Nervenarzt 1997 · 68:358–362 © Springer-Verlag 1997
Ergebnisse & Kasuistik Eva Maria Wicklein · Gustav Pfeiffer · Tanja Ratusinski · Klaus Kunze · Neurologische Universitätsklinik Eppendorf,Hamburg
Charcot-Marie-Tooth Syndrom Typ I Behinderung und Management
Zusammenfassung Während in der molekulargenetischen Diagnostik deutliche Fortschritte zu verzeichnen sind, stehen therapeutisch für die hereditäre Neuropathie Charcot-Marie-Tooth (CMT) z.Z.weiterhin lediglich supportive Maßnahmen zur Verfügung.Um zu überprüfen, inwieweit diese Maßnahmen Anwendung finden, bzw.ob eine Optimierung möglich erscheint, untersuchten wir an 50 CMT I Patienten aus dem norddeutschen Raum das Ausmaß ihrer Behinderung sowie die Beratung und Behandlung,die ihnen zuteil wurde. Frequenz von Arzt- bzw.Facharztterminen, Krankenhaus- und Rehabilitationsklinikaufenthalten, operative Interventionen, Krankengymnastik, physikalische Therapie, ergotherapeutische Beratung sowie die Versorgung mit orthopädischen und mechanischen Hilfsmitteln wurden erfaßt.Wir dokumentierten rezeptierte Medikamente und Anwendungen alternativer Heilmethoden. Die Auswirkungen auf das Arbeitsleben wurden registriert.Wir fanden keine Korrelation zwischen Schweregrad der Erkrankung und Art oder Intensität der Behandlung bzw.Versorgung.Nicht in allen Fällen erfolgte ein behinderungsadäquates Management; die Mängel lagen teils in der fehlenden Initiative der Behandelnden, teils in der mangelnden Kooperation der Patienten begründet.Von medizinischer Seite wäre eine verbesserte, effiziente Betreuung der Patienten mit CMT I anzustreben, wofür sich erneute Patientenkontakte, veranlaßt durch das Angebot molekulargenetischer Diagnostik, nutzen ließen. Schlüsselwörter Charcot-Marie-Tooth-I · Syndrom · Therapie · Rehabilitation · Molekulargenetische Diagnostik
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ie neurale Muskelatrophie CharcotMarie-Tooth Typ I (CMT I) ist die häufigste Form der hereditären Neuropathien. Nach der auf neurophysiologischen Parametern basierenden Klassifikation von J.P. Dyck wurde sie als HMSN I bezeichnet [5, 6]. Sie wurde durch eine den ursprünglichen Namen Charcot-Marie-Tooth wieder verwendende, genetisch begründete Einteilung abgelöst, als in jüngster Zeit 3 verantwortliche Gendefekte identifiziert werden konnten [9, 12, 22]. Für etwa 70% der CMT-I-Erkrankungen verantwortlich ist eine Duplikation auf dem Gen für das Myelinprotein PMP-22 auf Chromosom 17 (17p11.2). Dieser Defekt kann inzwischen routinemäßig mit hoher Sensitivität nachgewiesen werden (CMT1A). Auch Punktmutationen auf dem Chromosom 1 (CMT1B) oder 17 können eine neurale Muskelatrophie verursachen. Der Nachweis ist derzeit allerdings noch Forschungslaboratorien vorbehalten und gehört damit nicht zu den etablierten Routineuntersuchungen. Eine x-chromosomal dominant vererbbare Mutation des Genes Xq12.2–13.1, welches das Gap-junctionProtein Connexin-32 kodiert, wird wiederum als Routinediagnostik angeboten. Zunehmend konzentrieren sich Ärzte und Patienten auf diesen molekulargenetischen Aspekt. Auch Betroffene, die zuvor nicht in ärztlicher Behandlung standen, treten jetzt mit dem Wunsch nach entsprechender Abklärung an den Neurologen. Teilweise werden Familienangehörige von Verwandten, die sich einer genetischen Diagnostik unterzogen hatten, auf die Ergebnisse aufmerksam gemacht oder auch um Kooperation für eine Kopplungsanalyse gebeten. Dieser verstärkten
Nachfrage nach Beratung und Betreuung gilt es, gerecht zu werden. Man wird einschätzen können müssen, wie groß die Aussichten auf eine molekulargenetische Diagnosestellung tatsächlich sind und welche Konsequenzen sich hieraus ergeben würden. Aber man wird auch mehr darüber wissen müssen, wie stark die Krankheit in das Lebensschicksal eingreift. Gerade bei nicht lebensbedrohlichen und unterschiedlich stark behindernden Erkrankungen wie den hereditären Neuropathien ist dieses Wissen eine Voraussetzung nicht nur für die genetische Beratung selbst, in deren Rahmen in einigen Zentren inzwischen auch die pränatale Diagnostik angeboten wird [20], sondern schon für die Entscheidung, ob eine molekulargenetische Diagnostik im Einzelfall erstrebenswert ist oder nicht. Hier sind Wissenslücken zu füllen. Frühere Fallserien beschränkten sich meist auf die Zusammenfassung klinischer Befunde [15, 16, 18], die wenig über Beeinträchtigung im täglichen Leben aussagen. Ein sich gesund fühlender Genträger, der vielleicht erst nach Bitten von Verwandten zur molekulargenetischen Untersuchung bereit war, hat das Anrecht darauf, neben dem Untersuchungsergebnis auch zu erfahren, was die Krankheit für ihn und seine Familie bedeutet. Neben dieser Einschätzung der diagnostischen Möglichkeiten und der Einordnung der molekulargenetischen Ergebnisse hat der konsultierte Arzt ebenfalls die Aufgabe, den Patienten hinsichtlich seiner eigenen manifesten Dr. E.M.Wicklein Neurologische Universitätsklinik HamburgEppendorf, Martinistraße 52, D-20246 Hamburg& y d & : k c o l b n f /
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E.M.Wicklein · G.Pfeiffer · T.Ratusinski · K.Kunze Charcot-Marie-Tooth syndrome type I. Disability and management Summary Molecular genetic research on Charcot-Marie-Tooth I syndrome (CMT I) progresses rapidly, still obviously no cure is available for affected individuals.Our aim was to investigate current management in clinical CMT I. 50 patients with Charcot-Marie-Tooth syndrome type I (CMT I) were explored for applied means of therapy and use of health care institutions.We documented the number of annual appointments at a neurologist, orthopaedist and psychologist.Previous admissions to hospitals and rehabilitation centres and surgical procedures were assessed. Practice of physiotherapy, occupational and physical therapy were investigated, also administered orthopaedic devices, mechanical devices and technical modification of car and home.Drugs prescribed were listed and the number of patients seeking advice at para-medical institutions was determined. Degree of medical support did not correlate with severity of disease.We observed that persons with marked disability did not uniformly receive adequate therapy.This was partly due to the responsible physicians, and partly due to lacking cooperation of the patients.Support of affected individuals and counselling to our opinion are to be improved.This would require further evaluation of therapies, establishment and distribution of guidelines, as well as motivation of patients, which might be facilitated by the offer of molecular genetic diagnostics.
Symptomatik adäquat zu beraten und Behandlungskonzepte anzubieten. Dabei existiert für die Betroffenen zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekanntermaßen keine kurative Therapie. Eine Behandlung der Patienten besteht darin, Symptome zu erleichtern und eine Hilfestellung für Ausgleich bzw. Anpassung an die Behinderung zu leisten. wir haben bei CMT-I-Patienten systematisch den Schweregrad ihrer Erkrankung erfaßt, sie nach ihren Einschränkungen im Alltagsleben, ihrer Versorgung und der Anwendung zur Verfügung stehender Therapiemaßnahmen befragt. Gleichzeitig wollten wir etwa bestehende Versorgungslücken erkennen, um, wenn nicht kurativ, so doch optimal supportiv behandeln zu können.
Patienten und Methoden Patienten, die während der vergangenen 5 Jahre an unserer Klinik als CMT I diagnostiziert wurden und den vom European Neuromuscular Centre vorgeschlagenen klinischen und elektrophysiologischen Kriterien [8] entsprachen, wurden angeschrieben und um die Teilnahme an dem Projekt gebeten. 32 von ihnen und 18 uns zuvor nicht vorgestellte Angehörige dieser Patienten mit klinisch manifester CMT I erklärten sich zur Kooperation bereit (31 Frauen, 19 Männer, Alter 8–74 Jahre, Altersdurchschnitt 47 Jahre). In 61% der Fälle konnte die Diagnose molekulargenetisch gesichert werden. Nach ausführlicher Anamneseerhebung einschließlich der Fragen nach verschiedenen Handfunktionen [23] erfolgte die klinische Untersuchung. Der Behinderungsgrad wurde so ermittelt und durch die Rankin-Skala ausgedrückt [19], die Graduierung der Gehfähigkeit erfolgte mittels Ambulation-Index [11]. Informationen zur Anwendung einzel-
ner Therapieformen und Nutzung von Einrichtungen des Gesundheitswesens wurden in einem standardisierten Interview erhoben Die Statistik wurde per SPSS-PC durchgeführt. Die Abhängigkeit angewandter Therapieformen vom Behinderungs- bzw. Gehbehinderungsgrad wurde mittels MannWhitney-Test geprüft.
Ergebnisse Die jeweiligen Behinderungsgrade waren zwischen den Rankin-Scores 1 und 4 verteilt (Abb. 1). Von den Patienten mit Rankin-Score 2 waren 9 Patienten aufgrund vergleichsweise stärkerer manueller Funktionseinschränkung (Summenscores für Handfunktionen signifikant höher) mehr als „leicht behindert“, benötigten aber keine Fremdhilfe, da sie deutlich verlängerte Zeitspannen für die Durchführung alltäglicher Aufgaben akzeptierten oder Tätigkeiten unterließen. Eine Patientin von ihnen erklärte, Flaschen schon sehr lange selbstverständlich mit den Zähnen zu öffnen, ohne daß sie dieses als Behinderung oder Beeinträchtigung manueller Fähigkeiten auffaßte. Einem Ambulation-Index von 1 entsprachen 5 Patienten, 23 Patienten wurden dem AmbulationIndex 2 zugeordnet, 19 Patienten einem Ambulation-Index von 3, 2 einem Ambulation-Index von 4. 30% der Patienten nahm aufgrund der Neuropathie mindestens einmal jährlich einen Arzttermin wahr, 26% waren seit Diagnosestellung nicht mehr in ärztlicher Betreuung. In 16% wurde ein Orthopäde, in 20% ein Neurologe, in 22% beide Fachärzte, in 16% ein Praktischer Arzt konsultiert. Ein erheb-
Key words Charcot-Marie-Tooth syndrome type I · Management · Rehabilitation · Molecular genetic diagnosis
Abb.1 m Verteilung der Behinderungsgrade in der untersuchten Patientengruppe. Die x-Achse gibt das Patientenalter an, die y-Achse den aktuellen Rankin-Score Der Nervenarzt 4·97
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Ergebnisse & Kasuistik
Abb.2 m Die Abbildung zeigt die Versorgung der CMT-I-Patienten mit orthopädischen Hilfsmitteln. Pro Grad des Ambulation-Index ist prozentual der Anteil an Patienten angegeben, die Peronaeusschienen, orthopädische Schuhe, orthopädische Einlagen bzw. keine Hilfen tragen
lich behinderter Patient (Rankin-Score 4) befand sich in regelmäßiger psychologischer Betreuung. 19 Patienten unterzogen sich einem chirurgischen Eingriff der unteren Extremitäten; eine Patienten war an den oberen Extremitäten operiert worden. Bei den Operationsverfahren handelte es sich um Achillessehnenverlängerungen (n=5), Sehnentransplantationen (n=5), Sprunggelenksarthrodesen (Tripelarthrodese n=1, obere Sprunggelenksarthrodese n=2, subtalare Sprunggelenksarthrodese n=1), Osteotomien (Mittelfuß n=1, Kalkaneus n=1), Gelenkkapselentfernung nach Homann (n=1), Entlastung eines Karpaltunnelsyndroms (n=1). Der Operationserfolg wurde von den Patienten selbst eingeschätzt. 5 Personen äußerten sich zufrieden über das Resultat, während 11 der Operierten im nachhinein subjektiv den Eingriff bereuten. Achillessehnenverlängerungen erbrachten nur temporäre Besserung, Sprunggelenksversteifungen bewirkten bei 2 Patienten mangelnde Gesamtkörperstabilität. 20 Patienten hatten niemals Physiotherapie erhalten. 15 Patienten führten regelmäßig unter Anleitung krankengymnastische Übungen durch. 15 Patienten hatten in der Vergangenheit vorübergehend Krankengymnastik in Anspruch genommen, wobei 3 Patienten die erlernten Übungen selbständig weiterführten (männlich 24 J., männlich 26 J., männlich 40 J.). Bei 3 Patienten war die temporäre Physiotherapie
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an einen stationären Krankenhausaufenthalt gekoppelt, auf das Kindesalter beschränkt war sie in 6 Fällen. Die Physiotherapie beinhaltete in erster Linie dosierte Kräftigungsübungen (n=5), in einem Fall wurde nach dem Vojta-Prinzip behandelt. Weiterhin erfolgten – z.T. zusätzlich, unregelmäßig bzw. abwechselnd – Gleichgewichtsübungen, Sensibilitätstraining, Skoliosebehandlung (3 von 10 Patienten mit Skoliose), in einem Fall Atemgymnastik (22 Patienten hatten spirometrisch gemessen eine Vitalkapazität von mehr als 0,51 unterhalb der unteren Normgrenze). Die Entscheidung für eine physiotherapeutische Behandlung korrelierte nicht mit dem Schweregrad der Erkrankung (p=0,3824). Auch die Anwendung von physikalischer Therapie war nicht von der Behinderung abhängig (p=0,8320). Von 38 Patienten mit einer Funktionseinschränkung der Hände waren 2 Patienten ergotherapeutisch beraten worden. Zum Zeitpunkt der Beratung bestand ein Behinderungsgrad von einem Rankin-Score 2 bzw. 4. 26 Patienten organisierten selbständig Hilfsmittel für die Aufgaben des Alltags. Hierzu gehörten besondere Stifte, Eßbesteck, elektrische Geräte oder selbstgefertigte Werkzeuge zum Knöpfen etc., die allerdings nicht speziell für Behinderte entworfen worden waren.Von den 14 auf Hilfe angewiesenen Patienten (Rankin-Score 3 und 4) benutzten 12 Hilfsmittel. 4 Patienten rüsteten ihren Kraftwagen entsprechend
ihrer Behinderung um. Umbauten oder Zusatzeinrichtungen im Bereich der Wohnung (z.B. des Badezimmers) hatte niemand vorgenommen. Orthopädische Hilfsmittel trugen 52% der Patienten. Orthopädische Schuheinlagen (14 Patienten), orthopädische Schuhe (16 Patienten), Peronaeusschienen (6 Patienten) wie auch ein Rollstuhl (1 Patient) wurden gebraucht. Bei Gegenüberstellung der jeweiligen Gehbehinderung fielen von 17 Patienten mit deutlich verlangsamten Gang (Ambulation-Index 3) 4 Patienten auf, die in normalen Schuhen liefen. Von ihnen befanden sich 2 Patientinnen nicht in ärztlicher Behandlung, eine Patientin wurde regelmäßig von einem Orthopäden, ein Patient von einem Neurologen gesehen. Aufgrund der Neuropathie wurden 46% der Patienten – nach Diagnosestellung – zu einem stationären Aufenthalt eingewiesen. Die Verschreibung von Medikamenten erfolgte in 21 Fällen. Hierunter fanden sich einerseits analgetische Präparate (insgesamt 14 Patienten mit schmerzhaften Mißempfindungen) wie Paracetamol (n=1), Acetylsalicylsäure (n=1), Amitriptylin (n=1), gegen Muskelkrämpfe gerichtete Substanzen (insgesamt 30 Patienten mit Muskelkrämpfen) wie Diazepam (n=1), Tetrazepam, Magnesium- (n=5) und Kalziumpräparate (n=2), andererseits Präparate, die die Nervenfunktion verbessern sollten: α-Liponsäure (n=1), Vitamin-B12-Präparate (n=1). 2 Patienten hatten ein Anabolikum, NandrolonDecanoat, verordnet bekommen. 6 Patienten wandten alternative Heilmethoden an (Akupunktur (n=3), homöopathische Lösungen (n=2), Autohämotherapie (n=1)). In Eigeninitiative wurden ferner sportliche Aktivitäten und physikalische Therapie durchgeführt. Im Arbeitsleben ergaben sich insofern krankheitsbedingte Einschränkungen, als 14% der Patienten ihre Erstberufswahl entgegen ihrer ursprünglichen Interessen auf die Erkrankung abgestimmt und 10% eine Umschulung absolviert hatten. 3 Patienten wurden aufgrund der CMT-Erkrankung vorzeitig berentet.
Diskussion Die Behinderung bei den von uns untersuchten Patienten mit einer CharcotMarie-Tooth-I-Erkrankung variierte erheblich. Die Verteilung mit einer vorwiegend leichtergradigen Behinderung bei wenigen schwer behinderten Patienten entspricht den Beobachtungen anderer Autoren [13, 17]. Als Kriterium für die Behinderung wurde von Holmberg et al. die Mobilität herangezogen, MacMillan et al. gaben Werte für den Neurological Disability Score (NDS) [7] an, der das sensomotorische Defizit, nicht aber die Behinderung ausdrückt, um die NDS-Werte dann mit der von den Patienten selbst geschätzten Behinderung zu vergleichen. Wir wählten die Rankin-Skala als Meßinstrument, um mittels einer gut validierten Skala die bei Verrichtungen des täglichen Lebens relevante Behinderung zu erfassen. Problematisch erschien ihre Anwendung bei CMT-Patienten insofern, als sie die Selbständigkeit als wesentliches Kriterium heranzieht. Eine relativ hohe Patientenzahl wurde aufgrund ihrer Unabhängigkeit im Alltag dem RankinScore 2 zugeordnet, obwohl signifikant häufiger eine Funktionseinschränkung der Hände imponierte und damit die Rankin-Klassifizierung „leichte Behinderung“ unzutreffend wirkte. Der frühe Krankheitsbeginn mit sehr langsam progredientem Krankheitsverlauf scheint die spontane Anpassung an die motorischen Defizite und damit die Erhaltung der Selbständigkeit zu begünstigen. Ohne Korrelation zu dem jeweiligen Behinderungsgrad wurde die in unserem Kollektiv vergleichsweise am häufigsten genutzte Therapiemaßnahme, die Physiotherapie, verordnet. In krankengymnastischen Lehrbüchern wird die Empfehlung einer lebensbegleitenden stabilisierenden Therapie gegeben [3], wobei dieser Vorschlag – teils mit generellem Verzicht auf eine Verordnung, teils mit frühzeitigem Therapieabbruch – wenig Berücksichtigung findet. Möglicherweise wird ihre Effektivität von Ärzten oder Patienten als unzureichend eingeschätzt. Ein Kräftezuwachs der funktionierenden motorischen Einheiten durch entsprechendes Training ist tatsächlich nur vorstellbar, wenn sie noch nicht kompensatorisch maximal hypertrophiert sind [10]. Außerdem wird wäh-
rend des chronischen Krankheitsprogresses ein Ausgleich – beispielsweise der Sensiblitätsstörungen durch Augenkontrolle – oft automatisch erlernt, so daß ein Kompensationstraining sich bisweilen erübrigt. Wünschenswert ist dagegen die individuell abgestimmte Therapie wie das Einüben von Bewegungen zur Kontrakturprophylaxe und – v.a. bei sportlich ambitionierten Patienten – von übermäßige Beanspruchung vermeidender Muskelkräftigung [10] sowie im Einzelfall Sensibilitätstraining, Skoliosebehandlung oder Atemgymnastik. Die letzteren beiden Behandlungsformen kamen im Verhältnis zur Patientenzahl mit entsprechenden speziellen Problemen selten zur Anwendung. Da diese Patienten sich z.T. unter den 20 Patienten ohne jemaligen Kontakt zu Physiotherapeuten befanden, muß hier evtl. kritisch überprüft werden, inwieweit das Nichtverordnen von Krankengymnastik in allen Fällen gerechtfertigt war. Viele Übungen, insbesondere Dehnungsübungen zur Verhinderung von Kontrakturen, können nach einigen Malen der Demonstration vom Patienten selbständig weitergeführt werden. Allerdings funktioniert diese Form der kontinuierlichen Mitarbeit offenbar schlecht. Nur 3 unserer Patienten hielten sich an eine solche Empfehlung; hier stellt sich die Frage, ob etwa durch das gezielte Nahelegen einzelner Übungen oder Reduzierung auf wenige wesentliche, einfach durchführbare Übungen eine bessere Compliance erreicht werden könnte. Ein rationalerer Einsatz der Krankengymnastik wäre erstrebenswert. Ausgesprochen selten erfolgte eine ergotherapeutische Beratung. Wie das häufige Selbstkonstruieren von mechanischen Hilfsmitteln für den Alltag zeigt, besteht hier eindeutiger Bedarf. Ein Beratungstermin und die Versorgung mit professionell angefertigten Utensilien könnte hier sinnvolle Erleichterung bedeuten. Zur konservativen Therapie gehört gleichfalls die Anpassung orthopädischer Hilfsmittel. Bei dem Vergleich von dem Ausmaß der Gangstörung mit den jeweils genutzten Gehhilfen ergab sich bei einigen Patienten eine nicht behinderungsadäquate Hilfsmittelversorgung, wobei dies teils auf den fehlenden Vorschlag des behandelnden Arztes, teils auf die fehlende Ratsuche der Betroffenen zurückzuführen war.
Der Nutzen eines orthopädischen Hilfsmittels für die Verbesserung der Stand- und Gangstabilität läßt sich im Einzelfall gut einschätzen. Wesentlich schwieriger ist die Evaluierung operativer Therapieansätze, einerseits wegen der verschiedenen Operationsverfahren und ihrer Kombinationen, andererseits aufgrund der uneinheitlichen Bewertungskriterien, die zu entsprechend variablen Erfolgsquoten führen [14, 21]. 14-Jahres-Follow-up-Untersuchungen nach Weichteiloperationen (Sehnen) im Bereich der Füße zeigten durchweg befriedigende Resultate, während knöcherne Korrekturen am Fuß keine dauerhafte Verbesserung der Fußstellung erbrachten. Ausnahme bildet hier die Tripelarthrodese, für die die positiven Ergebnisse mit 24% bis 88% angegeben werden. Bei diesem knochenkorrigierenden Verfahren ist nach einer Latenzzeit ebenfalls wieder mit allmählicher Verschlechterung zu rechnen. Es handelt sich um eine Operation für fortgeschrittene Stadien einer Fußfehlstellung. Kritisch zu überprüfen ist die Verordnung von Medikamenten. Im Hinblick auf Analgetika erscheint sie angesichts der Häufigkeit schmerzhafter Zustände nachvollziehbar. Hier fanden wir im Verhältnis zur Schmerzprävalenz eher eine niedrige Medikationsrate, ebenso bei den krampflindernden Substanzen. In vielen Fällen wurden jedoch sog. „neurotrophe“ Substanzen verordnet, für die ein therapeutischer Effekt auf die sensomotorischen Defizite bei hereditären Neuropathien ohne bekannten Stoffwechseldefekt bisher nicht belegt werden konnte. Insbesondere die Gabe von Anabolika ist pathophysiologisch nicht begründbar. Die subjektive Erfolgseinschätzung unserer Patienten entsprach diesen Erkenntnissen. Die Suche nach alternativen Heilmethoden kann – ebenso wie die Häufigkeit der Arztkonsultationen – als Indiz für den Leidensdruck der Patienten gesehen werden. Gleichzeitig spiegelt sie die Grenzen oder auch die Unzulänglichkeit der Schulmedizin für CMT-Patienten wider. Unsere Beobachtungen zeigen, daß – soweit ohne etablierte Richtlinien beurteilbar – in der Versorgung durchaus Mängel bestehen, wobei andere Daten zu der Versorgungssituation u.W. bisher nicht vorliegen. Art und Intensität der Behandlung Der Nervenarzt 4·97
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Ergebnisse & Kasuistik korrelieren nicht mit dem Grad der Beeinträchtigung, und im täglichen Leben auf Fremdhilfe angewiesene Patienten werden häufig nicht adäquat beraten bzw. betreut. Zum gewissen Teil liegt dies sicherlich in dem Verhalten der Patienten selbst begründet, wenn sie – oft im Zuge einer krankheitsverdrängenden Haltung – medizinische und paramedizinische Kontakte, etwa aus Furcht vor Minderwertigkeitsgefühlen, vermeiden [2]. Häufig kann aber auch ärztlicherseits eine klarere Hilfestellung für den Umgang mit der Erkrankung gegeben werden. Die durch die Erwartungen an die moderne molekulargenetische Diagnostik motivierten Arztkontakte könnten genutzt werden, um die Beratung der Patienten nachzuholen.Weiterer Aspekt in der Patientenberatung ist in vielen Fällen die Berufsausübung bzw. Berufswahl. Hier kann die genetische Diagnostik wesentlichen Beitrag leisten. Der Anteil der Patienten, die die Erkrankung bei der Berufswahl berücksichtigt hatten (wir fanden 14%), ließe sich erhöhten, wüßte man vor dem Zeitpunkt der Erstmanifestation, der gelegentlich über dem Schulabgangsalter liegt, von der genetischen Disposition. Entsprechend könnte der Prozentsatz der Umschulenden und Frührentner reduziert werden. Der Vorteil läge nicht nur in der Vermeidung von Umschulungskosten, sondern v.a. darin, dem einzelnen ein Gefühl von Unzulänglichkeit im Berufsleben möglichst zu ersparen. Auch diese sozialmedizinischen wie auch die rehabilitativen Aspekte sind vom gesundheitspolitischen Rahmen geprägt. Trotz geforderter Kostenreduzierung ist der generelle Verzicht auf therapeutische Maßnahmen, die nicht die vollständige körperliche Restitution leisten können, allerdings nicht gerechtfertigt. Hier hat die Rehabilitation die Aufgabe, bei gegebener körperlicher Beeinträchtigung das Ausmaß der Behinderung möglichst zu begrenzen [4] und die Lebensqualität zu optimieren. Wie wichtig es ist, Richtlinien für die Behandlung chronisch
progredienter neuromuskulärer Erkrankungen zu erstellen und v.a. für Verbreitung unter den Behandelnden zu sorgen, ist bereits erkannt worden [1]. Eine nähere Evaluierung der einzelnen Therapien und ihrer Effektivität bei den hereditären Neuropathien wird notwendig sein, damit eine gezielte Unterstützung der Erkrankten erfolgen kann. Möglicherweise würde ein Vergleich mit der entsprechenden Versorgung innerhalb anderer Gesundheitssysteme und sozialstaatlicher Strukturen gegenseitige Anregungen zu effizienten Behandlungskonzepten geben können.
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Die Studie wurde durch die Märta- und Erik-Karberg-Stiftung für medizinische Forschung gefördert. Außerdem gilt unser besonderer Dank den beteiligten Patienten für ihre Kooperation.
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