Z Außen Sicherheitspolit (2015) 8:599–601 DOI 10.1007/s12399-015-0513-5 Rezension
Loth, W., & Păun, N. (Hrsg.). (2014). Desintegration and Integration in East-Central Europe. 1919–post-1989 (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der EG, Bd. 16). Baden-Baden/ Cluj-Napoca: Nomos/Editura Fundaţiei pentru Studii Europene, 380 S., ISBN: 978-3848713301/ ISBN 978-6065261785, € 30,00. Preuße, D. (2014). Umbruch von unten. Die Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas und das Ende der Sowjetunion. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 940 S., ISBN: 978-3658049713, € 89,99. Ther, P. (2014). Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin: Suhrkamp Verlag, 431 S., ISBN: 978-3518424612, € 26,95. Mariano Barbato Online publiziert: 14. Juli 2015 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa setzt sich in der anhaltenden Kontroverse um die Deutung von Ursachen und Folgen nicht unbedingt eine Entzauberung des annus mirabilis durch, aber doch eine Einbettung in längere Entwicklungslinien. Geschichts- und Politikwissenschaft treiben diese Einordnung mit fließenden interdisziplinären Grenzen voran. Das doppelte Gedenkjahr 2014 – zum Vierteljahrhundert nach 1989 kamen 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hinzu – beeinflusste den aktuellen Band der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission zur Integration und Desintegration Mittel- und Osteuropas in regionale und gesamteuropäische KonPD Dr. M. Barbato () Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik, Universität Passau, Dr.-Hans-Karpfinger-Straße 14, 94032 Passau, Deutschland E-Mail:
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struktionen. Als Beginn ihres zeitlichen Rahmens wählten die Herausgeber Wilfried Loth und Nicolae Păun das Ende des Ersten Weltkriegs 1919. Den Abschluss hielten sie mit der Bezeichnung post-1989 offen. Der Politikwissenschaftler Detlev Preuße hingegen bricht seine umfangreiche Chronik zur Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas durch einen Umbruch von unten mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 ab, verfolgt aber die Linie der Ursachenforschung bis ins Polen der Nachkriegszeit zurück und beginnt seine transnationale Erfassung der Entwicklungslinien gesellschaftlichen Widerstands Ende der 1960er Jahre. Der Osteuropahistoriker Philipp Ther konzipiert die Etablierung einer neuen neoliberalen Ordnung als gesamteuropäische Geschichtsschreibung, die die Transformation Mittel- und Osteuropas in einen Erzählrahmen vom Aufstieg des Neoliberalismus im Westen der 1980er Jahre bis zur aktuellen Transformationskrise im Süden der Eurozone einbettet. Der englisch- und französischsprachige Konferenzband von Loth und Păun erstreckt sich über fast ein Jahrhundert und versammelt in vier chronologischen Abschnitten – 1919–1945, 1945–1989, 1989 und einem mit einem Zukunftsszenario zeitlich unabgeschlossen Teil – dementsprechend unterschiedliche Beiträge. Die Argumentation zielt jedoch in eine gemeinsame Richtung, die Wilfried Loth so zusammenfasst: „Given this historical background, the Eastern enlargement of the EU in 2004 and the following years was in the first place not an expansion of the West but a long awaited completion of the beginnings in the late 1940s and early 1950s“ (S. 20), in denen Europapläne ohne die Restriktion auf den Westen geschmiedet wurden. Auch wenn sich die Beiträge auf ostmittel- und osteuropäische Fallbeispiele konzentrieren und weniger, wie beispielsweise der Beitrag von Wichard Woyke zu Deutschlands Erweiterungspolitik, westlich des Eisernen Vorhangs ansetzen, gelingt doch ein stimmiges Bild, das jenseits der gegenläufigen Erklärungsmuster einer westlichen Expansion in den widerständigen Osten bzw. einer östlichen Forderung an den zögerlichen Westen diese Erwartungshaltung als eine gesamteuropäische herauszuarbeiten, die sich nicht auf die Nachkriegsjahre beschränkt. Wie beispielsweise aus dem Beitrag von Păun zu den französisch-rumänischen Wirtschaftsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit hervorgeht, wurzelt diese Erwartungshaltung in einer historischen Verflechtung, in der sich konkrete Konstellationen verändern, aber vielschichtige Anknüpfungsmöglichkeiten für neue Integrationsszenarien offen lassen. Preuße stellt seine umfassenden und detaillierten Aufzeichnungen, die als ein Kompendium des Wissensstands aufgearbeiteter Archive einen bisher nicht vorliegenden Überblick verschaffen, sehr zurückhaltend als „kommentierte Chronik“ vor, die auf eine „vertiefende Analyse“ verzichtet (S. 26). Auch wenn noch einmal 100 Seiten zusammenfassender Analyse wünschenswert gewesen wären, liefert Preuße mehr als eine Chronik. Mit einer Fülle an Daten untermauert er die These von der Bedeutung des Umbruchs von unten gegen konkurrierende Deutungen einer von oben induzierten Wende oder eines Triumphs des Westens im Rüstungswettlauf: „Die mittel- und osteuropäischen Dissidenten, Oppositionsgruppen und Nationalbewegungen trugen erheblich zum Kollabieren des an seinen eigenen Widersprüchen krankenden Systems bei“ (S. 28). Ein besonderes Augenmerk legt Preuße dabei auf die transnational vernetzten Nationalbewegungen. Insbesondere die Nationalbewegungen der UdSSR werden als treibende Kräfte deutlich, die den Handlungsradius des Kremls in Mitteleuropa erheblich einschränkten.
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Philip Ther liefert eine glänzend geschriebene Deutung der Transformation als Ablösung einer Wirtschaftsordnung, die im kommunistischen Osten ausschließlich, im sozialmarktwirtschaftlichen Westen teilweise auf die Organisation der Ökonomie durch den Staat setzte, durch eine neoliberale Marktordnung, die ökonomische Staat stätigkeit in den Hintergrund drängt. In der neuen Ordnung des Neoliberalismus, den der Westen seit den frühen 1980er Jahren an sich selbst ausprobierte und schon im gesellschaftlichen wie politischen Austausch der 1980er Jahre dem Osten anzubieten begann, trafen sich die gesellschaftlichen Freiheits- und Konsuminteressen der Bürger Mittel- und Osteuropas mit dem Interesse der Nomenklatura an der Überführung ihrer Verfügungsgewalt am Volkseigentum in rechtstaatlich garantiertes Privateigentum. Die Durchsetzung einer primär ökonomischen Deutung der wesentlich breiter angelegten demokratischen Freiheit der Revolutionen von 1989 bis 1991 schob einen Prozess von gesamteuropäischen Wechselwirkungen an, der den Schwerpunkt der neoliberalen Transformation seit der Wirtschaftskrise von 2008 vom Osten in den Süden Europas verschob. Die Stärke von Thers Werk liegt in der differenzierten Darstellung, die weder in ein Loblied noch in einen Abgesang auf den Neoliberalismus einstimmt, sondern auf seine Varianzen abhebt und dabei die bleibende Bedeutung eines ausgleichenden Staates bzw. der Europäischen Union betont. Ther gelingt damit ein großer Wurf, dem man Irrtümer in den Details nachsehen kann. Die Rumänische Revolution begann nicht, wie von Ther angegeben, in Klausenburg (S. 65, 75) sondern in Temeswar. Die drei Bände decken zusammen nicht nur eine breite Zeitspanne ab, die das Wunder von 1989 in seine Kontexte stellt, sie liefern auch sich ergänzende Deutungsangebote, die die anhaltenden Debatten gesamteuropäisch vertiefen.
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