Originalarbeit Forum Psychoanal 2005 · 21:184–200 DOI 10.1007/s00451-005-0236-7 Online publiziert: 12. Mai 2005 © Springer Medizin Verlag 2005
Michael Klöpper · Hamburg
Die Bedeutung der Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurowissenschaften für den psychoanalytischen Prozess
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ch möchte darstellen, welche Bedeutung die Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung bereits seit der Mitte des letzten Jahrhunderts für das Verständnis der Entwicklung des Selbst und das der psychoanalytischen Behandlung haben. Diesen Befunden sind in den letzten 10–15 Jahren entwicklungspsychologische und neuropsychologische Erkenntnisse der Bindungstheorie und Neurowissenschaften zur Seite getreten, die hier knapp skizziert werden. Alle Befunde zusammen erlauben es, die Entwicklung des Selbst differenzierter zu vestehen. Und die Summe dieser Befunde modifiziert die Aufmerksamkeit und Haltung des Analytikers bei seiner Arbeit auf dezente Weise, ermöglicht die Entwicklung und Integration spezifischer Interventionen in die psychoanalytische Behandlungstechnik und erlaubt es, auch den psychoanalytischen Prozess differenzierter zu verstehen. Im Aufsatz werden am Beispiel einer Behandlungsvignette einige Vorschläge zur Technik der Psychoanalyse vorgestellt, die aus Konzepten der psychoanalytischen Säuglingsforschung abgeleitet sind. Zugleich soll auch gezeigt werden, wie diese neue Entwicklung der Psychoanalyse in der Tradition der Objektbeziehungspsychologie und der Selbstpsychologie steht. Die Darstellung dieser Arbeit folgt kontinuierlich der grundlegenden Annahme, dass die analytische Beziehung dem Patienten in Analogie zur Mutter-Kind-Dyade eine komplexe Funktion zur Verfügung stellt, die eine das Selbst konstituierende Wirkung hat. Daher wird sowohl die Entwick-
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lung des Kindes als auch die des Analysanden unter dem Aspekt betrachtet und beschrieben, wie diese Wirkung zustande kommt.
Zur Geschichte der Integration der Ergebnisse der Kleinkindforschung in das Verständnis der Entwicklung des Selbst Beginn der psychoanalytischen Säuglingsforschung Die Geschichte der konkreten psychoanalytischen Säuglingsforschung begann in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit den Arbeiten von René Spitz. Jedenfalls war er der erste Analytiker, der mit kontinuierlichen Filmaufzeichnungen als Mittel der Kleinkindbeobachtung den Versuch unternahm, die psychoanalytische Entwicklungspsychologie um die Dimension des direkt Beobachtbaren zu bereichern. Allerdings waren seine Befunde lange Zeit nicht willkommen. Als er 1952 vor der New York Academy of Medicine einen Vortrag hielt, bei dem er einen Film aus dem Jahr 1947 mit dem Titel „Tiefe Trauer, eine Gefahr für die Kindheit“ („Grief, a Peril in Infancy“) zeigte, „reagierten die Zuschauer zutiefst erschüttert auf die Verzweiflung und Tragik, die sie in den Augen Überarbeitete Fassung eines Vortrages vor der Arbeitsgemeinschaft für integrative Psychoanalyse, Psychotherapie u. Psychosomatik (APH, Hamburg) am 06.04.2003 und anlässlich der Psychotherapie-Tage auf Langeoog im Mai 2003.
Zusammenfassung · Abstract Forum Psychoanal 2005 · 21:184–200 DOI 10.1007/s00451-005-0236-7 © Springer Medizin Verlag 2005
Michael Klöpper
Die Bedeutung der Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurowissenschaften für den psychoanalytischen Prozess Zusammenfassung Die Ergebnisse von Säuglingsbeobachtungen und der Interaktionen in der Mutter-Kind-Dyade gingen bereits früh im Verlauf der Theoriegeschichte der Psychoanalyse in deren entwicklungspsychologische, psychodynamische und behandlungstechnische Überlegungen ein, beispielsweise bei Spitz und Winnicott. Winnicotts Konzept vom „wahren Selbst“ (1960) hat noch heute Aktualität. Aus heutiger Sicht (Fonagy et al. 2004) fällt ein Teil des Selbst bereits früh aus dem Mutter-Kind-Dialog heraus, indem er von der Mutter nicht oder nur unzulänglich „gespiegelt“ wird und deshalb nicht integriert werden kann. Klöpper zeigt, dass es zum impliziten Beziehungswissen des Kindes und des späteren Patienten gehört, dass bestimmte Seiten seines emotional-affektiven Erlebens keinen Eingang in seine aktuellen Beziehungen finden können. Hier setzen behandlungstechnische Konzepte von Psychoanalytikern unter den Säuglingsforschern (Beebe u. Lach-
mann 2002; Stern 1998) an und zeigen Wege auf, wie das „wahre Selbst“ wieder zu beleben ist. So jedenfalls interpretiert der Autor deren Konzepte und zeigt an einer Behandlungsvignette die Grundzüge des behandlungstechnischen Vorgehens dabei. Klöpper schlägt vor, den Zustand des Selbst während der analytischen Arbeit stets unter drei Gesichtspunkten zu reflektieren: (1) entwicklungsbedingte Defizite, (2) ungelöste Konflikte und (3) „Kolonisierung“ durch Affektzustände der primären Beziehungspersonen (Fonagy et al. 2004). Den Ergebnissen der Säuglingsforschung entnimmt er drei behandlungstechnische Prinzipien (s. u.). Die kontinuierliche Beachtung dieser Prinzipien ermöglicht das Bewusstwerden impliziten Beziehungswissens (Lyons-Ruth 1998), lässt neues implizites Beziehungswissen entstehen und ermöglicht dem Analysanden die Bildung sekundärer Repräsentanzen seiner Affekte (Fonagy et al. 2004).
The importance of infant research, attachment theory and neurosciences for the psychoanalytic process Abstract The results of infant observation and of the ineractions in the mother-child-dyad were early in the development of psychoanalytic theory included into the considerations about developmental psychology, psychodynamics and treatment techniques, e.g. by Spitz and Winnicott. Winnicott‘s concept of the “true self” (1960) is still valid. In contemporary view (Fonagy et al. 2004) one part of the self is excluded from the mother-child-dialogue being not at all or insufficiently “mirrored” by the mother. Consequently, it cannot be integrated. Klöpper shows that implicit relational knowledge of the child or patient includes the recognition, that some parts of his emotional-affective experience cannot be brought into his actual relationships. At this point, technical concepts of the psychoanalysts among the infant researchers (Beebe u. Lachmann
2004; Stern et al.1998) are helpful to show the ways how to revive the “true self”. At least, this is the view of the author about these concepts. He also presents a case study to demonstrate the technical procedure in this reviving process. Klöpper proposes to reflect the state of self during the analytical process continously under three point of views: 1. developmental deficits; 2. unsolved conflicts; 3. “colonization” by the affective states of primary attachment persons (Fonagy et al. 2004). The results of infant research show him three treatment technical principles. The continuous application of these principles allow that implicit relational knowledge becomes conscious (Lyons-Ruth 1998), new implicit knowledge can develop and secondary representations of the own affects can be formed (Fonagy et al. 2004)
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Originalarbeit und auf den Gesichtern der Babys lasen, die von ihren Müttern verlassen worden waren (die Mütter waren gestorben oder sahen sich außerstande, für ihre Kinder zu sorgen).“ Seine Tochter berichtete später: „Schweigend, ohne meinen Vater anzusehen, verließen seine Kollegen am Schluss der Veranstaltung den Saal... In jener Zeit, während der 50-er Jahre, fiel es den Menschen schwer zu glauben, dass Säuglinge auf eine zuverlässige Betreuung angewiesen sind, um sich normal entwickeln zu können. Dass ihnen die Trennung von der Mutter Schaden zufügt, war damals noch nicht allgemein anerkannt“ (E.M. Spitz-Blum, in: Spitz 2000, S. 10 ff.). Später gingen die Ergebnisse seiner Beobachtungen mit dem Konzept der „Organisatoren der Psyche“ (Spitz 1967) in den „common sense“ der analytischen Entwicklungspsychologie ein. Winnicotts Konzept vom „wahren Selbst“ Winnicott bezog, ähnlich wie Spitz, aus der Vielzahl seiner Erfahrungen als Kinderarzt Anregungen für die Psychoanalyse aus den direkten Beobachtungen an Kleinkindern. Seine Aufmerksamkeit galt u. a. der psychoanalytischen Behandlung von strukturell früh gestörten Patienten, die wir heute als narzisstisch-defizitäre Persönlichkeiten bezeichnen, z. B. mit Angst, Depression, Essstörungen oder Psychosomatosen. Ihre strukturelle Störung, also die erkennbare Beeinträchtigung ihrer psychischen Struktur, besteht darin, dass ihr Selbsterleben und ihre Selbstwahrnehmung gestört sind. Sie können sich in der Regel nicht richtig fühlen, d. h. sie können ihre emotionale und affektive Innenwelt nur unvollständig wahrnehmen. Winnicott hat diese Patienten 1960 in seiner Arbeit „Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Selbst“ beschrieben. Er hat den Begriff des „falschen Selbst“, der zu dieser Zeit bereits im klinischen Gebrauch war, in den theoretischen Rahmen der Psychoanalyse gestellt. Danach stellt das „falsche Selbst“ eine Abwehrorganisation dar, deren Sinn darin besteht, „das wahre Selbst zu verbergen und zu schützen“ (Winnicott 1960, S. 185). Klinisch stellt sich diese Abwehr als Spaltung dar (Winnicott 1960, S. 191, 196). Diese Patienten sind in der Regel auch in ihrem intentionalen, motivationalen oder triebhaften Leben beeinträchtigt. Wenn ich hier von einer narziss-
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tisch-defizitären Struktur spreche, so greife ich dabei auf einen Narzissmusbegriff zurück, wie ihn Mentzos (1984) beschrieben hat: „Narzissmus als System des Selbst meint... alle Bedürfnisse, Befriedigungen, Affekte, Mechanismen usw., die bei der Selbstkonstitution, Selbstentfaltung und insbesondere der Regulation des Selbstgefühls beteiligt sind. Mit dem Adjektivum narzisstisch werden... z. B. Objektbeziehungen, die zur Erhöhung des Selbstwertgefühls oder Selbstidentität beitragen, bezeichnet“ (S. 52, Hervorhebung im Original). Die Konstitution des Selbst wird hier als Prozess einer Entwicklung verstanden. Winnicott’s Analysand, der englische Analytiker Harry Guntrip, fragt in einem Beitrag für das International Journal of Psycho-Analysis „Was ist psychoanalytische Psychotherapie?“ (1975, dt. 1997) und antwortet: „Wie ich sehe, versorgt sie uns mit einer verlässlichen und verstehenden menschlichen Beziehung in einer Weise, die Kontakt zu dem tief verdrängten traumatisierten Kind in uns erlaubt und die uns befähigt, trotz der Traumata der frühen prägenden Jahre, welche aus dem Unbewussten durchsickern oder ins Bewusstsein dringen, in der Sicherheit einer erneuten Beziehung lebendiger zu werden.... Es ist ein Interaktionsprozess, eine Funktion mit zwei Variablen, zwei Persönlichkeiten, die zusammen arbeiten in Richtung eines freien spontanen Wachstums. Der Analytiker wächst ebenso wie der Analysand. Bleibt ein Analytiker im Umgang mit solch persönlichen Erfahrungen starr, ist etwas nicht in Ordnung“ (S. 696 ff.). Guntrips Arbeit ist ein Beispiel für die Entwicklung der Psychoanalyse auf dem Weg von der „one-body psychology“ (Balint, zit. nach Mertens 2000, S. 92) zur Objektbeziehungspsychologie, die sich gegenwärtig fortsetzt zum Verständnis der analytischen/therapeutischen Dyade als System. Diese Sichtweise klingt bereits bei Guntrip (1975) an. Guntrip schildert seine Erfahrungen in Analysen bei Fairbairn und Winnicott und darin sein lebenslanges Ringen um die Bewältigung einer spezifischen Dimension der Erfahrung mit seiner Mutter, nämlich deren ausgeprägtem Mangel an Einfühlungsfähigkeit. So berichtet er über den Tod seines Bruders, dass seine Mutter ihm später davon erzählt habe: Er sei „im Alter von dreieinhalb Jahren ins Zimmer gekommen [...] und [habe] Percy nackt und tot auf ihrem Schoß lie-
gen gesehen [...]. Ich sei zu ihr gerannt, habe ihn gepackt und gesagt: ‚Laß ihn nicht gehen. Du bekommst ihn nie zurück!‘ Sie habe mich aus dem Zimmer geschickt und ich sei in beängstigender Weise krank geworden und schien zu sterben. Ihr Arzt habe gesagt: ‚Er stirbt aus Trauer um seinen Bruder. Wenn Ihre Mütterlichkeit ihn nicht retten kann, ich kann es nicht.‘ Deshalb habe sie mich zu einer Tante mütterlicherseits gebracht, die eine Familie hatte, und dort habe ich mich erholt. Sowohl Faibairn als auch Winnicott meinten, dass ich gestorben wäre, wenn sie mich nicht von sich weggeschickt hätte“ (Guntrip 1975, S. 685 ff.). Auf den ersten Blick erscheint der Tod des Bruders für das Kind Guntrip wie ein Trauma; das wird es gewiss auch gewesen sein. Aber dahinter verbirgt sich eine tiefere Dimension von dramatischem Ausmaß, nämlich das Unvermögen der Mutter, dem überlebenden Kind ihre Mütterlichkeit zur Verfügung zu stellen. An Guntrips Aufsatz ist für den spezifischen Aspekt der „Nachreifung des Selbst in der Analyse“, dem ich mich zuwenden möchte, bedeutsam, was seine Auseinandersetzung in der Analyse bei Winnicott im Unterschied zu der bei Fairbairn ergibt. Nachreifung des Selbst in der Analyse Fairbairn habe ihm immer wieder gedeutet, dass seine ödipale Phase durch „internalisierte böse Objekte“ geprägt gewesen sei, und dass seine „schizoiden Erlebnismuster“ als „Rückzug im Sinne einer Flucht“ zu interpretieren seien (Guntrip 1975, S. 680). Eintausend Stunden Analyse hätten jedoch nicht vermocht, ihn von einem zentralen Leid seines Lebens zu befreien. Über seine Erfahrung mit Winnicot bemerkt er dagegen: „Ich kann hier kaum darstellen, welch gewaltigen Eindruck es auf mich machte, wie Winnicott auf die Leere der ‚Objektbeziehungssituation‘ zusteuerte, die ich in meiner frühen Kindheit mit meiner versagenden Mutter erlebt hatte... Endlich hatte ich hier eine Mutter, die ihr Kind zu schätzen vermag, und so konnte ich mit dem umgehen, was kam“ (Guntrip 1975, S. 692 ff.). Rückblickend urteilt er: „Jetzt war Winnicott in eine lebendige Beziehung mit genau dem früheren verlorenen Teil meines Selbst getreten, der krank geworden war, weil meine Mutter versagt hatte. Er hatte ihren Platz eingenommen und machte es möglich und sicher, sie in einem nochmaligen
Durchleben ihrer lähmenden schizoiden Ferne zu erinnern“ (Guntrip 1975, S. 696). Guntrip’s Darstellung von sich selbst können wir heute als die einer narzisstisch-defizitären Störung im Sinne von Mentzos beschreiben. Dabei fehlen dem Selbst benennbare Elemente der psychischen Struktur, wie etwa die Fähigkeit der Beziehung zu sich selbst, besonders zum „wahren Selbst“ im Sinne Winnicott’s. Weiter fehlt die Fähigkeit, diesen Teil des eigenen Selbst zu reflektieren. Die narzisstisch-defizitäre Störung Narzissmus als „Sich-selbst-nicht-Kennen“ Der Begriff „narzisstisch-defizitär“ gibt Anlass, kurz den Wurzeln des Begriffs Narzissmus in der Mythologie nachzugehen. Der Begriff geht zurück auf Ovid (P. Ovidius Naso), der den griechischen Mythos in seinen „Metamorphosen“ schildert und berichtet, dass Artemis den Narkissos (griech.; lat: Narcissus) mit unerfüllbarer Selbstliebe strafte. Daher verliebte er sich, als er eine klare Quelle fand, in sein Selbstbildnis und schaute Stunde um Stunde verzückt in das Wasser. Doch wie konnte er es ertragen, seine Liebe zu besitzen und doch nicht zu besitzen. Kummer quälte ihn endlos, und er erfreute sich an der Qual, bis er sich, vom Schmerz übermannt, den Dolch in die Brust stieß. Dieser Ausschnitt aus dem Mythos stand Pate für den Begriff Narzissmus als Bezeichnung für eine unerfüllbare Selbstliebe. Doch er schildert nur einen Ausschnitt des Mythos und lässt den Beginn uner wähnt. Danach war Narkissos der Sohn der blauen Nymphe Leiríope, die der Flussgott Kephissos einst mit seinen gewundenen Flüssen umschlungen und hernach vergewaltigt hatte. Der Seher Teiresias sagte Leiríope, als sie ihn um Rat fragte: Narkissos werde sehr alt werden – „aber nur, wenn er sich niemals selber kennt“ (Gottwein 2005, Buch III, Vers 348). Dieses „Sich-selbst-nicht-Kennen“ ist es, was das Wesen des Narkissos nach dem Mythos auszeichnete. Wollte man versuchen, seine Psychodynamik zu verstehen, so müsste man annehmen, dass sein „Sich-selbst-nicht-Kennen“ ihn unbewusst furchtbar gequält haben muss. So würde jedenfalls verständlich, dass Narkissos froh und glücklich war, als er sich in der klaren Quelle erForum der Psychoanalyse 2 · 2005
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Originalarbeit kannte. Endlich hatte er gefunden, wonach er so lange gesucht hatte, ein Bild von sich selbst. Freilich hatte er unbewusst gesucht und nur vermeintlich gefunden: Ihm war der Blick auf sich selbst freigegeben, allerdings nur auf das, was er für sich selbst hielt, sein optisches Spiegelbild. In dieser Interpretation klingt eine zeitgenössische Sichtweise des Narzissmus-Verständnisses an, wie sie Martin Altmeyer (2000) formuliert. Narzissmus als intersubjektiv vermittelte Selbstbeziehung Danach lässt sich „der Narzissmus... nicht länger als objektlose Selbstbezogenheit konzipieren“ (2000, S. 228). Er arbeitet vielmehr heraus, in welch großem Ausmaß Narzissmus von Geburt an in Wünschen nach „Versorgtwerden, Gesehenwerden, Geliebtwerden, Anerkanntwerden“ (ebd.) wurzelt. Dem Objekt, also der Mutter, wird als Begleiter der kindlichen Entwicklung eine „konstitutive Funktion“ (Altmeyer 2000, S. 229) zugesprochen. Nach Altmeyer und in Übereinstimmung mit grundlegenden Annahmen der Selbstpsychologie, der Säuglingsforschung und der Bindungstheorie ist es die psychische Funktion der Pflegepersonen, des Vaters ebenso wie der Mutter, die sich in der Struktur des kindlichen Selbst als identitätsbildendes Gefühl festsetzt. Die psychischen Funktionen der frühen Pflegepersonen werden zu einem Teil der „selbstverständlichen seelischen Grundausstattung des Selbst“ (ebd.). Indem das werdende Selbst des Kindes die Funktionen des Objektes in sich aufnimmt, entwickelt es ebenso wie die Eltern auch die Fähigkeit sich selbst zu betrachten. Diese Fähigkeit zur Selbstbetrachtung nimmt Altmeyer zu einem entscheidenden Kern der Entwicklung des Narzissmus (verstanden im Sinne von Mentzos als System des Selbst) und erklärt seine zentrale These: „Der Narzissmus kann als intersubjektiv vermittelte Selbstbeziehung verstanden werden, die an die Erfahrung der Anerkennung durch Objekte gebunden ist; er setzt Selbstreflexivität voraus, also einen Blick auf das Selbst aus der Perspektive des Anderen“ (Altmeyer 2000, S. 227). Verkürzt – quasi schlagwortartig – kann man sagen: Das Selbst entsteht durch den Blick in den Spiegel, der der Andere für das Kind ist, die Mutter oder der Vater. Freilich handelt es sich um einen
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gebrochenen Spiegel, der Bilder entwirft, aber auch Brüche entstehen lässt. Und eben dieses Nebeneinander von treffender und brechender Spiegelung ist es, das das Selbst entstehen lässt, ihm aber gleichzeitig auch ermöglicht, schrittweise die Kränkung auszuhalten, die es bedeutet, mit dem Anderen nicht eins zu sein. Im Blick in den immer wieder gebrochenen Spiegel, im Blick auf die Mutter und ihre Reaktionen entsteht das Selbst des Kindes. Und im Erblicken der Brüche, in der Erfahrung des Scheiterns der treffenden Spiegelung, mit Schmerz und Wut entsteht der Andere, das Objekt. Wenn aber beide darüber im ständigen Austausch sind, über die Spiegelung ebenso wie über die Brüche, so entsteht das Dritte, von dem Altmeyer spricht, eine gemeinsame Selbstreflexivität, die schrittweise vom Kind verinnerlicht wird und die zugleich die Erfahrung der Intersubjektivität entstehen lässt. Dieses Verständnis der Entwicklung des Selbst und des Narzissmus steht in der Tradition der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie der Prägung Winnicotts, verstanden als deren Fortentwicklung. Diese Sichtweise entspricht auch der der Säuglingsforscher, wie ich gleich zeigen werde. Wir können Narzissmus also mit Mentzos als ein „System des Selbst“ verstehen, das in seiner gesunden Entwicklung das „wahre Selbst“ als Teil der Bewusstheit entstehen lässt. Wenn wir mit Altmeyer unter dem Narzissmus die „intersubjektiv vermittelte Selbstbeziehung“ verstehen, die sich durch Selbstreflexivität auszeichnet und die es dem Subjekt ermöglicht, auf sich selbst aus der Perspektive des Anderen so zu schauen, als wäre es ein Objekt, dann lässt sich klarer beschreiben, was unter dem „defizitären Narzissmus“ zu verstehen ist. Im Fall der narzisstisch-defizitären Störung fehlen dem Selbst benennbare Elemente seiner Struktur, wie etwa die Fähigkeit der Beziehung zum eigenen Selbst, besonders zum „wahren Selbst“ im Sinne Winnicotts. Und es fehlt die Fähigkeit, das eigene Selbst zu reflektieren. Das eine, die mangelnde Fähigkeit der Beziehung zum Selbst beschreibt einen Mangel der emotionalen und affektiven Selbstwahrnehmung, das andere ein Defizit im Bereich des reflexiven Denkens. Beide Fähigkeiten können sich nur in der sicheren Bindung an die primären Pflegepersonen entwickeln. Das belegen die Ergebnisse neuer Forschungen.
Einige aktuelle Befunde der Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurowissenschaften Die Ergebnisse neuer Forschungen gestatten es, die Entwicklung der repräsentationalen Welt des Kindes differenzierter zu verstehen. Die Säuglingsforschung hat gezeigt, dass im ersten Lebensjahr generalisierte Repräsentanzen der Mutter-Kind-Interaktion (RIGs, „representated interactions that have been generalised“; Stern 1992) entstehen. Die Gesamtheit dieser primären Repräsentanzen wird im implizit-prozeduralen Gedächtnis als „implizites Beziehungswissen“ (Lyons-Ruth 1998) niedergelegt. Die Bindungstheorie und in ihrer Folge eine Forschergruppe um Peter Fonagy haben gezeigt, das die sichere Bindung des Säuglings an die frühen Pflegepersonen die Grundlage, ja die funktionale Voraussetzung dafür darstellt, dass das kindliche Selbst eine sichere „sekundäre Repräsentation“ seiner Affekte und eine reife Fähigkeit zur „Mentalisierung“ entwickelt (Fonagy et al. 2004). Und erst die reife Fähigkeit zur Mentalisierung versetzt das Kind in die Lage, eine eigene „Theorie des Mentalen“ („theory of mind“, Fonagy et al. 2004, S. 34 f.) zu entwickeln, die es ermöglicht, komplexe Vorstellungen von sich selbst und anderen zu bilden. Charakteristikum dieser komplexen Vorstellungen ist es, dass das Kind nun in der Lage ist, Verhalten Bedeutung zuzuweisen. Damit kommt es in die Lage, symbolische Repräsentanzen zu bilden. Ich möchte diese Entwicklungsschritte mit Blick auf deren klinische Bedeutung kurz weiter skizzieren. Gesamtheit der primären Repräsentanzen als implizites Beziehungswissen Die Säuglingsforschung hat in Übereinstimmung mit der neuropsychologischen Forschung herausgearbeitet, dass wir beim Menschen zwei Gedächtnissysteme unterscheiden müssen, das implizitprozedurale und das explizit-deklarative Gedächtnissystem (Beebe u. Lachmann 2002; Denecke 1999; Götzmann u. Holzapfel 2003; Lichtenberg 1991; Schüßler 2002). Das implizit-prozedurale Gedächtnissystem funktioniert quasi primärprozesshaft, d. h. eine Handlungserfahrung ist unmittelbar mit der Aktivierung eines Gefühlsmusters
verbunden. Dieser Zusammenhang ist in der klinischen Situation häufig zu beobachten: Eine scheinbar geringfügige und bedeutungslose Handlung hat eine vehemente emotional-affektive Reaktion des Patienten zur Folge. Ich werde weiter unten dafür Beispiele geben. Dieses Gedächtnissystem wirkt ganz überwiegend unbewusst und steuert insbesondere die emotionalen Reaktionen, dies aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Seine Grundlagen werden in der frühen Kindheit gelegt und bleiben lebenslang unbewusst wirksam, es sei denn, sie finden Eingang ins sekundärprozesshaft funktionierende explizit-deklarative Gedächtnis. Die Reaktionen des Menschen, die auf der Basis des implizit-prozeduralen Gedächtnisses auftreten, können sich in Form von Handlungen, diffusen Stimmungen und plötzlichen Gefühls- bzw. Affektwechseln äußern. Wir wissen aus der klinischen Praxis, dass Patienten mit strukturellen Störungen des Selbst zum Agieren neigen. Diese Patienten sind häufig nicht in der Lage, ihre Mitteilungen an uns in Worte zu fassen. Statt zu verbalisieren, sind sie darauf angewiesen, Mitteilungen handelnd in Szene zu setzen oder körperlich auszudrücken (Schmidt 2003; Streeck 2000). Dieses bereits lange bekannte klinische Wissen über Inszenieren und Agieren lässt sich heute dank der dargestellten Forschungsergebnisse verstehen als die spezifische Ausdruckweise des implizit-prozeduralen Gedächtnissystems. Dieses System speichert auch das „implizite Beziehungswissen“ (Lyons-Ruth 1998) ab. Die klinische Arbeitsgruppe um den Säuglingsforscher Daniel Stern, die „Process of Change Study Group“ (1998, Stern et al. 2002), hat ausführlich dargestellt, wie sich die präverbalen Repräsentanzen des impliziten Beziehungswissens im therapeutischen Prozess darstellen können. Sekundäre Affektrepräsentation und Mentalisierungsfähigkeit Fonagy und Target (2002) greifen Winnicott’s Konzept vom „falschen Selbst“ (1960) auf. Sie skizzieren die Ergebnisse der Bindungsforschung und kognitiven Entwicklungspsychologie und heben „die Bedeutung der Objektbeziehung für die Entstehung des Selbst als einer Einheit in Interaktion“ (Bohleber 2002, S. 807) hervor. Danach kann das kindliche Selbst erst über die Fähigkeit zur emoForum der Psychoanalyse 2 · 2005
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Originalarbeit tionalen und affektiven Selbstkontrolle verfügen, „wenn sich sekundäre Regulations- oder Kontrollstrukturen über Repräsentationen entwickelt haben“ (Fonagy u. Target 2002, S. 841). Wie bereits die Säuglings- und Bindungsforschung gezeigt hat (z. B. Brisch 1999; Fonagy 2003; Lichtenberg 1991; Stern 1992), erwirbt das kindliche Selbst seine Fähigkeit zum Umgang mit Affekten erst im Austausch mit seinen Bindungspersonen; dabei spielt die Spiegelung der Affekte die entscheidende Rolle. Gergely (2003; s. auch Dornes 2000, 2004) sowie Fonagy u. Target (2002) beschreiben ausführlich, dass die „Markierung“ des gespiegelten Affektes von entscheidender Bedeutung ist. Mit Markierung ist gemeint, dass dem Kind seine Affekte von der Bindungsperson nicht einszu-eins gleichsam wie von einem Planspiegel zurückgegeben werden, sondern dass sich im Spiegeln ausdrückt, wie die Bindungsperson diesen Affekt für sich verarbeiten würde, wäre es ihr eigener. Die Markierung des Spiegelns ermöglicht es dem Kind, einerseits sich selbst im Anderen zu erkennen, andererseits aber einen eigenen Affekt der Bindungsperson vom gespiegelten Affekt des Selbst zu unterscheiden, indem der Affekt der Bindungsperson eben nicht markiert ist. Mit der markierten Spiegelung seiner Affekte und deren Aufnahme in das Selbst erwirbt das kindliche Selbst eine „sekundäre Repräsentation“ seiner Affekte, die implizit auch den Modus der Affektverarbeitung der Bindungspersonen enthält, insbesondere deren Vermögen, Affekte in ihrer Intensität zu regulieren. Im Fall eines kontinuierlich ausreichend gut gelingenden Affektaustausches zwischen dem kindlichem Selbst und seinen Bindungspersonen entstehen die Grundlagen für die Entwicklung dessen, was Winnicott das „wahre Selbst“ genannt hat. Misslingt hingegen dieser Austausch schwer wiegend (etwa auf traumatische Weise) oder langfristig und kontinuierlich (etwa wegen einer wie auch immer gearteten psychischen Beeinträchtigung oder Störung der Bindungsperson), so folgen schwere Beeinträchtigungen der Entwicklung des kindlichen Selbst und „bilden die Wurzel des ‚falschen Selbst‘“. Weil „der gespiegelte Affekt... nicht mit der tatsächlichen affektiven Verfassung des Kindes übereinstimmt, kommt es zu einer Verzerrung der sekundären Repräsentationen seiner primären emotionalen Verfassung“ (Fonagy u. Target 2002, S. 857).
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Bindungsmuster Die Bindungstheorie stellt dar (z. B. Brisch 1999; Fonagy 2003), dass das Kind auf die interaktionellen Erfahrungen mit den frühen Bindungspersonen mit verschiedenen Modi des Sicherheitsempfindens in Beziehung reagiert und spezifische Verhaltensmuster organisiert, die diese Theorie vier Gruppen der Bindungssicherheit zuordnet (sicher, unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend, desorganisiert; z. B. bei Brisch 1999, S. 46 f.). Diese Verhaltensmuster werden bereits im ersten Lebensjahr etabliert und bleiben in der Regel, d. h. unter gleich bleibenden Beziehungsbedingungen, bis ins Erwachsenenalter erhalten (Brisch 1999, S. 54 ff.). In der klinischen Situation begegnen wir diesen Mustern bei unseren Patienten, indem sie diese in der analytischen Beziehung rasch installieren. Die komplexen Entwicklungsprozesse der Mentalisierung, deren Verständnis von Fonagy et al. (2004) erarbeitet wurde, sind in dieser Zeitschrift bereits ausführlich beschrieben worden (Köhler 2004; Dornes 2004). Danach erlangt das infantile Selbst die Fähigkeit zur Selbst-ObjektDifferenzierung auf zwei Weisen. Im Zuge der markierten Spiegelung seiner Affekte erkennt es das Anderssein des Objektes daran, dass die Pflegeperson seine eigenen Affekte unmarkiert präsentiert. Ferner durchläuft das Kind im Verlauf der Entwicklung seiner Theorie des Mentalen („theory of mind“) die Phase des Als-ob-Modus des Mentalisierens und damit des Als-ob-Spielens (vgl. Dornes 2004, S. 180f). Auch hier sind es die Reaktionen der Pflegepersonen, die dem Kind die Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem geben. Diese Zusammenhänge sollen hier nur angedeutet werden, um die durchgehende Bedeutung der Pflegeperson, in der Regel ja der Mutter, für die Konstitution des Selbst hervorzuheben. Ich möchte mich allerdings auf das Verständnis der Entwicklung des Selbst im präverbalen Lebenszeitraum und dessen Bedeutung für den analytischen Prozess beschränken. Wechselseitige Regulation in der Mutter-Kindund in der therapeutischen bzw. analytischen Dyade Für das klinische Verständnis des Patienten in der analytischen Situation ist bedeutsam, dass das im-
plizite Beziehungswissen, die sekundären Repräsentanzen sowie die Bindungsmuster zum Repertoire der kindlichen mentalen Verarbeitung gehören und damit Strukturelemente des Selbst werden. Sie stellen eine Dimension der Unbewusstheit dar, die handlungsdialogischer Erfahrung entspringt und die, sofern sie im Laufe der Lebenserfahrung nicht in den Verbaldialog mit den Bindungspersonen gelangte und also nicht symbolisch repräsentiert werden konnte, auch nur handlungsdialogisch in den analytischen Dialog eintreten kann. Das bedeutet, dass der Patient für den so entstehenden agierenden (szenischen) Dialog mit dem Analytiker meist keine emotionale oder kognitive Wahrnehmung hat und nicht über die Fähigkeit verfügt, die zugrunde liegenden Zusammenhänge zu reflektieren. Das „implizite Beziehungswissen“ geschieht. Gerät allerdings das Nichtgewusste der unbewusst-impliziten Beziehungserfahrung empfindensnah in den Fokus der Selbstwahrnehmung des Analysanden, so kann dies klinisch in spezifischer Weise auftreten: als „Unterbrechung“ der Beziehung (Beebe u. Lachmann 2002). Der Begriff „Unterbrechung“ bezeichnet ein klinisches Phänomen und beschreibt die Unterbrechung des Flusses der Assoziationen und des Flusses der Wechselseitigkeit im analytischen bzw. therapeutischen Dialog, dies in Analogie zur Mutter-Kind-Dyade (s. unten). In der Regel findet während der analytischen Sitzung ein Fließen der Einfälle, der zugehörigen Gefühle und Phantasien sowie der Reaktionen des Analytikers darauf statt. Jedoch kann dieser Fluss plötzlich und unerwartet abbrechen. Dieses Abbrechen wird als Störung der dialogischen Kontinuität aufgefasst und angenommen, dass diese „Unterbrechung“ ein Signal dafür ist, dass es in der analytischen Beziehung direkt einen Anlass dazu gibt. Das Phänomen wird im weiter unten beschriebenen Fallbeispiel illustriert. Beebe und Lachmann (2002), Säuglingsforscherin und Analytiker, entwerfen ein Konzept der psychoanalytischen Behandlung, das eng mit Ergebnissen der Säuglingsforschung verknüpft ist. Ihr Kerngedanke ist, dass sich Mutter und Kind miteinander in einer Beziehung befinden, deren zentrales Charakteristikum darin besteht, dass sich beide kontinuierlich fortlaufend und gegenseitig in ihren Interaktionen, Emotionen und
Affekten regulieren („ongoing regulation“). Sie begreifen das Mutter-Kind-Paar als ein „regulatorisches System“; der Begriff „System“ soll zum Ausdruck bringen, dass sich beide gegenseitig beeinflussen. Dabei ist es das Bestreben des Paares, diese wechselseitige Regulation ihrer Emotionen, Affekte sowie Intentionen ständig aufrechtzuerhalten. Tritt eine „Unterbrechung“ („disruption“) der gemeinsamen Regulation ein, so ist es das Ziel beider, eine Wiederherstellung („repair“) der fortlaufenden Regulation anzustreben. Unterbrechung wie Wiederherstellung lassen „erhöhte Affektivität“ entstehen, z. B. heftige Enttäuschung im Falle einer Unterbrechung oder Freude im Falle der Wiederherstellung des regulatorischen Systems. Das Gleiche gilt nach Ansicht von Beebe und Lachmann auch für die therapeutische bzw. analytische Dyade. Sie ist ebenfalls ein regulatorisches System von zwei aktiv miteinander interagierenden Beziehungspartnern, deren Ziel darin besteht, Affektivität, Emotionalität, Intentionalität und Phantasie in einen Zustand innerer Homöostase zu bringen. Dies geschieht unter Beachtung von „drei herausragenden Prinzipien der Psychotherapie“ („three principles of salience“), nämlich (1) fortlaufende Regulation der Emotionen, Affekte, Intentionen und Phantasien, (2) Beachtung von deren Unterbrechung und Wiederherstellung sowie (3) erhöhte Affektivität im Zusammenhang mit Unterbrechung und Wiederherstellung. Diese drei Prinzipien der Psychotherapie bzw. Psychoanalyse werden von Beebe und Lachmann als ein zusammenhängendes Konzept gesehen, das erst durch seine ständige gemeinsame Anwendung seine besondere, vor allem jedoch eigenständige Wirkung entfaltet. Die Eigenständigkeit besteht darin, dass der Analysand im Zusammensein mit dem Analytiker implizites Beziehungswissen erwirbt, denn die Einhaltung der drei Prinzipien durch den Analytiker ist bereits durch deren Geschehen im Prozess wirksam, d. h. ohne deren Deutung.
Die Bedeutung der neuen Befunde für die psychoanalytische Technik Wie muss der Beitrag einer Psychoanalyse aussehen, die dem Patienten dazu verhelfen soll, das im impliziten Beziehungswissen organisierte Unbewusste oder seinen ins Unbewusste abgespalteForum der Psychoanalyse 2 · 2005
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Originalarbeit nen Selbstanteil des „wahren Selbst“ in ein ganzheitliches Selbst zu integrieren? Ich will versuchen, dies an einem Fallbeispiel aus meiner Supervisionstätigkeit zu verdeutlichen.
Fallbeispiel Frau Z. sucht zwei Jahre nach Beendigung einer tiefenpsychologischen Psychotherapie erneut ihre Therapeutin auf, weil ihr ein Beziehungsproblem aufgefallen war: Sie berichtet, dass ihre Partnerbeziehungen nach ca. einem Jahr zu zerbrechen beginnen. Sie wurde groß mit einer Mutter, die ihre eigene Mutter mit in den Haushalt aufgenommen hatte. Diese Großmutter verstarb noch im ersten Lebensjahr der Patientin. Bei dieser Vorgeschichte darf man annehmen, dass die Mutter der Patientin durch Krankheit und Tod der eigenen Mutter in ihrer Fähigkeit zur primären Mütterlichkeit kontinuierlich und erheblich beeinträchtigt war. Unter den Bedingungen einer solchen Anamnese kann man erwarten, dass sich die spezifischen Erfahrungen mit der Mutter in der Analyse im Sinne einer Übertragung wiederholen werden. Und es stellt sich die Frage, ob nicht ein Zusammenhang zwischen dem aktuellen Beziehungsproblem der Patientin und ihren biografischen Bedingungen im ersten Lebensjahr zu sehen ist. Werfen wir einen Blick auf den Verlauf der Behandlung. Eine geraume Zeit nach Beginn der zweiten Therapie musste die Therapeutin einen Termin wegen einer eigenen Erkrankung absagen. Die Patientin reagierte auf die telefonische Absage mit Verständnis und Mitgefühl: Die Absage sei nicht so schlimm für sie; sie habe Verständnis für die Therapeutin und wünsche gute Besserung. In der folgenden Sitzung jedoch, einem Ersatztermin für die ausgefallene Stunde, wirkte die Patientin sehr zurückgezogen und schwieg. Von der Therapeutin auf den Zusammenhang mit dem abgesagten Termin angesprochen, äußerte sie schließlich „Ich weiß bei Ihnen auch nicht, ob ich mich auf Sie verlassen kann“ und begann zu weinen. Immer wenn sie sich auf einen Menschen einlasse, „dann kriege ich eins in die Magengrube“. Bei diesem Wortwechsel hatte sie sich in ihrem Sessel mit unter den Leib gezogenen Füßen geradezu eingerollt. Die Therapeutin spürte in dieser Szene, dass sie aktiv werden müsse, fühlte sich aber gleichzeitig hilflos und unbeholfen und hatte das
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Gefühl, diesen Zustand zunächst nur aushalten zu können. Gleichwohl sagte sie: „Sie fühlen sich jetzt hier bei mir unsicher und ziehen sich deswegen zurück.“ Die Patientin ging auf diese Intervention nicht ein, sondern berichtete, so wie hier würde sie sich auch in ihren Beziehungen fühlen. Erst sei alles wunderschön, und dann würde der andere sich abwenden und sie habe die Anzeichen gar nicht wahrgenommen. Wer sage ihr denn, dass das hier nicht genauso sei? Die Spannung zwischen Therapeutin und Patientin hielt noch einige Zeit an, verschwand dann jedoch plötzlich und für die Therapeutin unmittelbar spürbar und wich dem Eindruck, dass beide wieder miteinander im Kontakt seien. Darauf angesprochen berichtete die Patientin: „Irgendwann war da eben ein Blick von Ihnen, und da konnte ich Ihnen wieder glauben.“ Der Bericht dieser Sitzung gibt Antworten auf die aufgeworfenen Fragen nach der Übertragung und der unbewussten Wiederholung in den Partnerbeziehungen der Patientin. Es ist unmittelbar erkennbar, dass sich die Patientin in der negativen Übertragung, die durch die krankheitsbedingte Unterbrechung der Behandlung aktualisiert worden war, mit der Therapeutin genauso fühlt, wie sie sich in ihren Partnerschaften fühlt, nämlich unsicher gebunden und emotional verlassen. Man kann sagen, das der zentrale Beziehungskonflikt (Luborsky 1988) der Patientin in der Übertragung aufgetaucht ist. Wir können die dargestellte klinische Vignette mit dem Konzept des impliziten Beziehungswissens jedoch noch weiter gehend verstehen. Es gibt darin drei Stellen, die zu einer gravierenden Änderung des emotionalen Selbstzustands der Patientin geführt hatten, nämlich (1) zunächst die Reaktion der Patientin auf die Terminabsage der Therapeutin, die in einer auffallenden „Unterbrechung“ (im Sinne von Beebe u. Lachmann 2002) des bisherigen Miteinanders und in einem inszenierten Rückzug der Patientin besteht. (2) Um die zweite Stelle zu identifizieren, bedarf es der subtileren Aufmerksamkeit. Die Patientin kann erst auf Nachfrage der Therapeutin berichten: „Irgendwann war da eben ein Blick von Ihnen, und da konnte ich Ihnen wieder glauben.“ (3) Schließlich schildert die Patientin, wie sie zu einer Einschätzung ihrer Beziehungen gelangt: Sie berichtete nämlich, dass sie sich so wie in der therapeu-
tischen Beziehung auch in ihren Partnerbeziehungen fühlen würde. Erst sei alles wunderschön, und dann würde der andere sich abwenden „und sie habe die Anzeichen gar nicht wahrgenommen“. Diese drei Episoden haben die Gemeinsamkeit, dass es immer Handlungserfahrungen sind, durch die heftige emotionale Zustandsveränderungen der Patientin ausgelöst werden: Auf die Terminabsage reagiert sie mit einer tiefen Vertrauenskrise; aufgrund eines Blickes reagiert sie mit einer Wiederherstellung des Vertrauens zu ihrer Therapeutin. Und in Partnerbeziehungen reagiert sie nach scheinbaren Bagatellen mit einem Vertrauensverlust. Der gemeinsame Nenner ihrer Reaktionen ist, dass die Patientin Handlungen ihres Gegenübers mit einem sofortigen Stimmungsumschwung und mit einer „Unterbrechung“ des Modus des bisherigen Miteinanderseins beantwortet. Das ist besonders beeindruckend in jener Szene, als die Patientin einen Blick der Augen ihrer Therapeutin auffängt, und sie sich – freilich ohne es sogleich bewusst zu bemerken – tatsächlich augenblicklich wieder sicher gebunden fühlen kann. Diese Phänomene im Erleben der Patientin sind Ausdruck der im Unbewussten ablaufenden Wirkung des impliziten Beziehungswissens und basieren – zumindest im Fall des Blickes der Analytikerin – auf subliminalen Wahrnehmungen. Behandlungstechnische Konzepte Regulatorische Prozesse in der analytischen Dyade Erlebensmomente, wie die Reaktion auf den Blick der Therapeutin, sind zunächst nicht zu deuten, jedenfalls nicht im genetischen Sinne und noch nicht zum Zeitpunkt ihres Auftretens. Vielmehr ist es vorerst nur möglich, sie umfassend und bewusst erlebbar werden zu lassen und sie in den Zusammenhang der aktuellen Beziehungsdynamik zu stellen. Das benötigt auf Seiten der Therapeutin Aufmerksamkeit, Ruhe, Geduld und eine gewisse Hingabe. Ich vermute, dass an dieser Stelle der Zusammenhang zur frühkindlichen Erfahrung der Patientin erkennbar ist: Die Szene mit der Therapeutin stellt für die Patientin eine unbewusste Wiederholung ihrer Beziehungserfahrung mit der Mutter dar. Es ist zu ihrem impliziten Beziehungswissen geworden, dass sie die Mutter für unabsehbare Zeit verliert, wenn diese sich aus Gründen,
die in deren emotionaler Innenwelt liegen, vom Kind abwendet. Wir können mit gutem Recht annehmen, dass sich die Mutter der Patientin in Momenten der Angst um die eigene Mutter oder in Phasen der Trauer über deren Tod nicht wirklich tief greifend mütterlich um ihren eigenen Säugling kümmern konnte, jedenfalls wohl nicht mit Ruhe, Geduld und Hingabe. Der zitierte Satz der Patientin, sie „habe die Anzeichen gar nicht wahrgenommen“, weist m. E. darauf hin, dass es gerade vollkommen unvorbereitete Beziehungsunterbrechungen seitens der Mutter waren, die das Kind in tiefe, aufgewühlte Unruhe, Angst oder depressive Verfassungen versetzten und die Fähigkeit zu vertrauen schwer beeinträchtigten. Andererseits erfolgte die Wiederherstellung des Kontaktes mit der Mutter wohl über ein Treffen der Blicke, eine Vermutung, die die geschilderte Behandlung bislang nicht rekonstruieren konnte. Ein Kind, das in einer Umwelt wie der dieser Patientin groß werden muss, wird unausweichlich die häufig wiederholte Erfahrung machen, dass sein emotionales, affektives, intentionales und Phantasieerleben ohne ein angemessen responsiv-reagierendes Gegenüber bleibt. Dies zeigt auch das Beispiel von Harry Guntrip. Erfolgt solche Beziehungserfahrung mit der Mutter regelmäßig immer wieder, so entsteht einerseits implizites Beziehungswissen, andererseits wird jener Strukturanteil des Selbst ins Unbewusste abgespalten, den Fonagy et al. (2004, S. 18) das „konstitutionelle Selbst“ nennen. Dieser Selbstanteil ist mit unbewussten Wünschen, Impulsen oder Phantasien gegenüber dem Liebesobjekt verknüpft, worauf dieses jedoch nicht (oder aversiv) reagiert, sowie mit schmerzvollen Gefühlen der Verletztheit wegen dieser Erfahrung mit der Pflegeperson. Das falsche, also das angepasste Selbst der „Gefügigkeit“ (Winnicott) steht später davor, als wäre es eine Abwehrmauer. Im Bericht über Frau Z. können wir diesen Persönlichkeitsanteil in dem Moment erkennen, wo sie so verständnisvoll auf die Terminabsage der Therapeutin reagiert. Wie können wir mit dem Erleben unserer Patienten, das wir als Ausdruck ihres impliziten Beziehungswissens verstehen, therapeutisch wirksam umgehen? Die Antwort leitet sich aus den Arbeiten von Beebe und Lachmann (2002) und der „Process of Change Study Group“ (1998) um Daniel Stern ab: Forum der Psychoanalyse 2 · 2005
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Originalarbeit F Wir müssen die Momente der Unterbrechung und des akuten Stimmungsumschwungs, wie ihn Frau Z. erlebte, zunächst bemerken und ernst nehmen. Das gilt sowohl für Berichte über solche Erfahrungen außerhalb der therapeutischen Beziehung als auch besonders in der Übertragungsbeziehung. F Da solche Momente („now moments“ im Sinne von Stern 1998) meist mit „erhöhter Affektivität“ (Beebe u. Lachmann 2002) des Patienten einhergehen, ist es wichtig, sie so aktuell wie möglich in der Sitzung erlebbar werden zu lassen, d. h. dem emotionalen Erleben angemessen Zeit und Raum zu geben. Denn wie das Beispiel von Frau Z. zeigt, neigen Patienten dazu, diese Situationen emotional zu negieren, also spontan abzuwehren. F Besonders wichtig ist es, dass die Patienten die Fülle der Gefühle und Affekte, die zu diesen Episoden gehören, umfassend wahrnehmen und verbalisieren können (ggf. mit unserer aktiven Hilfe, wie der Nachfrage der Therapeutin von Frau Z.). Dies „repariert“ gleichsam die Unterbrechung in der therapeutischen Dyade (Ringstrom 2000, S. 43). F Schließlich müssen wir die Sensibilität des Analysanden für den Beziehungskontext, in dem die Momente auftreten, durch dessen Exploration fördern. F Durch dieses Vorgehen lassen sich schrittweise zumindest einige Facetten des impliziten Beziehungswissens des Patienten aus der primärprozesshaften Unbewusstheit befreien und auf die symbolisierte Ebene des explizitdeklarativen Gedächtnisses heben. F Dieses Vorgehen stellt zeitweise eine Arbeit in der Übertragung dar, wenn nämlich der Analytiker – wie hier – während der negativen Übertragung und trotz der heftigen Gefühle und Affekte ihm gegenüber konsequent im empathischen Modus bleibend interveniert. F Gelingt es, die durch die „Momente“ aufgetretenen „Unterbrechungen“ zu „reparieren“, und gelingt es ferner, sie in ihrem emotionalen und affektiven Beziehungskontext zu erleben und zu begreifen, so kann es zu neuen „Momenten“ kommen, meist mit einem Erleben der Erleichterung, Heiterkeit oder gar Freude für beide Beteiligte. Stern (1998)
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nennt diese Erfahrungen im analytischen Prozess, die beiden Beteiligten möglich sind, „moments of meeting“ (s. unten), Momente der – inneren – Begegnung. F Die ständige Wiederholung dieser Arbeitsschritte stellt das Durcharbeiten (im Sinne v. Greenson 1975, S. 110) dar. Dieses Durcharbeiten lässt einerseits implizites Beziehungswissen, wie es im Zuge der Entwicklung in Beziehung mit den Primärobjekten entstanden ist, schrittweise bewusst werden; es lässt aber zugleich auch implizites Beziehungswissen aus der Erfahrung mit dem Analytiker entstehen (s. unten). Erfahrung des Patienten mit dem Analytiker im Rahmen der „realen Beziehung“ Stern (1998) stellt dar, wie die Erfahrung des Patienten mit dem Analytiker im Rahmen der „realen Beziehung“ zu einem neuen Teil seines impliziten Beziehungswissens wird und eben dadurch therapeutisch verändernd wird. Im gewohnten therapeutischen Dialog komme es zu einer gemeinsam entwickelten Gesprächsdynamik, einem „moving along“, in der sich auf selbstverständliche Weise das implizite Beziehungswissen beider zu einer gemeinsam hergestellten Bewegung des Dialogs verbindet. Dabei ist Unbewusstheit wirksam, „in psychodynamischer Terminologie ausgedrückt... deskriptiv [topographisch] Unbewusstes, aber nicht dynamisch Unbewusstes“ (Stern 1998, S. 304; Übersetzung M.K.). Häufig trete im Verlauf eines solchen Dialogs eine Störung auf, zumeist unvorhersehbar und in der Regel irgendwie affektiv aufgeladen. Diese Jetzt-Momente („now moments“) „ziehen beide Teilnehmer vollkommen in die Gegenwart... Man kann den ‚now moment‘ als ein einzigartiges Ereignis sehen, das ganz und gar aus dem komplexen dynamischen System heraus entsteht, das die beiden am therapeutischen Prozess Beteiligten bilden. Dieser Moment bedroht die Stabilität des bisherigen fortlaufenden Prozesses“ (ebd.). Hinter dieser abstrakt anmutenden Formulierung verbirgt sich ein Ereignis, das jedem erfahrenen Therapeuten bekannt ist, nämlich die Unterbrechung des emotionalen Kontaktes im therapeutischen Dialog, wie sie häufig und besonders dann entsteht, wenn sich der Patient durch die Reaktion des Therapeuten irritiert oder gar unverstanden fühlt. Ärger, Angst,
Traurigkeit, Verzweiflung, Resignation oder ähnliche Gefühle erfüllen dann den Patienten. Dieser Moment stellt eine Herausforderung für beide Beteiligte dar, denn es gilt jetzt einen Weg zu finden, den verlorenen emotionalen Kontakt wiederherzustellen. Im günstigsten Fall gelingt dies in einem „Moment der Begegnung“ („moment of meeting“; Stern 1998, S. 305). Die dazu notwendigen Reaktionen des Therapeuten „müssen auf den Punkt genau erfolgen und zur Einmaligkeit der unerwarteten Situation passen; ferner müssen sie die Handschrift des Therapeuten tragen und von seiner Sensibilität und Erfahrung geprägt sein, außerhalb aller Technik und Theorie. Dies alles ist notwendig, weil der ‚now moment‘ den anfänglichen intersubjektiven Kontext aus dem Gleichgewicht gebracht hat; darüber hinaus muss der ‚Moment der Begegnung‘ gemeinsam gestaltet werden. Nur wenn dessen Gestaltung gemeinsam erfolgt und gegenseitig anerkannt und akzeptiert werden kann, wird es gelingen daraus einen ganz neuen intersubjektiven Zustand entstehen zu lassen“ (ebd.). Gelingt eine solche Erfahrung miteinander, so „wirkt das, als katapultiere sie den impliziten intersubjektiven Kontext auf ein neues Niveau, auf ein dyadisches Niveau der Bewusstheit“ (Tronick 1998) „und restabilisiert damit das System“ (ebd.). Im Moment of meeting kommt nach meiner Auffassung ein zentraler Aspekt des Ödipuskomplexes zur erlebnismäßigen Gestaltung, nämlich die Begegnung zweier Menschen im gemeinsam gestalteten und geteilt erlebten Gefühl eines Momentes, der ein tief greifendes Empfinden der Verbundenheit entstehen lässt. Es ist die Sehnsucht nach miteinander geteilter Intimität, wie sie im gemeinsamen Erleben von inniger Emotionalität oder intensiver Affektivität entstehen kann, die den nichtsexuellen Kern der ödipalen Libido ausmacht. Diese Sehnsucht wird im Verlauf des analytischen Prozesses in Moments of meeting modellhaft und in kleinsten Schritten befriedigt. Soweit solche Momente nicht die Bedürfnisse des Analytikers befriedigen, findet die Analyse in der Abstinenz statt. Allerdings wird dabei von der Regel abgewichen, dass Triebbedürfnisse gedeutet statt befriedigt werden. Dieses Abweichen ist berechtigt, sogar notwendig, da es hier um den Erwerb impliziter (prozeduraler) Beziehungserfahrung geht, die handlungsdialogisch entsteht.
Es ist für den Analytiker wichtig, darauf vorbereitet zu sein, dass das Erleben des Patienten in diesen Now moments bzw. den Momenten der Unterbrechung von Gegenübertragungserleben begleitet sein kann, das seine Aufmerksamkeit besonders herausfordert (s. Götzmann u. Holzapfel 2003). Denn in Phasen der Regression des Patienten auf die Ebene implizit-prozeduralen Erlebens wird das eigene implizite Beziehungswissen des Analytikers aktiviert, emotional, affektiv oder körperlich erlebend. Dieses Gegenübertragungserleben kann überraschend auftreten, von quälender Intensität und Dauer sein und schwer beherrschbar. Gelegentlich ist eine somatische oder heftigdiffuse, affektive Reaktion des Analytikers überhaupt der erste Hinweis darauf, dass im Prozess der Analyse diese emotionale Dimension des Erlebens impliziter Beziehungserfahrung im Patienten aktiviert ist. Um einem Irrtum vorzubeugen, wird hervorgehoben, das die zitierten Autoren, von denen diese Anregungen zur Behandlungstechnik abgeleitet sind, nicht den Anspruch erheben, ihre neuen technischen Vorschläge für die Psychoanalyse an die Stelle der bisherigen Technik zu setzen. Vielmehr betonen sie, dass es sich dabei um Empfehlungen handelt, die besonders geeignet sind, um Störungen im Bereich der präverbalen Repräsentanzen zu behandeln; sie sollen die bisherigen Techniken ergänzen. Damit stellen sich die Autoren in die Tradition der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Theorie und Praxis der Psychoanalyse.
Die Bedeutung der neuen Befunde für das Verständnis im psychoanalytischen Prozess Im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse ist ihr Behandlungsziel ständig differenziert und er weitert worden. Freud legte mit der Fortentwicklung des topischen Modells vom Unbewussten (1915) hin zum Strukturmodell (1923) selbst den Grundstein für die fortlaufende Entwicklung „seiner“ Wissenschaft. Anna Freuds grundlegende Beschreibung der Abwehrmechanismen (1936) oder Hartmanns Arbeit über die Anpassungsleistung des Ich (1939) sind exemplarische Meilensteine für die Entwicklung der Psychoanalyse als Wissenschaft. Sie stellen zugleich auch Forum der Psychoanalyse 2 · 2005
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Originalarbeit einen Wandel des Objektes der psychoanalytischen Beobachtung dar. Die Aufmerksamkeit für den Inhalt, das Was des Unbewussten (etwa die Triebdynamik mit den unbewussten Phantasien), wurde bald ergänzt um den Funktionsaspekt des Wie: Wie sich das psychische Geschehen im Unbewussten vollzieht (Abwehrdynamik). Die Objektbeziehungstheorien griffen schließlich einen dritten Aspekt auf, den der Beziehung, in dessen Kontext Unbewusstheit entsteht (Beziehungsdynamik). Die dargestellten Befunde markieren die Fortsetzung dieser Entwicklung. Sie fügen die Sicht der analytischen Dyade als einem kontinuierlichen Regulationssystem hinzu und beschreiben Modi psychischer Funktionen, die direkt im analytischen Prozess erworben werden. Ich schlage vor, das dargestellte neue Wissen über die Entwicklung des Selbst und die Modifikation der psychoanalytischen Methode dazu zu nutzen, den Selbstzustand des Patienten im analytischen Prozesses unter den im Folgenden genannten drei Aspekten zu reflektieren. Daraus ergeben sich Entscheidungshilfen, wie behandlungstechnisch inter veniert werden kann bzw. muss. Systemaspekt Säuglingsforschung, Bindungstheorie und kognitive Entwicklungspsychologie zeigen mit großer Eindeutigkeit auf, dass ein kontinuierlicher, wechselseitiger kommunikativer Austausch zwischen Mutter und Kind zur Förderung der Entwicklung und damit zur Konstitution des Selbst notwendig ist. Charakteristikum der Wechselseitigkeit ist dabei, dass sich beide Beteiligte voneinander beeinflussen und verändern lassen. Diese spezifische Qualität des Systems geht in die präsymbolischen Repräsentanzen des kindlichen Selbst ein, die deswegen heute als Repräsentanzen des ganzen Systems gedacht werden. Ferner liefert die Bindungstheorie mit ihrer Beschreibung der Bindungssicherheit eine Orientierung zur Einschätzung der Qualität der Verbindung im System. Wenn wir davon ausgehen, dass dies – wenn auch mit Modifikationen – analog für den reifungsfördernden Prozess der psychoanalytischen Behandlung gilt, so lässt sich das Erleben des Patienten in der Übertragung ebenso wie das Erleben des Analytikers in der Gegenübertragung stets mit der Frage re-
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flektieren, welches implizit-prozedurale, präverbale Beziehungswissen des Patienten darin zum Ausdruck gebracht wird. Hier setzen die Behandlungsvorschläge an, wie sie oben dargestellt wurden. Sie modifizieren und ergänzen die präverbalen Repräsentanzen des Analysanden um die gemeinsam in der Dyade entwickelten prozeduralen Erfahrungsmuster (Beebe u. Lachmann 2002, S. 228). Dies geschieht zu einem nicht unwesentlichen Teil, ohne dass dies auf die Ebene der explizit-deklarativen Deutung gehoben werden kann. Dabei wird die Beziehungserfahrung mit dem Analytiker selbst therapeutisch wirksam und modifiziert zugleich die Bindungssicherheit des Patienten. Denn es liegt ja eben im Wesen der implizit-prozeduralen Erfahrung, dass sie außerhalb der Bewusstheit erfolgt und auch nach der frühkindlichen Entwicklung kontinuierlich weiter erworben wird. Das heißt in der Analyse entsteht unbewusstes Beziehungswissen, das verändernd wirksam wird. Funktionaler Aspekt Unter diesem Aspekt werden die unbewussten psychischen Funktionen des Analysanden betrachtet, die sich während seiner kindlichen Entwicklung schrittweise gebildet haben. Im Laufe seiner Beziehungserfahrung entwickelt das Kind neben den bekannten Abwehrmechanismen (A. Freud 1936) „innere Arbeitsmodelle“ (Brisch 1999; Fonagy u. Target 2001, Fonagy 2003) sowie die Fähigkeit zur Mentalisierung (Fonagy et al. 2004), d. h. individuelle Funktionsweisen psychischen Erlebens, der Kognition und des handelnden Reagierens, womit es auf seine Umwelt antwortet bzw. sich auf sie einstellt. Das Kind entwickelt seine Art des Wie es in der Welt sein will. Mit der Entwicklung der Mentalisierungs- und Symbolisierungsfähigkeit nutzt das Kind seine zunehmende Fähigkeit zum Phantasieren, um sein individuelles Wie zu modifizieren und differenzieren (Dornes 1993; Meares 2000), aber auch zu reflektieren. Die Beurteilung dieses Wie der unbewussten Verarbeitung des Patienten im psychoanalytischen Prozess ermöglicht die Einschätzung der strukturellen Reife des Selbst im jeweiligen Moment der Betrachtung und gibt eine Antwort auf die Frage, ob der Patient sich in einem regressiven Selbstzustand befindet, der ihn im im-
plizit-prozeduralen Erleben bindet, oder ob er auf diejenigen mentalen Funktions- und Verarbeitungsformen Zugriff hat, die den expressiv-deklarativen Modus prägen. Der implizit-prozedurale Modus zeigt sich im analytischen Dialog dadurch, dass der Patient vollkommen unbewusst und Ich-synthon Handlung und Affekt direkt miteinander verknüpft. Von dieser Einschätzung ist es abhängig, ob mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion, also der therapeutischen Spaltung im Dienste des Ich, zu rechnen ist. Erst die Fähigkeit zur Selbstreflexion schafft ja die Voraussetzung für das Vermögen der Annahme von solchen deklarativen Deutungen, die das Selbst zum Objekt der Beobachtung und Reflexion machen. Im Fall, dass der Funktionszustand des Selbst im Prozessverlauf regressiv und als implizit-prozedural geprägt einzuschätzen ist, sind Interventionen indiziert, die vorwiegend den Affektzustand zum Inhalt der Deutung haben. Bei diesen Deutungen nutzt der Analytiker die unbewusste Selbstobjektübertragung des Patienten und macht von der Selbstobjektbeziehung deutenden Gebrauch; dadurch werden die sekundären Repräsentanzen modifiziert. Deklarative Deutungen des funktionalen Modus (dieser umfasst die Abwehr, innere Arbeitsmodelle, Fähigkeit der Mentalisierung, der Reflexion sowie der Symbolisierung) setzen hingegen voraus, dass der Patient sicher genug von seiner Selbstreflexion Gebrauch machen kann. Inhaltlicher Aspekt Unter dem inhaltlichen Aspekt werden die Inhalte des unbewussten Wissens betrachtet, die während der Kindheit des Patienten als persistenter und psychodynamisch wirksamer Bestandteil des Unbewussten entstanden sind. In der kindlichen Entwicklung führt die Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Anderen im Zuge der primären (Pflege-)Beziehungen zur Differenzierung des Was miteinander kommuniziert wird. Dieses Was prägt später den Inhalt des Unbewussten, das seinerseits als dreigeteilt gesehen werden kann: (1) Am Anfang der kindlichen Entwicklung spielen basale Inhalte, wie die Unterscheidung von körperlichen Bedürfnissen, Affekten und Handlungsimpulsen, sowie die Regulation ihrer Intensität eine zentrale Rolle. Deren spä-
tere psychoanalytische (Nach-)Bearbeitung erfolgt insbesondere im spiegelnden Modus. Dies stellt in selbstpsychologischer Sicht die Arbeit mit der spiegelnden Selbstobjektübertragung (Kohut 1987, S. 282 ff.) dar und fördert die strukturelle Entwicklung des Selbst. (2) In der weiteren kindlichen Entwicklung geht es um konflikthafte oder ambivalente Themen, wie z. B. Aversion gegenüber der benötigten Bindungsperson, Bindungsbedürfnis versus Explorationsstreben oder Rivalitätslust innerhalb einer liebenden Beziehung. Mit der psychoanalytischen Arbeit an diesen konflikthaften Inhalten des Erlebens in Beziehungen und deren Verarbeitung bewegen wir uns auf dem vertrauten Boden komplexer unbewusster Beziehungskontexte, die traditionell explizit-deklarativen Deutungen im genetischen und Beziehungszusammenhang zugänglich sind, dies verbunden mit den bekannten Schwierigkeiten (Widerstand). (3) Die Auseinandersetzung mit der Affektspiegelung in der frühen Kindheit zeigt noch eine weitere Dimension von Unbewusstheit auf. Das Verpassen der Markierung kindlicher Affekte durch die Mutter kann zur Übernahme mütterlicher Affektzustände (d. h. ihren unintegrierten Affekten, ihrer Depression, Angst, Psychose, Traumaerfahrung u. a.) führen, die dann anstelle der sekundären Repräsentation eigener Affekte ins Selbst aufgenommen werden (Fonagy u. Target 2002, Fonagy et al. 2004; Dornes 2004). Diese Selbstzustände, die ursprünglich solche der Mutter waren, können nicht ausreichend sicher von den eigenen Affektzuständen unterschieden werden, bleiben aber als Bestandteil des Selbst erhalten und können klinisch als Persönlichkeitsstörung (Borderlinepathologie, narzisstische Persönlichkeitsstörung, traumatische Belastungsstörung) in Erscheinung treten. Die phänomenologische und klinische Unterscheidung der Inhalte von implizit-prozeduralen und explizit-deklarativen Gedächtnisformationen des Gehirns sowie das Verständnis der Entwicklung von deren Inhalten erlaubt es nicht nur, drei Dimensionen des Unbewussten zu unterscheiden. Vielmehr ist es damit auch möglich zu beschreiben, wie diese klinisch als Zustände des Selbst in Erscheinung treten. Dabei handelt es sich um Eigenschaften des Selbst, die als dessen genereller Charakter verstanden werden können, und die nebeneinander bestehen können: Forum der Psychoanalyse 2 · 2005
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Originalarbeit 1. das defizitäre Selbst, 2. das konflikthafte Selbst, 3. das kolonisierte Selbst.
Das defizitäre Selbst. Defizite und Defekte im Respons der primären Bindungspersonen lassen bei der Entwicklung des kindlichen Selbst korrespondierende Mängel in dessen Struktur entstehen (z. B. defizitäre Repräsentanzen der Affektvielfalt und des motivationalen Antriebs, Defekte der Regulationsfähigkeit von Affektintensitäten, partielle Störungen der Mentalisierungsfähigkeit, Defizite der reflexiven Fähigkeiten, Defizite der Symbolisierungsfähigkeit). Das konflikthafte Selbst. Bindungs- und Beziehungserfahrungen mit den Pflegepersonen sowie deren sekundärprozesshafte Verarbeitung durch das Kind lassen im Kontext mit dem motivationalen Antriebserleben (Trieberleben) unlösbare Konflikte entstehen, die ins Unbewusste verdrängt werden. Diese unbewussten Konflikte stehen traditionell im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Psychoanalyse (zum Verständnis des Konfliktbegriffes aus selbstpsychologischer Sicht s. Klöpper 2004); Das kolonisierte Selbst. Der Respons von Bindungspersonen, der durch deren gravierende oder blande psychische Beeinträchtigung von Krankheitswert (z. B. Depression oder Schizophrenie), durch Trauma oder Missbrauch geprägt ist, belastet das wachsende Selbst des Kindes mit Inhalten, die nicht im kindlichen Selbst wurzeln, sondern im Objekt und erzeugt ich-fremde Selbstzustände, die durch Verleugnung, Spaltung und Externalisierung abgewehrt werden müssen. Fonagy et al. (2004) spricht in diesem Zusammenhang vom „fremden Selbst“, das das infantile Selbst „kolonisiert“ (S. 18 f.; s. auch Dornes 2004, S. 192 f.). Funktionaler, inhaltlicher und Systemaspekt sind konzeptionelle Erweiterungen der vertrauten Gesichtspunkte, unter denen das Selbst im analytischen Prozess schon immer betrachtet wurde, nämlich wenn es aus der Perspektive der Abwehr, des Abgewehrten und der Beziehung reflektiert wurde. Allerdings erweitern die drei Aspekte den Blickwinkel der Perspektive um die Inhalte des implizit-prozeduralen Gedächtnisses, wie die-
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se entstehen und wie deren Wirkung, vom impliziten Beziehungswissen des Patienten gesteuert, dessen Erleben in der analytischen Beziehung unbewusst gestaltet, ja wie dies auch das Erleben des Analytikers zu verändern vermag. Das Ergebnis seiner Reflexion beeinflusst die Entscheidung des Analytikers, wie er intervenieren will. Hinsichtlich seiner Interventionsmöglichkeiten lassen die hier dargestellten Zusammenhänge deutlich werden, dass er über drei grundsätzliche Möglichkeiten der Einflussnahme im analytischen Prozess verfügt: 1. der präverbale, handlungsdialogische Austausch, 2. der Umgang mit der Selbstobjektfunktion, 3. die verbal-reflektierende Kommunikation. Präverbaler, handlungsdialogischer Austausch. Der präverbale, handlungsdialogische Austausch zwischen den beiden Beteiligten der analytischen Dyade verändert mit seinen kontinuierlichen, charakteristischen Modalitäten die Repräsentanzen des impliziten Beziehungswissens auf beiden Seiten. Die Qualität der Beziehung, die der Analytiker anbietet, ist, indem sie geschieht, modifizierend wirksam. Daneben kann auch die Bindungssicherheit des Patienten eine Modifikation erfahren, wenn die analytische Beziehung die Erfahrung von Bindungssicherheit vermittelt. Diese Wirkungen erfolgen außerhalb des verbal deklarierenden Deutungsprozesses. Vielmehr ist der Analytiker durch die persönliche Art seiner Beziehungsgestaltung selbst verändernd wirksam. Selbstobjektfunktion. Der Umgang mit der Selbstobjektfunktion gibt dem Analytiker die Möglichkeit, dem Analysanden in Momenten, in denen Defizite oder Beeinträchtigungen seiner Selbstfunktionen erkennbar werden, die im Zusammenhang mit seinem impliziten Beziehungswissen stehen, selbstkonstitutive Interventionen anzubieten. Dabei greift der Analytiker zunächst im Vorfeld der Deutung auf seine eigene Emotionalität, Affektivität, Regulationsfähigkeit und Mentalisierungsmodi zurück, die auf diese Weise Eingang in seine Interventionen finden. In seinen Deutungen wird der Analytiker dadurch wirksam, dass er dem Analysanden seine Emotionalität und deren intrapsychische Verarbeitung in der
Beziehung zur Verfügung stellt. In der Deutung aus der Selbstobjektfunktion werden drei Inhalte kommuniziert und zur Erfahrung des Patienten, die repräsentiert werden kann: (1) eine Emotion, ein Affekt oder auch eine Intention des Patienten; (2) dass dieser Inhalt wahrnehmbar ist und intrapsychisch reguliert werden kann; (3) dass dieser Inhalt symbolisiert und infolgedessen auch reflektiert werden kann. Diese Arbeit ermöglicht dem Analysanden, dass im analytischen Prozess sekundäre Repräsentanzen der Emotionen und Affekte entstehen, wie dies als Charakteristikum des markierten Spiegelns während der Kindheit beschrieben wurde. Verbal-reflektierende Kommunikation. Die verbal-reflektierende Kommunikation greift die Inhalte der unbewussten Erfahrung, Phantasie und intrapsychischen Verarbeitung des Patienten auf einer kognitiven Ebene auf und führt zu deren Begreifen in emotionalen und kognitiven Zusammenhängen. Im gelingenden Fall kann auch eine verbal-reflektierende Deutung dazu führen, dass „moments of meeting“ entstehen. Das geschieht, wenn die expressiv-deklarative Deutung spontan genug den emtionalen Kontext des Erlebens erfasst, beschreibt und authentisch mit dem korrespondierenden Affekt des Analytikers verbindet. Mit seinen verbal-reflektierenden Deutungen stellt der Analytiker jedoch eher seine kognitiven Funktionen zur Verfügung und lässt dem Analysanden darin erfahrbar werden, wie er sein Emotions- und Affekterleben (seine Gegenübertragung) intrapsychisch verarbeitet, d. h. wie er mental Denken und Fühlen miteinander in Verbindung treten lässt. Diese Art der Deutungsarbeit wirkt modifizierend auf die Fähigkeit zur Mentalisierung und die „theory of mind“ des Patienten.
renten Theorierahmen orientieren können, wenn wir versuchen, die klinischen Phänomene, das Erleben und die Gefühle von Analysanden zu verstehen, die wir als borderlinig, narzisstisch-defizitär oder gar traumatisiert diagnostizieren. Mit dem Konzept des implizit-prozeduralen Beziehungswissens und dem durch die Säuglingsforschung geschulten Blick für frühkindliche Entwicklung im Hintergrund unseres Wissens begreifen wir jetzt besser, was wir tun, wenn wir das emotionale Erleben unserer Patienten mit ihnen gemeinsam behutsam, sorgfältig und subtil explorieren, buchstabieren, verbalisieren und in den Erfahrungskontext von Beziehung stellen: Wir erhellen eine Dimension von Unbewusstheit, nämlich prozedural erworbenes und ebenso repräsentiertes Beziehungswissen von komplexem Umfang. Und selbst wenn dessen Erhellung nicht gelingt, lassen wir durch die Erfahrung der Beziehung mit uns neues implizites Erfahrungswissen entstehen, wodurch sich die Beziehungsfähigkeit des Analysanden verbessert. Ausgestattet mit den neuen Konzepten liegt es jetzt an uns, unseren Patienten in die Augen, ins Gesicht oder auf den Körper zu schauen und jeden „Moment“ ernst zu nehmen, um so das Potenzial der Psychoanalyse in ihrer ganzen Fülle, Kraft und Vitalität umzusetzen, so persönlich es denn eben geht. Wenn der Patient dann auf diese Weise eine Entwicklung durch den Erwerb neuen impliziten Beziehungswissens im Hier und Jetzt der analytischen Dyade erfährt und dies eine eigenständige therapeutische Wirksamkeit neben den bekannten deutend-deklarativen Techniken entfaltet, so ist diese Erfahrung für den Analytiker nicht ganz neu, aber sie ist jetzt auf einer nachvollziehbaren Theoriebasis besser verständlich.
Anschrift Schlussbemerkung Es ist beeindruckend, mit welcher Klarheit und Weitsicht bereits Psychoanalytiker, wie Spitz, Winnicott oder Guntrip, vieles von dem vorweg genommen haben, was wir heute aus dem Blickwinkel der Säuglings- und Bindungsforschung sowie der kognitiven Entwicklungstheorie betrachten. Allerdings gelingt es erst durch die neuen Perspektiven, dass wir uns an einem annähernd kohä-
Dr. Michael Klöpper Op’n Hainholt 64b, 22589 Hamburg E-Mail:
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