OSC (2009) 16:134–149 DOI 10.1007/s11613-009-0129-5 HAUPTBEITRÄGE
Navigationskompetenzen an der Hochschule – Coaching als Bestandteil wissenschaftlicher Qualifikation Michael Pohl · Dörte Husmann
Zusammenfassung: Moderne wissenschaftliche Qualifikation umfasst sowohl fachwissenschaftliche als auch sozial-kommunikative Kompetenzen. Wissenschaftler/innen können daher von Coaching ebenso profitieren wie Lehr- und Führungskräfte in anderen Sektoren. Zentrale Meta-Kompetenzen sind der Umgang mit Veränderungen und Ungewissheiten sowie eine Grundhaltung, die sich als „Navigieren auf driftenden Inseln“ beschreiben lässt. Unter Bezug auf den aktuellen Diskurs stellen die Autoren ein integratives Konzept von Coachinglernen vor und erörtern, wie solche Elemente in wissenschaftliche Ausbildung integriert werden können. Sie diskutieren auch konkrete Bestrebungen, Credit-Points für Coaching einzuführen. Schlüsselwörter: Wissenschaftliche Qualifikation · Coachinglernen · Führungskompetenzen
Navigational skills at universities – coaching as part of academic qualification Abstract: A modern scientific qualification encompasses specialised as well as human and communication skills. Hence scientists working with individuals can benefit from coaching to the same extent as other management and teaching staff. Crucial meta-skills are the handling of change and ambiguity, and also a tenor, which can be described as “navigating on drifting islands”. With reference to the current discourse, the authors introduce an integrative concept of coaching learning and explicate how to integrate its elements into scientific education. They also debate concrete attempts at establishing credit points for coaching. Keywords: Academic qualification · Coaching learning · Leadership competencies
© VS-Verlag 2009 Dipl.-Soz. M. Pohl ( ) Melanchthonstr. 60, 33615 Bielefeld, Deutschland E-Mail:
[email protected] D. Husmann Treptowerstr. 97, 33619 Bielefeld, Deutschland E-Mail:
[email protected]
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Wenn Wissenschaftler/innen mit Menschen arbeiten, also in großen Teilen der Lehre sowie in Führungsrollen jeglicher Art, sind Coachingkompetenzen für sie ebenso nützlich wie für Lehr- und Führungskräfte in anderen Sektoren. Zentrale Meta-Kompetenzen, die so gefördert werden können, sind insbesondere der Umgang mit Veränderungen und Ungewissheiten sowie eine Grundhaltung, die sich als „Navigieren auf driftenden Inseln“ beschreiben lässt. Wie können solche Elemente in wissenschaftliche Ausbildungen integriert werden? Im Folgenden wird ein integratives Konzept von Coachinglernen erörtert, das sich auf den aktuellen Diskurs zur Kompetenzerweiterung von Wissenschaftler/innen bezieht und dabei die Wechselwirkung von wissenschaftlichem Lernen und Lehren mit Coachingelementen fokussiert.
1 Neue Kompetenzanforderungen an Wissenschaftler/innen Die Berufsrolle Wissenschaftler/in ist mit einer wachsenden Aufgabenvielfalt verbunden. Diese umfasst u.a. die Konzipierung, Koordination und Durchführung von Forschungsprojekten, die Veröffentlichung und Präsentation der Ergebnisse, die Lehrtätigkeit, die wissenschaftliche Nachwuchsförderung, die Prüfungstätigkeit, die Beteiligung an Selbstverwaltung und Hochschulentwicklung, die Wahrnehmung von Vorgesetztenfunktionen, und jede dieser Einzelaufgaben erfordert unterschiedliche Rollenbilder und Kompetenzen, Flexibilität und Veränderungsbereitschaft. „Neu berufene Hochschullehrer stürzen nach ihrer Berufung in eine Rollenvielfalt. Sie sind Forscher, Lehrende, Manager, Moderatoren, Gremienarbeiter, Führungskräfte, Betreuer, Dekane usw. In diesen vielfältigen Rollen und Identitäten können sich neu berufene Professoren schnell verlieren. Sie kommen aus einer Kultur des Geführtwerdens – als Promovend, als Habilitierter und stehen jetzt als Führungskraft im Positionierungskampf um Reputation, Drittmittel und Anerkennung als Forscher“ ( Brüning 2009: 233). Die von Brüning gesehene „Kultur des Geführtwerdens“ ist hierbei allerdings in Frage zu stellen. Andere Erfahrungen von Beratern/innen und Trainern/innen im Hochschulsektor sprechen eher dafür, dass es sich um eine „Kultur vielfältiger Abhängigkeiten“, verbunden mit dem Mangel an Führung und Orientierung handelt. Zudem sind viele Wissenschaftler/innen auf ihrem Qualifizierungsweg folgenden strukturellen Paradoxien ausgesetzt: 0
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Soziostrukturell stehen die Hochschulen im Widerspruch zwischen Professionssystem und Organisation, d. h. ein hochprofessioneller Expertenbetrieb muss sich mit oft archaisch anmutender verwaltungsbürokratischer Sozialorganisation arrangieren; Über- und Untersteuerung (Beamtenstruktur vs. professorale Freiheit) stehen unverbunden nebeneinander. Karrierebezogen sind Wissenschaftler/innen jahrelangem hohen Leistungs- und Qualifizierungsdruck ohne Erfolgs- oder Aufstiegsgarantien und ungesichertem Sozialstatus ausgesetzt.
Auch an die Lehre werden erweiterte Ansprüche gestellt. Klassische Lehr- und Lernformen stehen auf dem Prüfstand, denn es wird der „Shift from Teaching to Learning“ postuliert (vgl. Welbers & Gaus 2005). „Gute Lehre fördert einen souveränen und kri-
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tischen Umgang der Studierenden mit Wissenschaft. Gute Wissenschaft muss sich deshalb auch immer an guter Lehre messen lassen“, so Ullrich Bauer (NW, 13.12.2008: 4), aktueller Träger des Bielefelder Karl-Grotemeyer-Preises für hervorragende Leistungen und persönliches Engagement in der Lehre. Wenn es nun stimmt, dass immer mehr professionelle Tätigkeiten reflexiv werden (Buchinger & Irle, in Klinkhammer 2004: 15), was bedeutet das für wissenschaftliche Tätigkeiten angesichts des Anspruchs von Wissenschaft, methodisch gesichertes Orientierungswissen für vielfältige natur- und gesellschaftswissenschaftliche Anwendungsbereiche und für die Vermittlung dieses Wissens in der Lehre zu generieren? Für uns folgt daraus, für ein erweitertes Verständnis von wissenschaftlicher Qualifikation zu plädieren. Während im fachlichen Diskurs mit den Begrifflichkeiten der wissenschaftlichen Qualifikation bzw. der „wissenschaftlichen Qualifizierung“ bislang vorrangig die in der Promotions- und der Habilitationsphase erworbene fachwissenschaftliche Expertise bezeichnet wird, fragen wir danach, welche übergreifenden Qualifikationserfordernisse heute an Wissenschaftler/innen gestellt werden. Dem liegt die These zugrunde, dass wissenschaftliche Qualifikation sich nicht mehr auf fachwissenschaftliche Merkmale reduzieren lässt. So betont z. B. die Universität Basel die „soziale, kommunikative und ethische Kompetenz“ als Obligationskompetenzen für Wissenschaftler/innen (www.ispm-unibasel.ch). Für viele Akademiker/innen hat das Arbeitsfeld Wissenschaft durch verschlechterte Arbeitsbedingungen und die Zunahme an Dienstaufgaben, die außerhalb von Forschung und Lehre liegen, heute an Anziehungskraft verloren. Eine angestrebte Rückbesinnung, die den Beruf des/der Wissenschaftler/in wieder attraktiver und sinnerfüllter machen würde, erfordert neben organisatorischen Veränderungen auch „aktive und selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Vielfalt und Komplexität der Berufsrolle (…) sowie Präferenzsetzung und Selbstmanagement“ ( Klinkhammer 2004: 71). Dürfen oder sollten Wissenschaftler/innen dabei auf unterstützende Angebote zurückgreifen? In Abgrenzung zum irrationalen Mythos von Wissenschaftler/innen, die auf alles eine Antwort haben sollten und für die die Inanspruchnahme von Hilfe das Eingeständnis des eigenen Unvermögens bedeutet, bedarf es u. E. der Etablierung einer Normalität von professioneller Prozessbegleitung und entsprechender Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Einführung einer Coachingkultur kann hier einen guten Ansatzpunkt bieten. Bisher sind Coachingangebote allerdings nur punktuell in die Personalentwicklung aufgenommen worden.
2 Coachingkultur und Change-Management an der Hochschule Die deutschen Hochschulen befinden sich durch die Umstellung auf das Bachelor-Mastersystem in tiefgreifenden Veränderungsprozessen. Sie reagieren damit auf die sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt und die sich dynamisierenden Berufsprofile, in der neben Fach- und Spezialwissen nun auch Eigenverantwortlichkeit sowie Lern- und Transferfähigkeit zu den zentralen Kompetenzen zukünftiger Arbeitskräfte gehören. Die Ergebnisse und Folgen dieses tiefgreifenden Wandels sind immer weniger vorhersehbar, es ergeben sich neue Konzepte von Steuerung und Steuerungsunterstützung (vgl. Buchinger & Klinkhammer 2007: 85 ff.).
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Eng verknüpft damit sind die Aufforderung zum lebenslangen Lernen und zur Selbstreflexion sowie die Einstellung auf persönliche und berufliche Zieloffenheit und den flexiblen Umgang mit den daraus resultierenden Unsicherheiten. Entwicklungen nicht genau abschätzen zu können, immer auf Alternativmöglichkeiten eingestellt sein zu müssen, erzeugt Irritation, Abwehr und emotionalen Stress. Die große Herausforderung besteht darin, mit Unvorhersehbarkeit umgehen zu können und dabei psychisch gesund und handlungsfähig zu bleiben. Planen war gestern, Navigieren ist heute. Sowohl Wissenschaft als auch Coaching sollten sich dem stellen. 2.1 Coaching als Herangehensweise Coaching wird von uns nicht als enggeführtes Beratungsformat oder Management-Tool, sondern als eine komplexe Form der Prozessberatung verstanden, die mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zur Supervision aufweist (vgl. Buchinger & Klinkhammer 2007: 28ff). Es gibt mittlerweile eine Fülle von verschiedenen Coaching-Ansätzen. Wir beziehen uns insbesondere auf den Ansatz „Coaching mit System“ von Pohl & Fallner (2009), der Arbeitsbeziehungen im Einflussfeld von Organisation, Berufsrolle, Biographie, persönlichen Wertvorstellungen und gesellschaftlicher Verantwortung sieht. Coaching ist vor diesem Hintergrund eine grundlegende Betrachtungs- und Herangehensweise an die Interaktionen von Menschen in Organisationen. Hier wird humanwissenschaftliche Fundierung mit kreativen Methoden und Medien verbunden. Neben der Entfaltung von Kompetenzen und der Veränderung von Denk- und Handlungsstrukturen zielt es auch auf die Erweiterung von Wissen. Wissenserweiterung als ein zentrales Element von Coachinglernen basiert auf einem dynamischen, konstruktivistischen und interaktiven Wissensbegriff und bezieht sich auch auf Erfahrungslernen und informelles Lernen. Ein solches Coaching versteht sich als Beitrag zur Gestaltung von Arbeits- und Ausbildungssystemen. Die Beratungsbeziehung basiert dabei auf einer klaren Aufgabenteilung. Während der oder die Coach Verantwortung für Ablauf und Setting des Beratungsprozesses hat, hat der oder die Coachee die Verantwortung für das Anliegen und die Zielerreichung. 2.2 Coachinglernen als Hebelpunkt Die eingangs erwähnte Schlüsselkompetenz des „Navigierens auf driftenden Inseln“ basiert auf einem Verständnis von Lernen, das sich an konstruktivistischen Theorien zu Lernen und Lernberatung in der Weiterbildung von Erwachsenen orientiert (vgl. Siebert 2006). Wir nennen es Coachinglernen. Der Begriff Coachinglernen steht hier zum einen als Chiffre für die Veränderung von Denk- und Handlungsstrukturen, verbunden mit Wissenserweiterung und Kompetenzentfaltung. Coachinglernen beinhaltet vor allem die Aneignung einer polyzentristischen Denkstruktur, also der Fähigkeit, sowohl in Zuständen als auch in Prozessen zu denken (vgl. Wyrwa 1998). Es bietet damit ein hilfreiches Instrumentarium, um Kompetenzen im Umgang mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten zu entwickeln. Des Weiteren steht Coachinglernen für eine Form neuer Lehr- und Lernkulturen.
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Eine ausführliche Beschreibung des zugrunde gelegten Verständnisses von Coachinglernen findet sich bei Pohl & Braun (2004a). An dieser Stelle beschränken wir uns auf eine knappe Zusammenfassung der Grundlinien des Lernkonzeptes: Coachinglernen ist begleitete Selbstorganisation und umfasst in unserem Verständnis drei Lernebenen: 0
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Wissenslernen: Wissenslernen heißt Erweiterung von Wissen zu Zusammenhangsund Veränderungswissen im Sinne eines ganzheitlichen Lernverständnisses. Im Lernbereich Wissen geht es in erster Linie um die Förderung individueller Strategien zur Aneignung von Wissen. Das hier vorliegende Lernverständnis versteht sich im Unterschied zum produktorientierten Faktenwissen als prozessorientiertes Lernen. Für das Coachinglernen heißt dies auch, sich Basiswissen im Bereich Selbstmanagement sowie psychologische und kommunikativ-interaktionale Grundkenntnisse anzueignen. Kompetenzlernen: Wissen und Denken bleiben relativ unwirksam, wenn sie nicht durch Können ergänzt werden. Können heißt, über Kompetenzen zu verfügen. Professionelle Entwicklung findet auf vier Ebenen statt: als personale Kompetenz (Einstellung), als interaktionale (Beziehungskompetenz), als strukturelle Kompetenz und als methodisch-instrumentelle Anwendungskompetenz. Kompetent sein bedeutet, handlungsfähig zu sein. Es bedeutet, in konkreten Praxissituationen über die angemessenen Handlungsoptionen zu verfügen. Haltungslernen: Neben einem positiven Menschenbild und einer humanistischen Grundhaltung geht es hier um Präsenz- und Kontaktfähigkeit. Das umfasst den Selbstkontakt, Kontakt zum Gegenüber, den Kontakt zum Thema und den Kontakt zur Atmosphäre. Im Lernbereich Haltung geht es beim Coachinglernen vor allem um das Training der Selbstreflexionsfähigkeit und um die Aneignung polyzentristischen Denkens. Dabei spielen auch der Umgang mit Emotionen und der Bezug auf den Körper eine wichtige Rolle.
Kai Romhardt, renommierter Forschungs- und Beratungsexperte in Sachen Wissensmanagement, kritisiert den verbreiteten Mangel an Selbstexploration und „Investition in innere Themen“ als Hauptursache vieler Missverständnisse. Für ihn ist nicht äußerer Aktionismus, sondern das Ändern der inneren Einstellung des Wissens Kern. „Fangen Sie innen an, versuchen Sie, zuerst zu verstehen, was Ihren Umgang mit Wissen prägt. Fragen Sie nicht zu früh nach einem Lösungsansatz oder einer Methode“ ( Romhardt 1998: 30). Gerade für das Lernen im und von Coaching gilt: Lernen kann durch Lehren erfolgreicher werden, aber Lernen ist wichtiger als Lehren. 2.3 Coachinglernen und die Notwendigkeit veränderter Denkstrukturen Coachinglernen ist Wahrnehmungserweiterung. Dazu gehört auch die Aneignung einer Denkstruktur, die fließend zwischen Prozessdenken und Zustandsdenken wechseln kann. Nur so können wir uns im permanenten Wandel behaupten, ohne seelischen oder körperlichen Schaden zu nehmen. Holger Wyrwa (1998: 14 ff.) hat eine Theorie des polyzentristischen Denkens in der Postmoderne konzipiert, die hilfreich dabei ist, die Notwendigkeit veränderter Denkkonventionen tiefer zu verstehen:
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Unser Gehirn konstruiert seine individuell und sozial erzeugte Wirklichkeit. Dabei ist es zunächst bestrebt, den unaufhörlichen Strom von Wahrnehmungen in eine stabile Ordnung zu bringen. Es arbeitet komplexitätsreduzierend und versucht Ein-Deutigkeiten herzustellen, die in feste Ein-Stellungen wie Glaubensätze, Überzeugungen und Meinungen transformiert werden. Dieses Denken, dem monotheistische Religionen oder monokausal angelegte Wissenschaften entsprechen, bezeichnet Wyrwa als zustandsorientiert oder monozentristisch. Dieses zustandsorientierte Denken ist zunächst lebensnotwendig, um Entscheidungen treffen zu können, sein binärer Code von entweder/oder, richtig/falsch bzw. wahr/unwahr ermöglicht Orientierung. „Die monozentristische Denkstruktur – im Denken des Einen – war über weite Strecken der Menschheitsgeschichte kompatibel mit den jeweils vorherrschenden Gesellschaftsstrukturen“ ( Wyrwa 1998: 16). Individuelle Wahrnehmung und soziales Umfeld waren bis zur Moderne weitgehend kongruent. Im ausgehenden 20. Jahrhundert ist laut Wyrwa eine neue Situation entstanden. Gesellschaftliche Umbrüche, pluralistische Entwicklungen, ständige Relativierungen von Wissensbeständen bis in die Naturwissenschaften und ein explosionsartiger Zuwachs von Komplexität in der so genannten Postmoderne haben zunehmend fließende, prozessualisierte soziale Strukturen erzeugt. „Dies beinhaltet letztlich, zu akzeptieren, dass die Bildung und Aufrechterhaltung von Ein-Stellungen nur noch partiell und vorübergehend möglich sein können, bevor sie sich wieder prozessualisieren, d. h. sich verändern und weiterentwickeln“ ( Wyrwa 1998: 18). Obwohl das monozentristische Denken der Individuen jetzt nicht mehr kompatibel mit der vorherrschenden Gesellschaftsstruktur ist, bleibt es in unseren Köpfen verankert. Das Denken in Zuständen kann nun nicht einfach durch das Denken in Prozessen ersetzt werden. Letzteres würde zu völliger Handlungsunfähigkeit führen und entspräche psychopathologischen Störungsbildern, die durch die Unterscheidungsunfähigkeit gekennzeichnet sind. Erforderlich ist eine sowohl zustands- als auch prozessorientierte Denkstruktur, die in der Lage ist, ständig zwischen beiden zu oszillieren. Wyrwa betont dabei, dass das Prozessuale nicht als bloße Übergangsphase zu einem neuen Zustand missverstanden werden darf, sondern dass es um den fortdauernden Wechsel zwischen Zustand und Prozess geht. Er bezeichnet dies als polyzentristische Denkstruktur und wählt dafür die Metapher der driftenden Inseln. 2.4 Coachinglernen und der Umgang mit Veränderungen und Ungewissheit Für den Umgang mit Veränderungen, offenen Zielerreichungsprozessen und den dabei auftretenden Ungewissheiten hat sich in unserer Coachingpraxis eine kommunikationspragmatische Landkarte sehr bewährt – die „Räume der Veränderung“. Es handelt sich dabei um die dynamisierte Weiterentwicklung eines Modells von Nick & Fry (2000). Dieses im Folgenden beschriebene Modell dient dem Verständnis, der Analyse und der Positionsbestimmung von Personen und Organisationen in Veränderungs- und Zielerreichungsprozessen. Die Arbeit mit dieser komplexitätsreduzierenden Landkarte hat sich in der wissenschaftsbezogenen Beratungspraxis sowohl in Seminaren zur Führungskompetenz Coaching als auch in kollegialen Coachinggruppen als sehr hilf- und erfolgreich erwiesen.
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Veränderungsimpulse
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Raum der relativen Zufriedenheit
Raum der Neuorientierung
Raum des Zweifels
Raum der Konfusion
Keller der Ablehnung ©
Michael Pohl
Abb. 1: Räume der Veränderung
Ausgangspunkt ist die Erfahrung, dass Veränderungsprozesse in sozialen Systemen, also bei Menschen und Organisationen, gerade bei selbstgesteuerten Lernprozessen meistens nicht linear, sondern in Suchbewegungen verlaufen. Es gibt einige Stadien – hier als Räume veranschaulicht –, die möglichst wahrnehmungsoffen begangen und exploriert werden müssen, bevor es zu nachhaltiger Neuorientierung oder Zielerreichung kommen kann. Das gilt für Arbeits- und andere Beziehungen, für Beratungsziele und Umstrukturierungen ebenso wie für größere Lernerfolge und Qualifizierungsabschlüsse. Entscheidend dabei ist das erwähnte Driften, das auch die Zustände des Zweifelns, des Zögerns, der Konfusion und das „Hin-und-Her“ als Bestandteil des Veränderungsprozesses akzeptiert. Erst dann – so die Grundannahme dieses Modells – ist wirksame Neuorientierung und damit ein erfolgreiches Navigieren möglich. Es gibt vier Veränderungsräume und einen Keller. Die Türen sind immer in beide Richtungen begehbar. Falls
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der vorherige Zustand wieder herstellbar ist, kann es auch zu temporären „Rückschritten“ bzw. Rückwärtsbewegungen kommen. Ausgangspunkt ist der Raum der relativen Zufriedenheit. Die Gegebenheiten sind gewohnt, sie sind erträglich, die Dinge laufen ganz gut. Es könnte so bleiben. Irgendwann gibt es einen Veränderungsimpuls. Das kann eine Einwirkung von außen sein, oder eine Zielvorstellung bzw. ein Veränderungswunsch, der im Inneren entsteht. In jedem Fall ist die Entwicklung neuer Haltungen und Einstellungen, neuer Denk- und Handlungsmuster erforderlich. Der Raum der Neuorientierung liegt scheinbar gleich nebenan. Doch es gibt keine direkte Tür zwischen diesen beiden Räumen – nur eine dicke Wand. Die einzige Tür, die offen steht, führt nach unten in den Raum des Zweifels, der Verleugnung, des Widerstands. War es nicht vorher doch besser? Kann die Veränderung überhaupt funktionieren? Ist sie wirklich notwendig? All diese Fragen sind unvermeidlicher Bestandteil des nun begonnenen Prozesses. Dieser Raum hat drei Türen. Die erste führt zurück. Die zweite Tür führt noch weiter nach unten, in den Keller der Ablehnung. Wenn die Widerstände dominieren und der Rückweg nicht möglich ist (durch äußere Zwänge, durch Lernprobleme, fehlende Motivation o. ä.), können Resignation, Zynismus oder destruktive Verhaltensweisen entstehen, die in einer Sackgasse münden. Die dritte Tür führt vom Raum des Zweifels in den Raum der Konfusion. Trotz Zweifel und Widerstand weiterzugehen, bedeutet zunächst, sich auf Unsicherheiten und Verwirrung einzulassen. Alte Gewissheiten gelten nicht mehr? Oder doch? Was brauche ich? Wo geht es lang? Was ist hier überhaupt los? All dies sind normale und unausweichliche Fragen, die in wirksamen Veränderungsprozessen auftauchen. Dieser Raum hat zwei Türen. Er beinhaltet Chancen und Risiken. Die eine Tür führt zurück und sie ist immer offen. Wenn allerdings Konfusion und Orientierungslosigkeit zu groß werden, sind sie manchmal kaum zu ertragen und führen – zumindest temporär – wieder in den Raum des Zweifels, vielleicht auch noch weiter zurück. Die Chancen im Zustand des Driftens und auch des Geschehenlassens liegen darin, dass die Tür zum Raum der Neuorientierung durchschritten werden kann. Auch dort sind Rückschritte immer wieder möglich. Doch die wiederholte bewusste Auseinandersetzung mit der Ungewissheit eröffnet im Rahmen von Coachinglernen auch Perspektiven im Umgang mit Veränderung und erweitert das Handlungsrepertoire. Zur Veranschaulichung der Arbeit mit den „Räumen der Veränderung“ wird in Kapitel 3.3. ein Beispiel aus der Coaching-Praxis in einer Coachinggruppe für Studierende in der Studienabschlussphase geschildert.
3 Coaching an der Hochschule – Handlungsfelder und mögliche Praxis Wenn nun ein zeitgemäßes Verständnis wissenschaftlicher Qualifikation erweiterte soziale und kommunikative Kompetenzen inkludiert, verweist dies auf die Notwendigkeit, veränderte Lehr- und Lernkulturen zu schaffen. Dann ist es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie Elemente von Coachinglernen in die wissenschaftliche Aus- und Weiterbildung zu integrieren sind. Klinkhammer (2004) nennt sechs zentrale Themenbereiche für Coaching in der Wissenschaft:
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Karriereplanung, das Bewusstsein für die Verflechtung von Subjekt und Organisation, Beziehungsklärung zwischen Promovend/in und Betreuungsperson, Selbstreflexion bezüglich Berufsrolle und Berufsbiografie, betriebliche Gesundheitsförderung (Salutogenese) Krisenintervention.
Dabei seien professionsspezifische Widerstände gegen Prozessberatungsformen wie Coaching zu berücksichtigen, die zu Nachfragedefiziten führen. Andere Autor/innen wie Frohnen (vgl. den Beitrag in diesem Heft) sehen auch im Wissenschaftssektor viele Menschen, die sich gerne auf analoge Methoden und Selbstreflexion einlassen. Sie halten es für eine Frage, wie Coaches Prozessberatung und die Methoden kommunizieren. Auch spiele die jeweilige Feldkompetenz der Coaches eine wichtige Rolle. Die Implementierung neuer Lernarrangements für kompetenz- und teilnehmerorientiertes Lernen stellt nicht nur neue, sondern auch komplexe und differente Anforderungen an die beteiligten Akteure – an Lehrende, Promovierende und Studierende einerseits sowie an Entscheidungsträger in Organisation, Planung und Verwaltung andererseits. Die Qualität der Angebote wird langfristig maßgeblich zur Etablierung der neuen Studienstrukturen beitragen und auch bei Akkreditierungsverfahren eine wichtige Rolle spielen. Für eine erfolgreiche Umsetzung gibt es keinen Königsweg, sondern jede Hochschule ist herausgefordert, passende Konzepte und Umsetzungsstrategien für die Praxis zu entwickeln, die die hochschulspezifischen Besonderheiten berücksichtigen. Hieraus ergibt sich der Auftrag an die jeweilige Personalentwicklung und Hochschuldidaktik, vielfältige zielgruppenspezifische Fortbildungsmöglichkeiten zu schaffen. Coachingangebote können u.E. in allen drei Handlungsfeldern wie der Hochschullehre und Forschung, der Promotion und dem Studium von Bachelor- und Masterfächern einen wichtigen Baustein darstellen. 3.1 Coaching im Handlungsfeld Forschung und Lehre In dem sich ausweitenden Aufgaben- und Anforderungsprofil gewinnen u.a. die Themen Führungscoaching und Coaching für Lehrkompetenzen an Bedeutung. Einige zentrale inhaltliche Aspekte, die für die Entwicklung von möglichen Coachingangeboten relevant sind, sollen im Folgenden skizziert werden 3.1.1 Coaching und Führungskompetenz Führungsaufgaben im Wissenschaftskontext können ganz unterschiedliche Anforderungen umfassen, wie z. B. die Anleitung einzelner Mitarbeiter/innen unterschiedlicher Statusgruppen oder interdisziplinärer und internationaler Teams, Mitarbeitergespräche, Zielvereinbarungen, Projektmanagement und Controlling. Aktuell entstehende Fortbildungsangebote haben zunächst einen stark explorativen Charakter, da es gilt, möglichst passgenaue Inhalte und Vermittlungsformen zu entwickeln. Die Auswertung der Erfahrungen und die Rückmeldungen seitens der Teilnehmer/innen und Coaches bzw. Trainer/
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innen ist dabei ein wichtiger Ausgangspunkt für die konzeptionelle Weiterentwicklung und anzustrebende Etablierung solcher Angebote. Exemplarisch sei hier ein Trainingskonzept zum Thema „Führungskompetenz Coaching mit System in der Wissenschaft“ ( Frohnen & Pohl 2008) an der Ruhr Universität Bochum genannt. Dort ging es darum, Coachingmethoden zu vermitteln, die ein wichtiges Handwerkszeug für die Entwicklung von Führungskompetenzen liefern. Angesprochen waren promovierte Wissenschaftler/innen mit Führungsfunktionen im weiteren Sinne. Die Teilnehmergruppe bestand mehrheitlich aus Frauen und kam überwiegend aus den Naturwissenschaften. Eingebettet in die Methodik des Arbeitsbeziehungs-Telegramms (vgl. Pohl & Fallner 2009: 236) lag ein Schwerpunkt auf der Unterscheidung von Feedback und Bewertung. Hier wurden Schnittmengen und Unterschiede zwischen Führungs- und Coachinginterventionen fokussiert. Des Weiteren wurde die eigene Führungspraxis anhand konkreter Interventionsmethoden reflektiert und die Methodik des Interventionskreuzes als brauchbar für die verschiedenen Settings Führung, Coaching, Betreuung, Mentoring angewendet. Ein roter Faden des Seminars war der Umgang mit Ungewissheiten und permanentem Wandel, der anhand des o. g. Modells der „Räume der Veränderung“ anschaulich bearbeitet wurde. Die Systematik konnte dabei mehrperspektivisch auf unterstellte Mitarbeiter/innen, auf sich selbst als Führungskraft, auf Vorgesetzte und auf das Projekt bzw. die Organisation bezogen werden. Die zweitägige Veranstaltung mündete in die Auseinandersetzung mit zwei zentralen Fragen, die in integrierten FollowUp-Coachings vertieft wurden: „Wann kann ich als Führungskraft coachen und wann nicht? Wann brauche ich als Führungskraft Coaching und wann nicht?“ Das Seminar war vom Trainer/innen-Team als Prototyp konzipiert und wurde sowohl von den Organisator/innen der internen Fortbildungs- und Beratungsabteilung als auch von allen Teilnehmenden als sehr nützlich und effektiv bewertet. Es ist geplant, das Konzept fortzuschreiben und ebenfalls an anderen Hochschulen anzubieten. Auch bei der Entwicklung von Führungskompetenz als Gegenstand von Coaching ist es sinnvoll, sie nicht losgelöst von wissenschaftlicher Qualifikation zu sehen, sondern integrativ. Wir stellen die These auf, dass vorhandene Coachingkompetenz wissenschaftliche Qualifikation zur weiteren Entfaltung bringen kann. 3.1.2 Coaching und Lehrkompetenz Wenn der von der Hochschuldidaktik schon länger postulierte „Shift vom Teaching to Learning“ tatsächlich umfassender in die Lehrpraxis umgesetzt werden soll, dann bedeutet das für Lehrende, immer häufiger die Rolle als Lernberater/in und Coach einzunehmen (vgl. Welbers & Gaus 2005). Statt einer normativen Wissensvermittlung sind damit auch Prinzipien selbstgesteuerten Lernens verbunden, die die individuellen Lernziele der Teilnehmenden in den Mittelpunkt rücken. Methoden-, Prozess- und Beratungskompetenzen, wie Coachinglernen sie fördert, werden dann immer wichtiger. Angesichts dessen erscheint es sinnvoll, Lehrende beim Auf- und Ausbau eigener Beratungskompetenzen zu unterstützen. Bisher ließen sich hierzu nur vereinzelt Angebote in den Fortbildungsprogrammen für Lehrende finden, doch gegenwärtig zeichnet sich ab, dass Hochschulen verstärkt auch Trainings- und Coachingangebote zur Lehrkompetenz entwickeln. Lehrende erhalten z. B. an der Ruhr Univerität Bochum und an der Universität Bielefeld die
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Möglichkeit, aus einem Pool von Coaches eine Person auszuwählen und sich in einem individuell vereinbarten Beratungsprozess bei der Reflexion und Weiterentwicklung individueller Lehrkompetenzen unterstützen zu lassen. Zum Teil können auch Coachinggruppenangebote genutzt werden. 3.2 Coaching im Handlungsfeld Promotion – Kollegiales Coachinglernen Die steigende Anzahl neu entstehender Graduate Schools oder Graduiertenzentren sowie anderer Programme für Promovierende zeigt, dass diese Phase wissenschaftlicher Qualifikation einen wichtigen Stellenwert in der Hochschulreform erhalten hat. Die konzeptionellen Ansätze sind entsprechend der deutschen Hochschullandschaft teilweise sehr heterogen, doch verfolgen sie alle das Ziel, die Promovierenden in ihrer wissenschaftlichen Qualifikationsphase institutionell mehr zu begleiten. Die Promotionsphase war und ist auch unter den sich verändernden Bedingungen ein höchst individueller und einsamer Qualifikationsweg, der eine hohe Eigenverantwortlichkeit für den eigenen Forschungsprozess verlangt (vgl. Müller 2008; Frohnen in diesem Heft). Vor diesem Hintergrund bieten insbesondere kooperative Lern- und Beratungsformen sinnvolle Ansätze für neue professionelle wissenschaftliche Qualifizierungsangebote. Zur Veranschaulichung soll ein kurzer Rekurs auf ein neues Konzept für eine Coachinggruppe in der Bielefelder Graduate School of History and Sociology dienen ( Husmann & Lahm 2008). Die Coachinggruppe „PhD Coaching im Team“ startete im April 2008 für einen ersten einsemestrigen Probelauf mit 6 Teilnehmer/innen und ist mittlerweile auf deren Initiative als fester und scheinfähiger Bestandteil im Bereich „PhD Mangement“, einem der drei Säulenbausteine der Graduiertenausbildung, aufgenommen worden (vgl. Bielefeld Graduate School in History and Sociology 2008). Die Teilnehmer/innen kommen im Turnus von zwei Wochen zu einem Treffen von zwei Stunden zusammen und tauschen sich nach einem gemeinsam festgelegten Gesprächsablauf aus. Grundlage hierfür ist die Methode des Kollegialen Coaching ( Pohl & Fallner 2009: 221 ff.), eine systematische Gesprächsstruktur, mit der die Gruppenmitglieder ihre Anliegen reflektieren und Lösungsideen entwickeln. Zwei externe professionelle Beraterinnen aus einer fachübergreifenden Beratungseinrichtung – dem Servicebereich Beratung für Studium, Lehre und Karriere – leiten die Gruppe und moderieren die Gesprächsrunde. Flankiert wird das Angebot je nach Bedarf durch zusätzliche kurze thematische Inputs und Übungen zu verschiedenen Themen aus dem Kontext der Promotion. Diese können auch von den Promovierenden übernommen werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, Themen zu vertiefen oder offene Fragen im Einzel-Coaching bei den zwei Beraterinnen zu bearbeiten. Die Treffen finden an einem festen Ort, der Lounge der BGHS, einem Gruppenraum für Promovierende statt. Entsprechend der jeweiligen Promotionsphase der einzelnen Teilnehmer/innen (Anfang, mitten im Prozess, Ende) liegt ein breites Spektrum von fachlichen und fachübergreifenden sowie persönlichen Themen vor. Als Schwerpunkte kristallisieren sich die gegenseitige Unterstützung bei der Zeitplanung, der Entwicklung von Umsetzungsstrategien zu wissenschaftlichen Vorhaben, die inhaltliche Arbeit an einzelnen Kapiteln der Promotion bzw. die inhaltliche Gestaltung verschiedener Vortragsformate heraus. Auffällig ist, dass das Selbstverständnis der Teilnehmer/innen als Promovierende mehrheitlich
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eine defizitäre Sicht auf sich selbst und die eigenen Kompetenzen enthält. Die in der Coachinggruppe angewandten stärkenorientierten Methoden zur Selbstreflexion machen jedoch den Blick auf individuelle Kompetenzen und Stärken frei und bauen das Vertrauen in die eigene Navigationsfähigkeit auf. Coachinglernen fördert durch die gemeinsame Arbeit an Texten und das Herausarbeiten konkreter Fragestellungen oder Argumentationen auch die generellen wissenschaftlichen Kompetenzen. Prinzipien wie eine kooperative und konstruktive Feedbackkultur, Selbstreflexion, Biografiearbeit und Ressourcenorientierung führen außerdem zum Erwerb weiterer kommunikativer und sozialer Kompetenzen. Zentral ist die Zusammenarbeit unter „Gleichgesinnten“ ohne hierarchische Interessen und der Ansatz, die Gruppe als Bündnispartner bei der Einhaltung selbst gesteckter Ziele im Sinne von „Erfolgsteams“ (vgl. Sher 2005) zu nutzen. 3.3 Coaching im Handlungsfeld Studium – Berufsorientierung als Prozess Die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge stellen auch die Studierenden vor vielfältige Anforderungen: Eine verkürzte und straffere Studienstruktur, Studiengebühren, Kreditpunktesysteme und teilweise stark verschulte Leistungsanforderungen sowie verschiedene Verpflichtungen zum Nachweis von möglichst einschlägigen Praxis- und Auslandserfahrungen und die Entwicklung eines individuellen Kompetenzprofils kennzeichnen den umfangreichen Anforderungskatalog. Als Folge sind erhebliche Verunsicherungen im Hinblick auf das eigene Leistungsvermögen und die beruflichen Perspektiven zu beobachten. Der daraus resultierende Orientierungs- und Beratungsbedarf wird auch in den wesentlich stärker frequentierten Beratungseinrichtungen der Hochschulen sichtbar (vgl. Schumann 2007). Aus eigener Praxiserfahrung lässt sich sagen, dass es neben klassischen persönlichen Fragestellungen vermehrt Beratungsbedarf zu Prüfungs- und Versagensängsten, Stress und Leistungsdruck, Umgang mit Zeitproblemen und unklaren beruflichen Zielen sowie Ängsten vor Studienabschluss und Arbeitslosigkeit gibt. Einige Hochschulen wie z. B. die Universität Bielefeld zeigen mit der organisatorischen Bündelung verschiedener Beratungseinrichtungen (Studienberatung, Career Service und Schreiblabor) und erweiterten zielgruppenspezifischen Angeboten neue Wege auf, um den sich ausdifferenzierenden Beratungsbedarfen entgegenzukommen. Insbesondere bei Themen zum Übergang von Hochschule und Arbeitsleben gewinnen Coaching- und Mentoringangebote an Bedeutung. Ein Beispiel aus der eigenen Arbeitspraxis soll die Möglichkeiten von Coaching verdeutlichen. In der Coachinggruppe für Studierende in der Studienabschlussphase hatten mehrere Teilnehmer/innen Anliegen im Kontext bald anstehender Bewerbungsprozesse. Sie berichteten von Blockaden und starken Unsicherheiten, die sowohl bei der weiteren Bearbeitung von Kapiteln der Abschlussarbeit auftraten als auch bei ersten Erkundungen auf dem Arbeitsmarkt, wie Stellenrecherche und Bewerbungsanschreiben. Um sich die individuelle Studienabschlussphase genauer zu vergegenwärtigen, wurde das Modell der Räume der Veränderung (s. Abb. 1) als Intervention angewandt. Deutlich wurde, dass die Anforderung, einerseits in intensive wissenschaftliche Denk- und Schreibprozesse einzutauchen und sich andererseits für eine aktive Stellensuche und positive Selbstpräsentation auf dem Arbeitsmarkt bereit zu machen, als starker Widerspruch erlebt wurde, der Wider-
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stände und Handlungsunfähigkeit hervorrief. Coachinglernen hieß nun, sich zunächst im geschützten Rahmen der Coachinggruppe auf den Prozess des oben genannten Driftens einzulassen und mit Unterstützung der Gruppe nach neuen Umgangsformen zu suchen, die ein Navigieren ermöglichten und damit die eigene Handlungsfähigkeit aktivierten. Die Entwicklung der nächsten Schritte sah entsprechend der individuellen Präferenzen der Teilnehmer/innen sehr unterschiedlich aus: Während einige sich entschlossen, eine Bewerbung parallel zu schreiben, entschieden andere, sich zunächst ganz auf die Beendigung der Abschlussarbeit zu konzentrieren. Darüber hinaus nutzten einige Teilnehmer/ innen die Möglichkeit des Einzelcoachings, um sich bei den weiteren Umsetzungsschritten begleiten zu lassen. Sichtbar wird an den verschiedenen Entscheidungen der Coachees, dass der Abschluss des Studiums und die Gestaltung des Berufseinstiegs sehr individuelle Prozesse darstellen, für die es keine standardisierten Empfehlungen gibt, wie sie in vielen Bewerbungsratgebern zu finden sind. Coachinglernen, insbesondere im Kontext von interdisziplinären Coachinggruppen, fördert die individuelle Orientierungskompetenz und die Entwicklung persönlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Da die Berufszielfindung ein individueller Prozess ist, der Zeit und verschiedene Erfahrungsräume braucht, ist es sinnvoll, weitere Coachingangebote zu implementieren, die an verschiedene Phasen des Studiums – angefangen vom Studieneintritt bis zum Abschluss – anknüpfen. 3.4 Credits für Coaching? Derzeit ist die Einführung von studienintegrierten Coachingangeboten, die auch creditfähig sind, noch experimentelles Neuland. Als geeignete Coachingformen werden primär additive Angebote angesehen, die häufig im Portfolio fachübergreifender Beratungseinrichtungen wie Studienberatung oder Career Service angesiedelt sind. Diese sind hier zwar prinzipiell richtig verortet, doch um Coachingansätze auch für neue Lehr- und Lernarrangements zu nutzen, könnten gerade studienintegrierte Angebote qua Coachinglernen die Entwicklung von Selbststeuerung, Reflexionsfähigkeit und eigenverantwortlichem Handeln fördern. Im Folgenden werden einige Rahmenbedingungen genannt, die dabei u. E. berücksichtigt werden sollten: 0
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Auch curricular verankerte Coachingangebote sollten sich an prozessberaterischen Grundsätzen wie Freiwilligkeit und Vertraulichkeit sowie an individuellen Ressourcen und Lern- und Beratungsbedarfen der Teilnehmer/innen orientieren. Übertragen auf die Hochschulpraxis heißt dies, Coachinggruppenangebote als frei wählbare Angebote zu konzipieren, die nicht zwangsläufig an den Erwerb von Leistungspunkten gebunden sind. Transparente Lern-Kontrakte mit einer klaren Zielvereinbarung und Aufgabenteilung sind eine weitere wichtige Vorraussetzung für die Zusammenarbeit. Die Teilnehmer/ innen erklären sich verantwortlich, aktiv und kontinuierlich für einen festgelegten Zeitrahmen teilzunehmen und ihre Anliegen bzw. Themen aktiv einzubringen. Sie entscheiden, welche Aufgaben sie bearbeiten, und sind für ihre Ergebnissicherung
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verantwortlich. Die Coaches tragen die Verantwortung für die Gestaltung des Arbeitsprozesses, also für Setting und Arbeitsmethoden. Die konkreten Bedingungen für den Erhalt von Credit Points sollten klar definiert sein. Ein Beispiel: In der o. g. PhD-Coachinggruppe verpflichten sich die Teilnehmer/innen, die einen Leistungsschein erwerben wollen, neben den allgemein gültigen Teilnahmebedingungen eine schriftliche Abschlussreflexion zur Teilnahme an der Coachinggruppe zu schreiben, deren Inhalte im Vorfeld mit den Coaches abgestimmt werden.
Sollen nicht nur Credit Points, sondern Noten vergeben werden, so stößt das Coachingangebot an seine Grenzen, denn formalisierte Leistungsstandards passen nicht zum Ansatz von Coachinglernen. Coachingangebote brauchen darüber hinaus eine arbeitsfähige Gruppengröße und entsprechende Räumlichkeiten. In einem überfüllten Hörsaal lässt sich nicht in längeren Sequenzen interaktiv miteinander arbeiten.
4 Coaching für Wissenschaft – Fazit und Ausblick Wissenschaftliche Qualifikation lässt sich nicht mehr auf fachwissenschaftliche Merkmale reduzieren, sondern erfordert ein vielfältiges Kompetenzprofil – angefangen von fachlicher Expertise über didaktische Fähigkeiten und bis hin zu interaktionalen Management- und Selbstmangementkompetenzen. Potentiell stehen die Wissenskonzepte eines klassischen Wissenschaftsverständnisses und des beschriebenen Verständnisses von Coachinglernen in einem diametralen Spannungsverhältnis zueinander. „Der Erkenntnisgewinn durch Supervision und Coaching erfolgt durch Dialog, durch Selbstreflexion und Selbsterfahrung und dient somit primär dem Subjekt. Der Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft erfolgt auf rein rationaler, logisch-analytischer, auf objektiv überprüfbarer Basis und dient primär der Gesellschaft“ ( Klinkhammer 2004: 390). Wir gehen jedoch davon aus, dass es a) sehr viele Wissenschaftler/innen gibt, die einen Bedarf auch für andere als rein logisch-rationale Erkenntniswege haben, und dass b) auch viele „Rationalist/innen“ für andere Wege ansprechbar sind, wenn Coaching-Angebote den passenden Zugangsschlüssel entwickeln. Die Integration in einem zeitgemäß erweiterten Verständnis von Wissenschaft und wissenschaftlicher Qualifikation könnte dann perspektivisch auf mehreren Ebenen stattfinden: 0
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Integration von wissenschaftlicher Forschung und professioneller Forschung, die eine stärkere Orientierung an der interaktionalen und psychosozialen Praxis als bisher implizieren würde ( Klinkhammer 2004: 478, Buer 2004). Integration von linearen und zirkulären Denkstrukturen, die in der Metapher der Driftenden Inseln als polyzentristisches Denken entwickelt wurden. Integration des „Steigerungsspiels“ und des „Annäherungsspiels“, die Buer (2007) als Grundambivalenz moderner Organisationsentwicklung beschreibt.
Der Wissenschaftsbetrieb folgt der Dynamik des gesellschaftlich dominierenden „Steigerungsspiels“ (immer mehr, immer schneller, immer besser), während professionelle Prozessberatung das Prinzip des Annäherungsspiels repräsentiert. Sie ergänzt das Stei-
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gerungsspiel. Wer einerseits nicht aus dem laufenden Betrieb aussteigen will, andererseits perspektiverweiternde und reflektierte neue Wege gehen will, muss lernen, nach beiden Regeln zu spielen. Dazu bedarf es einer besonderen Professionalität auf Seiten der Coaches: „Das Ideal einer professionellen Beratung von Personal in Organisationen (…) setzt also auf Emergenz, nicht auf lineares zielorientiertes Denken wie die Steigerungslogik. Ich nenne diesen Berater deshalb professionell, weil es nach meiner Auffassung das zentrale Kennzeichen von Professionalität ist, mit unvermeidbaren Paradoxien in der Arbeit mit Menschen umgehen zu können. (…) Aus seiner Zwischenposition heraus kann der Berater Spielräume eröffnen, in denen kreative Lösungen für diese Balancierung aufsteigen können“ ( Buer 2007: 5). Die weitere Implementierung selbstgesteuerter Lernformen wie Coachinglernen bedarf intensiver Forschung, um weitere Erkenntnisse zur Förderung neuer Lern-/Lehrkulturen zu erhalten. Einige exemplarische Ausgangsideen sehen wir in den beschriebenen Beispielen der Anwendung von Coaching in drei zentralen hochschulischen Handlungsfeldern. Selbstverständlich können mögliche Ansatzpunkte auch ganz anders aussehen.
Literatur Brüning, A. (2008). Coaching für neu berufene Hochschullehrer/-innen Marketingwirkung beim Recruiting. In C.J. Schmidt-Lellek, A. Schreyögg (Hrsg.), Praxeologie des Coaching. OSC Sonderheft 2 / 2008. Wiesbaden: VS Verlag. Buchinger, K. & Klinkhammer, M. (2007). Beratungskompetenz. Supervision, Coaching, Organisationsberatung. Stuttgart: Kohlhammer. Bielefeld Graduate School in History and Sociology (2008). Promotionsstudium.www.uni-bielefeld.de/bghs/programm/promotion.html. Zuletzt aufgerufen am 16.01.2009. Buer, F. (2004). Die flexible Supervision. Herausforderungen – Konzepte – Perspektiven. Eine kritische Bestandsaufnahme. Wiesbaden: VS Verlag. Buer, F. (2007). Organisationsentwicklung jenseits des globalen Steigerungsspiels. Vortrag im Rahmen des 25. Symposions der Fachsektion Psychodrama im ÖAGG am 4.5.2007 in Spital am Pyhrn. Fry, N. & Killing, P. (2000). Strategic Analysis and Action. Prentice Hall Canada. www.transportlearning.net. Zuletzt aufgerufen am 15.1.2009. Frohnen, A. & Pohl, M. (2008) Führungskompetenz Coaching mit System in der Wissenschaft. Unveröffentlichtes Seminarkonzept. Husmann, D. & Lahm S. (2008). PhD-Coaching im Team. Unveröffentlichtes Seminarkonzept. Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Basel (2008). www.ispm-unibasel.ch. Zuletzt aufgerufen am 14.01.2009. Klinkhammer, M. (2004). Supervision und Coaching für Wissenschaftler/-innen. Theoretische, empirische und handlungsspezifische Aspekte. Wiesbaden: VS Verlag. Müller, W. (2008). Wie geht es dem wissenschaftlichen Nachwuchs an den Universitäten? Tagungsbeitrag Kisswin vom 28.10.2008. Berlin. Pohl, M. (2004a). Driftende Inseln. Coachinglernen als Ansatz in der Erwachsenenbildung. In M. Pohl & M. Braun (Hrsg.), Vom Zeichen zum System. Coaching und Wissensmanagement in modernen Bildungsprozessen (S. 54–85). Waltrop: BBV. Pohl, M. (2004b). Supervision und Coaching an der Hochschule. Wie ein Lehr-Lern-System sinnvoll begleitet werden kann. In M. Pohl & M. Braun (Hrsg.), Vom Zeichen zum System. Coaching und Wissensmanagement in modernen Bildungsprozessen (S. 191–253). Waltrop: BBV.
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Michael Pohl, geb. 1954, Diplomsoziologe, freiberuflicher Supervisor (DGSv) und Coach (DGfC), Begleitforscher und Fachbuchautor. Arbeitsschwerpunkte: Innovative Bildungsprojekte, Lehrberatungen, Führungskompetenz in Lern- und Lehrprozessen, Konzipierung von Coachingqualifizierungen, Mitglied im Coachingnetz-Wissenschaft (www.coachingnetz-wissenschaft.de).
Dörte Husmann, geb. 1965, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, Beraterin im Career Service der Universität Bielefeld, freiberufliche Trainerin und Coach (DGfC), Supervisorin (DGSv) i.A., Arbeitsschwerpunkte: Biografiearbeit und Kompetenzentfaltung, Berufsorientierung und Karriereplanung.