 cm; E, F: 0,5 cm.
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pflanzung wären ohne spezielle Gliedmaßen nicht denkbar: Männliche Spinnen besitzen
umgewandelte Taster (Pedipalpen), die artspezifisch geformte Begattungsorgane (Bulben) tragen, mit denen es ihnen möglich ist, ihr Sperma in die Geschlechtsöffnung der Weibchen zu befördern. Und zur Atmung besitzen die meisten Spinnen zwei unterschiedliche Organe am Hinterleib, die Buchlungen und ein Tracheensystem. Das Faszinierende daran: Auch diese beiden Organsysteme entwickeln sich während der Embryogenese aus umgewandelten Gliedmaßen. Die vielgestaltigen Gliedmaßen haben es den Spinnen also ermöglicht, erfolgreich neue Lebensräume zu besetzen und neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Wie aber ist diese Vielfalt an Gliedmaßenformen während der Evolution entstanden? Welche entwicklungs-
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gradientenbildung als auch die nachgeschalteten Gene entlang der proximaldistalen Achse. Im Anschluss konnten wir zeigen, dass ähnliche Variationen auch bei Genen auftreten, die der dorsoventralen Beinachsenbildung dienen (z. B. optomotor-blind (omb) und H15) [7]. Diese Befunde sind vermutlich nicht überraschend, denn die Beine von Spinnen und Fliegen sind zwar typische Laufbeine, deshalb je doch natürlich morphologisch nicht völlig identisch. Die Vermutung liegt nahe, dass die beobachte˚ Abb. 2: Ein genetisches Grundmuster für eine beinähnliche Morphologie. Expression der Gene dachshund (A–D), Distalten Variationen im less (E–H), homothorax-1 (I–L) und extradenticle-1 (M–P) in den embryonalen Gliedmaßen der Vogelspinne Acanthoscurria geniculata. Pedipalpen und Laufbeine sind morphologisch ähnlich und zeigen ähnliche Expressionsmuster, nicht aber die genetischen EntChelizere (Giftklaue), die nicht beinähnlich ist. Die beinähnliche Genexpression in den Spinnwarzen korreliert mit der beiwicklungsprogramm nähnlichen Ausprägung dieser Gliedmaßen besonders bei Vogelspinnen (aus [12]). letztendlich auch diese morphologischen biologischen Prozesse und Gene sind daran mittleren Bereich des Beins das Gen dachs- Unterschiede bedingen. beteiligt? Um diese Fragen beantworten zu hund (dac) exprimieren und Zellen der Beinkönnen, beginnt man am besten dort, wo basis durch die Expression der beiden Kofak- Variation eines Themas – die Anzahl bereits Erkenntnisse zu ähnlichen Prozessen toren homothorax (hth) und extradenticle (exd) der Laufbeinsegmente vorliegen. Die Taufliege Drosophila melano- gekennzeichnet sind. Ein wichtiger Unterschied ist beispielsweise gaster hat zwar weder Buchlungen noch die Anzahl der Beinsegmente (Podomeren). Spinnwarzen, aber auch Fliegen haben Lauf- Ein genetisches „Grundprogramm“ Spinnen haben sieben Podomeren, Fliegen beine und viele wichtige Beinentwicklungs- für Laufbeine aber nur fünf. In der Tat konnten wir zeigen, gene sind bereits identifiziert worden (Über- In einem ersten Schritt haben wir daher dass die Grenzen zwischen den Podomeren sicht in [1]). So beginnt die Bildung der pro- Homologe dieser Fliegen-Gene aus der mittel- in C. salei durch die gleichen Mechanismen ximal-distalen Achse der Fliegenbeine mit der amerikanischen Kammspinne Cupiennius festgelegt werden wie in D. melanogaster [8]. Expression der Morphogene Wingless (Wg) salei (Abb. 1A) (und anderen Spinnenarten) Die Hauptrolle spielen dabei die Gene Notch und Decapentaplegic (Dpp). Wg wird auf der isoliert und deren Expression mit der aus (N) und Serrate (Ser) und der von ihnen konVentralseite gebildet, während Dpp gegenüber Drosophila melanogaster bekannten Situa- trollierte Notch-Signalweg. Beide Gene codieauf der Dorsalseite gebildet wird. Am Bil- tion verglichen [4, 5]. Es stellte sich heraus, ren für membrangebundene Proteine, durch dungsort ist die Konzentration des jeweiligen dass die Expressionsmuster vieler Gene in die benachbarte Zellen miteinander in KonProteins am höchsten und nimmt mit zuneh- Spinnen und Fliegen sehr ähnlich sind; es takt treten können. Durch diese Zell-Zell-Kommender Entfernung ab. Jede Zelle im Bein scheint also eine Art „Grundprogramm“ zu munikation legen die benachbarten Zellen kann nun also anhand der Konzentrationen geben, das in diesen Arthropoden gleicher- eine Grenze zwischen sich fest, die dann zu von Wg und Dpp ihre Entfernung zur jewei- maßen Laufbeine erzeugt (Abb. 2, [6]). Aller- einer Podomergrenze im fertigen Bein wird. ligen Quelle feststellen und somit ihre Position dings zeigte sich im Detail auch eine Reihe Eben jene Gene der proximal-distalen Achim Bein ziemlich genau bestimmen. Diese von Variationen, die sowohl die Expression senbildung (also z. B. dac, Dll) scheinen den Information dient den Beinzellen dazu, nach- von wingless (wg) und decapentaplegic (dpp) Notch-Signalweg in C. salei wie in D. melageschaltete Beinentwicklungsgene zu akti- als auch die zeitliche Dynamik und die Mus- nogaster zu kontrollieren. Somit führen also vieren bzw. zu reprimieren [2, 3]. Zellen in ter der Expression von dac, Dll, hth und exd die oben erwähnten Variationen in der Dynader Beinspitze exprimieren beispielsweise betreffen. Die Variationen betreffen also mik dieser Gene zu den Variationen in der das Gen Distal-less (Dll), während Zellen im sowohl die oberste Ebene der Morphogen- Lage der Podomergrenzen und damit letzt-
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endlich zu den Unterschieden in der Anzahl der Podomeren in den Beinen von Spinnen und Fliegen.
Die Rolle der Hox-Gene – oder: Warum Spinnen (nur) acht Beine haben Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die Laufbeine bei Insekten und Spinnen gar nicht in vergleichbaren Segmenten liegen und somit streng genommen nicht homolog sind. Die Segmente, an denen bei Spinnen die Laufbeine wachsen, tragen bei den Insekten hauptsächlich die Mundwerkzeuge. Diese Aufteilung des Körpers und die Festlegung der Identität der einzelnen Segmente unterliegen der Kontrolle durch die HoxGene. In D. melanogaster und anderen Insekten liegen die Laufbeine in dem Bereich des Körpers, der durch das Hox-Gen Antennapedia (Antp) bestimmt wird (Übersicht in [9]). In Spinnen muss die Festlegung der Laufbeinidentität aber ganz anders erfolgen, denn in den entsprechenden Segmenten ist
das Spinnen-Homolog von Antp nicht exprimiert. Neben C. salei haben wir eine weitere Spinnenart, Parasteatoda tepidariorum (Abb. 1E), in unsere Forschung aufgenommen, die für Studien zur Genfunktion besonders geeignet ist. Hierzu kommt die RNA-Interferenz (RNAi) zum Einsatz, bei der die Injektion synthetischer RNA mit der Stabilität der endogenen mRNA eines ausgewählten Gens interferiert und somit die Genfunktion stört. Mittels RNAi haben wir in P. tepidariorum die Antp-Funktion gestört und erhielten dadurch Spinnen, die statt acht Beinen nun zehn Beine hatten (Abb. 3A, B, [10]). Ganz offensichtlich ist die normale Funktion von Antp in Spinnen nicht die Erzeugung, sondern die Unterdrückung von zusätzlichen Beinen, und somit sorgt Antp für den achtbeinigen Körperbauplan der Spinnen. Auch die Funktion anderer aus D. melanogaster bekannter Gene hält in Spinnen einige Überraschungen bereit: Wir konnten zeigen, dass das Gen Dll in Spinnen nicht nur die Beinspitzen bestimmt, sondern sogar
in die frühe Segmentbildung eingreift [11]. Stört man die frühe Funktion von Dll, so wird das erste Laufbeinsegment überhaupt nicht gebildet. Das Resultat: Spinnen mit nur sechs Beinen (Abb. 3C, D).
Ausblick: Spinnen als Modelle für Bauplan-Evolution und Artbildung Bisher beschäftigen sich unsere Studien hauptsächlich mit den Laufbeinen und beschränken sich auf wenige ausgewählte Spinnenarten. Die Vielfalt an Gliedmaßentypen und -formen bei Spinnen ist aber viel größer. Wir wollen deren Entstehung und Evolution verstehen und erklären, wie die Veränderung der genetischen Grundlagen durch die Veränderung der morphologischen Form zu ökologischen und verhaltensbiologischen Anpassungen und schließlich auch zur Aufspaltung in neue Arten führt. Um der Diversität der Spinnen besser Rechnung zu tragen, integrieren wir weitere Arten (Abb. 1) in unsere Forschung und haben damit bislang gute Erfahrungen gemacht [11, 12]. Jede Art
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¯ Abb. 3: Die Gene Antennapedia (Antp) und Distal-less (Dll) bestimmen den achtbeinigen Spinnenbauplan. Die Störung der Antp-Funktion durch RNAi führt zur Bildung eines fünften Laufbeinpaares („L5“) (B); Kontrolltiere haben die normalen vier Beinpaare (L1 bis L4) (A) (aus [10, © National Academy of Sciences]). Störung der frühen DllFunktion führt zum Ausfall des gesamten L1-Segments; diese Tiere haben nur drei Beinpaare (D, D’). Kontrolltiere besitzen dagegen ganz normal vier Beinpaare (C, C’).
hat ihre eigenen Ansprüche an die Haltung und Zucht im Labor, sodass wir uns zunächst entschieden haben, „Schlüsselarten“ zu wählen, die sozusagen „strategische“ Bezugspunkte in der Diversität der Spinnen repräsentieren. Zum einen haben wir zwei Arten gewählt, die entfernt verwandte Spinnengruppen repräsentieren: die Vogelspinne Acanthoscurria geniculata (Abb. 1B) repräsentiert die Mygalomorphae, eine sehr ursprüngliche Spinnengruppe, und die Zitterspinne Pholcus phalangioides (Abb. 1C) repräsentiert die Haplogynae, phylogenetisch die Schwestergruppe der „höheren“ Spinnen (Entelegynae). Zum anderen wollen wir Veränderungen untersuchen, die zwischen sehr nah verwandten Arten auftreten. Dazu haben wir die Art Parasteatoda lunata (Abb. 1F) im Labor etabliert, die P. tepidariorum sehr ähnlich ist, die aber eine andere Pedipalpenmorphologie aufweist. Dadurch rücken auch weitere Gliedmaßentypen außer den Laufbeinen in den Fokus unserer Arbeit, wie etwa die Pedipalpen mit ihren artspezifischen Bulben (Begattungsorgane an den Tastern) oder die Buchlungen und Tracheen. Hier betreten wir nun Neuland. Keines der „Modellsysteme“ kann hier
als Grundlage dienen: D. melanogaster hat keine Buchlungen, keine Pedipalpenbulben, keine Chelizeren und auch keine Spinnwarzen. Bei solchen evolutiven Innovationen ist man zwangsläufig auf sein Untersuchungsobjekt als einzige Informationsquelle angewiesen. Das macht das Forschen schwieriger, aber umso faszinierender!
[6] Prpic NM, Damen WGM (2008) Arthropod appendages: a prime example for the evolution of morphological diversity and innovation. In: Minelli A, Fusco G (Hrsg) Evolving Pathways: Key Themes in Evolutionary Developmental Biology. Cambridge University Press, Cambridge. 381–398 [7] Janssen R, Feitosa NM, Damen WGM et al. (2008) The Tbox genes H15 and optomotor-blind in the spiders Cupiennius salei, Tegenaria atrica and Achaearanea tepidariorum and the dorso-ventral axis of arthropod appendages. Evol Dev 10:143– 154 [8] Prpic NM, Damen WGM (2009) Notch-mediated segmentation of the appendages is a molecular phylotypic trait of the arthropods. Dev Biol 326:262–271 [9] Hughes CL, Kaufman TC (2002) Hox genes and the evolution of the arthropod body plan. Evol Dev 4:459–499 [10] Khadjeh S, Turetzek N, Pechmann M et al. (2012) Divergent role of the Hox gene Antennapedia in spiders is responsible for the convergent evolution of abdominal limb repression. Proc Natl Acad Sci USA 109:4921–4926 [11] Pechmann M, Khadjeh S, Turetzek N et al. (2011) Novel function of Distal-less as a gap gene during spider segmentation. PLoS Genet 7:e1002342 [12] Pechmann M, Prpic NM (2009) Appendage patterning in the South American bird spider Acanthoscurria geniculata (Araneae: Mygalomorphae). Dev Genes Evol 219:189–198
Korrespondenzadresse: Dr. Nikola-Michael Prpic Georg-August-Universität Göttingen Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut für Zoologie und Anthropologie, Abteilung für Entwicklungsbiologie Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften, Ernst-Caspari-Haus Justus-von-Liebig-Weg 11 D-37077 Göttingen Tel.: 0551-39-10124 Fax: 0551-39-5416
[email protected] wwwuser.gwdg.de/∼nprpic
AUTOREN
Danksagung Wir danken allen gegenwärtigen und ehemaligen Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe und unseren Kollaborationspartnern. Wir danken der Universität Göttingen, der DFG und der GGNB für finanzielle Unterstützung. ó
Literatur [1] Kojima T (2004) The mechanism of Drosophila leg development along the proximodistal axis. Dev Growth Differ 46:115–129 [2] Lecuit T, Cohen SM (1997) Proximal-distal axis formation in the Drosophila leg. Nature 388:139–145 [3] Gonzalez-Crespo S, Abu-Shaar M, Torres M et al. (1998) Antagonism between extradenticle function and Hedgehog signalling in the developing limb. Nature 394:196–200 [4] Prpic NM, Janssen R, Wigand B et al. (2003) Gene expression in spider appendages reveals reversal of exd/hth spatial specificity, altered leg gap gene dynamics, and suggests divergent distal morphogen signaling. Dev Biol 264:119–140 [5] Prpic NM, Damen WGM (2004) Expression patterns of leg genes in the mouthparts of the spider Cupiennius salei (Chelicerata: Arachnida). Dev Genes Evol 214:296–302
Matthias Pechmann, Sara Khadjeh, Natascha Turetzek und Nikola-Michael Prpic (v. l. n. r.) Das Team um Nikola-Michael Prpic forscht am Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut der Universität Göttingen und teilt eine gemeinsame Faszination für die Biologie und Vielfalt der Arthropoden. Die Autoren erforschen die Entwicklung und Evolution von Spinnen mit einem Schwerpunkt auf den genetischen Grundlagen der Veränderung der Gliedmaßenmorphologie. Ziel ist es, einen Einblick in die Prinzipien der morphologischen Evolution und deren Bedeutung für ökologische und verhaltensbiologische Anpassungen und Artbildung zu bekommen.
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