KZFSS (2008) 4:811-834 DOI 10.1007/s11577-008-0038-1 Nachrichten und Mitteilungen
Würdigung „Überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland“ Claude Lévi-Strauss zum 100. Geburtstag Manches, was an geistigen Strömungen aus Frankreich nach Deutschland herüberkommt, erinnert an jene merkwürdigen Spiegelstadien, die man auf Jahrmärkten durchlaufen kann: Sie stauchen und zerren, dehnen und krümmen das Bild des Betrachters derart, dass dieser sich darin zwar gerade noch erkennen, schwerlich aber auch anerkennen kann. Für nicht wenige Philosophen und Psychoanalytiker stellt etwa das, was Kojéve aus Hegel oder Lacan aus Freud gemacht haben, nichts weiter als eine linksrheinische Deformation einer deutschsprachigen Quelle dar. Andere französische Bearbeitungen deutscher Originale genießen hierzulande, nicht zuletzt unter Soziologen, größere Wertschätzung: Wie Bourdieu beispielsweise Marx weitergedacht hat, auf welche Weise Foucault von Nietzsche inspiriert gewesen ist, wozu Derrida durch Heidegger angeregt wurde oder welchen Weg Ricœur von Husserl aus genommen hat – das alles wird im deutschsprachigen Raum größtenteils nicht als problematische Deformation, sondern als eine gelungene Weiterentwicklung originärer Theoriekontexte angesehen. Nun gibt es allerdings noch einen dritten Typus von Beziehungen, bei dem es sich ebenfalls um „Spiegelungen des Geistes“ (Mainberger 1988) handelt, ohne dass diese bisher bei den Betrachtern des deutsch-französischen Ideenverhältnisses ins Bewusstsein gerückt wären. Dieser Typus des heimlichen Spiegelstadiums wird durch das Werk von Claude Lévi-Strauss verkörpert. In einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“ von 1971 hat Lévi-Strauss aus gegebenem Anlass die Frage nach der intellektuellen Genealogie des Strukturalismus gestellt: „Man hat mir gesagt, dass es in Deutschland eine große Abneigung gegenüber dem Strukturalismus gebe. Wenn man aber versucht, dem Strukturalismus so weit wie möglich auf den Grund zu gehen, wo beginnt er dann in der modernen Welt?“ (LéviStrauss 1980: 229f.). Die Antwort, die er auf diese Frage gibt, weicht von der damals wie heute gängigen Darstellung der Entstehung des Strukturalismus ab. Sie lautet gerade nicht: Im Frankreich des 20. Jahrhunderts, sondern: Im Deutschland des 16. Jahrhunderts – bei Albrecht Dürer. Auf die Spur dieser überraschenden Genealogie des Lévi-Strauss’schen Strukturalismus kommt man, wenn man sich zunächst ein Problem vergegenwärtigt, das zugleich den werkgeschichtlichen Übergang von seinen frühen Verwandtschaftsstudien zu den späteren Mythenanalysen, von Les structures élémentaires de la paranté (1949) zu den vier Bänden der Mythologiques (1964-71) markiert. Lévi-Strauss stößt hier darauf, dass die strukturale Analyse soziokultureller Phänomene einer konzeptionellen Ergänzung bedarf, um dem Kardinalproblem des Strukturalismus begegnen zu können: Veränderung. Der Begriff, mit dem Lévi-Strauss glaubt, die strukturalistische Tätigkeit – die Suche nach Invarianten – mit den allseits wahrnehmbaren Veränderungen in der soziokulturellen Welt versöhnen zu können, ist derjenige der Transformation. Wer „Struktur“ sagt,
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müsse unbedingt „Transformation“ mitdenken, um sich vor Fehlschlüssen zu bewahren, wie Lévi-Strauss (1989: 165) zu bedenken gibt: „Nun ist allerdings der Begriff der Transformation mit der strukturalen Analyse aufs engste verknüpft, ja, sämtliche Irrtümer, alle missbräuchlichen Verwendungen, die es mit oder an dem Begriff der Struktur gegeben hat, rühren daher, nicht begriffen zu haben, dass es unmöglich ist, die Struktur getrennt vom Begriff der Transformation vorzustellen“. Die Tradition, in der Lévi-Strauss seinen Begriff von Transformation sieht, führt von Dürers Vier Bücher über menschliche Proportion (1528) über Goethes Metamorphose der Pflanze (1790) hin zu Wagners Ring des Nibelungen (Uraufführung 1876). Dürers Interesse am menschlichen Körperbau führt ihn dazu, die Größenverhältnisse menschlicher Gliedmaßen am Leitfaden der Geometrie zu konzeptionalisieren. Für LéviStrauss wird Dürer interessant, weil dieser an seinen Kompositionsstudien eine Vorstellung des Zusammenhangs verschiedener organischer Ausprägungen im Körperbau des Menschen entwickelt hat. Mit Dürer lässt sich die Abweichung dicker und dünner Menschen von durchschnittlich-normalen als ein Verhältnis der Übersetzung ungleicher Proportionen darstellen. In den Augen von Lévi-Strauss demonstriert Dürer damit die Grundintuition des Strukturalismus, der zufolge Veränderung eine Funktion regelmäßiger Übergänge ist. In Lévi-Strauss’ (1989: 165) Worten: „Damit man von Struktur sprechen kann, müssen zwischen Elementen und den Verhältnissen mehrerer Gesamtkomplexe invariante Beziehungen in Erscheinung treten, und zwar so, dass man mittels einer Transformation vom einen zum anderen Komplex übergehen kann“. Auch bei Goethe lässt sich nach Lévi-Strauss’ Überzeugung in dieser Hinsicht fündig werden. Dessen Lehre von der Metamorphose der Pflanze zehrt von der Grundannahme, dass die Lehre von der Gestalt notwendig zu einer Lehre über ihre Verwandlung führe. Bei Goethe ist Gestalt deswegen eine Kategorie des Prozesses: Sie ist kein ein für alle Mal Feststehendes, sondern im beständigen Übergang begriffen. Und dieser Übergang wird wiederum nur in einer Reihe, als Serie anschaulich. Für den Botaniker Goethe bedeutet das, „die verschiedensten Gestalten durch Modifikation eines einzelnen Organs“ (Goethe 1975: 64) zu betrachten. Und das heißt hier: des Blattes. Die dritte Quelle des Lévi-Strauss’schen Transformationsbegriffes ist die Musik Richard Wagners. Über dessen kompositorische Innovation, den Ring nicht mehr als herkömmliche Oper, das heißt, als Abfolge von Gesangsnummern (Einleitung, Thema, Entwicklung, Auflösung) anzulegen, sondern den Zusammenhang des Werkes aus „melodischen Momenten“ – den später so genannten Leitmotiven – zu entwickeln, urteilt Lévi-Strauss (1980: 229): „Die gesamte Theorie des Leitmotivs ist in sich selbst strukturalistisch“. Die Kompositionsaufgabe Wagners besteht darin, die Leitmotive nicht ins Uferlose anwachsen zu lassen, sondern sie so überschaubar wie möglich zu halten, damit das Publikum den über die musikalische Ebene gestifteten Zusammenhang des Werkes noch verstehen kann. Wagner löst dieses Problem, indem er die Leitmotive im Ring aus wenigen Grundmotiven heraus ableitet. Musikalische Motive sind deshalb in einer einzelnen szenischen Darstellung begründet (Text, Geste, Handlung), ehe sie im Verlauf des Werkes häufig wiederholt und zugleich systematisch verändert werden. Auf diese Weise entsteht im Ring ein großes Netz musikalischer Variationen – Wagners viel gerühmte „Kunst des Übergangs“.
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Wie bei Dürers Proportionsstudien in der Malerei und in Goethes Pflanzenlehre, so kann Lévi-Strauss also auch in Wagner einen Gewährsmann dafür sehen, dass weder die Vielfalt der Erscheinungen im Raum, noch die wahrnehmbaren Veränderungen in der Zeit für die strukturalistische Suche nach Invarianten ein unüberwindbares Hindernis darstellen müssen. Die Fülle menschlicher Physiognomien, der Formenreichtum der Pflanzenwelt und das immense Spektrum musikalischer Variationen sprechen unter der Bedingung nicht gegen die Einheit des menschlichen Körperbaus, der Natur oder eines musikalischen Werkes, dass ein Beobachter in den Variationen, Permutationen und Übergängen etwas entdecken kann, das sich selbst dem Wechsel der Erscheinungen nicht nur entzieht, sondern diesen Wandel selbst noch organisiert. „Struktur“ und „Transformation“ sind daher Wechselbegriffe: Über den Begriff der Struktur tritt Lévi-Strauss das Erbe des alteuropäischen Substanzdenkens an, um es allerdings zu dynamisieren. „Struktur“ ist nun gleichbedeutend mit der Organisation eines kombinatorischen Systems. Und genau hier setzt wiederum der Transformationsbegriff an. Mit ihm versucht Lévi-Strauss zu zeigen, inwiefern es sich bei Veränderungen um eine Kombinatorik innerhalb eines geschlossenen Systems handelt. „Veränderung“ wird hier nicht im Rahmen der Diachronie, sondern der Synchronie konzeptionalisiert. Diese Auffassung von Zeit und Geschichte ist es, die insbesondere im deutschsprachigen Raum zu teils heftigen Abwehrreaktionen gegenüber einer vermeintlich französischen Theorieinnovation geführt hat. Ohne es zu wissen, haben sich die Kritiker dabei jedoch auch gegen die eigene Tradition gestellt. Denn sowohl die Morphologie Goethes – die keineswegs auf die Botanik festgelegt ist, sondern an der sich vielmehr dessen Naturphilosophie insgesamt exemplifizieren lässt (Breidbach 2006) –, als auch die Kulturmorphologie Herders stehen der Auffassung von Zeit und Geschichte bei Lévi-Strauss sehr viel näher, als den in der Gegenwart darüber kursierenden Meinungen. Natur und Kultur als Metamorphosen zu betrachten, führt dazu, sowohl das teleologische als auch das evolutionäre Verständnis von Zeit und Geschichte zurückzuweisen. Denn weder vollenden sich Natur und Kultur in einer noch ausstehenden Zukunft (Teleologie), noch sind sie in einer jeweiligen Gegenwart situiert (Evolution), die Möglichkeiten des Andersseins bereithält. Eine Variation im morphologischen Sinne des Wortes ist keine zufällige Mutation, sondern eine kombinatorische Möglichkeit: eine Variante in einem Variationssystem. Wie bei Lévi-Strauss, so verwirklichen sich auch Goethes Natur und die Herder’sche Menschheit nicht diachronisch, sondern synchronisch: Die Menschheit in der Vielzahl ihrer Kulturen, die Natur in der Vielfalt ihrer Erscheinungen. An dieses morphologische Vermittlungsmodell von Einheit und Vielheit, von Invarianten und Veränderungen knüpft der Strukturalismus Lévi-Strauss’scher Provenienz an. Ein solcher Tatbestand hat zwei Konsequenzen: Erstens bedarf es einer Korrektur der Geschichtsschreibung des Strukturalismus und zweitens führt dies zur Revision einer soziologieaffinen Anthropologie: (i) Als Vorläufer des sozialwissenschaftlichen Strukturalismus kann nicht allein die linguistische Revolution durch Ferdinand de Saussure zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten, wie es die Standardgeschichte des Strukturalismus wahrhaben will. Sie bedarf dringend einer ideengeschichtlichen Erweiterung um die langen Bahnen künstlerischer Arbeiten und morphologischen Denkens im deutschsprachigen Raum, an die Lévi-Strauss ab etwa der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Frankreich anschließen kann. Er, der gelegentlich als der Vater des Pariser Struktura-
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lismus bezeichnet wird, hat allen Grund zu sagen: „Überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland“ (Lévi-Strauss 1980: 229). (ii) Der Begriff der Transformation, mit dem Lévi-Strauss meint, die „scheinbare Antinomie zwischen der Einmaligkeit des Wesen des Menschen und der offensichtlich unerschöpflichen Vielheit der Formen zu überwinden, anhand derer wir es erfassen“ (1985: 68), entstammt einer morphologischen Tradition. Vermöge dieser und ihres methodischen Zuschnitts durch Lévi-Strauss lässt sich ein anthropologisches Programm formulieren, das an die Stelle vormaliger Substanzaussagen empirisch nachweisbare Transformationsbeziehungen setzt. In der strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss liegt die Substanz nun dort, wo sich sowohl soziale Phänomene als auch solche der materiellen wie der immateriellen Kultur wechselseitig als Transformationen herausstellen. Für die immaterielle Kultur hat dies Lévi-Strauss am eindrucksvollsten in seinen Analysen der Mythen Süd- und Nordamerikas vorgeführt. Für die materielle Kultur zeigen dies etwa die Arbeiten von Michael Oppitz (2007), der den Nachweis geführt hat, dass das geographische Verbreitungsgebiet der eurasiatischen Schamanentrommel ein einheitliches Transformationssystem bildet. Offen bleibt allerdings noch die wichtige Frage, von welcher Qualität dasjenige „Wesen“ überhaupt sein kann, das sich auf eine solche methodisch gewonnene Weise am Ende herausstellt. In den Augen von Lévi-Strauss ist dies der menschliche Geist. Er ist es, von dem die soziokulturelle Welt nicht nur jederzeit muss begleitet werden können, wie sich manche soziologische Theorie, etwa die Systemtheorie, das vorstellt, sondern durch den Gesellschaft und Kultur selbst wiederum fundiert sind. Auch in individualistischen Spielarten der Soziologie stößt die Vorstellung eines mentalen Fundaments der sozialen und kulturellen Welt auf Ablehnung. Aber auch hier gilt: Wer diese These von vornherein ablehnt – sei es mit klassikergestützten Argumenten, sei es aus professionspolitischer Überzeugung – wird den Ergebnissen, selbst wenn sie kontraintuitiv erscheinen, die die Laboratorien der Kognitionswissenschaftler und Neurobiologen gegenwärtig verlassen, nicht viel mehr als die durch die eigene Tradition verbürgten Grundüberzeugungen entgegenhalten können. Das ist nicht nichts, aber angesichts der Fülle von Befunden der Lebenswissenschaften empirisch viel zu wenig. Unversehens ist „der Mensch“ zur Bewährungsprobe der gegenwärtigen Soziologie geworden. Im Fach mangelt es an einer empirisch fundierten Anthropologie – eine, die, wie die strukturale Anthropologie, den mühsamen Weg über die Vielzahl der Kulturen und Gesellschaften geht, um freilich darüber ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: eine soziologisch informierte Anthropologie zu sein, die mehr ist, oder zumindest sein will, als eine Sozial- und Kulturanthropologie, die ihr erstes und letztes Ziel, Wissenschaft des Menschen zu sein, aufgegeben zu haben scheint. Mit Bedacht hat sich Lévi-Strauss, der 1959 am Collège de France selbst auf einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie berufen wurde, auf programmatischer Ebene nicht auf einen besonderen Gegenstandsbereich festlegen wollen. Die strukturale Anthropologie kennt eben darum keine Auszeichnungen des Sozialen oder der Kultur als den vermeintlich wichtigsten, in der Gunst von Soziologen zuweilen miteinander rivalisierenden Einflussgrößen menschlichen Handelns und Erlebens, weil sie sich der Frage nach dem Wesen des Menschen auf methodische Weise verpflichtet fühlt. Man kann sich gar nicht genug die Konsequenzen vor Augen führen, die aus dieser Umwidmung der Substanzfrage in ein Methodenproblem resultieren: Indem für Lévi-Strauss die Antwort auf die Frage nach der Struktur die Antwort auf die Frage nach den Transformationsbezie-
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hungen empirischer Zeugnisse menschlicher Tätigkeit voraussetzt und diese wiederum, anders als in der Philosophischen Anthropologie, nicht in Bezug zur Natur – vertikal –, sondern in der Vielfalt der Kulturen und Gesellschaften – horizontal – zu suchen sind (Plessner 1975: 32), wird nicht die Biologie, sondern die Ethnologie zur Leitwissenschaft der strukturalen Anthropologie (Fischer 2008). Durch ihre ethnologische Option kann die strukturale Anthropologie der Soziologie den Weg weisen, wie man zwischen der Skylla des Kulturalismus und der Charybdis des Naturalismus heute noch hindurchsteuern kann, ohne dabei die Frage nach dem Menschen aufzugeben und den Biowissenschaften zu überlassen. Mit anderen Worten: Von Lévi-Strauss lässt sich lernen, wie Anthropologie als Sozialwissenschaft möglich ist. Michael Kauppert Siehe dazu ergänzend: http://www.uni-koeln.de/kzfss/wuerdigungen/ks08levi_strauss. htm Gottfried Eisermann mit 90 Jahren auf dem Parnass. Der Soziologe und Sozialökonom Gottfried Eisermann wurde am 6. November 2008 neunzig Jahre alt. Gottfried Eisermann war jahrzehntelang Autor und Rezensent dieser Zeitschrift. Für die Besprechung italienisch-sprachiger Literatur hatte er zeitweilig fast ein Monopol, weil er sich bei seinem Studium an den Universitäten Perugia und Rom die italienische Sprache perfekt angeeignet hatte. Wie kein anderer Gelehrter hat er die italienische Soziologie im deutschen Sprachraum vermittelt. Seine Rezensionen begründeten zugleich seine kollegiale Freundschaft mit dem zwölf Jahre älteren René König, dem langjährigen Herausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Beide bemühten sich, der deutschen Soziologie wieder geistige Impulse im Rahmen internationaler Zusammenarbeit zuzuführen. Für die französische Soziologie galt dies für die Durkheim-Schule, deren „Regeln der soziologischen Methode“ vor allem König dem deutschen Leser näherzubringen versuchte. Und Eisermann hat schon früh in dem von ihm herausgegebenen Lehrbuch der Soziologie „Die Lehre von der Gesellschaft“ (1958) den französischen Soziologen Georges Gurvitch (1894-1965) in deutscher Sprache bekannt gemacht (Rechts- und Wissenssoziologie). (2. völlig veränderte Auflage 1969.) Wenn ein Gelehrter so alt wird wie Eisermann, sind Leben und Werk zu den tradierten kalendarischen Anlässen bereits mehrfach gewürdigt worden. Hingewiesen sei auf das Internationale Soziologenlexikon aus dem Jahre 1959 und auf das Wörterbuch der Soziologie aus dem Jahre 1982, in denen die Arbeitsbereiche des Gelehrten skizziert werden. Erinnert sei besonders an die Festschrift zu seinem 80. Geburtstag (Dieter Fritz-Asmuss: Wirtschaftsgesellschaft und Kultur: Gottfried Eisermann zum 80. Geburtstag – mit einer vollständigen Bibliographie), an die Ehrenpromotion der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum im Jahre 1983, die Friedrich Fürstenberg angeregt hatte, an die Ehrendoktorwürde der Universität Padua und an eine hohe Auszeichnung der italienischen Republik – Cavaliere Ufficiale. Eisermann ist Allround-Soziologe, aber nicht nur Soziologe. Die institutionalisierten wissenschaftlichen Bereichsgrenzen spielen in seinem umfassenden Werk keine Rolle.
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Er ist zugleich Sozialökonom, Dogmenhistoriker (Gründungsmitglied des dogmenhistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik) und – last but not least – Literat, ein Homme des Lettres. Voltaire wird das Wort zugeschrieben: Le paradis est, où je suis. Gottfried Eisermann könnte von sich sagen: La culture est, où je suis. Eisermann hat früh die später ausgebauten Techniken empirischer Sozialforschung angewandt. Im Jahre 1965 untersuchte er in Süditalien (im Gargano) mit dem italienischen Sozalwissenschaftler Sabino Aquaviva den Einfluss der Massenkommunikation auf den Entwicklungsprozess einer unterentwickelten Region (La montagna del sole, Mailand 1971). Vierzehn Jahre später konnte eine Kontrolluntersuchung durchgeführt und als 2. Auflage des Forschungsberichts 1982 veröffentlicht werden. Es scheint dies die einzige Paralleluntersuchung gewesen zu sein, bei der fast 98 Prozent der einst Befragten nochmals in den Forschungsprozess einbezogen werden konnten. Es folgten empirische Untersuchungen über den Einfluss des Fernsehens bei der Bekämpfung des Analphabetismus und Untersuchungen über Sprachminoritäten in Südtirol/Alto Adige. Zusammen mit Jürgen Zech untersuchte er die deutsche Sprachgemeinschaft in Ostbelgien. Von dem kleinsten der insgesamt fünf italienischen Forschungsprojekte, nämlich wiederum zusammen mit Acquaviva „Die Ursachen des Welterfolges des italienischen Films“ spricht Eisermann heute als dem Forschungsprojekt, das ihm am liebsten war (1974). Gottfried Eisermann gehört zu den Gelehrten, die kalendarisch alt werden und dabei intellektuell leistungsfähig bleiben. Der klassische Emeritus, den die Politik mit sterilem Eifer zu beseitigen versucht, ist nicht der Pensionist, sondern der weiterhin produktive Gelehrte. Nicht selten – von den bürokratischen Zwängen des Universitätsbetriebs befreit – entsteht ein Folgewerk, das nicht weniger bedeutend ist als das, was während des aktiven Berufslebens entstanden ist. Dies gilt auch für Eisermann. Nach Eisermanns Emeritierung im Jahre 1984 erschienen Arbeiten über Friedrich List, Wilhelm Roscher, Machiavelli, Karl Knies, Simonde de Sismondis, Mandeville, La Rochefoucauld, Bruno Hildebrand. In der interessanten Monographie über den meist unterschätzten Ferdinando Galiani (1728-1787) wird dieser nicht nur als Ökonom, sondern auch als Soziologe und Philosoph gewürdigt (1997). Galiani: „Wer nicht die Imponderabilien in Anschlag zu bringen weiß, taugt nicht zum Regieren“. Drei große Gestalten der Sozialwissenschaften haben Eisermann sein Leben lang besonders beschäftigt: Joseph Schumpeter, Vilfredo Pareto und Max Weber: Die Antrittsvorlesung Eisermanns anlässlich seiner Berufung auf den ersten soziologischen Lehrstuhl der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn im Jahre 1961 war Joseph Schumpeter gewidmet, der bis 1933 Professor in Bonn gewesen war. Seine 1965 in der Zeitschrift Kyklos erschienene Abhandlung „Joseph Schumpeter als Soziologe“ gehört im Zeichen einer heutigen Schumpeter-Renaissance gelesen zu werden, um der absurden Verengung orthodoxer Ökonomie entgegenzutreten. Eisermann hat Paretos Hauptwerk „System der allgemeinen Soziologie“ in einer deutschen Auswahlübersetzung ausführlich eingeleitet und kommentiert (1962). Während unter Ökonomen Pareto nur als Nationalökonom und von Pareto eigentlich nur das Pareto-Optimum ins kollektive Bewusstsein tritt, hat Eisermann schon 1957 in seiner Abhandlung „Pareto als Nationalökonom und Soziologe“ zu vermitteln versucht, dass nach dem Verständnis von Pareto Wirtschaftstheorie nur ein kleiner Teil der Nationalökonomie und die Nationalökonomie nur ein kleiner Teil der Soziologie sei. In dem Band
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„Bedeutende Soziologen“ (1968) wird Pareto als Wissenssoziologe und politischer Denker vorgestellt. Ein besonderer Fund ist die 1993 erschienene Monographie „Max Weber und die Nationalökonomie“. Hatte Eisermann bei den Nationalökonomen Schumpeter und Pareto deren Bedeutung für die Soziologie herausgearbeitet, so hielt er es bei dem Soziologen Max Weber für angebracht, daran zu erinnern, dass dieser „niemals einen anderen als jeweils nationalökonomischen Lehrstuhl innegehabt hat“. Eisermann versteht zu vermitteln, dass die Wirtschaftstheorie durch Max Weber fortentwickelt wurde, was auch noch heute in der nationalökonomischen Dogmengeschichte zuweilen übergangen wird. Mit dem Schüler und Freund Max Webers (und langjährigen Assistenten Max Schelers) Paul Honigsheim (1885-1963) wurde Eisermann gewissermaßen „Insider“ des Lebens Max Webers. Er verfasste in seinem Lehrbuch der Soziologie den Beitrag „Geschichte und Soziologie“ mit Honigsheim und ließ die Religionssoziologie, die Soziologie der Kunst, Musik und Literatur und die Agrar- und Stadtsoziologie durch Honigsheim bearbeiten. Honigsheim war seit 1919 am Institut für Soziologie in Köln tätig und nahm ab 1927 den Lehrstuhl für Philosophie, Soziologie und Sozialpädagogik wahr. Wie Eisermann schreibt, wurde Honigsheims „eindruckvoll begonnene akademische Laufbahn in Deutschland durch die braune „Machtübernahme“ abgebrochen“. Er emigrierte 1933 nach Frankreich. In seiner Arbeit „Max Weber und Amerika“ (1964 und 1968) bemerkt Eisermann: „Wie kein zweiter aber hat wohl der unvergessliche Paul Honigsheim für die Durchsetzung von Max Webers Auffassungen in den Vereinigten Staaten gewirkt, indem er seine Methode fruchtbar auf Religions-, Kunst- und Wissenssoziologie anwandte“. Ein für die soziologische Theorie sehr fruchtbares und alle seine früheren Überlegungen zusammenfassendes Werk des Emeritus dürfte das 1991 erschienene Werk „Rolle und Maske“ sein. Hier erweist sich Eisermann als Homme des Lettres und als Homo Sociologicus - Revisited. Ein solches Werk konnte nur von einem Sozialwissenschaftler verfasst werden, der durch lebenslange Forschung ein scharfsinniger Beobachter von Vergangenheit und Gegenwart ist. Die verfeinerte Rollentheorie wurde verknüpft mit der philosophischen Anthropologie und der Verhaltensforschung und damit gewissermaßen zu einer basalen Theorie verallgemeinert (handlungstheoretisch an Max Weber und Vilfredo Pareto orientiert). Nun gibt es bei Eisermann nicht nur das Folgewerk, sondern darüber hinaus das Spätwerk. Natürlich lässt sich trefflich darüber streiten, ob man Folge- und Spätwerk kalendarisch trennen kann. Nach alttestamentarischer Vorstellung im Psalter liegt das biblische Alter zwischen 70 und 80 Jahren. Im Psalm 90 heißt es: „Unser Leben währet 70 Jahre und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre“. – Wer also die 80 Jahre übersteigt, hat wie Eisermann bereits das nachbiblische Alter erreicht. In diesem nachbiblischen Alter lässt sich das Spätwerk verorten. Es ist bei Eisermann seine herrliche Monographie über Goethe (1998). Sie steht unter der Leitidee „Schicksal und Zufall“, nach der stringent alle Lebensabschnitte Goethes Revue passieren. Es ist das literarisch-philosophische Werk eines klarsichtigen Soziologen. In seinem letzten Essay aus dem Jahre 2004 „Mensch und Mitmensch“ erreicht Gottfried Eisermann endgültig den Parnass der Soziologen, Sozialökonomen, Philosophen. Gottfried Eisermann hat als Typus eine Reihe von Vorgängern aus den Sozialwissenschaften, die bis ins nachbiblische Alter produktive Gelehrte waren. Sie sind auf seinem
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Radarschirm, einige kannte er persönlich. Wir erinnern an Alfred Vierkandt (1867-1953), zu dessen 80. Geburtstag im Jahre 1949 Eisermann eine Festschrift herausgegeben hat, an Leopold von Wiese und Kaiserswaldau (1876-1969), an den Finanzsoziologen Fritz Karl Mann (1883-1978), an Erich Gutenberg (1897-1984), Karl August Wittfogel (18961988) Gerhard Weisser (1898-1989) Norbert Elias (1897-1990), Günter Schmölders (1903-1991), René König (1906-1992), Karl Popper (1902-1994), Alphons Silbermann (1909-2000). Nicht ganz das nachbiblische Alter erreichten Alexander Rüstow (1885-1963) und Erwin von Beckerath (1889-1964). Das wissenschaftliche Werk beider Gelehrter weiß Eisermann zu schätzen. Alexander Rüstow hatte seine Habilitation am Alfred-Weber-Institut in Heidelberg angeregt (1956 – Die Grundlagen des Historismus in der deutschen Nationalökonomie). Von den lebenden Sozialwissenschaftlern, die Zeitgenossen von Eisermann sind, fallen uns Hans Albert, Hermann Lübbe, Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf ein. – Es wird Zeit, dass einmal eine Soziologie der Emeriti geschrieben wird. Lothar F. Neumann Jürgen Friedrichs zum 70. Geburtstag Vor fünf Jahren, als Jürgen Friedrichs seinen 65. Geburtstag feierte, gingen wir – und auch er selbst - noch davon aus, dass er in den Ruhestand treten würde. Wer ihn kennt, weiß, dass er nicht vorhatte, sich tatsächlich zur Ruhe zu setzen. Er sprach von Büchern, die er schon lange hatte schreiben wollen, von der Zeit und den Möglichkeiten, die man hat, wenn man nicht in die täglichen Aufgaben der Lehre und Verwaltung eingebunden ist. Es kam anders. Nordrhein-Westfalen änderte die Ruhestandsregelung für Professoren und erlaubt nun die Verlängerung des aktiven Professorenamts um bis zu drei Jahre. Von dieser Regelung machte Jürgen Friedrichs zur Freude seiner Mitarbeiter und Kollegen Gebrauch und verlängerte seine Dienstzeit bis zum Wintersemester 2006/2007. Auch die Studierenden, die besorgt bei seinen Assistenten nachfragten, ob sie denn noch ihr Examen bei ihm ablegen könnten, waren beruhigt. Als sich die „Verlängerung“ ihrem Ende zuneigte, war Jürgen Friedrichs’ Neigung, in den Ruhestand zu treten, nicht größer geworden. Im Gegenteil: Es gab und gibt bis zum heutigen Tag zu viele Forschungsfragen, die ihn herausfordern, zu viele Projekte, die ihn interessieren, und nicht zuletzt zu viele Studierende, die er mit seiner Begeisterung für soziologische Fragestellungen so stark angesteckt hat, dass sie nicht auf ihn als Dozenten verzichten möchten. All dies führte dazu, dass die einzige Änderung, die nach seiner Emeritierung zu beobachten war, sein Umzug in ein anderes Büro innerhalb des Forschungsinstituts für Soziologie in Köln war. Ansonsten hat sich nicht viel verändert: Auch heute kommt Jürgen Friedrichs nahezu täglich ins Institut, lehrt weiterhin mit Freude und zur Freude seiner Studenten, leitet seine verschiedenen Forschungsprojekte, publiziert regelmäßig und ist nach wie vor der geschäftsführende Herausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Seit über 30 Jahren ist die soziologische Stadtforschung ein Schwerpunkt im umfangreichen wissenschaftlichen Werk von Jürgen Friedrichs. Zu den wichtigsten Arbeiten gehören seine Beiträge zum Vergleich der Stadtentwicklung in kapitalistischen und sozi-
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alistischen Gesellschaften, zur Entwicklung der Innenstädte, und zur Gentrifikation, der Aufwertung (inner-)städtischer Quartiere. In den letzten Jahren konzentrierte er seine Forschung auf benachteiligte Wohngebiete, also auf Armut in städtischen Wohngebieten. Ein weiterer Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Wirkens bildet die sozialwissenschaftliche Methodologie und Methodik – seine allererste Veröffentlichung gehört in diesen Bereich: Elisabeth Pfeil und Jürgen Friedrichs, 1965: Überlegungen zum Problem rollenbedingter Interviewantworten. Jürgen Friedrichs ist weder ein reiner Theoretiker noch ein reiner Empiriker. Vielmehr ist er an konkreten empirischen Fragen interessiert, für die er (gänzlich undogmatisch) nach geeigneten theoretischen Rahmungen und Erklärungen sucht. Statt Glasperlenspiele zu bewundern oder sich gar darin zu verlieren, untersucht Jürgen Friedrichs Theorien darauf hin, was sie zur Erklärung empirischer Sachverhalte leisten können. Einerlei, ob dies die Humanökologie, die Individualisierungstheorie oder die Theorie der rationalen Wahl ist, keine ist sicher vor seinen Versuchen, die theoretischen Aussagen zu explizieren, zu präzisieren und auf konkrete Probleme anzuwenden. Sein wissenschaftliches Werk beläuft sich, in Zahlen gemessen, auf bisher 20 Monographien, 22 Herausgeberschaften, 68 Zeitschriftenartikel, 114 Aufsätze in Sammelbänden sowie Lexikabeiträge, Rezensionen usw. Es wurde ausführlich in der Festschrift für Jürgen Friedrichs gewürdigt (Kecskes, Wagner und Wolf 2004). Erst vor kurzem hat er gleichzeitig zwei Monographien zur sozialen und ethnischen Segregation in deutschen Großstädten (Friedrichs und Triemer 2008) und zum Leben in benachteiligten Stadtvierteln (Blasius, Friedrichs und Klöckner 2008) vorgelegt. Die Länge seiner Publikationsliste ist aber - für ihn selbst und für die Einschätzung von Friedrichs als Wissenschaftler nur zweitrangig. Entscheidender ist eine Kombination aus unermüdlicher Neugier und expliziter Verbindung aus Theorie und Empirie. Die Neugier bringt es mit sich, dass er nicht aufhört, nach den Ursachen, Wirkungsmechanismen und Folgen von städtischer sozialräumlicher Ungleichheit, sozialem Wandel, sozialer Ungleichheit, Normen und Werten zu fragen. Zurzeit beschäftigt er sich in dem internationalen Forschungsprojekt „FACIT – Faith-Based Organisations and Social Exclusion in European Cities“ mit der Bedeutung glaubensbasierter Organisationen für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung und die Förderung des sozialen Zusammenhalts in europäischen Städten. Die Quelle seiner Neugier ist nicht nur die wissenschaftliche Literatur: Wahrscheinlich hat jede und jeder seiner Mitarbeiter schon einmal die Kopie eines Zeitungsartikels im Postfach gefunden, mit einem kurzen Kommentar und der Bemerkung versehen, dass man sich darüber dringend unterhalten müsse. Alltagsbeobachtungen sind eine weitere Quelle seiner Fragen und Ideen. Robert Kecskes schrieb 2004 in seiner Würdigung anlässlich des (vorgeblichen) Ruhestands von Jürgen Friedrichs, für ihn sei „ein Soziologe ein permanenter Beobachter der sozialen Wirklichkeit […], der seine Beobachtungen nicht nur während der Phase von Forschungsprojekten macht“. Dies führt dazu, dass man sich in gemeinsamen Mittagspausen mit ihm oft wünscht, ein Diktiergerät dabei zu haben oder stenografieren zu können – nicht, um seinen Vortrag, sondern um die wechselseitig vorgetragenen Beobachtungen, Ergänzungen und Weiterentwicklungen festhalten zu können. Die zweite Komponente, sein Anspruch, methodisch fundierte empirische Forschung zu diesen Themen auf ein solides theoretisches Fundament zu stellen, bestimmt die Qualität seiner Arbeiten. Dieses Grundprinzip wissenschaftlicher Arbeit hat er auch einer lan-
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gen Reihe von Schülern mitgegeben, die mittlerweile selbst forschen und als Dozenten die nächsten Generationen von Studierenden ausbilden. Viele Mitglieder der jüngsten Generation seiner Doktoranden sind mittlerweile an Universitäten in Mannheim (Henning Best), Hannover (Alexandra Nonnenmacher) und Tokio (Carola Hommerich) tätig; Jörg Blasius, Jens Dangschat, Peter Hartmann, Volker Kirchberg und Michael Wagner haben Professuren in Bonn, Wien, Düsseldorf, Lüneburg und Köln inne; Christof Wolf ist Wissenschaftlicher Leiter des Bereichs Dauerbeobachtung in der GESIS. Für uns, die Autoren dieser Würdigung, wird die Soziologie in Köln wahrscheinlich immer mit dem Namen Jürgen Friedrichs verbunden sein. Er hat sowohl die Art, wie in Köln die Soziologie verstanden wird, als auch seine Schüler und Mitarbeiter maßgeblich geprägt. Und da es schwierig ist, sich bei ihm persönlich für Anregungen, Unterstützung, Zusammenarbeit und Freiräume für die eigene Arbeit erkenntlich zu zeigen, weil er all dies als selbstverständlich erachtet, möchten wir an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, uns herzlich bei Jürgen Friedrichs zu bedanken. Alexandra Nonnenmacher und Christof Wolf Siehe dazu ergänzend: http://www.uni-koeln.de/kzfss/wuerdigungen/ks08friedrichs.htm Tagungsbericht „Social Theory and the Sociological Discipline(s)“. Bericht über die Konferenz der Theoriesektion der European Sociological Association in Innsbruck, 11. – 13. September 2008 Nachdem im vergangenen September bereits der Kongress der ÖGS in Graz zum Thema „Nachbarschaftsbeziehungen“ Gelegenheit zur Reflexion über grundlegende Fragen der Entwicklung der Soziologie geboten hatte, sollte in diesem Jahr wiederum eine an einer österreichischen Universität stattfindende Tagung über die Vor- und Nachteile der zunehmenden disziplinären Fragmentierung und Spezialisierung bei gleichzeitiger Loslösung von den klassischen Wissensbeständen beraten. Geladen hatte der in Innsbruck ansässige Soziologe Frank Welz in seiner Funktion als Sprecher des Theorienetzwerkes der ESA. Die insgesamt 66 Vortragenden, die aus 28 Staaten angereist kamen, waren also – gemäß dem Call for Papers – aufgefordert, nach Antworten auf die Frage nach dem Identitätskern und der Einheitlichkeit der Disziplin und insbesondere der diesbezüglichen Rolle der Soziologischen Theorie zu suchen. Konkret widmete man sich während zwei Tagen in insgesamt zwölf, zum Teil parallel stattfindenden, Panels sowie drei Plenarveranstaltungen diversen grundlagentheoretischen Problemen sowie aktuellen theoretischen Entwicklungen in bestimmten empirischen Subfeldern und nationalen Soziologien. Die folgende Besprechung konzentriert sich auf die allgemeinen grundlagentheoretischen Belange der Soziologie. In seinem Eröffnungsvortrag „Glocality and the transdisciplinarity of sociology“ skizzierte der in Aberdeen lehrende Roland Robertson Problemdimensionen und Lösungsvorschläge, auf die man sich in den folgenden Panels noch häufig beziehen wird. Dabei nahm er Bezug auf Phänomene der Glokalisierung, die noch heute – nachdem er bereits Ende
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der 1970er Jahre Licht darauf geworfen hätte – häufig als rein ökonomische Phänomene missverstanden würden. Was deren Folgen für die Soziologie bzw. deren Ent-Disziplinierung angeht, so nahm Robertson einen besonnenen Standpunkt ein und erinnerte daran, dass bereits Comte, namentlich in seinem Enzyklopädischen Gesetz, von der Transdisziplinarität ihres Gegenstandsbereichs ausgegangen war. Nicht also Transdisziplinarität sei das Problem, sondern vielmehr zum einen die aktuell allseits beschworene Interdisziplinarität, die praktisch ein reiner Schauplatz der Agitation disziplinärer Partikularismen darstelle, zum anderen die Professionalisierung, die häufig eine Beförderung ‚banalen Nationalismus‘ (Billig) mitführe. Auch hier gemahnte Robertson an vorbildliche Intellektuelle wie Hume, Mill, Comte, Marx, Parsons u.a., als deren Gemeinsamkeit hier die Zusammenführung unterschiedlicher nationaler Denktraditionen aufgeführt wurde. Als Quintessenz aus seiner Reflexion gab Robertson schließlich ein Plädoyer für eine „Globalisierung der soziologischen Theorie“, die auf der Basis der gleichzeitigen Berücksichtigung von vier Dimensionen (Nation, Individuum, Gesellschaftssystem, Menschheit) das Ganze der Welt in den Blick nehmen könnte. Im Verlauf der Auseinandersetzung während der Veranstaltungen wurde die Dringlichkeit einer „unified theory of the social sciences“ durchaus unterschiedlich bewertet. Auf dem eigens diesem Thema gewidmeten Panel wurden konkrete Theorieparadigmen vorgestellt, auf deren Grundlagen sich die gegenwärtige gegenstandstheoretische Uneindeutigkeit überwinden ließe. Von J.I. (Hans) Bakker (Guelph) wurde eine auf Peirce gegründete Semiologie als noch unerschlossene Quelle zur Überwindung des noch immer als Anstoßstein empfundenen Cartesianischen Dualismus vorgestellt. Peirce zufolge stünden Zeichen immer schon im Zwischenfeld von Subjekt und Objekt. Daraus resultiere die Einstellung, dass alle Aspekte menschlichen Handelns über Zeichen vermittelt sind, woraus sich zugleich deren zentrale soziologische Relevanz erkläre. Ebenfalls nach einer triadisch konfigurierten soziologischen Epistemologie fragte vor einem anderen Theoriehintergrund Joachim Fischer (Dresden) und interpretierte die neue Berücksichtigung der Figur und Funktion des „Dritten“ im Sinne eines Paradigmenwechsels der Sozialtheorie. Dabei wurde diese Figur als konstitutiv für zentrale Sozialformationen betrachtet, weil sich darin der Übergang von der Interaktion zur Institution ereignet. So könnten etwa gesellschaftliche Kernbereiche wie Markt, Recht und Politik nur unzureichend auf der Basis dyadischer Interaktionsmodelle erklärt werden. Hier wie auch in solchen Phänomenen wie Vermittlung, Beobachtung, Schiedsrichter, Konkurrenz, Intrige, Koalition, Delegation, Sündenbock läge eben eine triadische Grundstruktur vor. Als weitere Kategorie, die bislang noch nicht zum begrifflichen Grundkanon der Disziplin gezählt wurde, führte Alexander F. Filippov (Moskau) in diesem Panel den Begriff des „sozialen Ereignisses“ (event) ein. Dieser wird als diejenige begriffliche Einheit theoretisiert, von der aus man nicht nur Zugriff auf die zentralen Aspekte soziologischer Beobachtung erhalte, sondern darüber hinaus auch eine theoretische Vermittlung zwischen diversen Konzeptionen wie denjenigen Meads, Goffmans, Garfinkels, Parsons und Luhmanns angehen könne. Filippov beschrieb einen weiten Ereignisbegriff, der jeweils abhängig vom Beobachter zu konzipieren sei. Eine systematische Theorie des Ereignisses habe deswegen auch die jeweilige Logik der Unterscheidung mit zu berücksichtigen. In diesen Themenkreis gehörte auch der Plenarvortrag von Gesa Lindemann (Oldenburg), in dem ebenfalls eine metatheoretische Vermittlung zwischen Handlungs- und Sys-
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temtheorie angestrengt wurde. Als deren gemeinsames Fundament wurde anhand von Weber und Luhmann eine implizite Theorie der Emergenz expliziert, die auf drei unterschiedlichen Theorieebenen (ego/alter-Beziehung, Zeitstruktur, Erwartungsstruktur) operativ sei. Auch wenn Handlungs- und Systemtheorie auf den jeweiligen Skalen inverse Werte annehmen, so sei über den metatheoretischen Umweg dennoch Vergleichbarkeit und sogar – zumindest aus der Perspektive Lindemanns – die Einheitlichkeit der soziologischen Theorie hergestellt. Auch außerhalb dieses Panels wurde die Frage nach dem theoretischen Zusammenhalt der Disziplin erörtert. Dieter Bögenhold (Bozen) reflektierte die Vor- und Nachteile der bereits von Max Weber prädizierten „Vulkanisierung“ der Wissenschaft und empfahl der sich immer mehr zersplitternden Soziologie ein gezieltes und professionelles Selbstmarketing, um das genuin von ihr produzierte Wissen gegenüber neuen Wissensfeldern wie den Cultural Studies, aber auch alten Konkurrenzdisziplinen wie der Ökonomie und Psychologie, welche sich soziologischer Kenntnisse bedienten, wieder einzufordern. Doch das Ausgangsproblem trat bereits während der sich anschließenden Diskussion deutlich zutage, schien doch ein Konsens über das Spezifische des soziologischen Wissens unter den hier Anwesenden weit entfernt. Die von Frank Welz (Innsbruck) gewählte Lösungsstrategie orientierte sich an alternativen Theorieoptionen, einen Strukturwandel der Wissenschaften über die bisherigen Disziplingrenzen hinaus herbeizuführen. Er fand sie in Entwicklungsmodellen, wie sie etwa in der Chemie von Ilya Prigogine und von Immanuel Wallerstein in den Sozialwissenschaften eingeführt wurden und entgegen klassischen und konstruktivistischen Konzepten gerade nicht von stabilen, linearen und gleichgewichtigen Entwicklungsverläufen ausgehen. In diesem Sinne stehe die soziologische Theorie langfristig vor der neuen Aufgabe, über die Vielfalt der empirischen Zugänge hinausgehend deren Kompatibilität mit einer transdisziplinären und komplexen Wirklichkeit systematisch zu prüfen. Für Michael Beetz (Jena) handelte es sich bei der fortdauernd als ‚Krise‘ beschworenen Situation lediglich um ein Problem der Kommunikation. Der Mangel an gegenstandstheoretischer Einheitlichkeit sei weniger einer inhaltlichen Divergenz geschuldet, denn der Logik der gegenseitigen Abgrenzung auf Seiten der Vertreter der diversen Theorieschulen. Sein Vortrag rekonstruierte diverse Theorien im Hinblick auf eine meist latent bleibende Konvergenz, nämlich der jeweiligen Lösung des „Autologie/Ontologie-Paradox“. Damit war das Problem angesprochen, auf welche Weise man die Frage des Gegenstandsobjekts mit derjenigen der Selbstreflexivität des soziologischen Blicks vermittelt. Eine systematische Rekonstruktion der theoretischen Behandlung dieser Thematik würde ein neues Licht sowohl auf die Soziologiegeschichte als auch gegenwärtige theoretische Probleme werfen. Etwas überraschend wartete Beetz schließlich mit der These auf, dass Comtes Positivismus die bislang einzige explizite Lösung dieses Paradoxons in der Soziologiegeschichte verkörpert. In eine ähnliche Richtung stießen dann auch Beiträge, die sich bislang in der Soziologie zu wenig beachteten Autoren zuwidmeten. Daniel Chernilo (Santiago) rekapitulierte Karl Löwiths Vermittlung zwischen Sozialtheorie und dem klassischen Naturrecht, Daniel Šuber (Konstanz) argumentierte anhand einer Relektüre klassischer soziologischer Texte für die Anerkennung der Bedeutung, welche Wilhelm Diltheys Kant-Kritik für die Konstitution der modernen Soziologie zukam, und selbst Karl Marx erfuhr in dem Vortrag von Christian Fuchs (Salzburg) eine aktualisierende Aufwertung als Pate einer Soziologie des Internets.
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Mit dem Abschlussvortrag von Philip Selznick (Berkeley) über die Notwendigkeit einer Konzipierung der Soziologie zu einer humanistischen Moralwissenschaft schloss sich in vielerlei Hinsichten der berühmte Kreis. Zum einen wiederholte sich hier das viele Beiträge bestimmende Motiv einer Überwindung von starren Dualismen und der Zuwendung zu holistischen Ausgangsfiguren. Ganz im Sinne von Diltheys Kant-Kritik forderte Selznick die Etablierung des „ganzen Menschen“ und die Ergänzung des soziologischen Gegenstandsfeldes um Dimensionen wie Verantwortlichkeit, Emotionalität und Moralität. Das zweite Grundmotiv, welches das Ansinnen sehr vieler Teilnehmer reflektierte, und sowohl im Eröffnungs- wie Schlussvortrag zentriert wurde, ist die Erneuerung der Idee einer kritischen Sozialwissenschaft. Es zeigte sich also insgesamt, wie sehr noch die Soziologie des frühen 21. Jahrhundert von theoretischen Aporien und Verengungen aus der Gründerzeit geprägt ist. Wer sich einen Eindruck über aktuell diskutierte Lösungswege und -paradigmen verschaffen wollte, ist in Innsbruck auf volle Kosten gekommen. Daniel Šuber Mitteilung Preis der Fritz Thyssen Stiftung für sozialwissenschaftliche Aufsätze (begründet durch Prof. Dr. Dr. h. c. Erwin K. Scheuch), Zeitschriftenjahrgang 2007 Zum siebenundzwanzigsten Mal wurden durch eine Jury die Preise der Fritz Thyssen Stiftung für die besten sozialwissenschaftlichen Aufsätze in deutscher Sprache vergeben. Dies ist der einzige Zeitschriftenpreis in den Sozialwissenschaften außerhalb des englischsprachigen Bereichs. Der Preis wurde von Prof. Dr. Dr. h.c. Erwin K. Scheuch initiiert und wird seit Beginn im Jahre 1981 durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert und durch das Forschungsinstitut für Soziologie der Universität zu Köln koordiniert. Die Auswahl der Arbeiten erfolgt in zwei Stufen. Die Herausgeber und Redakteure von fünfzehn deutschsprachigen Zeitschriften schlagen jeweils bis zu zwei Aufsätze vor, die anschließend von einer Jury begutachtet werden. Die am Verfahren beteiligten Zeitschriften sind: Berliner Journal für Soziologie, Geschichte und Gesellschaft, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Leviathan, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Politische Vierteljahresschrift, Swiss Political Science Review (Schweizer Revue für Politikwissenschaft), Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, Sociologia Internationalis, Soziale Systeme, sozialersinn, Soziale Welt, Zeitschrift für Politik und die Zeitschrift für Soziologie. Mitglieder der Jury sind zur Zeit: Prof. Dr. Rainer Geißler (Universität Siegen), Prof. Dr. Ralf Jessen (Universität zu Köln), apl. Prof. Dr. Gertrud Nunner-Winkler (MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, München), Prof. Dr. Heiner Meulemann (Universität zu Köln, Vorsitzender), Prof. Dr. Manfred G. Schmidt (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Hans Georg Soeffner (Universität Konstanz), Prof. Dr. Johannes Weiß (Universität Kassel) und Prof. Dr. Paul Windolf (Universität Trier). Für das Jahr 2007 wurden von den Zeitschriftenredaktionen 27 Arbeiten zur Prämierung vorgeschlagen. In ihrer Sitzung am 18. Juli 2008 vergab die Jury einen ersten Preis,
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zwei zweite Preise und einen dritten Preis. Die Preisträger des Zeitschriftenjahrgangs 2007 sind: Den ersten Preis (dotiert mit 1500 Euro) erhalten: Jens Beckert und Mark Lutter (Köln): „Wer spielt, hat schon verloren? Zur Erklärung des Nachfrageverhaltens auf dem Lottomarkt“ (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Jg.59, Heft 2, S. 240-270). Den zweiten Preis (dotiert mit je 1000 Euro) erhalten: Gunther Mai (Erfurt): „Die Agrarische Transition. Agrarische Gesellschaften in Europa und die Herausforderungen der industriellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert“ (Geschichte und Gesellschaft, Jg. 33, S. 471–514) und Herbert Obinger (Bremen) und Reimut Zohlnhöfer (Heidelberg/ Bamberg): „Abschied vom Interventionsstaat? Der Wandel staatlicher Subventionsausgaben in den OECD-Ländern seit 1980“ (Swiss Political Science Review - Schweizer Revue für Politikwissenschaft, Jg. 13, Heft 2, S. 203-236). Den dritten Preis (dotiert mit 500 Euro) erhalten: Roger Berger (Leipzig/München) und Rupert Hammer (Leipzig): „Die doppelte Kontingenz von Elfmeterschüssen. Eine empirische Analyse“ (Soziale Welt, Jg. 58, S. 379-418). Zur Begründung führte die Jury u.a. aus: Mit dem wirtschaftssoziologischen Aufsatz von Beckert und Lutter würdigt die Jury eine überzeugende Darstellung und systematische Analyse des Nachfrageverhaltens auf dem Lotteriemarkt. Ausgangspunkt der Autoren ist die Beobachtung einer Paradoxie: die stochastische Gewinnerwartung eines Lotterieloses liegt unter der Hälfte des Kaufpreises, im Zahlenlotto werden nur 48 Prozent des Einsatzes als Gewinn ausgeschüttet. Die Beteiligung am Lotto ist aus ökonomischer Sicht also irrational. Warum spielen trotzdem jede Woche Millionen von Bürgern? Dies ist die zentrale Frage, der die Autoren in ihrer empirischen Analyse, aufbauend auf vier theoretischen Ansätzen und daraus abgeleiteten Hypothesen nachgehen. Die erste Gruppe von Hypothesen hat direkt mit der Ausgangsannahme zu tun, dass Lottospielen ökonomisch irrational ist und postuliert etwa, dass der Nutzen des Spiels falsch eingeschätzt wird. So werden die Gewinnwahrscheinlichkeiten aus verschiedenen Gründen (kognitive Voreingenommenheit, Aberglauben etc.) überschätzt. Die zweite Gruppe von Hypothesen unterstellt dagegen rationales Verhalten in dem Sinne, dass Lotteriespiel als eine rationale Investition angesehen werden, etwa weil man in kurzer Zeit auf legale Weise mit Hilfe eines hohen Hauptgewinns seine Lebenssituation völlig verändern kann. Während die beiden ersten Hypothesengruppen dem ökonomischen Denken verhaftet sind, können die beiden anderen Gruppen eher der Soziologie zugeordnet werden. Die dritte Gruppe befasst sich mit dem Lotteriespiel als Spannungsmanagement und die vierte mit der Bildung von Sozialkapital durch Spielbeteiligung. Beide Ansätze erklären individuelles Handeln aus den sozialen Kontexten, in die Personen eingebettet sind. Sie gehen u.a. davon aus, dass der Nutzen des Spiels nicht der Gewinn sondern das Spiel selbst ist. Mit ihm können entweder individuelle Spannungszustände (Frustrationen) abgebaut werden, die ihre Ursachen z. B. in unvorteilhaften Lebenslagen haben können. Oder es stehen mit der Beteiligung am Spiel der Aufbau und die Entwicklung sozialer Beziehungen (Netzwerke in Form von Spielgemeinschaften) im Vordergrund. Alle theoretischen Ansätze werden von den Autoren einer systematischen Analyse mit Hilfe von Befragungsdaten unterzogen. Sie kommen, die Arbeit abschließend, zum
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Ergebnis, dass es keinen einzigen Erklärungspfad für die Nachfrage nach Lotterielosen gibt. Vielmehr trägt jeder Ansatz partiell etwas zur Erklärung bei, sodass die Bildung von Spielertypen entsprechend ihrer Motivation zur Spielbeteiligung nahe liegt. Aus ihren Analysen kristallisieren die Autoren folgende Typen: etwa 8 Prozent der Befragten spielen aufgrund irrationaler Entscheidungen; weitere 9 Prozent spielen nach rationalen Investitionsentscheidungen; bei etwa 40 Prozent der Befragten scheint der Umgang mit Spannungszuständen ein wichtiges Motiv zu sein und bei etwa einem Drittel der Probanden ist die Spielbeteiligung aus ihrer sozialstrukturellen Einbettung zu erklären. Diese begrenzte Erklärungskraft aller geprüften theoretischen Ansätze führt dann zur Forderung der Autoren nach Prüfung weitere Erklärungsansätze, von denen sie abschließend einen als besonders vielversprechend vorstellen: die Evokation von Traumwelten beim Lotteriekauf und deren sozialintegrative Bedeutung. Dieser Aufsatz überzeugt nach Meinung der Jury durch seinen formal guten Aufbau, seine stringente und kenntnisreiche Argumentation, seine systematische Ableitung von testbaren Hypothesen aus ökonomischen und soziologischen Theoriestücken und die jeweils sich direkt anschließende statistisch-empirische Überprüfung. Mit der Arbeit von Mai wird wieder einmal eine wirtschaftsgeschichtliche Arbeit herausgestellt und mit einem der beiden zweiten Preise ausgezeichnet. Der Aufsatz behandelt in seiner detailreichen Verarbeitung einer enormen und breiten Literaturbasis die Probleme des Übergangs (Transition) von mehr oder weniger agrarisch geprägten Ökonomien Europas zu industrialisierten Gesellschaften im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte In einer überblickartigen Einleitung werden diese Transition skizziert und zentrale Begriffe erläutert, wie etwa die Begriffe Deagrarisierung und Deruralisierung, die als zwei Phasen im Prozess der Transition beschrieben werden. Während „Deagrarisierung“ den eigentlichen Übergang vom agrarisch zum industriell bestimmten Wirtschaften meint, soll mit dem Begriff „Deruralisierung“ die Marginalisierung des Bauerntums in seinem ureigensten ländlichen Umfeld thematisiert werden. In den weiteren Abschnitten des Aufsatzes wird der Übergangsprozess weiter entfaltet und thematisch fokussiert. Da geht es einmal um die Analyse nationaler Besonderheiten bei der Betrachtung von sich im Verlauf dieses Prozesses herausbildenden Strukturen und Konfliktlagen, es geht zweitens um die lebensweltlichen Veränderungen im ländlichen Raum, die dann drittens einmündeten in verschiedene Formen der Politisierung dieses Raumes, theoretisch verankert in Modernisierungsdebatten und praktisch umgesetzt etwa durch die Entwicklung des Genossenschaftswesens und von Bauernparteien. Der Autor weist in diesem Zusammenhang dann auch auf die Pervertierungen dieses Politisierungsprozesses hin, wie sie u.a. in den agrarfaschistischen Bewegungen Norditaliens und Deutschlands bzw. den agrarsyndikalistischen Bestrebungen in Süditalien und Spanien zu Tage traten und revolutionär in den verschiedenen Stufen der Landreformen und Kollektivierungen in Russland auf die Spitze getrieben wurden. Die vierte und letzte Entwicklungsstufe ist dann nach dem zweiten Weltkrieg mit der Phase der „Entbäuerlichung“ des ländlichen Raumes erreicht, in der dieser Raum – besonders in Westeuropa – gleichsam lebensweltlich „verbürgerlicht“ und „verstädtert“. Die Jury zeichnet mit diesem Aufsatz eine Arbeit aus, in der es dem Verfasser gelingt, eine immense Literaturbasis in einer Art und Weise zu verarbeiten, die die ungeheure
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Wucht, Schnelligkeit und Brisanz des Übergangs von Agrar- zu Industriegesellschaften erfahrbar macht. Gleichzeitig gelingt es dem Verfasser aber auch, die Differenziertheit der Entwicklung in den einzelnen Teilen Europas nicht aus dem Auge zu verlieren. Die nationalen Besonderheiten erscheinen dabei nicht nur als isolierte Entwicklungen, sondern immer auch als Mosaiksteine einer gesamteuropäischen Entwicklung. Mit dem Aufsatz von Obinger und Zohlnhöfer wird wieder einmal eine Arbeit aus dem Bereich der Politischen Ökonomie als preiswürdig angesehen und mit einem weiteren zweiten Preis ausgezeichnet. Thematisch betreten die beiden Autoren mit ihrer Abhandlung über die Determinanten der staatlichen Subventionsausgaben und ihrer Veränderungen in den vergangenen 25 Jahren, sowie der Frage nach Konvergenztrends in dieser Entwicklung wissenschaftliches Neuland. Eingangs werden einige der gängigen Konvergenzmaße diskutiert und die Datenbasis für Subventionszahlungen dargestellt und problemaisiert. Daran anschließend geben die Autoren auf der Basis von OECD und EU-Daten zuerst einem Überblick über die Entwicklung der Subventionsausgaben (an Unternehmungen) und den Subventionsquoten in 21 OECD-Ländern und der staatlichen Beihilfen und der Beihilfequoten in 15 EUStaaten seit dem Jahr 1980. Es kann dabei gezeigt werden, dass im OECD-Bereich die Subventionsausgaben und in den EU-Staaten die Beihilfen deutlich zurückgegangen sind, nachdem sie in den zwanzig Jahren davor durchgängig anstiegen. Sowohl im Anstieg als auch im Rückgang zeigen sich die aus der Literatur bekannten Länderfamilien in Bezug auf das Ausmaß der Staatstätigkeit: englischsprachige Länder haben das geringste Wachstum der Staatstätigkeit und auch den geringsten Rückgang; die nordischen Staaten das stärkste Wachstum und den stärksten Rückgang; die Länder des europäischen Kontinents liegen jeweils dazwischen. Sowohl für die OECD als auch für die EU lässt sich dann anhand deskriptiver Statistiken zeigen, dass seit 1980 ein Prozess der Konvergenz zwischen den Länderfamilien zu beobachten ist. Aus verschiedenen theoretischen Ansätzen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung leiten die Autoren dann insgesamt 12 überprüfbare Hypothesen zur Erklärung der nationalen Unterschiede in den Subventionsausgaben ab und identifizieren anschließend jene Faktoren, die das absolute Niveau und die Veränderungen der Unternehmenssubventionen bestimmt haben. Dabei werden dann die mittels deskriptiver Statistiken ermittelten Ergebnisse zur Konvergenz der Subventionsquoten nun auch regressionsanalytisch bestätigt. Darüber hinaus kann gezeigt werden, dass Parteidifferenzen zumindest an Bedeutung verloren haben: für rechte und linke Parteien gehören Subventionen immer weniger zum wirtschaftspolitischen Instrumentarium. Ein vergleichbarer Effekt kann dann auch beobachtet werden, wenn sozialpartnerschaftliche Arrangements in den einzelnen Ländern betrachtet werden. Nicht so eindeutig ist der Effekt des institutionellen Pluralismus. Er lässt sich allerdings durch das Konzept der Vetospielerdichte gut theoretisch einfangen, wenn gezeigt werden kann, dass zahlreiche Vetoinstanzen in einem Land den jeweiligen Status Quo begünstigen, also einmal die Ausweitung von Subventionen behindern und zum anderen aber auch deren Rückgang. Die abschließende Frage, welche Faktoren den Konvergenzprozess ausgelöst haben, wird durch die Autoren vorerst noch offen gehalten. Globalisierungs- und Integrationsindikatoren, Druck durch die EU und wirtschaftlicher Problemdruck scheiden nach Meinung der Autoren allerdings als Verursacher aus. Sie schlagen vor, den Siegeszug angebotsorientierter Wirtschaftspolitik und damit die Dif-
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fusion neoliberaler Ideen als Kernargument einer künftigen empirischen Beweisführung anzusehen. Der Aufsatz ist nach Meinung der Jury beispielhaft in seiner Verbindung von theoretischen Argumenten und Hypothesenbildung mit deren methodisch-empirischer Überprüfung. Er ist logisch und stringent im Aufbau und beeindruckt in seiner gesamten Konzeption. Die Sinnhaftigkeit einer sozialwissenschaftlichen Befassung mit dem Fußballspiel erschließt sich keineswegs auf den ersten Blick. In ihrer mit dem dritten Preis ausgezeichneten Analyse der doppelten Kontingenz bei Elfmeterschüssen gelingt es den Autoren Berger und Hammer jedoch, in beispielhafter Weise aufzuzeigen, welche soziologischen Erklärungsansätze zur Thematik der doppelten Kontingenz geeignet sind, die Standardsituation des Elfmeters und damit auch vergleichbare (Alltags-)Situationen der sozialen Interaktion theoretisch einzubinden und daraus empirisch gehaltvolle Aussagen abzuleiten. Als empirische Basis dient den Autoren dabei ein Datensatz, der alle Elfmetersituationen (n=1043) der ersten Bundesliga aus den Spielzeiten 1992 bis 2004 umfasst. Nach einem Problemaufriss in den ersten beiden Abschnitten ihres Aufsatzes, können die Autoren im dritten Teil zeigen, dass das Problem der doppelten Kontingenz beim Elfmeter theoretisch nur mit Hilfe der mathematischen Spieltheorie modelliert werden kann, um daraus empirisch überprüfbare Hypothesen abzuleiten. Ein analoges Vorgehen ist, wie die Autoren in einer scharfsinnigen und kenntnisreichen Analyse darlegen, mit keiner der beiden, in Frage stehenden systemtheoretischen Überlegungen zur doppelten Kontingenz möglich (Parsons vs. Luhmann). Beide prominenten Ansätze stellen sich aus grundsätzlichen Erwägungen einer Lösung dieses Problems entgegen. Während die Überlegungen von Parsons nicht für die hier untersuchten Nullsummenspiele geeignet sind, weil es dafür keine sinnvollen Normen des sozialen Handelns geben kann, schließt Luhmann explizit aus, dass die Spieler den infiniten Regress von gegenseitigen Erwartungen und sich daran anschließenden Handlungen auflösen können. Damit verbleibt für eine empirische Analyse nur die Überprüfung der spieltheoretisch begründeten Hypothesen. Nachdem in einem kurzen Zwischenabschnitt der Forschungsstand zum Verhalten von Menschen in Situationen der doppelten Kontingenz skizziert wird, erfolgt im darauf folgenden Abschnitt der empirische Test der spieltheoretisch abgeleiteten Hypothesen. Es zeigt sich über alle Tests hinweg, dass die theoretisch gemachten Vorhersagen weitgehend bestätigt werden können. Dies gilt allerdings in stärkerem Maße für das Verhalten der Torhüter als für das der Schützen. Zudem sind nicht alle nachgewiesenen Beziehungen statistisch signifikant, obwohl sie immer in die erwartete Richtung weisen. Die Spieltheorie ist damit den systemtheoretischen Ansätzen in zweifacher Weise überlegen: sie hat einmal eine größere theoretische Reichweite und befähigt Forscher zudem, aus ihr überprüfbare und empirisch korrekte Hypothesen abzuleiten. Zudem kann gezeigt werden, dass die Situation des Elfmeters kein zu vernachlässigender Spezialfall der doppelten Kontingenz darstellt, sondern stellvertretend für Nullsummenspiele allgemein und damit für eine Vielzahl gleichgearteter sozialer Interaktionen stehen kann. Den Autoren ist damit zuzustimmen, dass ihre Ergebnisse ein starkes Argument für die Einbindung spieltheoretischer Überlegungen beim „soziologischen Kerngeschäft“ der Analyse von Interaktionen enthalten.
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Mit der Prämierung dieses Aufsatzes würdigt die Jury nicht nur die wissenschaftliche Arbeit von zwei jüngeren, noch nicht etablierten Forschern, sondern auch den Mut, das zentrale sozialwissenschaftliche Thema der sozialen Interaktion theoretisch und besonders empirisch auf ungewöhnliche, jedoch innovative Art und Weise anzugehen. Der Aufsatz besticht darüber hinaus in Form und Inhalt. Karl-Wilhelm Grümer Ankündigung Visualization of Complex Data Structures. 38th Spring Seminar at GESIS-ZA, Cologne, Germany, March 2-20, 2009 The Spring Seminar is a training program for postgraduates in the field of social sciences interested in advanced techniques of data analysis (theory) and in the application of these techniques to data (hands-on-workshop). The seminar covers three modules of one week each, to some extent based upon one another. The courses can be booked either separately or as a block. The lectures will be given in English by: Professor Jörg Blasius, Andreas Mühlichen (University of Bonn, Germany): Correspondence Analysis and Related Methods - Geometric Data Analysis, March 2-6, 2009, Professor Patrick J.F. Groenen, Drs. Frank M.T.A. Busing (Erasmus University Rotterdam, Leiden University, The Netherlands): Nonlinear Multivariate Analysis and Multidimensional Scaling, March 9-13, 2009 and Professor Michael Friendly, Ernest Kwan (York University, Carleton University, Canada) Visualizing Categorical Data with SAS and R, March 16-20, 2009. For further details and registration refer to URL: http://www.gesis.org/en/research/events/spring-seminar/ Call for Papers Arbeitstagung: Sozialtheorie der Emotionen, 24. – 25. April 2009, Fernuniversität Hagen „Galerie Oben“, Fleyerstr. 204, Hagen „Die Emotionen sind in den Sozialwissenschaften angekommen.“ Nach etlichen Jahren und Jahrzehnten der Marginalisierung und Ausblendung von Emotionen und Gefühlen in der sozialtheoretischen und sozialwissenschaftlichen Forschung kann man nunmehr feststellen, dass der „emotional turn“ auch in diesen Wissenschaften nicht mehr zu übersehen ist. Kaum ein theoretischer Ansatz und kaum ein Forschungsfeld können sich dem entziehen. Aber man muss ebenso konstatieren, dass die sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung von Emotionen mit diesem Trend nicht Schritt gehalten hat. Häufig belässt es bei dem Nachweis, dass Emotionen durch soziale und/oder kulturelle Faktoren beeinflusst werden oder ihrerseits soziale Phänomene wie Handlungen, Interaktionen, Gruppen oder Organisationen beeinflussen. Aber inwiefern und in welcher Hinsicht können Emotionen durch soziale und/oder kulturelle Faktoren beeinflusst werden? Und welche Qualitäten müssen Emotionen aufweisen, dass sie soziale Phänomene zu gestalten oder zu beein-
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flussen in der Lage sind? Zu wenig noch werden Emotionen in das Geflecht der sozialwissenschaftlichen Grundbegriffe einbezogen. Worin besteht der Zusammenhang oder worin besteht die Differenz zwischen Emotionen und Handlungen, zwischen Emotionen und Kognitionen, zwischen Emotionalität und Rationalität? Oft hängt man hier nur traditionellen semantischen Figuren an, beispielsweise dem vermeintlichen Gegensatz von Emotionalität und Rationalität. Und nur selten sucht man Bekanntschaft mit der interdisziplinären Emotionsforschung, in welcher über die Philosophie und Psychologie bis hin zur Linguistik und Neurobiologie erhebliche, auch sozialwissenschaftliche Fortschritte zu verzeichnen sind. Was eigentlich fehlt, dass ist eine sozialwissenschaftlich gehaltvolle Theorie der Emotionen. Die Tagung setzt sich nun zum Ziel, diese Desiderata ein wenig zu lichten und einen Schritt hin zu einer Sozialtheorie der Emotionen zu unternehmen. Dabei sollen folgende Fragestellungen im Vordergrund stehen: Rekonstruktion sozialwissenschaftlicher Emotionskonzepte: Welche Emotionskonzepte und Emotionstheorien werden in den Sozialwissenschaften vertreten? Wie könnten sozialwissenschaftlich gehaltvolle Emotionskonzepte aussehen? Methodische Probleme: Wie lassen sich Emotionen im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Methoden und Methodologien (er-)fassen? Benötigt man eine eigene Methodologie? Explanative Problemlagen: Welche Erklärungsleistung kann eine stärkere Fokussierung auf Emotionen für die Sozialwissenschaften erbringen? Interdisziplinarität: Worin könnte die besondere, genuine Aufgabe, Leistung, und Perspektive der Sozialwissenschaften im Konzert der anderen Wissenschaften bestehen? Was können die Sozialwissenschaften für ihre (grundlagen-)theoretischen Fragestellungen aus den interdisziplinären Emotionsforschungen lernen? Emotionen als „social kind“ ? Worin besteht die Sozialität von Emotionen? Die Veranstaltung soll in Form eines diskussionsorientierten Workshops durchgeführt werden. Von den Vortragenden werden kurze Referate (10-15 Minuten) erbeten, die anschließend ausreichend Zeit für die gemeinsame Diskussionen lassen. Vortragsinteressenten werden gebeten, bis zum 31. Januar 2009 kurze Abstracts (1–2 Seiten) bei den Veranstaltern einzureichen. Tagungsanmeldungen werden bis zum 15. April 2009 an die Organisatoren erbeten. Organisiert und ausgerichtet wird die Veranstaltung von Annette Schnabel (Universität Umeå) und Rainer Schützeichel (FernUniversität in Hagen) Kontakt: Dr. Annette Schnabel, Department of Sociology, University of Umeå,
[email protected] oder Dr. Rainer Schützeichel, Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen,
[email protected].
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„Die Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie“. Tagung der Sektion Wirtschaftssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und der AG Konsumsoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Harnack-Haus, Berlin, 06. – 07. November 2009 Ohne Konsum keine Wirtschaft! Dies hatte schon Adam Smith in The Wealth of Nations konstatiert: „Consumption is the sole end and purpose of all production; and the interest of the producer ought to be attended to, only so far as it may be necessary for promoting that of the consumer.“ In der deutschen Wirtschaftssoziologie findet der Themenbereich Konsum freilich noch wenig Beachtung, da bislang die „Produktionsseite“ der Wirtschaft sowie deren Institutionen im Vordergrund stehen. Allerdings zeichnet sich in der neuen Wirtschaftssoziologie eine stärkere Berücksichtigung des Verhältnisses von Wirtschaft, Kultur und Lebensstilen ab. Auch in der Konsumsoziologie wird dem Phänomen „Verbrauch/Konsum“ nachgegangen. Die anfängliche Dichotomie von Verbraucherverhaltensforschung einerseits und Konsumkritik andererseits spielt dabei keine Rolle mehr. Vielmehr wird Konsum umfassend als Schnittpunkt zwischen (Markt-)Wirtschaft, (Alltags-)Kultur und den „feinen Unterschieden“ sozialer Ungleichheit untersucht. Insbesondere im anglo-amerikanischen Raum hat die Konsumforschung dabei beachtliche Resultate hervorgebracht. Die Tagung „Die Ökonomie des Konsums – der Konsum in der Ökonomie“ findet in Kooperation der Sektion Wirtschaftssoziologie, der AG Konsumsoziologie und dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung statt. Die Tagung soll einen aktuellen Einblick in den interdisziplinären und internationalen Stand der Konsumforschung geben und deren Verbindungslinien zur Wirtschaftssoziologie und politischen Ökonomie aufzeigen. Im Kern geht es um eine Bestandsaufnahme zum Verhältnis von Wirtschaft, Markt und Konsum. Sowohl die Wirtschaftssoziologie als auch die Konsumforschung sind interdisziplinäre Forschungsfelder. Zu der Tagung können daher nicht nur Beiträge aus der Soziologie, sondern auch solche aus angrenzenden Disziplinen wie der Kulturanthropologie, der Wirtschaftsgeschichte, den Wirtschaftswissenschaften usw. eingereicht werden.Mögliche Fragestellungen für Vorträge können sein: Wie ist das Verhältnis von Konsum und Wirtschaft aus soziologischer Perspektive zu denken? Welche Problemdefinitionen, theoretischen Zugänge und Forschungsperspektiven bieten sich an? Was sind marktsoziologische Perspektiven auf den Konsum und konsumsoziologische Perspektiven auf den Markt? Wieso erwerben Verbraucher Güter, die sie funktional nicht benötigen? Wie wird diese Nachfrage erzeugt und welche Rolle spielt sie für die Reproduktion kapitalistischer Ökonomien? Ist das Phänomen Konsum geeignet (und wenn ja: wie), um im Rahmen der Wirtschaftsanalyse die Bedeutung z. B. von Medien, Werbung, Lebensstilen für die Ökonomie zu erforschen? In welchem Verhältnis stehen Geld und Konsum? Welche Praxisformen des Konsums sind für die Soziologie des Geldes beachtenswert? Und wie hat sich das Medium Geld auf die Form des modernen Konsums ausgewirkt? Welche Rolle spielen Institutionen, Regeln, Rituale, Konventionen in der Wirtschaft für die Strukturierung des täglichen Konsums und umgekehrt? Wie und wodurch ist Konsum − historisch betrachtet − für Wirtschaftssysteme bedeutsam gewesen, und wie haben unterschiedliche
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Wirtschaftsformen auf den Konsum eingewirkt? Wie formieren sich Konsumenten? Durch welche Praktiken, Dispositive und Diskurse werden Individuen zu Konsumenten? Gibt es eine Theorie der Konsumentensozialisation? Solchen Fragestellungen soll im Rahmen der gemeinsamen Tagung des MaxPlanck-Instituts für Gesellschaftsforschung, der AG Konsumsoziologie und der Sektion Wirtschaftssoziologie nachgegangen werden. Es handelt sich dabei zugleich um die Sektionstagung der Sektion Wirtschaftssoziologie für das Jahr 2009. Die Auswahl der vortragenden Teilnehmer findet auf Grundlage von zweiseitigen Exposees statt (ca. 1000 Wörter), die auf Englisch oder Deutsch formuliert sein können. Besonders erwünscht sind Beiträge zu empirischen Forschungen in diesem Bereich. Konzeptionelle Beiträge sollen theoretische Überlegungen auch an empirischen Gegenstandsbereichen erläutern. Überdies sind Vertreterinnen und Vertreter angrenzender Disziplinen eingeladen, Exposees einzureichen, um mit Bezug auf die Konsum- und Wirtschaftssoziologie den Stand und die interdisziplinären Perspektiven aus ihrem Forschungsbereich vorzustellen. Zwei der Vorträge sollen von Promovierenden gehalten werden, die einen Einblick in ihre laufenden Forschungsprojekte geben. Die Exposees müssen bis zum 1. April 2009 elektronisch (WORD- oder pdf-Format) an folgende Adresse gerichtet werden: Christine Claus (Sekretariat Prof. Jens Beckert),
[email protected]. Die Benachrichtigung der Annahme des Vortrags erfolgt im Mai 2009. Die vollständigen zum Vortrag angenommenen Papers müssen bis zum 1. September 2009 eingereicht werden. Die Papers werden den Tagungsteilnehmern im Vorfeld zugänglich gemacht. Videobasierte Methoden der Bildungsforschung – Sozial-, kultur- und erziehungswissenschaftliche Nutzungsweisen, 19. - 20.06.2009, Centrum für Bildungs- und Unterrichtsforschung, Stiftung Universität Hildesheim Der Einsatz von qualitativen und quantitativen videobasierten Forschungsmethoden ist im letzten Jahrzehnt immer beliebter geworden und in den Sozial-, Kultur- und Erziehungswissenschaften mittlerweile weit verbreitet. Ausgehend von ihren Ursprüngen in der Ethnographie und Sozialanthropologie sowie in der Soziologie sind videobasierte Methoden heute in einer Reihe von konkreten Forschungsfeldern fest verankert: Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Kriminologie, Human- und Kulturgeographie, Medienwissenschaften und „Cultural Studies“, Kulturund Sozialpsychologie, Biographie- und Lebenslaufforschung, Management- und Organisationsstudien und nicht zuletzt auch in der Bildungsforschung. Der enorme Fortschritt in den Bereichen der Elektronik, der Computer- und Informationstechnik erleichtert die Verknüpfung videobasierter Filmaufzeichnungen mit digitaler Hardware und entsprechender Editions- und Analysesoftware. Den daraus erwachsenden methodischen Möglichkeiten scheinen derzeit keine Grenzen gesetzt, die Entwicklung videobasierter Untersuchungsverfahren ist noch lange nicht an ihrem Ende angelangt. Der erfahrungswissenschaftliche Ertrag des Einsatzes von Videotechnik erscheint zunächst verheißungsvoll – ermöglicht er doch die exakte und realzeitlich ununterbrochene Dokumentation vor allem der nonverbalen Gehalte menschlichen Handelns. Damit besitzen videobasierte Aufzeichnungen Vorteile sowohl gegenüber herkömmlichen
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‚Protokollen‘ der Feldbeobachtungen von Forscher/innen als auch gegenüber weitgehend kommunikativ gewonnenen Daten wie Befragungen, Interviewgesprächen oder audiografischen Interaktionsmitschnitten. Zudem lässt sich Videotechnik leicht in realen Interaktionskontexten einsetzen und bietet somit Vorzüge gegenüber der Künstlichkeit experimenteller Settings. Mit der zunehmenden Verbreitung videobasierter Methoden zur erziehungs-, kulturund sozialwissenschaftlichen Erforschung von Bildungsprozessen werden jedoch auch die Grenzen der Methode sichtbar. Das Centrum für Bildungs- und Unterrichtsforschung (CeBU) in Zusammenarbeit mit dem Forum Fachdidaktische Forschung, dem Kompetenzzentrum Frühe Kindheit Niedersachsen und dem im Institut für Sozialwissenschaften befindlichen Büro für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsmethoden des CeBU an der Universität Hildesheim laden ein zu einer wissenschaftlichen Tagung, die sich in systematischer Form den methodischen und methodologischen Fragen an den Einsatz videobasierter Untersuchungsverfahren widmet. Ziel ist eine breite Reflexion darüber, welche Verfahren sich auf dem Gebiet der Bildungsforschung mittlerweile etabliert haben, welche methodischen und methodologischen Probleme aufgetreten sind und welche besonderen Erkenntnisse aus dem Einsatz videobasierter Methoden gewonnen werden konnten. Die Tagung behandelt zunächst in Form von Überblicksvorträgen die neueren Entwicklungen videobasierter Methoden in der quantitativen und qualitativen Bildungsforschung und nimmt mit den Fragen nach der „Kamera im Feld“, nach den möglichen Vorgehensweisen bei der Datenanalyse und den Varianten der Präsentation von videobasierten Untersuchungsergebnissen die wesentlichen Etappen eines videobasierten Forschungsprozesses in den Blick. Im zweiten Teil der Tagung soll den Resultaten und methodischen Entwicklungen in spezifischen Anwendungsbereichen videobasierter Bildungsforschung nachgegangen werden. Sozial-, Kultur- und Erziehungswissenschaftler/innen, die in ihre Studien Bildungsprozesse mittels videobasierter Forschungsmethoden untersuchen, sind daher aufgefordert und herzlich eingeladen, ihre Forschungsergebnisse, methodischen Probleme und Problemlösungen auf der Tagung vorzustellen und zu reflektieren. Folgende Anwendungsfelder könnten diskutiert werden: Die Kindheits- und Jugendforschung, die Untersuchung und empirisch gestützte Reflexion pädagogischer Prozesse im Unterricht, die Analyse schulfachlicher Bildungsprozesse, die Erschließung (fremd-) sprachlicher Bildung, die Rekonstruktion von Prozessen der Erwachsenenbildung, die Erkundung von Bewegungen und Räumen, die Möglichkeiten eines ‚visuellen‘ Selbstverständnis der Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Veranstaltung soll insbesondere dem interdisziplinären Austausch von Erfahrungen mit dem Einsatz videobasierter Methoden auf dem Feld der Bildungsforschung dienen. Interessierte Wissenschaftler/innen richten einen aussagekräftigen Abstract ihres Beitrags (nicht mehr als 250 Wörter) bis zum 31.01.2009 an: Prof. Dr. Michael Corsten, Institut für Sozialwissenschaften, Stiftung Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, D-31141 Hildesheim, Email:
[email protected].
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Redaktionelles Gutachterinnen und Gutachter der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2007/2008 An der Begutachtung von Manuskripten, die der Zeitschrift im Zeitraum zwischen dem 1. Juli 2007 und dem 30. Juni 2008 eingereicht wurden, haben die folgenden Kolleginnen und Kollegen mitgewirkt. Wir danken ihnen sehr herzlich für die Beteiligung an der Entstehung der Zeitschrift. Martin Abraham (Bern) Stephan Lessenich (Jena) Gert Albert (Heidelberg) Uta Liebeskind (Siegen) Hans Albert (Mannheim) Stefan Liebig (Duisburg) Hans-Jürgen Andreß (Köln) Wolfgang Ludwig-Mayerhofer (Siegen) Eva Bärlösius (Hannover) Karl Maaz (Berlin) Birgit Becker (Mannheim) Heiner Meulemann (Köln) Rolf Becker (Bern) Walter Müller (Mannheim) Werner Bergmann (Berlin) Walther Müller-Jentsch (Bochum) Hans-Peter Blossfeld (Bamberg) Richard Münch (Bamberg) Katharina Bluhm (Osnabrück) Siegfried Nagel (Chemnitz) Josef Brüderl (Mannheim) Rosemarie Nave-Herz (Oldenburg) Wolfgang van den Daele (Berlin) Karl-Dieter Opp (Hamburg) Klaus Dörre (Jena) Franz Urban Pappi (Mannheim) Michael N. Ebertz (Freiburg) Birgit Pfau-Effinger (Hamburg) Stefanie Eiffer (Bielefeld) Friedhelm Pfeiffer (Mannheim) Hartmut Esser (Mannheim) Manuela Pötschke (Bremen) Jürgen W. Falter (Mainz) Hans Rattinger (Bamberg) Marek Fuchs (Kassel) Werner Raub (Utrecht) Jürgen Gerhards (Berlin) Jost Reinecke (Bielefeld) Uta Gerhardt (Heidelberg) Susanne Rippl (Chemnitz) Johannes Giesecke (Berlin) Jörg Rössel (Zürich) Wolf-Dietrich Greinert (Berlin) Karin Schittenhelm (Siegen) Rainer Greshoff (Hagen) Johannes Siegrist (Düsseldorf) Josef Hartmann (München) Michael Schenk (Stuttgart) Bruno Hildenbrand (Jena) Josef Schmid (Tübingen) Paul Berhard Hill (Aachen) Michael Schmid (Neubiberg) Steffen Hillmert (Tübingen) Jürgen Schwier (Gießen) Karl Hinrichs (Bremen) Fritz Söllner (Illmenau) Hans-Willy Hohn (Speyer) Frederic Speidel (Recklinghausen) Marita Jacob (Mannheim) Mateusz Stachura (Heidelberg) Michael Jäckel (Trier) Johannes Stauder (Heidelberg) Dorothea Jansen (Speyer) Rainer Strobl (Hannover) Monika Jungbauer-Gans (Kiel) Olaf Struck (Jena) Peter Kappelhoff (Wuppertal) Arne Uhlendorff (Berlin) Franz Xaver Kaufmann (Bielefeld) Thomas Voss (Leipzig)
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Frank Kalter (Leipzig) Bernd Wegener (Berlin) Hans Mathias Kepplinger (Mainz) Joachim Weimann (Magdeburg) Guy Kirsch (Fribourg) Anja Weiß (Duisburg) Thomas Klein (Heidelberg) Harald Welzer (Hannover) Matthias König (Göttingen) Arnold Windeler (Berlin) Cornelia Kristen (Leipzig) Paul Windolf (Trier) Steffen-M. Kühnel (Göttingen) Christof Wolf (Mannheim) Thomas Lemke (Frankfurt am Main) Rolf Ziegler (Feldafing)