Dialektik des Bosen Warum es in Goethes ,Walpurgisnacht' keinen Satan gibt Von THOMAS ZABKA (Berlin)
ABSTRACT In Auseinandersetzung mit der These, daS ein metaphysischer Dualismus von Gut und Bose das Drama strukturiere, wird die Gestaltung des Moralproblems im Faust I als eine dialektische bestimmt und Goethes Entscheidung gegen einen Auftritt der Satansfigur in der Szene ,Walpurgisnacht' als konzeptionell folgerichtig beurteilt. While previous studies have seen Faust I to be structured by a metaphysical dualism of good and evil, this paper perceives the ethical problem developed in the playas a dialectical one. In this context, Goethe's decision against the appearance of satan in the ,Walpurgisnacht' scene is interpreted as a conceptual necessity. I. Auf zwei Jahrhunderte Rezeptionsgeschichte bringt es Goethes Faust mittlerweile, und doch sind einige Interpretationsfragen nach wie vor so kontrovers, daR die streitenden Forscher mitunter wirken wie jene Gesellen in Auerbachs Keller, die, berauscht von Mephistos dubio sen Weinen, einander gegenseitig die Nasen abschneiden. Auch wenn wir es so bunt nicht treiben wollen, ist die Auseinandersetzung zwischen den Positionen doch erforderlich: als via regia der Literaturinterpretation. Eine der offenen Fragen lautet: Haben jene Para lip omena, die in dem von Goethe so titulierten "Walpurgissack" gelandet sind, 1 im Werk tatsachlich nichts zu suchen, oder gehoren sie eigentlich doch in die ,Walpurgisnacht'? Gemeint sind die haretische Satansaudienz, bei der ein Vasa II des Teufels "Arsch" preist, die Satansmesse mit ihrem drastischen Lob der Genitalien und des Goldes, eine inquisitorische "Hochgerichtserscheinung", in deren Verlauf eine junge Frau hingerichtet wird, sowie einige weitere, von Goethe weder 1806 noch spater in das Werk aufgenommene Passagen. Friedrich Wilhelm Riemer, Goethes Berater bei der Herstellung der Druckfassung im Jahr 1806, ist der erste Rezipient, der die Satanserscheinung substantiell zum Drama hinzuzahlt, wenn er sie 1836 gegenuber Kanzler v. Muller "gleichsam als Contrapunct und Gegenstuck zur Erscheinung im Himmel" bezeichnet und hinzufugt, das Publikum konne durch solche "Aristophanismen" jedoch
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Johannes Falk, Goethe aus naherm personlichen Umgange dargestellt, Leipzig 1832,
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"nicht erbaut, sondern nur geargert werden". 2 Diese doppelte Einschatzung der Paralipomena ist Grundlage der bis heute aktuellen Forschungsposition, der Faust I sei aus Grunden des Anstands urn den substantiellen BlocksbergGipfel gekurzt worden. Die Gegenrichtung vertritt am klarsten Julius Frankenberger, wenn er 1926 argumentiert: "DaS Goethe den Gipfel fortgelassen ... hat, kann nicht aus Scheu vor dem Unflat geschehen sein; die Anstandsstriche waren immer moglich gewesen. ,,3 Hinter diesem Gedanken steht die Dberzeugung, der reflektiert und planvoll vorgehende Autor hatte ein Sinnzentrum seines Hauptwerks nicht einfach eliminiert, sondern notigenfalls umgestaltet. In der Gegenwart ist es bekanntlich Albrecht Schone, der die mit Riemer beginnende Deutungslinie fortfuhrt. 4 Goethe habe die Fragmente von Satansmesse, Satansaudienz und Hochgerichtserscheinung in einem Akt der "Selbstzensur" dem Anstandsgefiihl des Publikums geopfert, heiSt es 1982 in dem Aufsatz "Satanskult". Mit dem Verzicht auf "Satans- und Hochgerichtsszene" sei zugleich "das auf sie gegriindete dualistische Grundkonzept des Dramas" zerstort worden. s Der Autor des Faust habe, so wiederholt Schone seine These im Kommentar der Frankfurter Ausgabe, "aus dem Sinngefiige des Ganzen ... das Kernstiick herausgebrochen". 6 Der geplante "Auftritt des Bosen in der Walpurgisnacht als des souveranen Gegenspielers Gottes" hatte dem "gnostisch-manichaistische[n] Entwurf eines symmetrischen Dualismus" entsprochen, "welcher das Gute und das Bose ... als selbstandig einander gegeniiberstehende und einander widerstreitende Prinzipien zu begreifen suchte"? Durch den "Auftritt des haretischen Gegengottes, durch den gewaltigen Gegenentwurf, den diese Satansszenen zum ,Prolog im Himmel' bilden", gewonne der Faust "eine dialogische Spannung, die der zum Monolog des einen Herrn isolierte ,Prolog'" nicht enthalte. 8 1m ,Prolog im Himmel' sieht Schone in Dbereinstimmung mit Hans Bayer den "gemaSigten Dualismus des alteren, 2 Brief vom 30. Mai 1836. Zit nach: Waltraud Hagen u.a. (Hrsg.), Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken, 4 Bde., Berlin 1966ff., III (1986), 386. 3 Julius Frankenberger, Walpurgis. Zur Kunstgestalt von Goethes Faust, Leipzig 1926, 76. 4 Der unmittelbare Vorlaufer ist Hippe. Ihm zufolge waren die Satansszenen "zum absoluten Mittel- und Hohepunkt dieses Teils [des Faust I, T.Z.] geworden, eine Art Gegenstiick zum ,Prolog im Himmel'''; Johannes Hippe, "Der ,Walpurgisnachtstraum' in Goethes ,Faust''', GoetheJB 28 (1966),67-75, hier: 68. 5 Albrecht Schone, "Satanskult: Walpurgisnacht", in: A. S., Gotterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, Miinchen 1982, 107-230, hier: 214. 6 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Faust. Kommentare, Siimtliche Werke, Briefe, Tagebucher und Gespriiche, Frankfurter Ausgabe, 40 Bde. in 2 Abt., hrsg. Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1987ff. (m folgenden: FA), 1. Abt., VIII2 (1994), 344. 7 Schone (Anm. 5), 205. 8 Schone (Anm. 5), 207.
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bogomilisch bestimmten Katharertums" ausgepragt, "welcher den Teufel ... als Untertan Gottes verstand". Dort sei der metaphysische Dualismus zwischen Gott und Teufel bloR "ein gemaRigter": Mephistopheles trete als Handlanger im Weltplan des Herren auf, Fausts Erlosung scheine daher von Anfang an gewiK Der Auftritt Satans wurde solche MaRigung radikal in Frage stellen: "Wahrhaft zwischen Gott und Gegengott gestellt, den einander widerstreitenden Urprinzipien des Guten und des Bosen ausgeliefert, irrte dieser Faust durch die Welt. ,,9 Das metaphysische Problem des Faust ist nach Schone die Frage, "ob dem Faustischen Erdentreiben ein gemaRigter oder ein radikaler symmetrischer Dualismus" zugrunde liegt. 10 Diese Dberlegungen setzen einen weiten Werkbegriff voraus, der auch Entwurfe und Verworfenes umfaRt und das Work in progress dem Werk als Produkt vorzieht. Ein enger Werkbegriff schlosse die These, ein gestrichener Teil enthalte "die kardinale Strukturformel" des Ganzen l1 , von vornherein aus. Doch auch eine mit dem weiten Werkbegriff operierende Interpretation muR konsistent sein: kein Teil des Ganzen darf ihr widersprechen. Die folgende Untersuchung bestreitet die Konsistenz jeder Deutung, die den Sinn des Werks in einem metaphysischen Dualismus sieht, und setzt eine dialektische Interpretation dagegen. Dies sind die Kernthesen der folgenden Abschnitte: In der zweiten ,Studierzimmer'-Szene, dem ,Prolog im Himmel' und der Gretchentragodie lost sich der starre Gegensatz des Guten und des Bosen auf; jegliche dualistische Position wird poetisch falsifiziert (II.). Auch die ,Walpurgisnacht' ist von keinem Dualismus, sondern eben von einer Dialektik der beiden moralischen Prinzipien gepragt. Die Szene weist, so verstanden, keinerlei Lucken auf und bedarf keiner Erganzung urn die Satans-Passagen (III.). Das Problem, wie innerhalb der Widerspruchseinheit von Gut und Bose Besinnung und Einsicht moglich sind, ist in enger motivischer Verzahnung von ,Walpurgisnacht' und Gretchentragodie gestaltet (IV.). Der ,Walpurgisnachtstraum' laRt verschiedene philosophische Auffassungen vom Bosen satirisch Revue passieren und leistet eine komplexe Reflexion dieser im Faust I zentralen Thematik (V.). II. Eine Stelle des von Goethe veroffentlichten Textes scheint dem Prinzip eines strengen moralischen Dualismus zu entsprechen. Sie ist deshalb zum SinnScharnier zwischen der Satansmesse und dem Faust I erklart worden. In der zweiten ,Studierzimmer'-Szene sagt Mephisto: 9 Schone (Anm. 5), 206f. Vgl. Hans Bayer, "Goethes ,Faust'. Religios-Ethische Quellen und Sinndeutung", jbFDtHochst. (1978), 173-224; "gemiiSigter Dualismus": 209. 10 Schone (Anm. 5), 207. 11 Schone (Anm. 5), 210.
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Thomas Zabka Ich bin ein Teil des Teils, der Anfangs alles war, Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht. (1349ff.)12
Die These, diese Verse folgten genau dem streng-dualistischen "Auftritt des Bosen in der Walpurgisnacht als des souveranen Gegenspielers Gottes", 13 laRt sich jedoch schon angesichts der ,Geburt' des Lichts aus der Finsternis nicht aufrechterhalten. Dieses Wort Mephistos hat eine Parallele in der als Kosmogonie des 19jahrigen Goethe geltenden Luzifer-Geschichte, die der 61jahrige Autor im 8. Buch von Dichtung und Wahrheit erzahlt. Luzifer ist ein Produkt der urspriinglich "eine[n] Gottheit", die sich "von Ewigkeit her selbst produziert" und zur "Mannigfaltigkeit" erweitert. Auf Luzifer wird "die ganze Schopfungskraft iibertragen", von ihm geht "alles iibrige Sein" aus: Er erschafft zunachst "die samtlichen Engel" und schlieRlich "alles das, was wir unter der Gestalt der Materie gewahr werden, was wir uns als schwer, fest und finster vorstellen". Dabei vergiRt Luzifer jedoch "seines hohern Ursprungs" und glaubt, "ihn in sich selbst zu finden". Seine Selbstverabsolutierung fiihrt zu dem "Unheil" einer "einseitige[n] Richtung", namlich zur "Konzentration" auf die Sphare des Finsteren und der Materie. Dieser "Mangel" wird nun durch einen Teil der von Luzifer geschaffenen Engel "supplier[t]": Die "Elohim" setzen der Konzentration auf die Materie die auf den gottlichen Ursprung gerichtete "Expansion" entgegen und erschaffen das Licht. Die luziferischen Krafte suchen also in dialektischer Bewegung ihr Anderes auf.14 In den oben zitierten Versen spricht Mephisto aus der Perspektive des in sich konzentrierten Luzifer, der die urspriingliche Einheit der Gottheit verkennt und die Konzentration auf die finstere Materie verabsolutiert. Er weiR zwar urn das Hervorgehen des Lichts aus seiner eigenen Spare, ohne jedoch das Argernis des daraus resultierenden Widerspruchs be he ben zu honnen: Er vermag den Zusammenhang von Licht und Finsternis nicht als den innerhalb der luziferischen Finsternis wieder hervorgebrachten Puis der Gottheit zu verstehen, weshalb er bei der Position des Streits ("streitig macht"), der Antithese stehenbleibt. Mephisto vertritt eine unheilvoll "einseitige Richtung". Die Position, das Licht stehe der Finsternis dualistisch gegeniiber, wird im 12 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragodie, Siimtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Munchner Ausgabe, 20 Bde., hrsg. Karl Richter u. a., Miinchen 1985 ff. (im folgenden: MA), WI (1986),534-673. Stellennachweise zum Faust mit Verszahlen. 13 Schone (Anm. 5),205. 14 FA 1. Abt., XIV, 382££. Verfehlt ist die Behauptung Bayers, das "Auftreten von Licht und Schopfung" in der Luzifer-Erzahlung sei "Folge des Eingreifens gottlicher Wesen" (Bayer [Anm. 9), 209). Luzifer ist selbst gottliches Wesen; das Gottliche greift nicht von augen ein, sondern wirkt in Gestalt der luziferischen Elohim von innen her.
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Faust suspendiert: Eines geht aus dem anderen hervor. Gleiches gilt fiir die Kriifte des Guten und des Bosen. Wie aus der Finsternis das Licht entsteht, so we is sich Mephisto als "Teil von jener Kraft,! Die stets das Bose will und stets das Gute schafft" (1335f.). Das Bose ist nicht der prinzipielle Gegensatz, sondern - wie Goethe bereits 1771 in der Rede Zum Schakespears Tag sagt "nur die andre Seite yom Guten, die ... notwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehort" .15 Dasselbe gilt fiir die Kriifte Liebe und Has' Am SchluS des Faust II spiiren Mephisto und seine Teufel in sich selbst das "Liebeselement" (11784) und werden durch dieses verges sene Andere ihrer selbst dialektisch ,ausgepicht' (11839). Auch der ,Prolog im Himmel' enthiilt keinen Dualismus - und sei er noch so gemiiSigt. In dem Disput zwischen Herr und Mephistopheles geht es urn die Frage, ob der Mensch Faust vollstiindig von seinem gottlichen "Urquell" abgebracht werden kann oder ob er sich "in seinem dunklen Drange/ [... J des rechten Weges wohl bewuSt" ist (324-329). 1m Gegensatz zu der These, der Mensch stehe mitten im Streit zwischen den heteronomen manichiiischen Urprinzipien des Guten und des Bosen, lokalisiert der dezidiert neuzeitlich gestaltete ,Prolog' jene Kriifte ausschlieSlich im Menschen selbst, niimlich in der Autonomie seiner "tiefbewegte[nJ Brust". Das Handeln Fausts gilt als "verworren", weil die verschiedenen inneren Kriifte sich noch in der "Giirung" statt in der "Klarheit" befinden (302-309). Die Verworrenheit ist unvermeidlich, denn der Mensch triigt Gegensiitzliches in sich: Mit "Vernunft" begabt und doch "Tier" (285 f.), vermittelt er zwischen "Himmel" und "Erde" (304f.). Wenn Herr und Mephistopheles fragen, ob Faust seinen gottlichen Ursprung giinzlich vergessen und sich auf das materielle Leben "in dem Grase" (291) konzentrieren kann oder nicht, tragen sie keinen Wettkampf der Urprinzipien aus, sondern schlieSen eine echte Wette ab, iiber deren Ausgang nicht sie selbst entscheiden konnen. Entscheidend ist allein das autonome Wesen des Menschen, genauer dieses einen, der "auf besondre Weise" (300) Mensch ist: Faust. Mephistos Rolle gleicht derjenigen eines Experimentators, der den Gegenstand in Extremsituationen bringt, urn zu demonstrieren, daS die eigene These iiber dessen Wesen richtig ist und nicht die des anderen. Es hiitten auch zwei Philosophen sein konnen, die dies en Diskurs iiber das Wesen des Menschen fiihren. In seinem ironischen Ton erinnert der Dialog denn auch an Gespriich und Wette iiber das We sen der Frauen in Da Pontes und Mozarts Oper Cosi fan tufte. Tatsiichlich liiSt sich der Herr des ,Prologs' als eine aus der religiosen Tradition heraufgeholte, fiir das Theater siikularisierte Figur verstehen, in deren Mund zeitgenossische Philosopheme iiber die Bedingungen der Moglich-
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MA 112, 411-414, hier: 414.
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keit guten Handelns gelegt sind. Das gilt insbesondere fur die an die Erzengel gerichteten Worte: Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, Umfass' euch mit der Liebe holden Schranken, Und was in schwankender Erscheinung schwebt, Befestiget mit dauernden Gedanken. (346f£.)
Bei diesen beiden Losungen fur Erzengel handelt es sich in Wahrheit urn Maximen fur ein gutes menschliches Handeln. Die holden Schranken der Liebe erinnern an jene Dberzeugungen, die Herder 1788 in seiner Schrift Liebe und Selbstheit der neuplatonischen Position des Fran<;ois Hemsterhuis, namlich der Position einer unendlichen Selbsterweiterung des Menschen ins Universum, entgegensetzt. "Liebe" und "Freundschaft" sind nach Herder Erfahrungen, durch die der Mensch von seiner "Selbstheit" geheilt werden kann - von dem Glauben, "Despot des Weltalls" zu sein. Auch "nach dem suSesten GenuS" wirft die "Vorsehung" uns "auf unser armes Ich zuruck, gleichsam sagend: ,Du bist doch ein eingeschranktes, einzelnes Geschopf! Du durstest nach Vollkommenheit, aber du hast sie nicht!'" .16 Die Schranken fuhren im wechselseitigen GenuS der Liebe und Freundschaft, fur Goethe aber auch in der Betrachtung der Natur, auf angenehm-"holde" Weise uber die Selbstverabsolutierung hinaus. Der zweite Teil der Losung, die Befestigung der schwankenden Erscheinung mit dauernden Gedanken, entspricht bis in die Wortwahl hinein dem Gedicht Dauer im Wechsel (1803), das ebenfalls eine Lehre fur Menschen, nicht fur Erzengel enthiilt. Dber das Schwanken und die Verganglichkeit der Erscheinung fuhrt die Besinnung auf ein doppeltes Menschliches hinaus, das "Unvergangliches" oder eben Dauer "verheiSt": "Den Gehalt in deinem Busen! Und die Form in deinem Geist".I? Mit der geistigen Formung "dauernde[r] Gedanken" geht eine Konsolidierung der wechselnden und verganglichen Inhalte der Erfahrung zu "Gehalten" der Seele einher. So bewirkt, ahnlich wie in Schillers Asthetik, die Synthese von Form und Stoff, Geist und Materie den humanen, "moralischen Zustand" .18 1m Kontrast zum Herren laSt sich Mephistopheles als philosophischer Anwalt des Bosen verstehen, namlich als Materialist, der insbesondere in den Dialogen mit Faust immer wieder die Beschrankung auf den materiellen, 16 Johann Gottfried Herder, Liebe und Selbstheit, Siimtliche Werke, 33 Bde., hrsg. Bernhard Suphan, Berlin 1877ff., XV (1888), 304-326, hier: 321f£. Vgl. Fran,
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ungelstlgen GenuS predigt. Keinesfalls tritt Mephisto als Dogmatiker des Bosen auf, sondern als ein die Realitat des menschlichen Lebens untersuchender und beeinflussender, aber eben beschrankter Empiriker. Goethe vermeidet in der Gestaltung dieser Figur genau jenen Riickfall in den Dogmatismus, den er Kant vorwirft. Der Konigsberger habe, so heiSt es in einem Brief vom 7. Juni 1793 an das Ehepaar Herder, "seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von manchen sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, mit dem Schandfleck des radicalen Bosen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu kiissen".19 Hier spricht ein enttauschter Sympathisant, der den Philosophen von der gemeinsamen Position des Anti-Dogmatismus aus immanent kritisiert. Das metaphysische Prinzip des radikalen Bosen ist in aufgeklarter Sichtweise zum bloSen Vorurteil geworden; zum Urteil taugt der Begriff des Bosen nurmehr, wenn er als Attribut menschlichen Handelns verwendet wird. Ober den aufklarerisch-empirischen Diskurs geht der ,Prolog im Himmel' allerdings insofern hinaus, als das Faust-Experiment integriert ist in einen iibergeordneten Weltzweck. Die Erkundung des menschlichen Wesens in Extremsituationen dient der tatigen Vermittlung des Irdischen mit dem Gottlichen. Der Mensch soli ,gereizt' (343) und dadurch zu seinem "Urquell" (324) hingezogen werden. 20 DaS im Faust das Personal alterer Weltspiele auftritt, bedeutet keineswegs, daS der Text hinter die aufklarerische Literatur zuriickfiele in ein Weltbild des Mittelalters, sondern daIS er die aufklarerische Einstellung zum Menschen erweitert bzw. iiberschreitet. Und weil alledem Goethes undualistisches Denken zugrunde Iiegt, hat der Anwalt der Vermittlung, der Herr, in diesem Diskurs von vornherein die Dbermacht iiber den Anwalt der Absonderung - und die besseren Karten bei der Wette. Die aufgezeigte Dialektik strukturiert ganz wesentlich auch die Handlung der Gretchentragodie. Vor allem werden dort falsche einseitige Zuschreibungen des Guten und des Bosen dargestellt und aufgelost. Das geschieht auf eine Weise, die man ohne Dbertreibung als Ideologiekritik bezeichnen kann. In der Szene ,Dom', die zum altesten Bestand des Dramas gehort und die im Faust I direkt der ,Walpurgisnacht' vorgeschaltet ist, steht bei der Totenmesse fiir die Mutter ein "Boser Geist hinter Gretchen" (vor 3774). Er spricht von der Vergiftung der Mutter und von der Schwangerschaft, den beiden Friichten der einen Liebesnacht: "In deinem Herzen! Welche Missetat?/ .. .1 Und unter deinem Herzen! Regt sich's nicht quillend schon! Und angstet dich und siehl Mit ahnungsvoller Gegenwart?" (3785 ff.). Der Geist kommentiert das Dies FA 2. Abt., III, 676. Auch bei Herder (Anm. 16),321, ermahnt die Vorsehung den vom Unendlichkeitsstreben geheilten, auf den endlichen (Liebes-) GenuB gefiihrten Menschen: "Verschmachte nicht am Brunnen dieses einzelnen Genusses, sondern raffe dich auf und strebe 19
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weiter."
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irae mit den Worten, auch Margaretes "Herz" werde am jungsten Tag "Aus Aschenruh'/ Zu Flammenqualen! Wieder aufgeschaffen" (3803 ff.), und er spielt auf die bevorstehende gesellschaftliche Achtung an: "Verbirg' dich! Sund' und Schande/ Bleibt nicht verborgen! .. .I Ihr Antlitz wenden! Verklarte von dir ab.l Die Hande dir zu reichen,! Schauert's den Reinen" (3821 ff.). Margarete vernimmt diesen Geist als ihre eigenen Gedanken: Weh! Weh!l War' ich der Gedanken los, Die mir heriiber und hiniiber gehen Wider mich. (3794f.)
Die Formulierung "mir - wider mich" besagt, daS ihr die eigenen Gedanken als ein Fremdes entgegentreten. Denn es sind die verinnerlichten Regeln ihrer sozialen Welt, aus der sie nun ausgestoSen wird: In der Szene ,Am Brunnen' hatte Lieschen die Stigmatisierung beschrieben, die der Mutter eines unehelichen Kindes und sogar einer Frau droht, die den Vater des Kindes noch vor der Geburt heiratet: "Da mag sie denn sich ducken nun,! 1m Sunderhemdchen KirchbuS' tun!! ... Kriegt sie ihn, soll's ihr ubel gehn.l Das Kranzel reiSen die Buben ihr,! Und Hackerling streuen wir vor die Tur!" (3568ff.). Der Geist ihrer Gesellschaft, der im Dom aus und zu Gretchen spricht, heiSt "bose", weil er fur den Umschlag einer Moral in Bosheit steht. Es sind ja die vermeintlich "Reinen", die sich schaudernd von Margarete abwenden. Lieschen spricht in jener "Unschuld", die nach den Worten des Bosep Geistes friiher auch Margarete eigen war: "Wie anders, Gretchen, war dir's,! Als du noch voll Unschuldl Hier zum Altar tratst" (3776ff.). Von dieser fruheren Unschulds-Mentalitat berichtet sie selbst in der Szene ,Am Brunnen': Wie konnt' ich sonst so tapfer schmalen, Sah ich ein armes Magdlein fehlen! Wie konnt' ich iiber andrer Siinden Nicht Worte g'nug der Zunge finden! Wie schien mir's schwarz und schwarzt's noch gar, Mir's immer doch nicht schwarz g'nug war, Und segnet' mich und tat so grog, Und bin nun selbst der Siinde blog! Doch - alles, was mich dazu trieb, Gort! war so gut! ach war so lieb! (3577ff.)
Die in der GewiSheit eigener Reinheit, Unschuld und moralischer GroSe verubte ,Schwarzung' anderer Sunden ist selbst eine bose, eine schwarze Handlung. Uber dieses Bose des gemeinschaftlichen Geistes, der auch ihr eigener Geist war, gelangt Margarete erst im BewuStsein der eigenen Sunde hinaus, und zwar durch die Einsicht, daS die Sunde aus dem Guten entstand. Das Moment ,selbstischer' Verblendung, das zur AnmaSung moralischer GroSe gehort, wird an Valentin schlieSlich geradezu satirisch bloSgestellt. In seinem Sterbemonolog spricht er uberdeutlich die bevorstehende Achtung aus,
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bei der "aile brave Biirgersleut',! Wie von einer angesteckten Leichen,! Von dir, du Metze! seitab weichen". Die Schwester solie "In eine finstre Jammereckenl Unter Bettler und Kriippel [s]ich verstecken" und auf Erden "vermaledeit" sein, auch wenn Gott ihr womoglich "verzeiht" (3751 ff.). Valentin, der selbst "brav" vor seinen Gott zu treten meint, sieht in Margaretes Siinde vor allem eine ihn selbst treffende Verletzung der Familienehre: "Da du dich sprachst der Ehre los,! Gabst mir den schwersten HerzensstoS" (3772ff.). Der Bruder nimmt in der Gretchentragodie als Karikatur jene Rolle ein, die dem tugendhaften und auf Ehre bedachten Hausvater im biirgerlichen Trauerspiel zukam. In der fiir Goethe typischen ethischen Dialektik ist es die mitschuldige ,kupplerische' Marthe, die Valentins Rede als "Liistrung", mithin als Siinde bezeichnet (3765 ff.). Denn er setzt seine Schwester bereits jenen Flammenqualen aus, die der Bose Geist erst fiir den jiingsten Tag verheiSt: "Mein Bruder! Welche Hollenpein!" (3770). Die Gretchentragodie zeigt die Geburt des Bosen aus dem Geist der Tugend. Goethes literarische Ideologiekritik am moralischen Hochmut besagt nun keineswegs, daS jede Verurteilung des Bosen selbst bose sei. Interessanterweise ist dies vielmehr die beschriinkte Position des Mephistopheles. In der SchiilerSzene kennzeichnet er das moralische Urteil als iiberhaupt siindhaft, indem er dem Schiiler jenes Bibelwort ins Stammbuch schreibt, mit dem die Schlange Eva zum Siindenfall verfiihrte: "Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum" (2048) - ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und bose ist (1. Mose 3,5). Mephisto kommentiert: "Foig nur dem alten Spruch und meiner Muhme der Schlange,! Dir wird gewiS einmal bei deiner Gottiihnlichkeit bange!" (2049 f.). Der klassische Goethe hingegen schreibt Das Gottliche des moralischen Urteils - in dem so betitelten Gedicht von 1783 - dem Menschen positiv zu: "Nur allein der Mensch! Vermag das Unmogliche:/ Er unterscheidet,! Wiihlet und richtet;! .. .1 Er allein darf/ Den Guten lohnen,! Den Bosen strafen", wiihrend die Natur "unfiihlend" ist und "die Sonne/ tIber Bos' und Gute" gleichermaSen "leuchtet".21 Das moralische Urteil hat es aber mit der Dialektik des Guten und des Bosen zu tun und geriit nur in einem Kontinuum der Selbst- und Fremderkenntnis seinerseits zum Guten. Zum Bosen geriit es durch ,Iuziferische' Einseitigkeit: durch die Konzentration des Menschen auf sich selbst und durch seine Unfiihigkeit, das Schuldhafte an sich ebenso anzuerkennen wie das immer auch vorhandene Gute an dem fiir bose erachteten anderen. Dem einseitig-vermessen Urteilenden muS in der Tat bei seiner "Gottiihnlichkeit bange" werden. 1m Faust wird die dogmatische Entgegensetzung des guten und des bosen Prinzips kritisiert und aufgelost. Selbst wenn die Satansszenen einen solchen Gegensatz enthielten, konnte dieser im Sinnzusammenhang des Werks nicht 21
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den Status eines dogmatischen Gegenentwurfs eriangen, da er von der werkimmanenten Negation des Dogmatischen betroffen ware. Freilich ist die ,Walpurgisnacht', einschlieSlich der zugehorigen Para lip omena, von keinem dogmatischen Dualismus, sondern gleichfalls von einer kritischen Dialektik des Guten und des Bosen gepragt. III.
In seinem Versuch, am Faust ein manichaisches Weltbild aufzuzeigen, legt Hans Bayer der ,Walpurgisnacht' besonderes Gewicht bei, denn dort sieht er die haretische Lehre von den "hollischen Machte[n]" dargestellt: "Ihrer dichterisch eindrucksvollsten Gestaltung begegnen wir in der ,Walpurgisnacht'." Bayer widmet seine Aufmerksamkeit insbesondere den damonischen Erscheinungen zu Beginn der Szene: "Schlangen, schleichende und fliegende Tiere, VierfiiSler". Dies seien "die den fiinf Regionen der manichaischen Holle zugeordneten Lebewesen", wie iiberhaupt in der Walpurgisnacht die "Elemente der damonischen ,confusio' bzw. ,perturbatio' des Geistes als auSerster Gegensatz zur ,claritas dei'" Darstellung fanden. 22 1m Gegensatz zu dieser damonologischen Interpretation stellt die ,Walpurgisnacht' nicht positiv die Geister dar, sondern hat von Beginn an kritisch die Geisterwahrnehmung zum Gegenstand. Zunachst wird die Position der aufklarerischen Psychologie durchgespielt, wenn die Damonen als nachtliche Fehleinschatzungen natiirlicher Phanomene gelten - hervorgebracht von einer Einbildungskraft, die bei ungenauen Sinneseindriicken aushilft: Und die Wurzeln, wie die Schlangen, Winden sich aus Fels und Sande; Strecken wunderliche Bande, Uns zu schrecken, uns zu fangen. (3894)
Da gibt es "Fels und Baume, die Gesichterl Schneiden" (3909f.); "Und die Funkenwiirmer fliegen/ Mit gedrangten Schwarme-Ziigen/ Zum verwirrenden Geleite" (3903 ff.). 1m Sinne aufklarerischer Psychologie 23 erklart ganz ahnlich im Erlkonig (1782) der Vater seinem Sohn die nachtlichen Gesichte mit Satzen wie "Es scheinen die alten Weiden so grau" .24 In der ,Walpurgisnacht' erBayer (Anm. 9),205. Deren Auffassung ist Goethe vor allem aus dem 4. Band von Buffons Histoire naturelle (1749) und aus dem 2. Buch von Rousseaus Emile (1762) vertraut, wo folgende Siitze Buffons zitiert werden: "Befindet man sich nachts an unbekannten Orten, wo man ... die Gestalt der Dinge nicht erkennen kann, liiuft man jeden Augenblick Gefahr, sich iiber sie zu irren. ... Darauf griindet sich die Erscheinung von Gespenstern und riesenhaften Spukgestalten, die so viele gesehen haben wollen" (zit. nach Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Ober die Erziehung, Paderborn 1971, 121). 24 FA 1. Abt., I, 303 f. 22 23
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klingen die Verse tiber die nachtlichen Verwirrungen der Einbildungskraft nun freilich "im Wechselgesang" von Faust, Mephistopheles und - einem "Irrlicht" (vor 3871). Die aufklarerische Rede, in der die Geistererscheinungen der Nacht auf die Natur zurtickgeftihrt werden, stammt also selbst von solch einem Geist. Der Satz tiber Verwirrung ist, beim Wort genommen, auch eine Verwirrung, die sich nun aber nicht in der Einbildungskraft, sondern im Verstand des Rezipienten einstellt. Auch im Erlkonig behalt das aufklarerische BewuBtsein nicht das letzte Wort, wenn die SchluBstrophe beginnt: "Dem Vater grauset's". Der ironisch-paradoxen Gestaltungsweise der Irrlicht-Passage entspricht spater in der Szene die auf den Berliner Aufklarer Friedrich Nicolai anspielende Episode urn den "Proktophantasmisten" - der Name bedeutet soviel wie " Aftergeisterseher " . In seinem Kampf gegen alles, was tiber die Fassungskraft des Verstandes hinausgeht, polemisierte Nicolai gleichermaBen gegen den naiven Glauben an rea Ie Geister oder Damonen wie gegen die Philosophie und Dichtung der neuesten Zeit. Darum ist es in der ,Walpurgisnacht' das Ziel des Proktophantasmisten, "Die Teufel und die Dichter zu bezwingen" (4171). Er emport sich, daB der Kampf der Aufklarung mit dem Aberglauben die Geister nicht auch aus der Literatur vertreiben konnte: "Ihr seid noch immer da! nein, das ist unerhort.l Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklart!" (4158 f.). Die satirische Pointe liegt darin, daB seinem Verstand die Erscheinung der Geister in dieser Szene nicht kommensurabel ist: "Den Geisterdespotismus leid' ich nicht;/ Mein Geist kann ihn nicht exerzieren" (4166f.), denn: "Das Teufelspack es fragt nach keiner Regel" (4160). Die Blindheit gegentiber dem, was den Regeln des Verstandes nicht entspricht, ftihrt dazu, daB der plane Rationalismus "ins Land der Vernunft ... nimmer den Weg" findet, wie es in den Xenien von 1796 tiber Nicolai heiBt. 25 Mehr noch: Der Rationalist wird hinterrticks von den Geistern eingeholt und schaut diese mit dem After - eben als "Proktophantasmist". Nicolai hatte 1797 offentlich erklart, er selbst sei im Jahr 1791 von Geistererscheinungen heimgesucht und durch das Ansetzen von Blutegeln an sein GesaB geheilt worden. "Dnd wenn Blutegel sich an seinem SteiB ergetzen,l 1st er von Geistern und von Geist kuriert" (4174 f.) Der rationalistische Schlaf der Vernunft gebiert Dngeheuer, die dann erneut plattmaterialistisch erklart und bekampft werden. So dreht der Proktophantasmist sich "im Kreise" und bleibt "in seiner alten Mtihle" befangen, wahrend "wir vorwarts gehn" - wie Faust sagt (4153ff.).26 In dieser heiter-selbstreferentiellen Passage wird ganz deutlich, daB Goethes Drama nicht hinter die Aufklarung zurtickgeht - in irgendeinem haretischen Dogmatismus landend -, sonFA 1. Abt., I, 522. Frankenberger (Anm. 3), 94, zeigt, daR die Rede des Proktophantasmisten (4158-4163) auch dem Reimschema nach (AABBAA) miihlenartig ist. 25
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dern mit vollem BewuRtsein des Autors vorwartsgeht - sei es als Bewegung innerhalb der Aufklarung, sei es als deren Oberschreitung. Worin besteht aber der Fortschritt? Anders als in der planen Aufklarung werden altere Glaubensinhalte nicht fur bedeutungslos erklart, sondern zur Deutung der vielschichtigen menschlichen Erfahrungswelt genutzt. Deshalb nimmt der Proktophantasmist zuerst und vor allem daran AnstoR, daR die Geister der ,Walpurgisnacht' so menschenartig erscheinen: Verfluchtes Volk! was untersteht ihr euch? Hat man euch lange nicht bewiesen? Ein Geist geht nie auf ordentlichen FiiBen; Nun tanzt ihr gar, uns andern Menschen gleich! (4144ff.) So verkorpern denn auch die "Hexen" und "Hexenmeister" keine metaphysischen GroRen, sondern menschliche Eigenschaften von "Mann" und "Frau" auf dem Weg "zu des Bosen Haus" (3980ff.). Ein Menschliches ist selbst dem gestaltlosen Irrlicht eigen: "Nur zickzack geht gewohnlich unser Lauf"; was Mephisto mit den Worten kommentiert: "Ei! Ei! Er denkt's den Menschen nachzuahmen.l Geh er nur g'rad', in's Teufels Namen!/ Sonst bias' ich ihm sein Flacker-Leben aus" (3862ff.). Der Gang durch die Walpurgisnacht folgt dem menschlichen Zickzack, der verwirrenden dialektischen Bewegung jener in Polaritaten auseinandertretenden Einheit des menschlichen Wesens. Feste Prinzipien haben im Faust nichts zu suchen. Gleichwohl machte der Protagonist zu Satan als ·dem eindeutig "Bosen" streben, denn: "Da muR sich manches Ratsel las en ". In seiner Replik auf diesen Wunsch weist Mephisto darauf hin, daR es eine eindeutige Auflosung des Ratsels nicht geben kann: Doch manches Ratsel kniipft sich auch. LaB du die groBe Welt nur sausen, Wir wollen hier im Stillen hausen. Es ist doch lange hergebracht, DaB in der groBen Welt man kleine Welten macht. (4039ff.)27 Diese Bemerkung steht im Kontext einiger Parallelstellen. Zu erinnern ist zunachst der Vers Mephistos "Ich bin keiner von den GroRen" (1641), der sich auf seinen Rang innerhalb jenes "Element[s]" bezieht, den die Menschheit "Sunde,! Zerstorung, kurz das Bose nennt" (1342ff.). Hinzu gehort Fausts 27 Schone, der wie Faust zum reinen Prinzip vordringen mochte, sieht in Mephistos dialektischer Antwort "Abwiegelungsverse" (Schone [Anm. 16],321). Aus seiner eigenen Biihnenfassung der ,Walpurgisnacht' - einer Mischung aus veroffentlichten Passagen und Paralipomena - streicht Schone diese Verse, wodurch Fausts Bemerkung "Schon seh' ich Glut und Wirbelrauch" des Echos "kniipft sich auch" beraubt wird und reimlos bleibt. Auf diese Collage, der iiber 100 Verse der ,Walpurgisnacht' fehlen, soli hier nicht systematisch eingegangen werden (vgl. Schone [Anm. 5], 217-230, hier: 222).
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Ausspruch "Du kannst im GroBen nichts vernichtenl Und fangst es nun im Kleinen an" (1360f.) sowie Mephistos Protest, als er in der ,Hexenkuche' als "Junker Satan" angesprochen wird: Er ist schon lang ins Fabelbuch geschrieben; Allein die Menschen sind nicht besser dran, Den Bosen sind sie los, die Bosen sind geblieben. ( 2504ff.)
Das GroBreich des Bosen in der metaphysischen Welt ist langst Marchen, aber in der physischen Welt, der wir angehoren, gibt es noch immer die kleinen Krafte der Bosen (2507ff.). Man konnte in der von Mephisto konstatierten Satansdammerung den Grund dafur sehen, daB Faust zum Gipfel des Blocksberg nicht vordringen soli und Goethe die Satans-Passagen strich. Jedoch betreten Faust und Mephistopheles in der ,Walpurgisnacht' eine "Traum- und Zaubersphare" (3871), in der die uberlebten Figuren des Fabelbuchs lebendig werden und "die Sage/ Alter Zeiten" (3887f.) im Dienste einer Darstellung der menschlichen Erscheinungswelt widerhallt. Hier konnte auch Satan selbst auferstehen - als Bild besonders wirkungskraftiger Phanomene des Menschlich-Bosen. Genau das ist in der von Goethe zu den Paralipomena gelegten Satansaudienz auch der Fall, wenn der zu erprobende Vasall X" " sagt: So kiiB ich, bin ich gleich von Haus aus Demokrat Dir doch Tyrann voll Danckbarkeit die Klauen.
Der Vasall folgt der weiteren Aufforderung, "dem Herrn den Hintern Theil zu kussen", und bekennt: "dieser wohlgebaute Schlund! Erweckt den Wunsch hinein zu kriechen". Satans Antwort endet mit den Worten: "Und wer des Teufels Arsch so gut wie du gelobtl Dem soli es nie an Schmeichelphrasen fehlen. ,,28 In der Metaphorik des Volksmunds ist hier die Haltung lustvoller politi scher Devotion gestaltet: Es handelt sich urn eine "Satire auf die hOfische ,Arschkriecherei'" .29 Die Nahe zu Goethes Kritik an den revolutionaren und zugleich obskuren Bestrebungen einiger Illuminaten ist unverkennbar: Gezeigt wird ein Freiheitsapostel, der sich in einem geheimbundlerischen Initiationsritus bedingungslos unterwirft. Cagliostro und seine Anhanger gehoren zur Erfahrungsgrundlage der Satansszenen. AufschluBreich ist ein Vergleich der Satansaudienz mit Goethes Revolutionsdrama Der Gro(5-Cophta (1792). Dort erprobt ein betrugerischer, nach der historischen Vorlage Cagliostro gezeich28 Die Paralipomena zu Faust werden zitiert nach der von Anne Bohnenkamp hergestellten Anordnung in: FA 1. Abt., VIII1, 541-736, hier: 555f. 29 Dieter Borchmeyer, "Die geheimgehaltenen Dichtungen des Geheimrats Goethe. Kritische Anmerkungen zu ihrer Wiederentdeckung. Der ,Walpurgissack' und ,Das Tagebuch''', in: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.), Verlorene Klassik? Ober den Umgang mit der Goethezeit. Ein Symposium, Tiibingen 1986, 99-111, hier: 104.
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neter Illuminat und angeblicher Graf seine Vasa lien, denen er als hohere Weisheit den reinen Egoismus predigt. Mit einer simplen Tauschung bringt er auch einen jungen Ritter und Humanitatsschwarmer zur volligen Devotion, so daR dieser in dem Grafen bald "den Bessern, den GroRern, den Unbegreiflichen" verehrt und seine Verehrung in korperlicher Bertihrung kundtut: "Meine Dankbarkeit ist granzenlos, meine Freude verstummt in dieser Umarmung. ,dO Die bedingungslose Selbstaufgabe der eigenen Personlichkeit in der Subordination und die vollstandige Preisgabe eines Ideals (Demokratie, Humanitat) vor der Dbermacht sind in beiden Fallen die ironisierten politischen Erscheinungsformen, in denen Gutes in Boses umschlagt. Auch in der Satansmesse geht es nicht urn das Bose als metaphysisches Urprinzip oder gar urn "den Bosen", sondern urn menschliche Erscheinungen, denen das Attribut bose zukommt. Satan halt den Bocken und Ziegen eine Predigt tiber das "glanzende Gold" und den "weibliche[n] Schoos" bzw. das "leuchtende Gold" und den "glanzende[n] Schwanz". Sein SchluRwort an be ide lautet: Seyd reinlich bey Tage Und sauisch bey Nacht, So haht ihrs auf Erden Am weitsten gebracht. 31
Als verderbliche menschliche Haltung erscheint zum einen die entseelende Reduzierung der Sexualitat auf das Korperliche - die Idolatrie des Leibes, die mit der Gier nach materiellem Reichtum verwandt ist. Die Ltiste an Leib und Reichtum sind aber nicht per se bose; zum "Unheil" ftihrt - mit der LuziferErzahlung gesprochen - erst die "einseitige Richtung" hin zum materiellungeistigen Pol dieser Begierden. Verwerflich ist zum anderen die Doppelmoral der bei Tage gezeigten Reinlichkeit und der bei Nacht praktizierten Sauerei, denn genau diese Haltung zeitigt die unheilvollen Einseitigkeiten einer rein geistigen und einer rein korperlichen Orientierung. Die satanische Predigt dieser polaren Vereinseitigung ist eine ironische Kritik menschlicher Verhaltensweisen. Die kritische Ausrichtung des Textes zeigt an, daR eine Vermittlung von fleischlicher Lust und Geist moglich ist. Nicht zufallig ist dies die Position des Autors - besonders deutlich pragt sie sich aus in jener erotischen Dichtung, die den starksten Gegensatz zur nordischen Satansmesse bildet: den Romischen Elegien. 32 30
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FA 1. Aht., VI, 21-109, hier: 69. FA 1. Abt., VIIIl, 553 ff.
32 Weil die Satansmesse die einseitige Damonisierung der Erotik kritisiert, greift Schones Behauptung zu kurz, Gretchens Verfallenheit an Gold und Geschlecht entspreche der Forderung des Satans aus den Paralipomena und offenbare ihre " Teilhabe an der dem Satan verfallenen Welt" (Schone [Anm. 5], 178). Zwar bekennt Margarete, daR sie "Zum Golde drangt" (2804) und daR ihr "Schoos" sich zu Faust ,hindrangt' (Faust. Friihe
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DaB Goethe den Blocksberg-Gipfel fortlieB und daB Mephisto Faust yom Streben zur "groBen Welt" des Bosen abbringt, laBt sich nur bedingt damit erklaren, daB der Autor dem MiBverstandnis vorbeugen wollte, in Satan sei ein metaphysisches Prinzip gestaltet. Denn Satan und seine Vasallen erscheinen bei genauem Hinsehen nicht als metaphysische Allegorien, sondern als fabelhafte Bilder menschlich-boser Erscheinungen. Warum der Autor sich gegen die Veroffentlichung der Satanspassagen entschied, wird erst aus einer weiteren Parallel stelle zu dem Gegensatz groBe Welt - kleine Welt vollends deutlich. Am Ende der zweiten ,Studierzimmer'-Szene erklart Mephisto den Fahrplan der Weltfahrt wie folgt: "Wir sehn die kleine, dann die groBe Welt" (2052). Nach Goethes Entscheidung fur eine Zweiteilung des Dramas blieb die Darstellung der politisch-groBen Welt dem zweiten Teil vorbehalten. Dort triigt Mephisto durch die Ausschuttung ungedeckten Geldes dazu bei, daB das alte Reich - wie er im 4. Akt riickblickend sagt - "in Anarchie" zerfallt (10261). Es ist konsequent, daB er in der ,Walpurgisnacht' an den Fahrplan erinnert und verhindert, daB schon hier die groBe Welt politischer Tyrannei beschritten wird. Statt des sen fiihrt Mephisto Faust in eine kleine bose Welt, die von der groBen Welt "gemacht" wurde. Goethe hat die Satans-Szenen durch eine Sequenz ersetzt, deren Themen zwar ebenfalls Politik und Sexualitat sind, die aber nicht im Bereich der (revolutionaren) Macht, sondern im Bereich ausgebooteter vormals Machtiger angesiedelt ist. Diese "alten Herrn" (4072) vergniigen sich als "Freier" (4071) in einem Raum, in dem "man tanzt, man schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt" (4058), einen Raum mit "junge[n] Hexchen, nackt und bloB,! Und altern] die sich klug verhiillen" (4046f.). Mephisto fiihrt Faust in ein nachrevolutioniires Walpurgis-Bordell. 33 Den Zusammenhang von Sexualitat und Politik thematisiert ein "General", der das Bordell aufsucht, weil er bei den Frauen - wie beim undankbaren Yolk - nicht mehr ankommt: "Denn bei dem Yolk, wie bei den Frauen,! Steht immerfort die Jugend oben an" (4078 f.). Geltungs- und Machtverlust ist auch das Los des "Ministers", der jene "goldne Zeit" des Absolutismus beschwort, in der "wir alles galten", wo es also die moderne Einschriinkung der Exekutivgewalt noch nicht gab (4082f.). Der gescheiterte "Parvenu" beklagt, daB sein Karriere-Kalkiil nicht aufging: Wir waren wahrlich auch nicht dumm, Und taten oft, was wir nicht sollten; Fassung, FA 1. Abt., VIII 1, 467-539, hier: 519). Ihre Welt ist aber nicht dem Satan oder
irgendeiner anderen Heteronomie verfallen, sondern von der Ambivalenz des menschlichen "Dranges" gepriigt. Margarete weiR urn den Umschlag des Guten ins Bose: "alles, was mich dazu trieb,l Gott! war so gut! ach war so lieb" (3585 f.). 33 Aile dort angesiedelten Verse streicht Schone aus seiner Biihnenfassung (vgl. Anm. 27).
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Thomas Zabka Doch jetzo kehrt sich alles urn und urn, Und eben da wir's fest erhalten wollten. (4084ff.)
Hier spicht der biirgerliche Emporkommling, der nie wirklich Royalist war, aber ungeschickterweise kurz vor der allgemeinen Umwalzung auf die Karte des Konigtums gesetzt hat. In den Reigen der Abgehalfterten und Ausgebooteten stimmt auch ein "Autor'" ein, der unschwer als Geistesverwandter des Proktophantasmisten zu erkennen ist: Wer mag wohl iiberhaupt jetzt eine Schrift Von ma~ig klugem Inhalt lesen! Und was das liebe junge Volk betrifft, Das ist noch nie so naseweis gewesen. (4088ff.) Die simpel-rationalistische, namlich "maBig kluge" Fraktion der Aufklarung, die vom neuen Denken langst iiberholt ist, wird neben die "alten Herrn" des Ancien regime gestellt. 34 1m Kommentar der vier Reden konstatiert Mephisto eine Zunahme des Bosen: "Zum jiingsten Tag fiihl' ich das Volk gereift" (4092). Offen bleibt, ob die von den alten Herren beklagten Umwalzungen gemeint sind oder die Klagen selbst, aus denen verletzte Eitelkeit und gehemmter Machtdrang sprechen. Vermutlich beides: Die kleine Bosheit der ausgebooteten Alten ist ein Produkt der groBen Bosheit, die sich in einer Zeit der Umwalzung in den oberen Etagen der Macht ereignet und die in der fortgelassenen SatansAudienz dargestellt ist, wo der Demokrat zum Vasallen des Tyrannen wird. Dieser Zusammenhang der groBen und der kleinen Bosheit wird in Mephistos Diktum "DaB in der groBen Welt man kleine Welten macht" angekiindigt. Die im Walpurgissack gelandeten Satans-Szenen haben also doppelten Ersatz gefunden: 1m Faust I in den Pas sagen des Walpurgis-Bordells, die ebenfalls von Sexualitat und Politik handeln, und im Faust II in den Szenen des ersten und vierten Aktes, deren Thema die Umwalzungen in der grolSen staatspolitischen Welt sind. Satan kann im Faust I nicht auftreten, wei! er von vornherein als Reprasentant einer ,groBen Welt' konzipiert ist, die in diesem Tei! des Dramas erklartermaBen noch nicht vorkommen soil. Statt des sen spiegelt die Szene ,Walpurgisnacht' in einer vom ,Widerhall alter Sage' bestimmten "Traum- und Zaubersphare" die Dialektik des Guten und des Bosen aus der kleinen Welt menschlicher Schwachen.
34 Das geschieht entsprechend im ,Walpurgisnachtstraum' mit dem Aufklarer Hennings (4307-4318). Dessen Zeitschrift Genius der Zeit, die sich seit 1801 Der Genius des 19. Jahrhunderts nannte, hei~t im Faust "Ci-devant Genius der Zeit", was sowohl auf die Namensanderung (vormals) als auch auf die historische Uberlebtheit von Hennings' Position anspielt: Ci-devants nannte man wahrend der Franzosischen Revolution die Adligen.
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IV. 1m Walpurgisbordell wandelt sich Faust yom Zuschauer zum aktiv Handelnden, wobei er in die Dialektik des Guten und des Bosen involviert wird. Der Zusammenhang zur Gretchentragodie wird gleich zu Beginn ausdriicklich hergestellt, wenn Mephisto erklart, den Protagonisten von der Liebschaft mit Margarete abbringen zu wollen: "ich verbinde dich aufs neue" (4054). Die "Schaferstunde" (4182) besteht aus dem Tanz mit der jungen nackten Hexe und dem Dialog iiber deren "zwei schone Apfel". Verglichen mit der Satansmesse, wo das korperliche Begehren mit dem Begehren des Goldes gleichgestellt wird und als niedere, rein materielle Orientierung erscheint, markiert die Antwort der jungen Hexe, die nun "Die Schone" heilSt, eine Entdamonisierung des Sexus: Der Apfelchen begehrt ihr sehr Und schon yom Paradiese her. Von Freuden fiihl' ich mich bewegt, DaiS auch mein Garten solche tragt. (4132ff.)
Schon der Begriff des Schonen verleiht der korperlichen Attraktion em geistiges und humanes Moment. Die Rede iiber den schonen Korper spielt qua Apfel-Symbol derart lassig-heiter auf die Legende yom Siindenfall an, daIS von einer ernstgemeinten Darstellung des Bosen keine Rede sein kann. Wenn die Eitelkeit und Wollust der "Schonen" denn unbedingt als Teil einer "vom Paradiese her" bestehenden Erbsiinde verstanden werden soll, so mulS ihr - urn ein spateres Apen;u Goethes von 1824 zu verwenden - eine komplementare "Erbtugend" entsprechen35 . Das in den Worten der Schonen sich zeigende Gute ist die bewegende Freude iiber den Leib, das Einssein mit der eigenen Natur. Diese Ambivalenz der korperlichen Lust kennen wir aus der Gretchentragodie, deren Thematik zu spiegeln ja eine Aufgabe der ,Walpurgisnacht' ist. 36 An Fausts eigene Schuld, an das Bose seines Handelns, wird in dieser Sequenz dreifach erinnert. Zunachst prasentiert eine Trodelhexe verschiedene "Waren", die schon einmal "auf der Erde" als Instrumente boser Taten "zum tiicht'gen Schadenl Der Menschen und der Welt" dienten. Faust konnte durch sie an die Vergiftung von Gretchens Mutter, an seine Verfiihrungsgeschenke, MA XIIII1, 403. Einem Kommentar zufolge (Birgit Stolt, Gretchen und die Todsiinden, Uppsala 1974) begeht Margarete samtliche Todsiinden. Schone iibernimmt diesen Kommentar zur Stiitzung seiner These, die Figur erscheine in den Walpurgisnacht-Paralipomena als Hexe (vgl. Schone [Anm. 5], 177). Die Pointe des Dramas liegt jedoch - wie gezeigt - gerade darin, daiS "so gut" war, was Margarete ins Verderben trieb, sowie in der satirischen Polemik gegen die Stigmatisierung der Figur als "Metze". 35
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an seine Untreue und an die Ermordung Valentins erinnert werden, denn unter den Waren der Trodelhexe befindet sich Kein Kelch, aus dem sich nicht, in ganz gesunden Leib, Verzehrend heiRes Gift ergossen. Kein Schmuck, der nicht ein liebenswiirdig Weib Verfiihrt, kein Schwert das nicht den Bund gebrochen, Nicht erwa hinterriicks den Gegenmann durchstochen. (4098 ff.)
Mephisto weist diese Zeichen zuriick und verlangt von der Trodlerin, ganz im Sinne des im Pakt beschlossenen rastlosen Weiterstrebens, Gegenstande neuer Erfahrungen: "Getan geschehn! Geschehn getan!l Verleg' sie sich auf Neuigkeiten! Nur Neuigkeiten ziehn uns an" (4111£f.). In der Szene ,Kerker' spricht Faust selbst diese Botschaft aus, als Margarete ihn an den "Degen" erinnert, mit dem Valentin getotet wurde: "LaB das Vergangne vergangen sein" (4516ff.). Auf die Warenprasentation der Trodelhexe folgen jene vier Verse, in denen Schone den starksten Beleg fiir seine These sieht, die veroffentlichte ,Walpurgisnacht' sei unter dem Druck der Selbstzensur notdiirftig zusammengefiigt: FAUST. DaR ich mich nur nicht selbst vergesse! HeiR' ich mir das doch eine Messe! MEPHISTOPHELES. Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben. (4114ff.)
Fur den Rekonstrukteur der Satansmesse machen die heiden Verspaare an dieser Stelle weder Sinn, noch gehorten sie iiberhaupt zusammen. Fausts Ausruf sei in Wahrheit seine Reaktion auf die Satansmesse; Mephistos Diktum passe hingegen genau zu Fausts - der Messe vorangehendem - Wunsch "Dort oben mocht' ich lieber sein" und sei nichts anderes als die urspriingliche Einverstandniserklarung Mephistos, zusammen mit der "Menge zu dem Bosen" zu stromen (4037ff.).37 Auf die urspriingliche Konzeption mag diese Lesart zutreffen. Betrachtet man die Fortlassung der Satans-Szenen jedoch als eine bewuBte, der Gesamtkonzeption des Dramas folgende Entscheidung und die tatsachliche Fiigung der Szene als eine wohliiberlegte Komposition, so gibt die Plazierung des Verspaars entstehungsgeschichtlichen AufschluB iiber die Funktion des vorangehenden Abschnitts: Fausts Worte iiber die Messe bestatigen die These, daB die Bordell-Passagen mit den nackten Schonen, den alten Herren und der Trodlerin innerhalb der dargestellten kleinen Welt das funktionale Aquivalent der groBen Satansmesse sind. Die aquivokative Moglichkeit, auch eine Warenprasentation als Messe zu bezeichnen, erlaubte es, Fausts geplante Reaktion auf die Satansmesse nun als Reaktion auf die tatsachlich veroffentlichte Bordell-Passage zu prasentieren. Der Ausruf "DaB ich
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Vgl. Schone (Anm. 5), 122, 166f., 222, 226.
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mich nur nicht selbst vergesse" erhalt in der Konfrantation mit dem morderischen Inventar der Gretchentragodie einen ganz anderen Sinn als im Zusammenhang mit der satanischen Aufforderung zu Kopulation und Goldrausch: Wahrend er dort vor allem die Selbstermahnung ware, nicht allzu sehr in den Sog der obszonen Predigt hineinzugeraten, signalisieren die Verse angesichts der Mordinstrumente ein Aufleuchten der Erinnerung an die Gretchenhandlung. Sie beinhalten die gegen Mephistos Forderung nach Neuigkeiten gerichtete Selbstermahnung Fausts, wahrend der Walpurgisnacht nicht sich selbst als den vormaligen Benutzer der verbrecherischen Instrumente zu verges sen. Mephistos Replik "Der ganze Strudel strebt nach oben;/ Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben" bestreitet die Verantwortung Fausts fiir sein Handeln: schlieBlich sei er in die allgemeine Bewegung zum Bosen hin eingebunden. 38 DaB die Worte "strebt nach oben" das Streben zum Bosen meinen, weiB der Rezipient - auch ohne Kenntnis der Paralipomena - aus den friiheren Versen "Dort droben mocht' ich lieber sein/ .. ./ Dort strebt die Menge zu dem Bosen" (4037ff.). Da die kleine Welt des Walpurgis-Bordells eine Abbreviatur der graBen Welt ist, enthalt sie auch die Bewegung zum Bosen in sich; die Verse sind hier also keineswegs fehl am Platze. 1m Gegenteil. Der Satansmesse stiinden Faust und Mephisto bloB als Beobachtende gegeniiber. Erst in der Endfassung der ,Walpurgisnacht' spricht Mephisto seine Verse in einer Situation, in der die Aussage "Du glaubst zu schieben" einen Sinn erhalt, und zwar durch Fausts aufblitzende Erinnerung an sich selbst als handelndes Subjekt. Auf die interpretierte Stelle folgt die zweite an Fausts Schuld erinnernde Erscheinung: "Lilith ... Adams erste Frau" (4119). An dieses Bild kniipft Mephisto die Warnung: "Nimm dich in Acht vor ihren schonen Haaren,l Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt./ Wenn sie damit den jungen Mann erlangt,l So laBt sie ihn sobald nicht wieder fahren" (4119ff.). Wahrend die Trodelhexe an Faust als das handelnde Subjekt der Gretchentragodie erinnert, gemahnt die Lilith-Erscheinung an Margarete, die Fausts Treue einklagt. 1m ersten Fall bringt Mephisto ihn von dem Gedanken an die eigene Verantwortung ab, im zweiten Fall siegt die unmittelbare Verlockung iiber Liliths Treueforderung, denn im AnschluB an die Warnung vor Adams erster Frau tanzt Faust mit der nackten Schonen zum Wechselgesang iiber den "Apfelbaum" und die "schon yom Paradiese her" begehrten "Apfelchen" (4128ff.). Faust/Adam vergiBt MargaretelLilith und verbindet sich mit der SchonenlEva. Die dritte Erscheinung macht die zuvor nur latente Erinnerung an Margarete
38 "Auf den Einzelnen, auf seine Gesinnung, sein Gewissen, seinen Willen komme es gar nicht an, die Bewegung der Masse sei nicht an den Einzelnen gebunden, der sich hochstens der Illusion, ein Wirkender zu sein, hingeben konne" (Frankenberger [Anm. 3], 86).
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manifest, wenn Faust "Ein blasses, schemes Kind aile in und ferne stehen" sieht, eine Erscheinung, die "dem guten Gretchen gleicht" (4184/88). Faust nimmt in der Vision der toten Geliebten zugleich das Zeichen der eigenen Untreue wahr, namlich "die Augen eines Toten,! Die eine liebende Hand nicht schloB" (4195f.). Er bekennt: "Welch eine Wonne! welch ein Leiden!l Ich kann von diesem Blick nicht scheiden" (4201 f.) und phantasiert zu der Vision die Art von Margaretes - in der Handlungszeit erst bevorstehender - Hinrichtung aktiv hinzu: Wie sonderbar muB diesen schonen Hals Ein einzig rotes Schniirchen schmiicken, Nicht breiter als ein Messerriicken! (4203 ff.)
Die Verquickung von Liebe und Schuld, Gutem und Bosem wird nun auch an dem Protagonisten kenntlich: Seine nicht mehr liebende Hand wird die Augen der Toten nicht schlieBen, er empfindet bei dem Anblick des Leidens und bei der Vorstellung der Enthauptung eine bose Wonne - ganz ahnlich wie jene Schaulustigen, die in Margaretes Kerker-Vision ihrer Hinrichtung beiwohnen und diese kraft der (zugleich guten) Fahigkeit zum Mitleiden genieBen werden: "Die Menge drangt sich"; "Schon zuckt nach jedem Nacken! Die Scharfe die nach meinem ziickt" (4587ff.). Die Hinrichtungsphantasie Fausts ist das funktionale Aquivalent der fortgelassenen " Hochgerichtserscheinung" , in der die "grau und schwarze Briiderschafft" blutdiirstig eine "Dirne" hinrichtet. 39 Bei den Richtern handelt es sich, so kommentiert Schone, urn "die Monche des Franziskaner- und Dominikaner-Ordens, denen die Inquisition oblag" .40 Wie aus Goethes Skizzen hervorgehe, werde die Dirne wegen eines Kindsmords zur Hexe erklart: "Geschwatz von Kielkropfen! Dadurch Faust erfahrt" .41 Als Kielkropfe wurden in Goethes aus dem 17. Jahrhundert stammenden Biichern iiber die Hexenverfolgung "monstrose Ausgeburten des Geschlechtsverkehrs" bezeichnet, "wie ihn die Teufel am Ende des Sabbatfestes mit den Hexen trieben".42 Die Hinrichtung der Hexe verfolgend, hatte Faust von dem Schicksal seiner Geliebten erfahren, die als Kindsmorderin im Kerker auf die Hinrichtung wartet. Die Hochgerichtserscheinung hatte indes nicht, wie Schone sagt, das reale Fortwirken der "Tatbestande" inquisitorischer Hexenprozesse "bis ins 18. Jahrhundert hinein" aufgezeigt,43 sondern die Stigmatisierung Margaretes durch den Geist ihrer eigenen Gesellschaft gedeutet. 1m Rekurs auf die Inquisition ware die Entstehung des Bosen aus der biirgerlichen Tugend gespiegelt und
39
FA 1. Abt., VIII1, 557f.
40
Schone (Anm. 5), 184.
41
FA 1. Abt., VIII1, 559.
42
Schone (Anm. 5), 184. Schone (Anm. 5), 189.
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uberzeichnet worden. In beiden Fallen sind die vermeintlich Reinen selbst bose und "schwarz", da sie einen Menschen, namlich eine Kindsmorderin, zur Verkorperung des bosen Prinzips erklaren. So ist das Hochgericht in den Paralipomena zu verstehen: als ein der Kirchengeschichte entlehntes dichterisches Bild fur jenes niedere Gericht, das die Gesellschaft der Neuzeit uber ihre Sunder halt. In der tatsachlich veroffentlichten ,Walpurgisnacht' kehrt der bose Geist der Sozietat nicht im historischen Bild der Inquisition, sondern in Fausts Phantasie wieder. Die Ersetzung der Hochgerichts-Erscheinung durch die ebenso wonnewie leidvolle Hinrichtungsvision des Protagonisten fiihrt von den bosen Kraften der katholischen Ketzerverfolgung hin zu dem Bosen im Inneren der Menschen, das abgrundig mit dem Guten verquickt ist, und lokalisiert dieses Bose auch in Faust. Das Hochgericht hatte schwerlich mit Fausts Innerem identifiziert werden konnen und fand wohl vor allem deshalb im veroffentlichten Werk keine Beriicksichtigung. Mit einer mythologischen Anspielung bringt Mephisto Faust von dem leblosen "Zauberbild" oder "Idol" und damit von der Besinnung auf sein Gewissen ab: Vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut, Und er wird fast in Stein verkehrt, Von der Meduse hast du ja gehort. (4192ff.) . . . . Sie kann das Haupt auch unterm Arme tragen; Denn Perseus hat's ihr abgeschlagen. Nur immer diese Lust zum Wahn! (4206ff.) Der Medusa, bei deren direktem Anblick jeder zu Stein erstarrt, nahert sich Perseus, indem er sie nur in der Spiegelung seines Schildes betrachtet. Er iiberwindet ihre versteinernde Macht, indem er ihr den Kopf abschlagt. Faust hingegen sol!, urn der Erstarrung zu entgehen, sich von dem Zauberbild einfach abwenden. Als vorbildlich gilt Perseus' Haltung, die lahmende Macht, die hier neuzeitlich als Wahn des Gewissen verstanden wird, nicht anzuerkennen. Die Erscheinungen des Walpurgis-Bordells geben Faust dreifach Gelegenheit, sich zur moralischen Besinnung zu erheben. Dreimal weicht er den Besinnungszeichen jedoch aus: Angesichts der Mordinstrumente vergiRt er ,sich selbst' als Tater. Vor dem Bild Liliths, die keinen Mann wieder fahren liiRt, laRt er die Erinnerung an Gretchen fahren und tanzt mit der nackten Schonen. Und von der Vision der toten, enthaupteten Margarete laRt er sich - wie es in der Szene ,Triiber Tag. Feld' heiRt - "in abgeschmackten Zerstreuungen" ablenken.
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V. Das "Theater" auf dem Theater (4213) in der Szene ,Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Titanias Goldne Hochzeit' ermoglicht auf der Ebene der Figurenpsychologie eine Zerstreuung von Fausts aufdammerndem SchuldbewuRtsein. Oberons an Shakespeares Komodie Ein Sommernachtstraum geschulte Weisheit Gatten die sich vertragen wollen, Lernen's von uns beiden! Wenn sich zweie lie ben sollen, Braucht man sie nur zu scheiden (4243ff.)
suggeriert die triigerische Moglichkeit einer Wiederverbindung: auch das Drama urn Faust und Margarete konne noch zur ,Romance', zur Liebesverwicklung mit Happy End werden. 1m Sinne dieser triigerischen Moglichkeit rat Mephisto spater zu Entfiihrung und Flucht. Auf asthetischer Ebene gewahrt der ,Walpurgisnachtstraum' den Rezipienten Zerstreuung, indem er die ernste Problematik des Bosen in dem heiteren Genre einer Dilettantismus-Satire spiegelt. 44 Die zutreffende Bemerkung, daR der persiflierte kiinstlerische Dilettantismus "in unmittelbare Nahe des SittlichOberflachlichen geriickt ist" bzw. "nahe am Sittlich-Minderwertigen steht,,45 und somit die Faust-Thematik spiegelt, gewinnt ihr voiles Gewicht erst, wenn man beriicksichtigt, daR Goethe in jener Zeit, da die Musenalmanach-Fassung der Dilettantismus-Satire entstand, mit Schillers asthetisch-sittlichem Bildungsprogramm sympathisierte und schlecht durchgestaltete, disharmonische Kunst immer auch im Hinblick auf die mangelhafte Ausbildung und innere Disharmonie der sittlichen Personlichkeit kritisierte. Genau darum geht es im ,Walpurgisnachtstraum': Zu den dissonanten Klangen des Insektenorchesters treten Tanzer auf, die sich iiber den Takt von Schritten und Spriingen nicht einigen konnen (4263ff.). Es erscheinen kiinstlerische "Irrlichter " , die den Platz des Genies, namlich der "Sternschnuppe", usurpieren (4375ff.). Da gibt es die auf ihren Vorteil bedachten "Gewandten", die sich der verkehrten Welt anpassen, indem sie "auf den Kopfen" gehen (4367ff.). Und die "Massiven", "Geister" mit "plumpe[n] Glieder[n]", fordern unverbliimt "Platz und Platz" 44 Als solche hatte Goethe ein Teil der Szene urspriinglich fiir Schillers Musenalmanach fiir das Jahr 1798 entworfen. Zur Dilettantismusthematik, die hier nicht im einzelnen erortert werden kann, seien vier Studien hervorgehoben: Max Morris, "Die Walpurgisnacht", Euphorion 6 (1899), 683-716; O. Maurer, "Der Walpurgisnachtstraum als Gehalts- und Gestaltteil der Faustdichtung", Zeitschrift fur Deutschkunde 43 (1929), 138-156; Hippe (Anm. 4); Walter Dietze, "Der ,Walpurgisnachtstraum' in Goethes ,Faust' - Entwurf, Gestaltung, Funktion", in: W.H., Erbe und Gegenwart. Aufsatze zur vergleichenden Literaturwissenschaft, Berlin, Weimar 1972, 193-219. 45 Hippe (Anm. 4), 70; Maurer (Anm. 44),148.
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(4383ff.). Die Satire selbst, die den schlechten Zustand kritisiert und auf einen besseren zielt, kann nicht anders, als an diesem Verdrangungskampf teilzunehmen und "mit kleinen scharfen Scheren" ihrerseits dem bosen Prinzip zu folgen, wie die als Kinder Satans auftretenden Goethe-Schillerschen "Xenien" bekennen (4303ff.). Ihr dialektischer Anspruch, Boses im Dienste des Guten zu tun, wird von dem auftretenden Xenien-Kritiker Hennings zuruckgewiesen: Er bestreitet, daIS die Xenien "gute Herzen" haben (4307ff.). Die offene Ambivalenz des Guten und des Bosen wird hier am Gegenstand der Satire selbstreferentiell thematisiert. Auch die zerstrittenen Philosophen, die uber Teufel und bose Geister disputieren, haben nichts, das sie eint - es sei denn MilStone: Das haBt sich schwer, das Lumpenpack, Und gab' sich gern das Restchen; Es eint sie hier der Dudelsack, Wie Orpheus Leier die Bestjen. (4339 n.)
In dem disharmonischen Diskurs der Philosophen werden nun all jene Vorstellungen vom Bosen negiert, die in dem Drama kraft der dialektischen Gestaltung uberwunden sind. Diese Reflexion auf die zentrale Thematik des Faust macht den ,Walpurgisnachtstraum' in unserem Zusammenhang interessant: Die Interpretation der Philosophen-Sequenz gibt Gelegenheit zum Resumee. Den Philosophen mulS auch der "Kranich" zugerechnet werden, mit dem Goethe - Eckermanns Aufzeichnung eines Gesprachs vom 17. Februar 1829 zufolge - den Physiognomiker und einstigen Freund Johann Kaspar Lavater meint: 46 NEUGIERIGER REI SENDER. Sagt, wie heiBt der steife Mann? Er geht mit stolzen Schritten. Er schnopert, was er schnopern kann. "Er spiirt nach Jesuiten. ,,47
46 "Sein Gang war wie der eines Kranichs, weshalb er auf dem Blocksberg als Kranich vorkommt" (MA lXX, 287). 47 Die Kommentare besagen fast durchgangig, mit dem Neugierigen Reisenden sei wiederum auf Friedrich Nicolai und dessen Schrift Reise durch Deutschland angespielt, da, wie etwa Trunz schreibt, "Nicolai ... groB darin war, iiberall Jesuitisches zu wittern" (Erich Trunz, "Anmerkungen des Herausgebers", in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdnden, hrsg. E. T., 10. Aufl., Miinchen 1976,461-682, hier: 531). Das wiirde bedeuten, daB der Neugierige Reisende in der 3. Person Singular von sich selbst als Jesuitenspiirer sprache. Damit stiinde er alleine da; die anderen sagen "ich" oder "wir". Die Worte des Reisenden beziehen sich auf den Kranich - nicht nur grammatisch wegen der 3. Person, sondern auch in Hinblick auf den steifen, kranichhaften Gang. "Neugierig" ist zudem ein bei Goethe durchgangig positiv konnotiertes Attribut, das auf den bornierten Rationalisten und "Proktophantasmisten" Nicolai gerade nicht paBt.
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Thomas Zabka KRANICH. In dem Klaren mag ich gem Und auch im Triiben fischen; Darum seht ihr den frommen Herm Sich auch mit Teufeln mischen. WELTKIND. Ja, fiir die Frommen, glaubet mir, ist alles ein Vehikel; Sie bilden auf dem Blocksberg hier Gar manches Konventikel. (4319 ff.)
Angespielt wird auf Lavaters Physiognomik, die aus der Anatomie den Charakter und damit auch die bose oder gute Anlage eines Menschen lesen wollte. Wenn einige Menschentypen auBerlich als " Teufel " erscheinen, sollen damit die schoneren Physiognomien zu Erscheinungen des Gottlichen erhoben werden - das bedeutet die Rede yom "Vehikel". Mit Hilfe des" Triiben" will der Kranich kontrastiv das "Klare" zur Darstellung bringen. Nun sucht der Kranich nicht nach irgendwelchen Teufeln, sondern speziell "nach Jesuiten", den bosen Geistern der Gegenreformation. Bemiiht, in den Jesuiten das Teuflische auszumachen, bilden die Frommen "auf dem Blocksberg ... Konventikel" - letzteres ist ein Ausdruck fiir die pietistischen Zirkel. Das Unterfangen dieser Frommen, durch die eindeutige Identifikation des Gegenreformatorisch-Teuflischen auf das Pietistisch-Reine zu schlieBen, gehort selbst auf den Blocksberg, auch ihm kommt das Attribut bose zu. Dieser polemische Sinn der Kranich-Passage gibt weiteren AufschluB dariiber, warum Goethe die Hochgerichtserscheinung nicht in die ,Walpurgisnacht' aufnahm. Auch das inquisitorische Hochgericht hatte im Kampf urn die reine Lehre yom Christlich-Guten ein Menschliches zum eindeutig Bosen oder Teuflischen erklart und ware dadurch selbst bose geworden. In der KranichPassage treibt Goethe, der sich vermutlich selbst als "Weltkind" auftreten laBt,48 seine Kritik an diesem Vorgehen der "Frommen" auf die Spitze: Ahnlich wie die Inquisition es mit den Haretikern tat, erklaren hier nun Pietisten die katholischen Gegenreformatoren und Anwalte der Inquisition eindeutig zu Kraften des Bosen und werden damit selbst zu Objekten der Kritik. Die Hochgerichtserscheinung hatte im Sinne Lavaters und der Pietisten miBverstanden werden konnen: Die Inquisitoren seien die wahrhaft Bosen, wogegen deren Opfer Margarete am SchluB zur Heiligen werde. 49 Die Hochgerichtserscheinung als Vehikel religioser Reinheitsvorstellungen - dieses MiBverstand-
48 Zum Gegensatz von Kranich und Weltkind vgl. Goethes Gedicht mit den Anfangsversen: "Zwischen Lavater und Basedowl SaS ich bei Tisch des Lebens froh" (1774). Die beiden Christen disputieren noch iiber die Ratsel der johanneischen Offenbarung und das Sakrament der Taufe, als Goethe bereits "ein Stiick Salmen aufgespeist" und "einen Hahnen aufgefressen" hat. Der SchluS lautet: "Prophete rechts, Prophete links,! Das Weltkind in der Mitten" (FA 1. Abt., I, 163 f.). 49 So Schone (Anm. 5), 175.
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nis schloR Goethe durch Weglassung aus und fiigte statt dessen eine Polemik gegen die Vehikel-Logik pietistischer Konventikel ein. Die Position des Kranichs taucht im Reigen der Philosophen noch einmal als Meinung des "Supernaturalisten" auf. Zunachst begriinden zwei andere Figuren die Existenz boser Geister. Der "Dogmatiker" liefert eine Variante des ontologischen Gottesbeweises: "Ich lasse mich nicht irre schrein,! Nicht durch Kritik und Zweifel.! Der Teufel muR doch etwas sein;/ Wie gab's denn sonst auch Teufel?" (4343 ff.). Mit Kritik und Zweifel sind die ignorierten Positionen der kantischen Philosophie und des Skeptizismus gemeint. Der Idealist hingegen begreift in seine Rede die kritische Philosophie ein, wenn er das fragliche Wesen als Produkt seiner Einbildungskraft bezeichnet: "Die Phantasie in meinem Sinn! 1st diesmal gar zu herrisch.l Fiirwahr, wenn ich das alles bin,! So bin ich heute narrisch" (4347ff.). Wenn die Welt - wie Fichte sagteine Hervorbringung der Einbildungskraft ist, dann muR der idealistische Philosoph genauso verriickt sein wie die Welt - so die heitere Polemik Goethes. Der "Supernaturalist" nun schert sich urn die Begriindungsprobleme der beiden anderen nicht, wenn er wie der Kranich das Wesen des Bosen in dessen Vehikelfunktion begreift: Denn von den Teufeln kann ich ja Auf gute Geister schlieRen. (4353f.)50 Der "Realist" als ein moglicher Gegner dieser Denker kann das teuflische "Wesen" nicht erfassen und muR bekennen, er stehe hier "Nicht fest auf [s]einen FiiRen" (4351£f.). Ahnlich wie der Proktophantasmist in der ,Walpurgisnacht', der dem Geisterwesen anheimfallt, weil er es leugnet, verliert dieser Realist den Boden der Realitiit unter den FiiBen, weil ersich zum Geist nicht aufzuschwingen vermag. So vertritt nur der "Skeptiker" eine echte Gegenposition zu den anderen: Auf Teufel reimt sich Zweifel nur, Da bin ich recht am Platze. (4397f.) Auch in diesen Versen liegt aber eine immanente Kritik: Zweifel reimt sich auf Teufel, weil der bloRe Skeptizismus selbst eine bose Position ist. Wer beim Zweifel stehenbleibt, verzichtet - mit dem Titel des schon zitierten Gedichts gesprochen - auf das Gottliche, das in dem Vermogen liegt, zwischen Gut und Bose zu "unterscheiden" und zu "richten". Die Philosophensatire im ,Walpurgisnachtstraum' ist eine literarische Reflexion auf Haltungen gegeniiber dem Bosen, die das Faust-Drama gerade nicht reproduziert: Das Bose wird keiner Figur einseitig und eindeutig zugeschrieben. Es wird nicht als dogmatisches Prinzip gestaltet. Ebensowenig ist der 50 Dietze (Anm. 44), 202, vermutet eine Anspielung auf Jacobi.
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Autor des Faust ein ethischer Skeptizist, der bose Taten neutral darstellte und bei jenem amoralischen Indifferentismus stehenbliebe, der ein gangiges, falsches Paradigm a der Goethe-Kritik ist. Und schlielSlich wird die Existenz geistiger Krafte nicht einfach im Sinne eines planen Realismus oder Materialismus geleugnet. Das Drama selbst markiert eine Position, die zwar realistisch ist, insofern sie sich den Erscheinungen des Menschlich-Guten und des Menschlich-Bosen zuwendet, anstatt das Bose aus iiberkommenen Weltanschauungen zu iibernehmen oder aus dem transzendentalen Subjekt zu deduzieren, wie Dogmatiker und Idealist in der Satire es wollen. Dieser Realismus steht angesichts der geistigen Herausforderung des Bosen jedoch ,fest auf seinen FiilSen', weil er zwei Momente der idealistischen Position iibernimmt: Er erkennt die Bedeutung der Geister als Ausdrucksformen menschlicher Erfahrung an, und er vertraut der Phantasie als einem Vermogen, das die realen Erscheinungen des Guten und des Bosen asthetisch transformiert und ihnen eine dialektische Struktur vorgibt, in der die schwer begreifbaren Interferenzen beider Seiten angemessen Darstellung finden.