Z Außen Sicherheitspolit (2016) 9:277–279 DOI 10.1007/s12399-016-0561-5 REZENSION
Ioannou, D., Leblond, P., & Niemann, A. (Hrsg.). (2016). European Integration in Times of Crisis. Theoretical Perspectives. London: Routledge, 146 S., ISBN: 978-1-138-93490-0, ca. C 121,-. Thomas Tuntschew
Online publiziert: 21. April 2016 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
Wie kann erklärt werden, dass der Euro trotz aller Unkenrufe nicht zerbrochen ist und stattdessen vielmehr Schritte in Richtung einer Fiskal- und Bankenunion gemacht wurden? Der von Demosthenes Ioannou, Patrick Leblond und Arne Niemann im Routledge-Verlag herausgegebene Sammelband European Integration in Times of Crisis. Theoretical Perspectives trägt Beiträge einschlägiger EuropaforscherInnen zusammen, um diese Frage zu beantworten und die Integrationsschritte der letzten Jahre in den Bereichen der Wirtschafts- und Währungspolitik theoriegeleitet nachzuvollziehen. Eine nahezu identische Version des hier besprochenen Buches erschien bereits Ende 2014 online als Special Issue des Journals of European Public Policy. Die Druckausgabe unterscheidet sich durch ein vorangestelltes kurzes Geleitwort der Herausgeber sowie ein angehängtes Stichwort- und Abkürzungsverzeichnis. Da beim Zitieren die Online-Version herangezogen werden soll, empfiehlt sich der Kauf wohl nicht für diejenigen, die einen digitalen Zugriff auf die Zeitschrift haben und auf das – durchaus nützliche – Stichwortverzeichnis verzichten können. In ihrer Einführung stellen die Herausgeber den Verlauf der Euro-Krise dar und beschreiben vor allem die getroffenen Gegenmaßnahmen im Rahmen des Krisenmanagements. Sie zeichnen so das Bild einer von den Umständen geformten, sachlogischen und letztlich angemessenen Politik der EU. Mit dieser präzisen, autoritativen Darstellung – der Mitherausgeber Ioannou ist ein Chefökonom der Europäischen Zentralbank (EZB) – gelingt es, die Euro-Krise mitsamt Europäischer Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM), Six
T. Tuntschew () Lehrstuhl für Politik und Regieren in Deutschland und Europa, Universität Potsdam August-Bebel-Str. 89, 14482 Potsdam, Deutschland E-Mail:
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Pack, Excessive Deficit Procedure (EDP), Treaty on Stability, Coordination and Governance (TSCG) und Einheitlichem Aufsichtsmechanismus (SSM) so knapp wie möglich, aber so technisch-detailliert wie notwendig zu beschreiben. Die Herausgeber sind sich sicher, dass die institutionellen Innovationen gemeinsam mit den EZBMaßnahmen die Krise überwinden halfen und die Europäische Union nun gegenüber zukünftigen Krisen besser gewappnet sei. Wie sich diese aus integrationspolitischer Sicht „bemerkenswerten Errungenschaften“ (S. 10) erklären lassen, soll durch verschiedene theoretische Perspektiven beleuchtet werden. Den Herausgebern ist es gelungen, hochkarätige AutorInnen für diese Aufgabe zu gewinnen. Frank Schimmelfennig macht den Liberalen Intergouvernementalismus fruchtbar, indem er ausgewählte Verhandlungssituationen der Staats- und Regierungschefs während der Euro-Krise anhand spieltheoretischer Erwägungen darstellt. Dadurch gelingt ihm eine erste überzeugende Einschätzung zu den allgemeinen Präferenzund Machtkonstellationen, aus der sich die jeweiligen zwischenstaatlichen Verhandlungsergebnisse plausibel ableiten lassen. Demgegenüber erkunden Niemann und Ioannou in ihrem Aufsatz längerfristige Ursachen der Euro-Krise. Demnach lassen sich die beobachteten Integrationsschritte auf funktionale Dissonanzen zurückführen, die bereits in der Gründung der Währungsunion angelegt waren. Mit ihrer neofunktionalistischen Analyse betonen sie die Bedeutung von funktionalen Notwendigkeiten, politischen Eliten und supranationalen Organen. Amy Verdun richtet in ihrem Beitrag das Augenmerk auf die Ausgestaltung der Krisenmaßnahmen. Sie kommt durch Zuhilfenahme des Historischen Institutionalismus zu dem Schluss, dass die institutionellen Innovationen der Krisenpolitik ihre Vorbilder in bestehenden Strukturen oder Organen der EU haben. Der Artikel von Sara B. Hobolt und Christopher Wratil kann anhand von Eurobarometer-Daten zeigen, dass die durchschnittliche Zustimmung der BürgerInnen zum Euro innerhalb der Währungsunion überraschenderweise stabil blieb. Gleichwohl vermuten sie, diese Zustimmung werde zunehmend von utilitaristischen Kosten-Nutzen-Erwägungen getragen. Richard Bellamy und Albert Weale widmen sich in ihrem Aufsatz legitimatorischen Aspekten staatenübergreifender Währungspolitik in Europa. Die vertragstheoretischen Überlegungen verdeutlichen das Dilemma von Regierungen, sich sowohl gegenüber anderen Staaten glaubhaft zu verpflichten als auch gegenüber dem eigenen Elektorat verantwortlich zu zeigen. Im letzten Beitrag des Sammelbandes obliegt es Magnus Ryner, aus der Perspektive der kritischen Politischen Ökonomie ein alternatives Narrativ zum Krisenverlauf vorzustellen sowie die Rolle der Geisteswissenschaften in der Krise und ihren emanzipatorischen Auftrag für die Gesellschaft zu reflektieren. Das übergeordnete Verdienst dieses Sammelbandes liegt darin, ausgewählte theoretische Perspektiven auf die Euro-Krise in pointierten Beiträgen in einem Werk zusammenzutragen. Die Arbeiten zum Liberalen Intergouvernementalismus, Neofunktionalismus sowie Historischen Institutionalismus eignen sich hervorragend, die Erklärungskraft des jeweiligen theoretischen Ansatzes zu studieren. Der Beitrag zur Einstellungsforschung erinnert an die Rolle der BürgerInnen und somit an die denkbaren Einschränkungen des weiteren Integrationsverlaufes. Die am Ende aufgeworfenen normativen Fragen zur Legitimation der Euro-Währungspolitik oder die Erwägungen aus Sicht der kritischen Theorietradition fügen sich weitaus schwieriger in das additive integrationstheoretische Mosaik der ersten Beiträge. Gleichwohl
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Ioannou, D., Leblond, P., & Niemann, A. (Hrsg.). (2016). European Integration in Times of...
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bringen diese Artikel in die Gesamtzusammenstellung wichtige Perspektiven ein und diskutieren zentrale Dilemmata und Herausforderungen der europäischen Integration. Der Sammelband überzeugt insgesamt durch die theoriegeleitete Aufarbeitung der beachtlichen Integrationsschritte in den letzten Jahren. Hierdurch liefert er gute Erklärungen, warum ausgerechnet die Euro-Krise zu einem Integrationsschub führte. Gleichzeitig vergegenwärtigt die Zusammenstellung die Stärken aber auch die Grenzen der Anwendung klassischer Integrationstheorien auf die Euro-Krise. Zwar lassen sich Integrationsschritte ex post gut plausibilisieren, doch gerät die Nachhaltigkeit der getroffenen Entscheidungen aus dem Blick. Wie sich die Maßnahmen gegen die Euro-Krise auf die europäische Integration insgesamt auswirken oder ob aus ihnen längerfristige ökonomische oder soziale Verwerfungen erwachsen können, wird in diesem Band nur am Rande angedeutet. Auch die Herausgeber lassen diese ernsten Fragen – aus nachvollziehbaren Gründen – am Ende ihrer einleitenden Ausführungen offen.
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