Beitriige zum Hirnluesproblem. II. Mitteilung.
t~ber akute bidimensionale Psychose auf dem Boden von ResidualsyphilisL Von
Prof. Dr. M. Gurewitsch. (Einffegangen am 18. M a i 1928.)
Mehrere F~lle, deren K r a n k e n g e s c h i c h t e n wir bier kurz anfiihren, b i e t e n u. E. hinsichtlich ihrer Pathogenese ein Interesse dar. Fall 1. Patientin 0., 22 Jahre alt, aufgenommen am 3. ]. 1927. Bituerin, verheiratet. Pathologische Heredit~it wird in Abrede gestellt. I-Iatte 1 Kind, das im Alter von 6 Monaten starb. Stets nerv6s, wenig mitteilsam; das erstemal geistig erkrankt. Traf aus dem Dorfe 2 Wochen vor der Aufnahme ein, erkrankte nach einigen Tagen. Klagte fiber starkc Kopfschmerzen, war verdrossen, in Gedanken versunken, sodann stellte sich ein Zustand starker Erregung mit Halluzinationen, Krampfanfi~llen und choreatischen Zuckungen ein. Im Krankenhaus dauerte die Erregung fort, die Kranke konnte nicht untersucht werden. Temperatur um 40 ~ Puls frequent, in der Nacht zum 6. I. 1927 besonders unruhig, sodann allgemeine Schwiiche und Tod am 6. I. 1927. Klinische Diagnose nicht festgestellt. Hirngewicht 1255 g. Hochgradige ven6se Hyper~mie der Hirnh~ute, weiche I-Iirnhaut mit leichten Trfibungen. Hyperamie der Gehirnsubstanz. In den Ventrikeln nichts Besonderes. Im unteren und mittleren Lappen der rechten Lunge hochgradige aktive Hyperiimie und Hepatisation kleinerer Bezirke. Milz vergr6Bert, schlaff. Herz hypertrophiert, geringe Insuffizienz der Mitralis. Die Nieren weisen ein Parenchym auf, das wie gekocht aussieht. In den tibrigen Organen nichts Besonderes. Mikroskopiseh im Gehirn alte Ver~nderungen der GefaBe der Rinde und der weichen Hirnhaut, sie sind gewuchert, Hyalinose. Stellenweise punktf6rmige Blutungen und Ver6dungen. Akute Erscheimmgen yon Endarteriitis und Infiltrationen sind nicht vorhanden. Weiche Hirnhaut etwas verdickt, in derselben werden hin und wieder Plasmazellen angetroffen. Scharf ausgepragte triibe Schwellung der Gehirnzellen, des C. striatum und des Thalamus. Vermehrung der Glia, Zunahme der Ar~zahl der Trabantenzellen, in den tieferen Rindenschichten hin und wieder am6boide Glia. Fall 2. Patientin S., 23 Jahre alt, aufgenommen am 6. XII. 1926. Vater Alkoholiker, sonst keine heredit~tre Belastung. Entwickelte sich normal. Verheiratet. Kinderlos. Wurde ]~nde November 1926 in einem Krankenhause wegen Cholecystitis untergebracht, erkrankte aber dort an einer akuten Geisteskrankheit;
Aus der Moskauer Kastschenkowschen Irrenanstalt.
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war sehr unruhig, wurde infolgedessen in die Irrenanstalt iibergefiihrt. Status: Unruhig, strebt immer irgend wohin, aul3erst abgerissene Wahnideen, Rede unklar, tr/~ge Pupillenreaktion, rechte Nasenlippenfalte verstrichen. Rombergsches Symptom. In der Folge Temperatursteigerung, Auftreibung des Leibes, hochgradige Schw/iche und Exitus am 21. XII. 1926. Klinisehe Diagnose: Progressive Paralyse (?). Hirngewicht 1080 g. Hirnh/tute etwas gespannt, Menge der Cerebrospinalfliissigkeit verringert. Herz schlaff, die Muskulatur besitzt ein gekochtes Aussehen, in der rechten PleurahShle Ansammlung yon dickem Eiter, Pleura hyper/~misch, verdickt. In der Bauchh6hle ebenfalls Eiteransammlung. Leber vergr6f~ert, you blasser Farbe. In der Gallenblase Eiter. Entziindliche Veriinderungen der Blasensehleimhaut, zum Teil ist die Blase mit dem Peritoneum verwachsen. Milz vergr6Bert, schlaff. In den Nieren Parenchym blaB, besitzt ein gekochtes Aussehen. Mikroskopisch land die Diagnose ,,progressive Paralyse" keine Besti~tigung. Mehrere Verdiekungen der weichen Hirnhaut, in derselben hin und wieder Plasmazellen; die kleinen RindengefitBe mit hoehgradig verdickten Wandungen, akute Ver/mderungen sind in den Gef/iBen nicht nachzuweisen. Gef~Be der Rinde und der weichen Hirnhaut mit Blur iiberffillt. Cahal-Zellen in der ersten Rindenschicht. Zellen in der Rinde zum Teil sklerosiert, einige von ihnen weisen eine deutliche triibe Schwellung auf. Die gli6sen Veranderungen nicht scharf ausgepragt. Fall 3. Patientin O.. 33 Jahre all, aufgenommen am 16. IV. 1926. Vater Alkoholiker, sonst keine heredit/ire Belastung. Entwickelte sich normal. Verheiratet, hat 5 Kinder, von diesen starb 1 an Hydrocephalus, ein anderes an Scharlach, 3 sind am Leben lind leiden an Tuberkulose. Das erstemal erkrankt. Vor der Erkrankung Steigerung der Temperatur. Am 7. IV. 1926 zum erstenmal Anfa]l mit Triibung des BewuBtseins un
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unruhig, ~uBerte Verfolgungswahn. Am Tage vor der Aufnahme stfirzte er sich unter einen Stral3enbahnwagen, wurde jedoch nicht verletzt. Bei der Aufnahme stShnt er laut, zittert, Fragen werden nicht beantwortet, er ist verwirrt, strebt irgendwohin. Aussehen krankhaft, Gesichtsausdruck leidend. Ist desorientiert, will fortwiihrend die Flucht ergreifen, schlifft schleeht, verweigert die ]qahrungsaufnahme. Extremithten eyanotisch, wird immer schwiicher, Temperatur normal. Pulsffequent. Pupillen reagieren, Sehnenreflexe gesteigert. Exitus am 11. IV. 1926. Hirngewicbt 1300 g, geringe Triibung der weichen Hirnhaut in den Frontallappen. Herz erweitert, Muskeln yon toniger Farbe, in der Aorta sklerotische Plaques. Linke Lunge luftleer, stellenweise Schmelzung des Gewebes (nieht ge15ste Pneumonie), linksseitige adh~tsive Pleuritis. Milz vergrSflert, schlaff, reil3t beim Herausnehmen. Mikroskopisch: alte meningeale Erscheinungen, keine plasmatische Infiltration, Veranderungen der GefiiBe der Rinde und der subcortiealen Ganglien, Hyalinose derselben, stellenweise punktfSrmige Blutungen. Gefi~13e gewuehert, doch nicht infiltriert. Stellenweise Pakete. In den Nervenzellen ein Gemisch akuter und chronischer Ver~nderungen mit l~berwiegen der letzteren, besonders hochgradig sind die Ver/~nderungen im C. striatum: Vermehrung der Glia, Untergang der Zellen, schwere Degeneration, besonders der kleineren Elemente. In der Rinde die gleichen Veranderungen, im Thalamus sind die Ver/tnderungen weniger ausgesprochen. ~Fall 5. Patient F., 26 Jahre alt, aufgenommen am 7. X. 1926. Zum erstenmal vor 2--3 Tagen akut obne sichtlichen Anlal3 erkrankt. Erregt, aggressiv, drohg alle umzubringen. Bei der Aufnahme unzugimglieh, beantwortet nicht Fragen, ist verwirrt. Asthenischer KSrperbau, abgemagert, Zunge belegt, Atmung abgeschwi~cht. Strabismus divergens. Pupillen reagieren, Sehnenreflexe gesteigert, Tremor der Hi~nde, Dermatographismus. Unsauber, iflt mLr auf Zwang. Klagt fiber Sehmerzen in der Brust. Wird allm/~hlich sehw/~cher, Exitus am 26. X. 1926 an ErschSpfung. Diagnose: Schizophrenie. Hirngewicht 1500 g, hoehgradige Triibung der weichen Hirnhaut, Hydrocephalus externus et internus (nicht hochgradig). Erscheinungen akuter beiderseitiger trockener Pleuritis. 1VIilzleicht vergrSl3ert. Braune Atrophie des Herzens. Mikroskopisch: Chronische ~Ieningitis mit geringer Anzahl yon Plasmazellen und Lymphocyten. Wucherung und hochgradige Sklerose der kleinen Gef/~13e, stellenweise kleine ]31utungen in der Rinde und im C. striatum. In den Nervenzellen haupts/~chlich chronische Veriinderungen, zum Tell akute (triibe Schwellung). Bedeutende Wueherung der Glia (Trabantenzellen). Fall 6. Patient S.; 38 Jahre alt. Keine Anamnese. Bekannt ist nur, dab er einige Tage vor der Aufnahme (2. X. 1926) erkrankt ist. Verweilte im Krankenhaus blofl 6 Tage, machte den Eindruck eines somatisch Kranken. Gerausehe in den Lungen, desorientiert, schwach. Aus dem Krankenhaus entlassen, war er zu Hause unruhig, aggressiv, wurde infolgedessen von neuem ins Krankenhaus am 31. X. 1926 eingeliefert. Schwach, abgemagert, triage Pupillenreaktion, linker Patellarreflex st~trker als rechter, WaR. positiv. Ein Krampfanfall vorgekommen. Exitus am28. XII. 1926 an ErsehSpfung. Klinische Diagnose: Organische Gehirnaffektion. ]-Iirngewicht 1365, H/~ute gespannt, Windungen abgeflacht, weiche Hirnhaut trfibe, hyperiimisch. Ventrikel durch Fltissigkeit erweitert. Pleura reehts hyperiimisch, verdickt, Irische Verwaehsungen. Lunge reehts ebenfalls hyperiimisch, lufthaltig. Herzmuskel yon brauner Farbe, in der Aorta sklerotisehe Plaques. Milz stark vergrSBert, ziemlich derb. In den Nieren Atrophie der Rindenschicht, Sklerose der Pyramiden. Mikroskopisch: Chronische Veri~nderungen der kleinen Gef/~Be, Hyalinose derselben, Verdiekung und Hyperi~mie der weichen Hirnhaut. Hochgradige Vet-
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~nderungen der Rindenzellen, der Zellen des C. striatum und des Thalamus opticus (Sklerose), Neuronophagie, triibe Schwellung: Gemisch chronischer und akuter Veranderungen. Stark ausgepragte Wucherung der Glia. Fall 7. Patientin D., 27 Jahre alt. Galt bis zur Erkrankung als v611ignormal Wurde am 23. VII. 1927 entbunden, Geburt und Naehgeburtsperiode normal, aus der Gebgranstalt mit ihrem Kind am 29. VII. entlassen. Zu Hause verschlechterte sich ihr Zustand, die Temperatur stieg an, infolgedessen wurde sie am 4. VIII. 1927 yon neuem in die Gebaranstalt eingeliefert. Seitens der Genitalien wurde nichts Besonderes nachgewiesen, es wurde jedoch eine geistige St6rung festgestellt, und daher wurde sie am 4. VIII. 1927 in die Irrenanstalt eingeliefert. Bewul3tsein getriibt, unruhig, desorientiert, klagt fiber Sehmerzen in der linken tt~lfte des Kopfes, }typeralgesie, keine Paresen, Temperatur etwas erh6ht. Am 13. VIII. 1927 Befinden besser, Bewul3tsein k]ar. Am 14. VIII. 1927 klagte sie pl6tzlich fiber Verschlimmerung, stfirztc auf den Fui3boden und starb. Leiche einer wohlgen~ihrten Frau yon pyknischem KSrperbau. Hirngewicht 1390 g, Windungen abgeflacht, weiche Hirnhaut dfinn und durchsichtig, Gehirnsubstanz gespannt, 6demat6s; in der linken Sehliifenregion, und zwar im hinteren Teil der zweiten und dritten Schl~tfenwindung frisehe Blutung, die in das Gehirngewebe bis zu einer Tiefe yon 3 cm eindringt, wobei durch die Blutung die ~ul~ere Wand des rechten Seitenventrikels naher zum Hinterhorn zerst6rt ist. Lungen normal, tterz schlecht kontrahiert, Muskulatur hatte gekochtes Aussehen. In der Aorta sklerotische Plaques, Leber vergr6Bert yon dunkelroter Farbe, Milz vergr6Bert, sehlaff, Darm normal, Nieren vergr6Bert, von dunkelroter Farbe. GroBer schlaffer Uterus, erfiillt die H6hle des kleinen Beekens, Adnexe unver~ndeft; aus der Geb~trlnutter putrides Sekret, Muskulatur yon toniger Farbe, Schleimhaut und Submucosa entziindlich ver~indert, mit Eiter infiltriert; am Eingang der Tube links ein Stiickchen Placenta. Mikroskopiseh: Ver~nderungen der GefKBe, Wucherung derselben, Pakete, kleine Blutungen. Erseheinungen einer frisehen Endarteriitis nicht nachzuweisen. Haupts~chlich Verhnderungen in den Rinden des Frontal- und Schl~fenlappens; in den subcorticalen Ganglien sind die Veriinderungen unbedeutend. I n den Nervenzellen teilweise chronisehe sklerotische Ver~nderungen, teilweise akute in Form einer trtiben Sehwellung. In der weiehen Hirnhaut geringe fibr6se Verdickung, bier und da vereinzelte Plasmazellen. Fall 8. Patient R., 22 Jahre alt, aufgenommen am 10. XII. 1927. Hereditiire Belastung in Abrede gestellt. Galt bis zur Erkrankung als vollwertig. Erkrankte akut 3 Tage vor der Aufnahme. Hoehgradige Erregung, unzug~nglich, Negativismus. Im Krankenhaus Temperatursteigerung bis zu 39 ~ Dampfung in der reehten Lunge unten. Neurologiseh nichts Besonderes. DiG ganze Zeit iiber unruhig, verwirrt. Exitus am 23. XII. 1927. Leptosom, yon befriedigendem Ern~hrungszustand. Hirngewicht 1495g, H~ute und Gehirnsubstanz hyperamisch. Weiche Hirnhaut mit geringen Triibungen. In den Gehirnventrikeln nichts Besonderes. Herz sehlaff, Muskulatur von gekoehtem Aussehen. In der rechten Lunge Erseheinungen einer katarrhalischen Pneumonie. Milz vergr6Bert, schlaff. Mikroskopisch: Wucherung der RindengefhBe, zahlreiche Pakete, Hyalinose; Infiltration der Gef~Be weder in der Rinde noch in den subcorticalen Ganglien. Gef~Be mit Blur erfiillt, kleine Blutungen. Zum Tell chronische (Sklerose), zum Teil akute (triibe Schwe]lung) Veranderungen der Nervenzellen. All diese F~lle weisen unzweifelhaft viel Gemeinsames m i t e i n a n d e r auf. W i r h a b e n bier vor uns schwere, a k u t aufgetretene Psychosen bei j u n g e n S u b j e k t e n , die das erste Mal e r k r a n k e n . Die Psychosen verlaufen
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mit einer hochgradigen Erregung, mit Delirien, einer Bewul3tseinstriibung, bisweilen mit KrampfanfMlen und enden sehr rasch mit dem Tode. In den meisten Fallen liegen einige neurologische Symptome vor, die auf eine organische Natur der Psychose hinweisen. Die Wassermannsche Reaktion war in einem Fall eine positive, in einem anderem eine negative, in den iibrigen Fallen wurde sie nicht angestellt infolge des allzukurz dauernden Aufenthaltes der Kranken in der Anstalt. Etwas abseits steht derjenige Fall, wo die Patientin yon der akuten Psychose genas und gleich darauf an einer Blutung zugrunde ging; im iibrigen ist auch dieser Fall (sowohl klinisch als histologisch) den iibrigen Beobachtungen ahnlich. In samtlichen Fallen lag unzweifelhaft eine Infektion (am haufigsten mit Affektion der Lungen oder der Pleura) vor. Diese somatischen Veranderungen reichen an und fiir sich weder zu einer Erklarung der sttirmischen psychischen Erscheinungen, noch zur Erklarung des bSsartigen Verlaufs (mit Ausnahme etwa des Falles 2) aus. Ohne allen Zweifel steht der letale Ausgang mit der unmittelbaren Affektion des Gehirns im Zusammenhang, was auch durch die anatomischen Befunde bestatigt wurde*. Vor einigen Jahrzehnten wurden akute b6sartige Psychosen in der Art wie unsere Falle (oder wie wenigstens die Mehrzahl yon ihnen) einfach als akutes Delirium gedeutet. In der Gegenwart ist eine derartige Diagnose natiirlich unzulanglich, da wir wissen, dab das akute Delirium bloB einen Symptomenkomplex darstellt, der bei verschiedenen psychisehen Erkrankungen vorkommen kann. Aus den von uns angefiihrten klinischen Krankengeschichten ist zu ersehen, dab in samtlichen Fallen die klinische Diagnose nicht gestellt wurde und unklar blieb, sogar die vermuteten Diagnosen wurden im allgemeinen durch die anatomische Untersuchung nieht gerechtfertigt. Schon dieser eine Umstand allein weist darauf hin, dab es sich hier um Falle handelt, die Kraepelin als Psychosen vom Typus des akuten Deliriums mit undeutlicher Pathogenese anfiihrt. Unsere Falle k6nnen blol~ bei Analyse der anatomischen Veranderungen aufgehellt werden. Ziehen wir das anatomische Bild der Gehirnaffektion in Betracht, so stoi3en wir in samtlichen Fallen unzweifelhaft auf folgende zwei Erscheinungsreihen : 1. Akute Veranderungen, sich auBernd in einer gesteigerten Blutfiille der GefaBe der Hirnhaute und des Gehirns, in kleinen Blutaustritten. sowie in akuten Veranderungen der Nervenelemente nnd zum Teil der Glia (bisweilen offenbar Erscheinungen von Hirnschwellung). 2. Chronische Veranderungen, sich/~ul3ernd in Veranderungen der Geial3e, ihrer Hyalinose und Sklerose, im Vorhandensein von Ver6dungen, * Unter anderem schlieBen wit in s/imtlichen F/illen die M6glichkeit einer akuten epidemischen Encephalitis auf Grund der klinischen und anatomischen Befunde aus.
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in chronischen meningealen Veranderungen mit hier und da vorkommenden L y m p h o c y t e n und Plasmazellen und endlich in chronischen Veranderungen der Nerven- und Gliaelemente. All diese chronischen Veranderungen mfissen unzweifelhaft den luetischen zugezahlt werden. Das sind die chronischen luetischen Affektionen mit wenig ausgepragten spezifischen Besonderheiten, die vor kurzem yon R o b u s t o w 1 aus dem Laboratorium von J a k o b und B o s t r o e m ~ ausfiihrlich besehrieben wurden und die von Arteriosklerose nicht immer leicht zu unterscheiden sind. I n unseren Fallen spricht, abgesehen yon dem Vorherrschen der progressiven Veranderungen fiber die regressiven und yon dem Vorhandensein einer schwachen Infiltration, gegen Arteriosklerose zum Teil auch das junge Alter der Kranken. Es ist zu bemerken, dag w i r e s hier im allgemeinen nicht mit einer Exacerbation chronischer Gef~gveranderungen zu tun haben; die luetischen Ver~nderungen sind ohne allen Zweifel blog Residuen eines alten Prozesses, die keine Spuren einer Exacerbation aufweisen 3. Die im Gehirn vorhandenen oben beschriebenen akuten Veranderungen erklaren sich leicht durch das Vorliegen einer akuten Infektion. Vergleichen wir die chronischen und akuten Veranderungen im Gehirn, so miissen wir zu dem Schlug kommen, dal~ weder jene noch diese Erscheinungen einzeln ausreichen, um irgendeine psychotische Diagnose zu stellen. Wir dfirfen hier nicht yon einer luetischen Psychose reden, da die vorliegenden chronischen luetischen Ver~inderungen ganz und gar nicht ausreichen, um den akuten Verlauf der bSsartigen Psychose zu erkl~ren. Ebenso sind die durch die Infektion bedingten akuten Ver~nderungen (am h~ufigsten -- Prozel] in den Atmungsorganen in der gew6hnlich vorkommenden Form) an und ffir sich nicht ausreichend, um die Psychose mit einem solch schweren und b6sartigen Verlauf, der fiber den Rahmen einer Reaktion yon exogenem Typus hinausgeht, zu erkl~ren. Blol3 die Betrachtung der bezeichneten Psychosen in zwei Dimensionen vermag ihre Pathogenese zu erklhren. Die erworbene Disposition in Gestalt chronischer syphilitischer Veranderungen (haupts~chlich der Gehirngef~[te) und die akute Infektion ergaben miteinander eine schwere Psychose. Das invalide Gehirn, das seine Funktionen unter gew6hnlichen Verh~ltnissen ausfiben konnte, versagte wahrend einer zufMligen Infektion: bei den pathologischen Ver~nderungen der Gef~l~e ergab sich ein Durchbruch der Barriere zwischen Ektoderm und Mesoderm, und die zufallige Infektion bewirkte eine hochgradige Gehirnerkrankung. Beide ~tiologische Momente: die chronische Syphilis und 1 Zeitschr. f. d. ges. Neurol u. Psychiatrie 102. 1926. 2 Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 48. a In einem Teil der F~lle handelt es sich sogar offenbar um kongenitale Syphilis.
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die akute Infektion zusammengenommen bestimmen die vortiegende akute Psychose, die somit als eine bidimensionelle zu betrachten ist. Die anatomischen Befunde berechtigen uns, wie wir gesehen haben, zu einem solchen Schlul~ (doppelte Natur der histologischen Veranderungen : akute und chronische). Die mehrfache Xtiologie ist nattirlich eine gew6hnliche Erscheinung in der Pathologie : in der ungeheuren Mehrzahl der Psychosen sehen wir aber einen gewissen Grundfaktor, der die betreffende Erkrankung, ihre Form und ihre Eigentiimlichkeiten hauptsachlich bestimmt, einen Faktor, ohne den die betreffende Erkrankung nicht auftreten kann, und eine Reihe yon Nebenfaktoren, deren Vorhandensein nicht obligatorisch ist. Es existieren jedoch unzweifelhaft FMle yon mehrdimensionellen Psychosen, bei denen zwei (oder mehr) Faktoren in gleicher Weise notwendig sind, wobei keiner yon ihnen fiir die Bestimmung des Wesens und der Erseheinungsweise der Krankheit, die sich in einer Form auSern, welche durch die Koexistenz der beiden Faktoren bedingt ist, entscheidend ist. In diesen FMlen haben wir kS mit ,,mehrdimensionellen" Psychosen zu tun, (tie eine entsprechende komplizierte Diagnostik verlangen. Von einer solchcn mehrdimensionellen Diagnose spricht Kretschmer, seine klinische Auffassung besal3 jedoch bis jetzt keine anatomische Bestatigung. In unseren Fallen dagegen wurde die mehrdimensionelle Psyehose aueh dureh eine anatomiseh doppelte Reihe entsprechender Veranderungen begriindet. Die Falle mit einer doppelten Pathogenese (wobei die die Erkrankung zusammcnsetzenden Komponenten verschiedenartig sein k6nnen) haben das Recht auf eine nosologische Abgrenzung: die Konzeption einer bidimensionellen Psychose beruht ebenso wie jede beliebige nosologische Einheit auf den ihr zukommenden Eigentiimlichkeiten der Jktiologie, der Symptomatologie, des Verlaufs, des Ausganges und der pathologischen Anatomie. Ein paar Worte noch fiber den Umstand, dab in der ungeheuren Mehrzahl der F~lle eine Affektion der Atmungsorgane zu beobachten war. Bekanntlich wird das Delirium tremens, das hinsichtlich der nieht selten zu beobaehtenden Bidimensionalitat den yon uns beschriebenen Psychosen analog ist, ebenfalls haufig durch eine Lungenerkrankung ausgel6st (in Abhangigkeit yon den alkoholischen tlesiduen und der akuten Infektion). Offenbar sind hier yon Bedeutung die BlutkreislaufsverhMtnisse, die den Eintritt einer Gehirnerkrankung gerade bei Erkrankungen der Atmungsorgane erleichtern 1. -
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1 Es ist zu bemerken, dal~ in ihrer vor mehr als 25 Jahren erschienenen sehr ausfiihrlichen Arbeit Weidenhammerund Bruchansky (,,Neurologiczeskij Westnik" 1900, russiseh) auf die Bedeutung der Invaliditat des Gehirns und der Influenza ffir die Pathogenese des Delirium acutum hinweisen, indem sie v611ig richtig, obwohl nicht bestimmt genug, auf diese Weise die Struktur der betreffenden Psychose andeuten.