Leitthema Bundesgesundheitsbl 2013 · 56:532–538 DOI 10.1007/s00103-012-1637-6 Online publiziert: 27. März 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
A.S. Hartmann1 · A. Hilbert2 1 Department of Psychiatry, Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School, Boston 2 Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum Adipositas Erkrankungen, Medizinische
Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsmedizin Leipzig
Psychosoziale Folgen von Adipositas im Kindes- und Jugendalter und Strategien zu deren Behandlung Aktuell sind etwa 15,0% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren in Deutschland übergewichtig (>90. geschlechts- und altersspezifisches Perzentil des Body-Mass-Index (BMI; kg/m2); [1]), und 6,3% leiden an einer Adipositas (>97. BMI-Perzentil; [2]). Neben somatischen Risiken führen Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter zu psychosozialen Folgeproblemen [3]. Weil die Letzteren teilweise gravierend sind und den Gewichtsverlauf negativ beeinflussen können, sollte neben einer adäquaten Gewichtsreduktion oder -stabilisierung auch deren Behandlung erwogen werden. Im Folgenden werden die psychosoziale Folgen von Adipositas im Kindes- und Jugendalter wie Stigmatisierung und Diskriminierung, die essstörungsspezifische und allgemeine Psychopathologie, Beeinträchtigungen des Selbstwerts und der Lebensqualität, Defizite in sozialen Fertigkeiten sowie schulische Probleme dargestellt und entsprechende therapeutische Interventionen beschrieben.
Psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas Stigmatisierung und Diskriminierung von übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen und deren psychosoziale Implikationen Ein Stigma ist die Eigenschaft einer Person, wie beispielsweise Übergewicht, die bedingt, dass sie von anderen Menschen als abweichend, auffällig oder beeinträchtigt wahrgenommen wird. Stigmatisie-
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rung beschreibt negative Zuschreibungen, die mit dem Stigma einhergehen (z. B. „Übergewichtige Menschen sind dumm und faul“). Werden Menschen als Konsequenz ihres Stigmas, beispielsweise Übergewicht, benachteiligt, spricht man von (gewichtsbezogener) Diskriminierung. Kinder zeigen bereits ab einem Alter von 3 Jahren stigmatisierende Einstellungen und diskriminierende Verhaltensweisen gegenüber Übergewicht und Adipositas [3]. So werden beispielsweise adipöse Kinder für gemein, dumm, hässlich und faul gehalten und als Spielkameraden abgelehnt, gehänselt und beschimpft [4]. Übergewichtige Jugendliche waren im Vergleich zu normalgewichtigen Jugendlichen deutlich häufiger von gewichtsbezogenen Hänseleien betroffen (60,3% vs. 39,7%; [5]). Zudem zeigten sich bei Lehrern stigmatisierende Einstellungen gegenüber stark übergewichtigen Schülern [3], und auch Eltern stellen eine Quelle gewichtsbezogener Kritik ihren Kindern gegenüber dar. Die Andersbehandlung führt so weit, dass Eltern, unabhängig vom Einkommen, dem Bildungsstand und der Familiengröße, ihre adipösen Kinder, insbesondere Mädchen, während der Ausbildung finanziell weniger unterstützten [5]. Stigmatisierung und Diskriminierung gehen mit negativen Auswirkungen auf das psychosoziale Wohlbefinden einher. Beispielsweise waren sie querschnittlich mit niedrigerem Selbstwert, einer erhöhten Prävalenz depressiver Störungen und suizidalem Verhalten, erhöhter Körperunzufriedenheit und gestörtem Essverhalten assoziiert [6, 7].
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Dabei ist festzuhalten, dass übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche selbst mit normalgewichtigen Gleichaltrigen vergleichbare stigmatisierende Einstellungen gegenüber Übergewicht und Adipositas zeigen [3]. Hinzu kommt die Internalisierung des Adipositasstigmas, d. h. das für die Adipositas charakteristische Selbststigma. Dieses beschreibt die negative Selbstbewertung oder die Abwertung der eigenen Person als Folge des eigenen Übergewichts aufgrund der Zustimmung zu negativen gewichtsbezogenen Stereotypen [8]. Die Internalisierung des Adipositasstigmas geht mit einem negativen Körperbild, depressiven Symptomen, Angst, Stress und einer Beeinträchtigung des Selbstwerts einher [8]. Nach Kenntnisstand der Autoren hat bisher nur eine Studie die Internalisierung des Adipositasstigmas bei Jugendlichen untersucht, während Studien an Kindern vollständig fehlen. Roberto und Kollegen [9] zeigten, dass Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, die sich in adipositaschirurgische Behandlung (laparoskopische adjustierbare Gastroplastik) begaben, über eine Internalisierung des Adipositasstigmas berichteten, die mit derjenigen von adipösen Erwachsenen vergleichbar war.
Essstörungen und Essstörungssymptome Im Folgenden sollen Essstörungen und klinisch relevante Essstörungssymptome im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas besprochen werden. In einer repräsentativen deutschen Studie, dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey
(KiGGS) zum allgemeinen Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren, berichteten 28,9% der 11 bis 17 Jahre alten weiblichen und 15,2% der männlichen Jugendlichen, bereits an einer Essstörung gelitten zu haben [10]. Außerdem waren die Jugendlichen, bei denen ein Verdacht auf eine Essstörung bestand, mit höherer Wahrscheinlichkeit übergewichtig oder adipös. Die Binge-Eating- oder EssanfallsStörung (BES) ist die Essstörung mit der höchsten Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung (1,9% bei Frauen und 0,3% bei Männern; [11]) und tritt noch häufiger bei übergewichtigen Erwachsenen auf (2,9%; [12]). Die BES, bislang als Forschungsdiagnose definiert [13], ist charakterisiert durch wiederkehrende Essanfälle, in denen objektiv große Nahrungsmengen verzehrt werden, begleitet von einem Gefühl des Kontrollverlusts beim Essen. Während der Essanfälle essen die Betroffenen schneller, bis zu einem unangenehmen Völlegefühl sowie in Abwesenheit von körperlichem Hunger. Oft wird aufgrund von Scham über die gegessene Menge heimlich gegessen, und die Betroffenen empfinden Schuld-, Scham- und depressive Gefühle nach den Essanfällen. Die BES führt zu einem klinisch bedeutsamen Leiden. Obwohl nur wenige Kinder das Vollbild einer BES, wie sie im DSM-IV als Forschungsdiagnose beschrieben ist [13], erfüllen, berichten sie dennoch über Essanfälle, wie oben beschrieben (d. h. objektive Essanfälle). Häufig wird, unabhängig von der gegessenen Menge, auch lediglich das Gefühl des Kontrollverlusts beim Essen berichtet (d. h. subjektiver Essanfall). Ungefähr 15% der adipösen Kinder in Gewichtsreduktionsbehandlung berichteten subjektive oder objektive Essanfälle und litten damit signifikant häufiger unter diesen als normalgewichtige Gleichaltrige [14]. Beide Formen von Essanfällen prädizierten langfristig eine übermäßige Gewichtszunahme [15]. Neben klinischen Essstörungen können auch subklinisch nicht-normatives Essverhalten oder einzelne Essstörungssymptome bei adipösen Kindern und Jugendlichen auftreten. So wurde im Vergleich zu normalgewichtigen bei übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen vermehrt eine hohe Körper
unzufriedenheit gefunden [16]. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen fanden sich zu dick, hässlich und abstoßend. Es gibt Hinweise darauf, dass der BMI die Körperunzufriedenheit über das vermehrte Erleben von Diskriminierungserfahrungen wie gewichtsbezogenen Hänseleien beeinflusst, d. h., Diskriminierungserfahrungen sind ein Mediator der Beziehung zwischen BMI und Körperunzufriedenheit [6]. Während in der Kindheit extreme Nahrungseinschränkung (z. B. Fasten) und Purging-Verhalten (z. B. selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien oder Diuretika) eher selten auftreten, nehmen diese Verhaltensweisen bei Jugendlichen zu. So fasteten bereits 54,5% der weiblichen und 31,4% der männlichen Adoleszenten. Etwa 10,5% der weiblichen und 2,5% der männlichen Jugendlichen zeigten Purging-Verhalten [17]. Im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern und Jugendlichen berichteten übergewichtige und adipöse Betroffene vermehrt über Fasten oder restriktives Essen [18]. Andere Formen nicht-normativen Essverhaltens, die im Kindes- und Jugendalter auftreten, sind emotionales, externales und hedonisches Essen, d. h. Essen infolge negativer Emotionen oder äußerer Nahrungsreize sowie aus Genuss statt aus Hunger. Bislang konnte ein Zusammenhang zwischen emotionalem und externalem Essen und Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen nicht eindeutig belegt werden [18]. In Bezug auf hedonisches Essen liegen nur wenige Forschungsergebnisse bei Erwachsenen vor. Eine bildgebende Studie zeigte, dass bei adipösen Erwachsenen mit hedonischem Essen die gleichen Gehirnareale abnorm aktiviert sind wie bei Erwachsenen mit Abhängigkeitserkrankung [19]. Unterschiedliche Forschergruppen postulierten bei adipösen Personen eine Pathologie des mesolimbischen Systems, d. h. des „Belohnungszentrums“ des Gehirns (für einen Überblick s. [20]). Danach soll eine Veränderung oder Pathologie dieses Systems dazu führen, dass Nahrungsmittel und Essen genutzt werden, um den Körper in ein hedonisches Gleichgewicht zu bringen, d. h., das Belohnungszentrum adäquat zu stimulieren. Ähnliche Mechanismen sind bei Ab-
hängigkeitserkrankungen erwiesen, weshalb die Verwandtschaft der beiden Problematiken vermehrt diskutiert wird [21]. Zusammengefasst gilt, dass Übergewicht und Adipositas vermehrt mit Essstörungen und einigen weiteren, klinisch signifikanten Formen nicht-normativen Essverhaltens assoziiert sind.
Allgemeine Psychopathologie Gemäß gängigen negativen Stereotypen gelten adipöse Menschen als psychisch gestört. Ob dies der Fall ist und übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche vermehrt unter internalisierenden Störungen wie Depression und Angststörungen und externalisierenden Störungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden, soll im Folgenden geprüft werden. Depressive Störungen sind bereits bei Kindern und Jugendlichen sehr häufig. Die BELLA-Studie des bereits erwähnten KiGGS, die die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland untersuchte, identifizierte Depressionen bei 5,4% der Befragten [22]. Die Befundlage zur Depressivität übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher in der Allgemeinbevölkerung im Vergleich zu normalgewichtigen war widersprüchlich [23]. Klinische Gruppen extrem adipöser Kinder und Jugendlicher, die sich in stationärer Gewichtsreduktionstherapie befanden, litten allerdings mit einer Prävalenz von etwa 33% deutlich häufiger an depressiven Störungen als adipöse Gleichaltrige der Allgemeinbevölkerung [24]. In einer populationsbasierten Stichprobe sagte eine Adipositas, nicht aber Übergewicht, bei weiblichen, nicht aber männlichen Jugendlichen, prospektiv die Entwicklung einer depressiven Störung nach etwa 10 bis 20 Jahren voraus [25]. Gründe für diese inkonsistenten Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Adipositas und depressiven Symptomen könnten neben dem Einfluss des tatsächlichen Ausmaßes des Übergewichts und einem Bias aufgrund von Behandlungssuche auch die Dauer der Adipositas sein. In einer schulbasierten Studie gaben adipöse Jugendliche eine höhere Rate an Suizidgedanken und -versuchen im Vergleich zu normalgewichtigen Jugendlichen per Fragebogen an [26]. Einige Arbei-
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Zusammenfassung · Abstract ten legen ferner nahe, dass gewichtsbezogene Hänseleien ein Mediator für die Beziehung zwischen BMI und Suizidgedanken und -handlungen sind [6]. Bei der Erfassung der depressiven Symptomatik sollte beachtet werden, dass sich diese in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich manifestiert. Kinder zeigen eher Angstsymptome, körperliche Beschwerden, Alpträume und Verhaltensprobleme und weniger psychotische Symptome als Erwachsene. Die kognitiven Komponenten von Depressionen, wie beispielsweise negatives Denken und systematische Denkfehler, werden erst ab der mittleren Kindheit beschrieben. Depressive Jugendliche berichten hingegen häufiger Schlaf- und Appetitstörungen, Suizidphantasien und -versuche sowie Funktionsbeeinträchtigungen als Kinder und eine stärkere Gereiztheit als depressive Erwachsene. Angststörungen traten bei 10,0% der befragten Kinder und Jugendlichen der BELLA-Studie des KiGGS auf [22]. Wie für die Depressivität zeigten querschnittliche Studien keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Angststörungen und Übergewicht und Adipositas im Kindesund Jugendalter. Allerdings sagte eine Adipositas längsschnittlich über einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren bei weiblichen, nicht aber bei männlichen Jugendlichen die Entwicklung einer Angststörung vorher [25]. Sollte sich dieser Zusammenhang bei weiblichen Jugendlichen bestätigen, ist er von hoher Relevanz, da Angststörungen bereits unter normalgewichtigen Kindern und Jugendlichen die häufigste psychische Störung darstellen. Neben diesen internalisierenden Störungen wurde mit der ADHS eine externalisierende Störung vermehrt komorbid mit Adipositas gefunden. Insgesamt 7,0% der adipösen und übergewichtigen Kinder und Jugendlichen sind betroffen [27]. Die BELLA-Studie berichtete hingegen eine ADHS bei lediglich 2,2% der deutschen Kinder und Jugendlichen [22]. Eine Erklärung für eine gemeinsame Pathogenese von Hyperaktivität und exzessiver Nahrungsaufnahme liegt in der erhöhten Impulsivität der Betroffenen bei beiden Problemen. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass adipöse Kinder, ähnlich wie Kindern mit ADHS, Mühe hatten, eine begonnene Reaktion zu
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Psychosoziale Folgen von Adipositas im Kindesund Jugendalter und Strategien zu deren Behandlung Zusammenfassung Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen gehen mit unterschiedlichen somatischen und psychosozialen Folgeproblemen einher, die die Gewichtsentwicklung negativ beeinflussen können. Für adipöse Kinder und Jugendliche sollte neben einer Gewichtsreduktion oder -stabilisierung deshalb eine Behandlung signifikanter psychosozialer Probleme erwogen werden. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über psychosoziale Folgen von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Eingegangen wird auf gewichtsbezogene Stigmatisierungen und Diskriminierungen und deren Folgen, die Essstörungssymptomatik, die allgemeine Psychopathologie, Beeinträchtigungen in der Lebensqua-
lität und im Selbstwert, auf Defizite in sozialen Fertigkeiten sowie auf Schulleistungsprobleme. Ferner werden einschlägige diagnostische und therapeutische Strategien für die psychosozialen Folgeprobleme zusammengefasst. Die weitere Forschung sollte sich auf die Entwicklung von Interventionen zur Stigmareduktion konzentrieren, da Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen psychosoziale Folgeprobleme von Übergewicht und Adipositas vergrößern. Schlüsselwörter Adipositas · Kindes- und Jugendalter · Psychosoziale Folgeprobleme · Therapeutische Strategien · Übergewicht
Child and adolescent obesity, psychosocial consequences and treatment strategies Abstract Being overweight and obese in childhood and adolescence is associated with various somatic and psychosocial sequelae. Psychosocial problems can negatively influence the future weight trajectory. Therefore, weight reduction or stabilization should be complemented by the treatment of significant psychosocial problems. This review provides an overview of the psychosocial problems associated with being overweight and obese in childhood and adolescence. Evidence on weight-related stigmatization and discrimination, eating disorder symptoms, general psychopathology, impaired quality of life, lowered self-esteem, social skill deficits, as
stoppen und auf eine sofortige Belohnung zugunsten einer späteren größeren Belohnung zu verzichten. Dies sind Anzeichen für eine dysfunktionale Selbstregulation und erhöhte Belohnungssensitivität (s. auch Auffälligkeit des mesolimbischen Systems, wie oben beschrieben). Es lässt sich zusammenfassen, dass die Assoziation zwischen Übergewicht/Adipositas und der depressiven Störung widersprüchlich und ggf. vom Behandlungsund tatsächlichen Gewichtsstatus, dem Geschlecht und der Dauer der Adipositas abhängig ist. Die Zusammenhänge zwi-
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well as academic problems is summarized. Furthermore, state-of-the-art diagnostic and therapeutic procedures for the psychosocial problems are summarized. Future research should focus on the development of interventions targeting the destigmatization of obesity, as experiences of stigmatization and discrimination likely aggravate the psychosocial sequelae of overweight and obesity. Keywords Obesity · Childhood and adolescence · Psychosocial factors · Therapeutic strategies · Overweight
schen Angststörungen und Übergewicht und Adipositas sind ebenfalls nicht eindeutig; ein solcher Zusammenhang wird eher bei Mädchen als bei Jungen gefunden. Eine deutlich höhere Prävalenzrate ergab sich für ADHS bei übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu normalgewichtigen Gleichaltrigen.
Lebensqualität und Selbstwert Mehrere Studien weisen auf eine beeinträchtigte Lebensqualität unter überge-
wichtigen und adipösen im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern und Jugendlichen hin [28]. Die selbstberichtete Lebensqualität adipöser Kinder und Jugendlicher war vergleichbar mit der von Kindern und Jugendlichen mit Krebserkrankungen. Übereinstimmend berichteten Kolotkin und Kollegen einen negativen Zusammenhang zwischen BMI und der Lebensqualität bei Jugendlichen [29]. Andererseits zeigten Studien aber, dass der Selbstwert übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher meist im normalen Bereich lag und nur in klinischen Stichproben beeinträchtigt war [16]. Jedoch haben prospektive Studien Hinweise darauf geliefert, dass das Körpergewicht im Kindes- und Jugendalter den Selbstwert im späteren Leben vorhersagt. Es wurde daher angenommen, dass diese Selbstwertbeeinträchtigung Folge gewichtsbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung war [30].
Soziale Fertigkeiten Adipöse Kinder und Jugendliche wurden von Gleichaltrigen als deutlich aggressiver und störender als normalgewichtige Kinder und Jugendliche beschrieben. Zudem zeigten adipöse Kinder und Jugendliche signifikant höhere Werte in Fragebögen, die delinquentes Verhalten erfassen [31]. Beides kann neben der bereits beschriebenen gewichtsbezogenen Diskriminierung zum Ausschluss adipöser Kinder und Jugendlicher aus der Gruppe Gleichaltriger führen. Weitere Forschung ist allerdings erforderlich, um detaillierte Schlussfolgerungen über Kausalbeziehungen zu ziehen.
Schulische Beeinträchtigungen Übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche weisen vermehrt schulische Leistungsschwierigkeiten auf [32, 33]. Es wurde angenommen, dass diese Folge einer geringeren Intelligenz sein könnten, was allerdings in einer Übersichtsarbeit nicht bestätigt wurde [34]. Die Arbeit zeigte lediglich einen relativ konsistenten Zusammenhang zwischen einem niedrigen Intelligenzquotienten in der Kindheit und Jugend und einer Adipositas im Erwachsenenalter. Die Autoren vermuteten, dass dieser Zusammenhang
durch das niedrigere erreichte Ausbildungsniveau und den damit zusammenhängenden niedrigeren sozioökonomischen Status mediiert sein könnte. Unterschiedliche Studien zeigten zudem, dass gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung im schulischen Kontext Ursache für die Leistungsschwierigkeiten sein könnten [33, 35]. Die schulischen Probleme zu beachten ist wichtig, da diese nicht nur das spätere Ausbildungsniveau und damit den sozioökonomischen Status mitbestimmen, sondern auch mit psychischen Folgeproblemen assoziiert sein können.
Diagnostik und psychotherapeutische Ansätze für die psychosoziale Komorbidität von Übergewicht und Adipositas Weil Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter zu schwerwiegenden psychosozialen Folgeproblemen führen können, die sich wiederum ungünstig auf die Gewichtsentwicklung auswirken können [36], ist es wichtig, psychosoziale Folgeprobleme adäquat zu erfassen, um sie, sofern klinisch relevant, einer Behandlung zuzuführen.
Diagnostik psychosozialer Folgeprobleme von Übergewicht und Adipositas Im Folgenden werden 2 Instrumente vorgestellt, die dem Screening einer Essstörungssymptomatik und der allgemeinen Psychopathologie dienen. Ein Screeninginstrument, das einen schnellen Überblick über die bestehende Essstörungssymptomatik erlaubt, ist der SCOFF-Fragebogen (Akronym aus Anfangsbuchstaben der Fragen der englischen Version; [37]). Dieser Selbstberichtsfragebogen erfasst mit 5 Fragen Erbrechen, Essanfälle, Gewichtsverlust, die Überzeugung, trotz bestehenden Untergewichts dick zu sein, und die wahrgenommene Kontrolle des Essens über das Leben. Wenn mindestens 2 Fragen bejaht werden, besteht ein Verdacht auf eine Essstörung oder auf ein gestörtes Essverhalten. Die deutsche Version des SCOFF hat sich mit einer Sensitivität von 79% und einer Spezifität von 74% als nützliches Screeninginstrument erwiesen [37].
Die allgemeine Psychopathologie, z. B. emotionale oder Verhaltensprobleme, kann mittels des Strength-and-DifficultyFragebogens (SDQ; [38]) entweder in Eltern-, Lehrer- oder Selbstberichtsform erfasst werden. Der SDQ besteht aus 25 Fragen, die zu 5 Skalen zusammengefasst werden, für die jeweils Grenzwerte bestehen: emotionale Symptome, Verhaltensprobleme, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit, Probleme im Umgang mit Peers und prosoziales Verhalten. Außerdem kann ein Gesamtproblemwert (Summenwert aller Skalen außer „prosoziales Verhalten“) berechnet werden. Der Fragebogen, die Auswertungs- und Interpretationsanleitungen können online bezogen werden (http:// www.sdqinfo.com/?). Auch der SDQ hat sich in seiner deutschen Version als wertvolles Screeninginstrument erwiesen [adäquate Sensitivität und Spezifität, „area under the curve“ (AUC) = 0,84 und 0,74 im Selbstbericht und im Elternbericht [38]]. Screeninginstrumente können lediglich Verdachtsfälle identifizieren, erlauben aber keine Diagnosestellung. Eine solche ist nur unter Zuhilfenahme von ausführlicheren und zeitintensiveren Instrumenten wie diagnostischen Interviews, klinischen Checklisten und validierten Fragebögen zur allgemeinen und störungsspezifischen Psychopathologie möglich. Eine entsprechende Übersicht geeigneter Instrumente findet sich bei Döpfner und Petermann [39]. Zudem ersetzen Screeninginstrumente auch nicht das direkte Gespräch mit dem Betroffenen und seinen Familienangehörigen, um individuelle und soziale Problembereiche zu erfassen.
Bestandteile von Lifestyle-Interventionen zur Gewichtsreduktion oder -stabilisierung mit Fokus auf psychosoziale Folgeprobleme Da die psychosozialen Probleme eine Folge des Gewichtsanstiegs sind, liegt die Vermutung nahe, dass eine Reduktion des Gewichts zu ihrer Normalisierung beitragen könnte. Bevor medikamentöse oder chirurgische Maßnahmen in Betracht gezogen werden, sind Lifestyle-Interventionen zur Gewichtsreduktion oder -stabilisierung das Standardverfahren zur Behandlung der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen [40]. Gemäß den Leitlinien
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Leitthema der Deutschen Gesellschaft für Adipositas sollten die Interventionen auf eine Ernährungsumstellung sowie die Förderung regelmäßiger körperlicher Aktivität fokussieren (http://www.adipositas-gesellschaft.de/ index.php?id=9). Verfügbare Programme sind beispielsweise das OBELDICKS-Programm für übergewichtige Kinder und Jugendliche von Reinehr und Kollegen [41], das „Gemeinsam fit“-Elterntraining für Eltern von übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen von Warschburger und Döring [42] oder das „Training für adipöse Kinder und ihre Eltern“ (TAKE) von Roth und Munsch [43]. Letzteres schließt neben der Bearbeitung von Ernährungs- und Essverhalten und Förderung der körperlichen Aktivität auch Module zum Umgang mit Hänseleien und Körperbildproblemen sowie Trainings für soziale Fertigkeiten und zur Stressbewältigung ein. Auch Präventionsprogramme für Übergewicht und Adipositas, die im Kontext von Schule oder Gemeinde umgesetzt werden, fokussieren zumeist auf gesunde Ernährung und körperliche Bewegung sowie teilweise auf das Körperbild und soziale Unterstützung oder Kompetenz [44, 45]. Verschiedene Studien belegen neben einer Reduktion von Übergewicht und Adipositas positive Effekte solcher Lifestyle-Programme auf das allgemeine psychische Wohlbefinden, die Lebensqualität, Körperunzufriedenheit und den Selbstwert [46, 47]. Insgesamt fehlt es jedoch an Studien, die die Auswirkungen von Gewichtsreduktionsprogrammen bei Kindern und Jugendlichen auf deren psychosoziale Probleme umfassend untersuchen. Falls die auf psychosoziale Probleme fokussierenden Module von Lifestyle-Interventionen nicht ausreichen, um die Symptomatik zu verbessern, sollten störungsspezifische Behandlungsprogramme in Betracht gezogen werden, die im Folgenden überblicksartig dargestellt werden.
Störungsspezifische Behandlungs- programme für psychosoziale Folgeprobleme Zur Therapie der Adipositas im Kindesund Jugendalter hat sich der Einbezug der Eltern als vorteilhaft erwiesen [48]. Ebenso muss bei der Behandlung der psychosozialen Folgeprobleme individuell und
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abhängig vom Alter, der Selbstständigkeit und dem Wunsch des Patienten der Einbezug der Eltern in Erwägung gezogen werden. Im Folgenden werden die therapeutischen Strategien im Umgang mit den psychosozialen Folgeproblemen überblicksmäßig dargestellt und entsprechende Therapiemanuale zum vertieften Lesen vorgestellt. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass die Therapieprogramme für den Patienten individuell angepasst und dabei auch soziale Faktoren bedacht werden müssen [49]. Auf die Darstellung bestehender Präventionsmaßnahmen für die einzelnen Folgeprobleme wird im Folgenden verzichtet, da der vorliegende Beitrag darauf fokussiert, die Behandlungsmöglichkeiten bei bereits bestehenden Problemen vorzustellen.
Stigmatisierung und Diskriminierung
Im Rahmen einer individuellen Therapie kann der Patient vor allem mittels selbstwertsteigernder Strategien und Interventionen zur Förderung der sozialen Kompetenz unterstützt werden (s. weiter unten). Generell sollten vor allem in Schulen vermehrt Programme eingesetzt werden, die präventiv eine Stigmatisierung und Diskriminierung adipöser, aber auch anderweitig stigmatisierter Mitschüler verringern. Derartige Programme liegen erst in Ansätzen in validierter Form vor [50]. Weitere Forschung ist notwendig, um Informationen über wirksame Strategien zu gewinnen.
Essstörungen und Essstörungssymptome
Die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften geben eine Zusammenfassung der aktuell empfohlenen Behandlungskomponenten bei Essstörungen (http:// www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026. html). Die Komponenten zur Behandlung von Essstörungen einschließlich der BES umfassen ein Ernährungsmanagement zur Normalisierung des Essverhaltens. Dieses schließt eine Information über die empfohlene Anzahl an Mahlzeiten, über ausgewogene Nahrungsmittel und Snacks, Risiken des Diäthaltens und den damit assoziierten Teufelskreis von Diäthalten und Essanfällen mit ein. Des Weiteren wird eine
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kognitive Umstrukturierung genutzt, um dysfunktionale Gedanken über das Essen, die Figur und das Gewicht zu verändern. Dabei werden altersentsprechend negative Gedanken (z. B. „Ich darf nichts essen, ich bin sowieso schon viel zu fett!“) oder systematische Gedankenfehler (z. B. Alles-oderNichts-Denken wie „Nur wenn ich dünn bin, bin ich schön!“) zunächst beispielsweise mittels eines Gedankentagebuches identifiziert. Gemeinsam mit dem Patient werden die Interpretationen und Gedanken z. B. unter Zuhilfenahme des sokratischen Dialogs diskutiert und alternative Interpretationen und Gedanken erarbeitet. Oft wird die Essstörungsbehandlung ergänzt durch Körperbildinterventionen im Rahmen einer Spiegel- oder Videokonfrontation. Dabei wird der Körper vom Patienten in neutraler, nicht abwertender Sprache von Kopf bis Fuß beschrieben (z. B. „Meine Haare sind braun und leicht gelockt“). Sollte er dabei in eine bewertende Sprache verfallen (z. B. „Mein Bauch ist fett“), hilft der Therapeut, eine neutralere Bewertung zu formulieren („Beschreiben Sie bitte die Farbe der Haut und die Form des Bauchnabels“). Die Ziele dieser Intervention beinhalten eine Habituation an Angst und Ekel beim Umgang mit dem Körper sowie eine kognitive Umstrukturierung der negativen körperbezogenen Gedanken, angestoßen durch eine vollständigere, realitätsangemessenere Wahrnehmung. Festzuhalten ist, dass für die BES im Kindes- und Jugendalter bislang lediglich Behandlungsempfehlungen vorliegen [51]. Ein BES-spezifisches Manual für Jugendliche befindet sich derzeit in der Evaluation (http://www. ess-stress.de).
Allgemeine Psychopathologie
Die Behandlung von depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter sollte kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapieansätze für leichte bis mittelgradige depressive Störungen beinhalten. Bei schweren depressiven Episoden können nach eingehender Diagnostik und Erhebung des somatischen Status ergänzend auch selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) eingesetzt werden (Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-005.html). Die kogni-
tive Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen schließt – ähnlich wie bei Erwachsenen – einen Aktivitätsaufbau (z. B. von Aktivitäten, die in der Vergangenheit Spaß gemacht haben und verstärkend waren) und eine kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken mit ein (z. B. durch sokratischen Dialog). Zusätzlich können Entspannungsverfahren (autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, Fantasiereisen) und Trainings sozialer Kompetenzen (s. weiter unten), des Problemlösens und der Kommunikation angeboten und Selbstkontrollstrategien (s. weiter unten) erarbeitet werden. Unter anderen liegt von Harrington ein validiertes Therapiemanual vor [52]. Zur Behandlung unterschiedlicher Angststörungen im Kindes- und Jugendalter können lediglich verschiedene Varianten der standardisierten kognitiven Verhaltenstherapie mit und ohne Elterntraining als empirisch fundiert bezeichnet werden (Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie: http://www.awmf.org/up loads/tx_szleitlinien/028-022_S1_Angststoerungen_F41_F93.0_11-2006_11-2011_01. pdf). Die Behandlung beinhaltet üblicherweise kognitive Interventionen, Reizkonfrontationen, operante Techniken, ein soziales Kompetenz- oder Selbstsicherheitstraining (s. weiter unten) und das Erlernen eines Entspannungsverfahrens. Während die hier eingesetzten kognitiven und Entspannungsverfahren den Methoden zur Depressionstherapie ähneln, zielen die operanten Techniken in diesem Fall auf die Verstärkung erwünschten und die Bestrafung unerwünschten Verhaltens. So kann beispielsweise ein Kind mit einer Hundephobie im Rahmen eines Belohnungspunktesystems eine Belohnung erhalten, wenn es an einem Hund vorbeigeht und nicht die Straßenseite wechselt. Reizkonfrontation beinhaltet das Aufsuchen und den Verbleib in der Angst erzeugenden Situation, zunächst unter therapeutischer Anleitung bis eine Habituation (Angstreduktion) stattgefunden hat. Je nach Angststörung stehen unterschiedliche validierte Manuale zur Verfügung, beispielsweise zu sozialen Ängsten [53], Leistungsängsten [54] oder Zwangsstörungen [55]. Bei der ADHS wird von der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsy
chiatrie und -psychotherapie eine psychologische (verhaltenstherapeutische) Therapie empfohlen (http://www.awmf.org/ leitlinien/detail/ll/028-019.html). Für diese Störung sind einige Therapiemanuale zur integrierten Arbeit mit Eltern und Kinder verfügbar. Diese vermitteln den Aufbau von festen Regeln und Strukturen (z. B. Verstärkersysteme mit einem TokenSystem oder Response-Cost, Hilfen im Umgang mit Problemverhalten), die Verbesserung der Selbststeuerung (z. B. durch Coaching, Selbstinstruktionstraining oder Selbstmanagement-Therapie) und den Aufbau bzw. die Stärkung des Selbstwertgefühls (evaluiert ist z. B. das Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten, THOP [56]). Sollte die psychotherapeutische Behandlung nicht ausreichen oder nicht erfolgreich sein, kann eine pharmakotherapeutische Behandlung mit z. B. Methylphenidat, Atomoxetin oder Dexamphetamin angesetzt werden.
Selbstwert und soziale Fertigkeiten
Für das Kindes- und Jugendalter sind unterschiedliche selbstwertwirksame Therapiestrategien verfügbar, wie beispielsweise im evaluierten Training „Mutig werden mit Til Tiger“ [57] oder im validierten „SELBST-Therapieprogramm für Jugendliche mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen“ [58]. Beide Programme beinhalten Module, um sozial unsicheren Kindern und Jugendlichen ein größeres Selbstbewusstsein zu vermitteln, Vermeidungstendenzen abzubauen, neue Handlungsstrategien aufzubauen und den Einsatz verfügbarer Kompetenzen in sozialen Situationen zu fördern. Neben diesen Manualen, die auf unsichere und selbstwertschwache Kinder und Jugendliche fokussieren, liegen auch Programme vor, die bei aggressiven Kindern und Jugendlichen anwendbar sind [59].
Schulische Beeinträchtigungen
Bei Defiziten in den schulischen Leistungen sollte zunächst eine Abklärung der Lesestörung, der Störung des schriftlichen Ausdrucks und der mathematischen Störung erfolgen. Hierfür sind standardisierte und validierte Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistungstests
sowie ein Intelligenztest einzusetzen. Bei vorhandener Diagnose kann eine Lerntherapie initiiert werden [60]. Sollte keine klinisch bedeutsame umschriebene Entwicklungsstörung festgestellt werden, kann Unterstützung in Form von Nachhilfe in Erwägung gezogen werden.
Fazit Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen sind außer mit somatischen oft auch mit schwerwiegenden psychosozialen Folgen assoziiert, oder sie treten aufgrund gemeinsamer Determinanten komorbide mit psychosozialen Problemen auf. Letztere sind nicht nur für sich genommen belastend, sondern können auch weitere Schwierigkeiten nach sich ziehen und die Zukunft der Betroffenen signifikant beeinträchtigen. Nicht zuletzt weil die psychosozialen Folgen auch das Übergewicht und die Adipositas aufrechterhalten oder eine Gewichtszunahme begünstigen, sollte deren Vorhandensein über ein Screening geprüft werden, um den Betroffenen ggf. für eine ausführlichere Diagnostik und Therapie an eine Fachperson (beispielsweise Psychotherapeut) zu überweisen. Zur Behandlung depressiver Störungen und von Angststörungen, der ADHS sowie von Selbstwertproblemen und sozialen Fertigkeitsdefiziten steht eine Vielzahl validierter kognitiv-verhaltenstherapeutischer Manuale zur Verfügung, die dem Einzelfall angepasst werden können. Weil eine Stigmatisierung und Diskriminierung die Beziehung zwischen Gewicht und psychosozialen Folgeproblemen negativ beeinflussen können, sollten sich zukünftige Forschungsprojekte auf die Entwicklung und Implementierung von Programmen zur Reduktion des Adipositasstigmas fokussieren.
Korrespondenzadresse Dr. A.S. Hartmann Department of Psychiatry, Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School 185 Cambridge Street, Suite 2200, Simches Research Building, 02114 Boston USA
[email protected]
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Leitthema Danksagung. Diese Arbeit wurde teilweise durch ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds für Andrea Sabrina Hartmann (PBSKP1_134330/1) sowie durch das Deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (01EO1001) unterstützt. Interessenkonflikt. Die korrespondierende Autorin gibt für sich und ihre Koautorin an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 4 · 2013
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