554
2010;105:554–9 (Nr. 8), © Urban & Vogel, München
PRÄVENTION UND VERSORGUNGSFORSCHUNG
Flavonoide zur Krebsprävention im Darm Harald Hoensch1, Elke Richling2, Wolfgang Kruis3, Wilhelm Kirch4
ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund: Da derzeit keine nachhaltigen und sicheren Möglichkeiten zur Prävention von Neoplasien, insbesondere beim kolorektalen Karzinom (KRK), bestehen, könnten wirksame, praktikable Strategien die Inzidenz dieser häufigen Krebsform vermindern. Es ist bekannt, dass diätetische Faktoren die Entstehung des KRK und seiner Vorstufen modifizieren. Dabei scheinen diätetische Interventionen mit sekundären Pflanzeninhaltsstoffen sehr erfolgversprechend. Methodik: Eine selektive Literaturrecherche in der Datenbank PubMed wurde unter Verwendung folgender Stichwörter durchgeführt: „flavonoids“, „cancer“, „therapy“, „colorectal cancer“ neben dem Stichwort „clinical query“. Des Weiteren wurden eigene therapeutische Ergebnisse aufgenommen und die Wertigkeit klinischer Studien verglichen. Ergebnisse: In-vitro- und In-vivo-Studien mit Tiermodellen, Zellkulturen und Zellbestandteilen haben ergeben, dass Flavonoide antimutagene und antikarzinogene Wirkungen entfalten. Verschiedene biologische und molekulare Endpunkte der Karzinogenese werden im Sinne einer Schutzwirkung beeinflusst. Isoflavonoide können in vitro proliferationsinduzierende Wirkungen bei Brustkrebszellen zeigen. Epidemiologische Studien (Kohorten-, Fall-Kontroll- und Querschnittsstudien) ergeben kein einheitliches Bild hinsichtlich einer präventiven Wirkung der Flavonoide. Systematische Reviews und Metaanalysen zeigen eine Schutzwirkung bestimmter Flavonoide (z.B. Epigallocatechingallat) bei Frühformen der Neoplasien (Adenomen). Schlussfolgerung: Flavonoide wirken antimutagen und antikarzinogen und könnten sich zur Prävention von bestimmten Krebsformen eignen, besonders bei adenomatösen Neoplasien im Intestinaltrakt. Eine relevante klinische Wirkung muss durch randomisierte, kontrollierte klinische Studien nachgewiesen werden. Schlüsselwörter: Flavonoide · Darmkrebs · Prävention · Kolorektales Karzinom · Adenome Med Klin 2010;105:554–9. DOI 10.1007/s00063-010-1094-7 ABSTRACT Colorectal Cancer Prevention by Flavonoids Background: Valid, sustained and safe clinical means of colorectal cancer prevention are still lacking, but they are urgently needed to lower the incidence
1 Privat-Praxis
Innere Medizin und Gastroenterologie, Marienhospital Darmstadt, Lebensmittelchemie & Toxikologie, Fachbereich Chemie, Technische Universität Kaiserslautern, 3 Evangelisches Krankenhaus Köln-Kalk, 4 Klinische Pharmakologie, Technische Universität Dresden. 2 Fachrichtung
Eingang des Manuskripts: 14. 5. 2010. Annahme des Manuskripts: 10. 7. 2010.
S
ichere, verlässliche und nachhaltige Methoden der Krebsprävention stehen derzeit nicht zur Verfügung. Die Leitlinien der medizinischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften beinhalten meist Hinweise und Empfehlungen zur gesunden Lebensführung und zur Vermeidung von karzinogenen Agenzien aus der Umwelt sowie Hinweise zur genetischen Disposition [1]. Aufgrund der Daten aus der neuesten EPIC-Studie kann von einer geringen Schutzwirkung vor Krebs durch Gemüse und Obst ausgegangen werden [2]. Jedoch sind präventive Wirkungen von Obst und Gemüse zur Vermeidung von kolorektalen Karzinomen (KRK) beschrieben [3]. Interventionelle Maßnahmen zur Krebsprävention beziehen sich auf Acetylsalicylsäure und nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR); diese Medikamente können allerdings beträchtliche Nebenwirkungen verursachen, wie z.B. gastrointestinale Blutungen und kardiovaskuläre Komplikationen. Zur Krebsprävention sind Agenzien nötig, die über längere Zeiträume (ca. 1–10 Jahre) eingenommen werden können, keine unerwünschten Nebenwirkungen haben und eine definierte, antikarzinogene Aktivität aufweisen [4]. Zahlreiche „natürliche“ Komponenten einer „gesunden“ Nahrung weisen diese Eigenschaften auf [5]. Diese sog. Botanicals sind in pflanzlichen Stoffen weit verbreitet und gehören zu den sekundären Pflanzeninhaltsstoffen. Verschiedene definierte Agenzien der Pflanzen haben per se keinen kalorischen Wert, erfüllen aber Funktionen wie z.B. Schutz vor Fressfeinden und Schutz vor toxischen Einflüssen der Umgebung (z.B. vor UV-Licht und Sauerstoffradikalen). Flavonoide gehören zu den Polyphenolen (Abbildung 1) und erfüllen bestimmte biologische Funktionen (Tabelle 1), die für den tierischen Organismus essentiell sind. Insgesamt gibt es über 6 000 verschiedene Flavonoide,
Hoensch H, et al. Flavonoide zur Darmkrebsprävention Med Klin 2010;105:554–9 (Nr. 8)
555
PRÄVENTION UND VERSORGUNGSFORSCHUNG
of colorectal cancer. Dietary factors and phytochemicals such as flavonoids play an important role for prevention. Methods: A selective search of the literature using PubMed was performed with the following key words: flavonoids, cancer, therapy, colorectal cancer focused on clinical queries. Results of clinical studies including the authors’ own were compared. Results: In vivo and in vitro studies with animals, cell cultures and subcellular components provide ample evidence for antimutagenic and anticarcinogenic effects of flavonoids as shown for multiple biological and molecular endpoints. Isoflavonoids in vitro have been shown to induce proliferation of breast cancer cells. Epidemiologic trials (cohort, case-control and cross-sectional studies) yielded inconsistent results for flavonoid protection. Systematic reviews and meta-analyses support the protective role of tea flavonoids on adenoma incidence. An interventional pilot study with sustained flavonoid supplementation was shown to reduce the rate of neoplasia in patients with resected colorectal cancer. Conclusion: Selected flavonoids possess antimutagenic and anticarcinogenic properties and could reduce the incidence of colorectal neoplasias as shown in epidemiologic trials. Randomized controlled clinical studies with flavonoid intervention are necessary to provide evidence for their role in colorectal cancer prevention. Key Words: Flavonoids · Colorectal carcinoma · Prevention · Adenoma Med Klin 2010;105:554–9. DOI 10.1007/s00063-010-1094-7
wobei die in Früchten, Gemüse, Tee und Beeren vorkommenden Flavonoide als Teil der menschlichen Nahrung besonders wichtig erscheinen. Die am weitesten verbreiteten nutritiven Flavonoide sind in Tabelle 2 beschrieben. In dieser Übersichtsarbeit soll die antikarzinogene und antineoplastische Tabelle 1. Biologische Wirkungen der Flavonoide. GST: Glutathion-S-Transferase; GT: Glucuronyltransferase. • Hemmung der Mutagenese und Karzinogenese • Hemmung der Lipidperoxidation • Antientzündliche Wirkung • Antiödematöse Wirkung • Antiangiogenese • Steigerung der Apoptose • Induktion der Schutzenzyme (GST, GT)
Wirkung der nutritiven Flavonoide, besonders hinsichtlich der Entstehung des KRK und von Kolonpolypen, diskutiert werden. Methodik und Auswahl
Im Zeitraum von 1951 bis 15. 2. 2010 wurden mittels PubMed 8 326 ArbeiTabelle 2. Flavonoide in der Nahrung des Menschen. • Flavone (z.B. Apigenin, Luteolin) aus Kamille, Sellerie, Petersilie
3' 2' 8 7 6
A
O C
5
4
1' 2
B
4' 5'
6'
3
Abbildung 1. Grundstruktur der Flavonoide.
ten unter dem Suchkriterium „flavonoids and cancer“ gefunden, davon waren 1 040 Review-Artikel. Unter den Suchbegriffen „flavonoids, cancer, and therapy: clinical queries“ fanden sich von 1953 bis zum Jahr 2010 2 507 Artikel einschließlich 658 Reviews. Fokussiert auf „colorectal cancer, flavonoids, therapy: clinical queries“ waren 222 Veröffentlichungen einschließlich 25 Reviews zu ermitteln (1967–2009). Die publizierten Originalarbeiten bis zum Jahr 2005 sind zusammengefasst [6], weitere aus den Folgejahren durch Hoensch et al. im World Journal of Gastroenterology [7] erfasst. Die seit dem Jahr 2006 veröffentlichten klinischen Arbeiten sind in der vorliegenden Publikation enthalten und ausgewertet: Kohortenstudien (retrospektiv, prospektiv und interventionell), Fall-Kontroll-Studien und Querschnittsstudien, Metaanalysen, systematische Reviews und Studien mit Biomarkern bei behandelten Personen. Randomisierte, kontrollierte klinische Studien nach Arzneimittelgesetz (AMG-Studien) wurden bisher nicht veröffentlicht. Am häufigsten finden sich Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Studien, so dass als höchstmöglichster Evidenzgrad die Stufe II b erreicht werden kann.
• Flavonole (z.B. Quercetin, Kämpferol) aus Äpfeln, Zwiebeln, Knoblauch
Flavonoide in der Nahrung
• Flavanole (z.B. Catechine wie Epigallocatechingallat) aus Grüntee
In der gemischten europäisch-amerikanischen Nahrung sind pro Tag ca. 200–300 mg Flavonoide enthalten, die hauptsächlich aus Äpfeln, Zwiebeln, Tee und Schokolade sowie aus Gemüse, Obst und Beeren verzehrt werden. Täglich werden jeweils ca. 10–15 mg Flavone und Flavonole sowie 20 mg Tee-Flavanole als Catechine, insbeson-
• Flavanone (z.B. Naringenin, Hesperidin) aus Südfrüchten • Isoflavone (z.B. Sojaprodukte wie Genistein) • Anthocyanidine (aus Beerenfrüchten)
Hoensch H, et al. Flavonoide zur Darmkrebsprävention Med Klin 2010;105:554–9 (Nr. 8)
556 PRÄVENTION UND VERSORGUNGSFORSCHUNG
OH HO
O
OH O
dere Epigallocatechingallat (EGCG), aufgenommen. Apigenin (Abbildung 2) enthält eine Flavan-Ringstruktur mit drei Hydroxylgruppen und kommt in Kamillentee sowie in Sellerie und Petersilie an Zucker gebunden in Form von Glykosiden vor [8]. EGCG ist das Hauptflavonoid des grünen Tees und hat acht phenolische Hydroxylgruppen (Abbildung 3). Flavonoide werden teils in freier, teils in glykosidisch gebundener Form im Dünndarm aufgenommen. Sie sind nach Resorption zu ca. 10% systemisch verfügbar und unterliegen auch einer enterohepatischen Zirkulation. Folglich sind im Ileum und Kolon Flavonoidmetaboliten wie Glucuronide und Sulfate nachzuweisen. Die im Dünndarm und Dickdarm nicht resorbierten Anteile werden von der Mikroflora abgebaut, und es entstehen als Metaboliten Lactone oder Spaltprodukte wie die Gallussäure, aromatische Säuren und kurzkettige Fettsäuren vorwiegend als Butyrat, Acetat und Propionat. Die Resorption, die Distribution und der Metabolismus sind von der Struktur und Lipophilie (Fettlöslichkeit) des Flavonoidmoleküls abhängig. Die Ausscheidung erfolgt
OH OH O
OH O
OH
Tabelle 3. Wirkungen der Flavonoide bei der Karzinogenese (biologische Endpunkte). ↑: Anstieg; ↓: Hemmung. • Apoptose ↑ • DNA-Reparatur ↑ • Autophagie ↑ • G2/M-Phasen-Arrest ↑
Abbildung 2. Strukturformel von Apigenin.
HO
nach Glucuronidierung, Methylierung und Sulfatierung über Galle und Stuhlgang sowie im Urin [9]. In Studien mit Probanden, die ein Stoma des terminalen Ileums besitzen, konnten Flavonoidkonzentrationen für den Dickdarm von bis zu 80 µM ermittelt werden [10].
OH
O
Antikarzinogene Wirkungen
Flavonoide vom Typ der in der Nahrung vorhandenen Inhaltsstoffe (Tabelle 2) haben verschiedene biologische Wirkungen auf bestimmte Endpunkte der Karzinogenese (Tabelle 3). Die Beeinflussung der Karzinogenese wurde bei zahlreichen In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen nachgewiesen, wobei die Wirkung von der Dosis und der Konzentration der Flavonoide im Gewebe bzw. im Milieu sowie von der Art, Polarität und Lipophilie der Flavonoidspezies abhängt. Auffällig ist, dass Flavonoide multiple biologische Endpunkte beeinflussen und dies z.T. bei Konzentrationen und Dosen (0,10–2,0 µM), die auch beim Menschen in vivo erreicht werden [11]. Besonders wichtig sind die Hemmung der Angiogenese und die Steigerung der Apoptose; diese Wirkungen waren bei Versuchen mit Zellkulturen sowie beim experimentell erzeugten und genetisch bedingten Darmkrebs nachweisbar [5]. Molekularbiologische karzinogene Ereignisse, Signalstrukturen, Stoff-
OH Abbildung 3. Strukturformel von Epigallocatechingallat (EGCG).
• Zellproliferation ↓ • Entzündungsreaktionen ↓ • Chemisch induzierte Karzinogenese ↓ • Aberrante Krypten im Kolon ↓ • Adenomproliferation bei APCdefizienten Min-Mäusen ↓
wechselpfade und Enzymaktivitäten werden beeinflusst (Tabelle 4) [12]. Es ist auffällig, dass Flavonoide karzinogene molekulare Signalkaskaden hemmen, die in der Therapie des KRK mit Antikörpern (VEGF [vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor] und EGFR [epidermaler Wachstumsfaktor-Rezeptor) und NSAR eine bedeutende Rolle spielen. Phase-IISchutzenzyme werden induziert, Apoptoseenzyme und Tumorsuppressorproteine (p53) hochreguliert. Aufgrund dieses molekularen Mechanismus können Flavonoide im Sinne einer additiven adjuvanten Chemotherapie wirken.
Tabelle 4. Wirkungen der Flavonoide bei der Karzinogenese (molekulare Mechanismen). ↑: Anstieg; ↓: Hemmung. COX-2: Cyclooxygenase-2; EGFR: epidermaler Wachstumsfaktor-Rezeptor; GSH: Glutathion-Sulfhydryl; iNOS: induzierbare Nitroxidsynthase; NF: nukleärer Faktor; PGE2: Prostaglandin E2; TNF: Tumor-Nekrose-Faktor; VEGF: vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor. • Wnt/β-Catenin-Pfad ↓
• GSH-Transferase ↑
• VEGF und PGE2-Synthese ↓
• Glucuronosyltransferase ↑
• EGFR ↓
• Autooxidation ↑
• NF-κB ↓
• TNF-Aktivierung ↓
• COX-2- und iNOS-Enzyme ↓
• Cytochrom P450 3A4 und 2C9 ↓
• Caspase 3 ↑
• P-Glykoprotein ↓
• p53 ↑
OH
• Angiogenese ↓
• Topoisomerase I und II ↓ • Histon-Deacetylase ↓ • Telomerase ↓
Hoensch H, et al. Flavonoide zur Darmkrebsprävention Med Klin 2010;105:554–9 (Nr. 8)
557
PRÄVENTION UND VERSORGUNGSFORSCHUNG
Klinische Studien
Klinische Studien zur antikarzinogenen Wirkung der Flavonoide erfolgten meist als Kohortenstudien entweder prospektiv, retrospektiv oder interventionell und als Fall-Kontroll-Studien sowie als Querschnittsstudien [11]. Metaanalysen und systematische Reviews sowie Studien mit biochemischen Markern sind vorhanden, allerdings fehlen randomisierte, kontrollierte klinische Studien. Für folgende Tumorentitäten wurde eine auf bestimmte Flavonoidklassen und bestimmte Patientengruppen begrenzte Evidenz für eine Schutzwirkung der Flavonoide gefunden: KRK, Prostata- und Lungenkrebs sowie Magen- und Pankreaskarzinom. Die Einnahme von Flavonoiden wurde mit Hilfe eines Fragebogens zur Art der Nahrungsbestandteile ermittelt, die Flavonoidmengen wurden aus Nahrungsmitteltabellen berechnet und die quantitative Flavonoidaufnahme in Quartilen und Quintilen verglichen. Unterschiede in der Häufigkeit der Krebsformen wurden je nach Studiendesign als Odds-Ratios (OR; Fall-Kontrollen) oder Risk-Ratios (RR; Kohorten) hinsichtlich der Prävalenz und Inzidenz ausgedrückt. Mit dieser epidemiologischen Methodik [11] wurden bei Blasenkrebs und bei der Barrett-Neoplasie des Ösophagus kontroverse Ergebnisse ermittelt; keine Beeinflussung durch Flavonoide ergab sich bei den gynäkologischen Tumoren (Brust, Eierstöcke, Gebärmutter) [13] und beim oropharyngealen Krebs. Bei den durch Rauchen verursachten Tumoren scheinen Flavonoide eine geringere Schutzwirkung zu haben [3]. Viele Studien stammen aus Asien, und ihre Ergebnisse können wegen unterschiedlicher Lebensumstände nicht unmittelbar auf die westliche Welt übertragen werden. Klinische Studien bei Darmneoplasien
Beim Darmkrebs (KRK) ergeben neuere epidemiologische Studien (2008–2010) ein uneinheitliches Bild. Zwei große prospektive Kohortenstudien (Kuopio-Studie aus Finnland [14] und Women’s Health Study [13]) erbrachten keine Evidenz für eine Schutzwirkung. Zwei Fall-Kontroll-Studien aus den Niederlanden
[15] und aus Schottland [16] zeigten eine begrenzte Evidenz für eine positive Wirkung, allerdings nur bei Frauen und für Quercetin. Eine neue Metaanalyse [17] ergab Hinweise auf eine Schutzwirkung von Soja-Isoflavonoiden bei Frauen. Ein systematisches Review nach der Cochrane-Methode favorisiert EGCG als Flavonoid, allerdings ohne signifikante epidemiologische Evidenz [18]. Bei Darmpolypen (Adenome) ist die Evidenz für Flavonoide stärker. Innerhalb der großen US-amerikanischen Polypen-Studie (Polyp Prevention Trial) wurde eine diätetische Intervention mit Ballaststoffen sowie Gemüse und Obst als prospektive, randomisierte Kohortenstudie über 4 Jahre durchgeführt [19]. Hoher Flavonolverzehr führte zu einer geringeren Häufigkeit von Adenomen (OR 0,24). Nach einer koloskopischen Polypektomie von Adenomen wurde die Rezidivrate bei Patienten bestimmt, die täglich 1,5 g Grüntee-Extrakt einnahmen, und mit der Rezidivrate bei unbehandelten Patienten verglichen [20]. Nach 1 Jahr hatten 31% der Kontrollen (20 von 65), aber nur 15% (neun von 60) der Behandelten ein Adenomrezi-
50%
div (RR 0,49, 95%-Konfidenzintervall 0,24–0,99; p < 0,05). Bei älteren Studien von Rossi et al. [21] und Theodoratou et al. [22] handelte es sich um große bzw. prospektive Fall-Kontroll-Studien. Die italienische Studie ergab eine OR zwischen 0,64 und 0,78 für Flavonole, Anthocyanidine, Isoflavone und Flavone, während die schottische Studie eine Risikoreduktion von 26–32% für Flavonole, insbesondere für Quercetin und Catechine, erbrachte. Bei Fall-Kontroll-Studien kann ein Unterschied nur durch die OR ausgedrückt werden, während bei prospektiven Studien der Unterschied als RR angegeben wird. Eine umfangreiche prospektive Kohortenstudie aus den USA (Nurses’ Health Study and Health Professional Follow Up Study) über 10 Jahre zeigte keine Risikoreduktion für die Gesamtflavonoidaufnahme und für Flavonole [23]. Ein systematisches Review aus dem Jahr 2004 zum Thema Grüntee und gastrointestinale Neoplasie konnte eine Schutzwirkung für EGCG bei Kolonadenomen bestätigen [24]. 2008 haben wir eine prospektive, interventionelle Kohortenstudie bei
Ohne Flavonoide Mit Flavonoiden
45%
40%
35%
30%
25%
20%
15%
10%
5%
0% Krebs
Adenom
Neoplasie
Abbildung 4. Rezidivrate (in %) von Karzinomen, Adenomen und Neoplasien nach kurativer Operation eines kolorektalen Karzinoms unter einer Dauertherapie mit Flavonoiden (violette Säulen), verglichen mit einer unbehandelten Kontrollgruppe (blaue Säulen).
Hoensch H, et al. Flavonoide zur Darmkrebsprävention Med Klin 2010;105:554–9 (Nr. 8)
558 PRÄVENTION UND VERSORGUNGSFORSCHUNG
Patienten nach kurativer Operation eines KRK veröffentlicht, wobei eine Gruppe über 3–4 Jahre mit einem Flavonoidgemisch als Nahrungsergänzungsmittel behandelt wurde (n = 14) und die Kontrollgruppe ohne Intervention (n = 15) lediglich beobachtet wurde [7]. Das Flavonoidgemisch (Flavo-Natin®) enthält Bioflavonoide aus Grüntee-Extrakt (EGCG) und Kamille-Extrakt (Apigenin). Aufgrund des dualen Einsatzes der beiden Flavonoide ergibt sich eine komplementäre molekularbiologische Wirkung [6]. Die verwendete Flavonoiddosis entspricht der doppelten natürlichen Zufuhr der selektierten Flavonoide. Als Begleitstoffe der Flavonoidtabletten wurden flavonoidstabilisierende Vitamine und Füllstoffe verwendet. Beide Gruppen waren hinsichtlich der relevanten Störfaktoren vergleichbar und wurden im Rahmen der leitliniengerechten Nachsorge koloskopisch hinsichtlich der Entstehung von Polypen und Tumorrezidiven überwacht. Bei keinem der behandelten Patienten trat ein Tumorrezidiv auf, und nur ein Adenom wurde erfasst, während bei drei der Kontrollen ein Tumorrezidiv und bei vier der Kontrollen Adenome auftraten (Abbildung 4). Der kombinierte Neoplasieendpunkt wurde bei 7% der Behandelten und bei 47% der Kontrollen erreicht. Die absolute Differenz im Outcome betrug 40%, die relative Risikoreduktion 6,7 bei einer „number needed to treat“ von 2,5 (p < 0,027). Diese Pilotstudie [7] mit einer geringen Patientenzahl könnte ein Hinweis auf die Wirksamkeit der Flavonoide bei der tertiären Prävention des KRK sein. Es werden dringend randomisierte, kontrollierte, interventionelle klinische Studien mit definierten Flavonoiden benötigt, um eine Kausalität der Krebs-FlavonoidBeziehung zu bestätigen. Tee-Flavonoide erscheinen für klinische Studien besonders geeignet, da sie in Form von Tabletten exakt dosiert werden können und umfangreiche Erfahrungen über ihre Sicherheit vorliegen. Epidemiologische Studien reichen nicht aus, um diesen Zusammenhang zu beweisen. Diese Studien müssen nach den Kriterien des Arzneimittelgesetzes (AMG) durchgeführt werden, womit sie sehr teuer sind.
Nebenwirkungen
Flavonoide können in vivo und in vitro autooxidative Reaktionen auslösen, besonders in Anwesenheit von Eisen. Der Homocysteinspiegel im Gewebe kann ansteigen; dazu müssen allerdings Flavonoide im Bereich von GrammMengen aufgenommen werden. Arzneimittelinteraktionen durch Hemmung von Phase-I-metabolisierenden Enzymen müssen berücksichtigt werden [25]. Isoflavonoide weisen eine östrogenähnliche Aktivität auf. Im Zusammenhang mit der Einnahme von Alkohol und Paracetamol wurden lebertoxische Reaktionen beschrieben. Idiosynkrasie durch Flavonoide kann zu Leberschäden, Kontaktdermatitis und hämolytischer Anämie führen [25]. Bei Dauereinnahme von Flavonoiden ohne hepatotoxische Komedikation treten keine pathologischen Leberwerte im Blut auf. Ausblick
Flavonoide können in der Prävention von bestimmten Krebsformen, besonders beim KRK, eine Rolle spielen. Es fehlen allerdings gesicherte Erkenntnisse im Sinne von Evidenzgraden I und II; weitere interventionelle Studien zur Frage der wirksamsten Flavonoidspezies und der geeigneten Zielgruppen sollten durchgeführt werden. Rationale Nahrungsergänzungsmittel mit diätetischen Agenzien sollten getestet werden. Flavonoide wären zur adjuvanten Therapie bei KRK-Patienten im Stadium II, die bisher keine Chemotherapie erhalten, sowie bei Kontraindikationen gegenüber einer Chemotherapie im Stadium III geeignet. Des Weiteren wären sie als „add-on“-Therapie zur adjuvanten Chemotherapie im KRK-Stadium III zur eventuellen Dosisreduktion der Zytostatika einzusetzen. Erbliche Krebsformen, wie z.B. die familiäre Polyposis coli und das Lynch-Syndrom, könnten prophylaktisch mit Flavonoiden behandelt werden. Die Neoplasieentstehung bei chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten könnte gehemmt werden. Fazit
Flavonoide erfüllen die Kriterien für eine individualisierte Chemopräven-
tion bei kolorektalen Neoplasien im Sinne einer biologischen Prävention. Sie sind als diätetische Agenzien in bestimmten Mengen unbedenklich, haben ein gutes Sicherheitsprofil und kaum unerwünschte Nebenwirkungen; sie können als Dauerbehandlung in Tablettenform über Jahre hinaus eingenommen werden und sind relativ kostengünstig. Interventionelle Studien bei Risikogruppen im Sinne von randomisierten, kontrollierten klinischen Studien oder prospektive Kohortenstudien sind nötig, um die optimale Dosierung zu ermitteln sowie die Wirksamkeit und Nützlichkeit sicherzustellen. Kernaussagen
Flavonoide sind diätetische Agenzien; sie haben antikarzinogene und antineoplastische Eigenschaften in vitro und in vivo. Flavonoide beeinflussen die multiplen Stufen der Karzinogenese im Sinne einer Hemmung von biologischen und molekularen Endpunkten der Krebsentstehung. Epidemiologische Studien ergeben kein einheitliches positives Wirkungsprofil der Flavonoide. Eine klinisch relevante Schutzwirkung der Flavonoide lässt sich für bestimmte Flavonoide (EGCG) zeigen, die bei bestimmten Neoplasien (Adenome) wirksam sind. Klinische Interventionsstudien mit Flavonoiden sollten durchgeführt werden, um den Nutzen dieser Therapieform zu beweisen. Interessenkonflikt: Der korrespondierende Author erhält Vortragshonorare von der Firma Köhler-Pharma, Alsbach-Hähnlein. Die anderen Autoren erklären keinen Interessenkonflikt. Literatur 1. World Cancer Research Fund/American Institute for Cancer Research. Food, nutrition, physical activity, and the prevention of cancer: a global perspective. Washington: AICR, 2007:280–8. 2. Boffetta P, Couto E, Wichmann J, et al. Fruit and vegetable intake and overall cancer risk in the European Prospective Investigation Into Cancer and Nutrition (EPIC). J Natl Cancer Inst 2010;102: 529–37. 3. van Duijnhoven FJ, Bueno-De-Mesquita HB, Ferrari P, et al. Fruit, vegetables, and colorectal cancer risk: the European Prospective Investigation Into Cancer and Nutrition. Am J Clin Nutr 2009;89: 1441–52.
Hoensch H, et al. Flavonoide zur Darmkrebsprävention Med Klin 2010;105:554–9 (Nr. 8)
559
PRÄVENTION UND VERSORGUNGSFORSCHUNG 4. Arber N, Levine B. Chemoprevention of colorectal neoplasia: the potential for personalized medicine. Gastroenterology 2008;134:1224–37. 5. Rajamanickam S, Agarwal R. Natural products and colon cancer: current status and future prospects. Drug Dev Res 2008; 69:460–471. 6. Hoensch HP, Kirch W. Potential role of flavonoids in the prevention of intestinal neoplasia: a review of their mode of action and their clinical perspectives. Int J Gastrointest Cancer 2005;35:187–95. 7. Hoensch H, Groh B, Edler L, Kirch W. Prospective cohort comparison of flavonoid treatment in patients with resected colorectal cancer to prevent recurrence. World J Gastroenterol 2008;14:2187–93. 8. Scalbert A, Williamson G. Dietary intake and bioavailability of polyphenols. J Nutr 2000;130: Suppl:2073S–85S. 9. Richling E. Trendbericht Lebensmittelchemie – Polyphenole. Nachr Chem 2010;58:345–9. 10. Bergmann H, Rogoll D, Scheppach W, et al. The Ussing type chamber model to study the intestinal transport and modulation of specific tight-junction genes using a colonic cell line Mol Nutr Food Res 2009;53:1211–25. 11. Yang CS, Wang X, Lu G, Picinich SC. Cancer prevention by tea: animal studies, molecular mechanisms and human relevance. Nat Rev Cancer 2009; 9:429–39. 12. Gerhauser C. Cancer chemopreventive potential of apples, apple juice, and apple components. Planta Med 2008;74:1608–24. 13. Wang L, Lee IM, Zhang SM, et al. Dietary intake of selected flavonols, flavones, and flavonoid-rich
14.
15.
16. 17.
18. 19.
20.
21. 22.
foods and risk of cancer in middle-aged and older women. Am J Clin Nutr 2009;89:905–12. Mursu J, Nurmi T, Tuomainen TP, et al. Intake of flavonoids and risk of cancer in Finnish men: the Kuopio Ischaemic Heart Disease Risk Factor Study. Int J Cancer 2008;123:660–3. Simons CC, Hughes LA, Arts IC, et al. Dietary flavonol, flavone and catechin intake and risk of colorectal cancer in the Netherlands Cohort Study. Int J Cancer 2009;125:2945–52. Kyle JA, Sharp L, Little J, et al. Dietary flavonoid intake and colorectal cancer: a case-control study. Br J Nutr 2010;103:429–36. Yan L, Spitznagel EL, Bosland MC. Soy consumption and colorectal cancer risk in humans: a meta-analysis. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2010; 19:148–58. Boehm K, Borrelli F, Ernst E, et al. Green tea (Camellia sinensis) for the prevention of cancer. Cochrane Database Syst Rev 2009;3:CD005004. Bobe G, Sansbury LB, Albert PS, et al. Dietary flavonoids and colorectal adenoma recurrence in the Polyp Prevention Trial. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2008;17:1344–53. Shimizu M, Fukutomi Y, Ninomiya M, et al. Green tea extracts for the prevention of metachronous colorectal adenomas: a pilot study. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2008;17:3020–5. Rossi M, Negri E, Talamini R, et al. Flavonoids and colorectal cancer in Italy. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2006;15:1555–8. Theodoratou E, Kyle J, Cetnarskyj R, et al. Dietary flavonoids and the risk of colorectal cancer. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2007;16:684–93.
23. Lin J, Zhang SM, Wu K, et al. Flavonoid intake and colorectal cancer risk in men and women. Am J Epidemiol 2006;164:644–51. 24. Borrelli F, Capasso R, Russo A, Ernst E. Systematic review: green tea and gastrointestinal cancer risk. Aliment Pharmacol Ther 2004;19:497–510. 25. Galati G, O’Brien PJ. Potential toxicity of flavonoids and other dietary phenolics: significance for their chemopreventive and anticancer properties. Free Radic Biol Med 2004;37:287–303.
Korrespondenzanschrift Prof. Dr. Harald Hoensch Privat-Praxis Innere Medizin und Gastroenterologie Marienhospital Martinspfad 72 64285 Darmstadt Telefon (+49/6151) 4060 Fax (+49/6152) 56742 E-Mail:
[email protected]