SPRACHPHILOSOPHISCHE FRAGESTELLUNGEN IN GOETHES F A U S T I
Goethe hat sich um die Erarbeitung eines sprachphilosophischen Systems niemals bemiJht. ~ Dennoch hat er in Briefen, Abhandlungen und wissenschaftlichen Schriften zu damals aktuellen sprachtheoretischen Grundfragen h~iufig Stellung genommen. Dardber hinaus l~il3t sich eine nahe Verwandtschaft zwischen Sprachreflexion und dichterischer Praxis insofern nachweisen, als Sprache in der Goetheschen Belletristik, vor allem im Leiden des jungen Werther und Faust I sowie in vereinzelten Gedichten thematisiert bzw. problematisiert wird. Im Brennpunk..t seiner vielgestaltigen ontologischen, episternologischen und ~isthetischen Uberlegungen steht das Verh~ltnis von Denk- und SprechfS.higkeit, Sprache und Sein, Poetizit~it und Sprachlichkeit sowie Sprache und Ethik. 2 Spfirlicher und weniger verbindlich sind jedoch Goethes Augerungen zur strittigen Sprachursprungsdebatte der Epoche (1756-1772). 3 Er schlog sich eher der Argumentationslinie derer an, die wissenschaftlich defizitfire metaphysisch-spekulative oder theozentrische Ans~itze zur Sprachursprungsthematik in den Hintergrund gedrS_ngt und der empirisch allgemeingiiltigeren Frage der Sprachentwicklung innerhalb einer jeweiligen Gesellschaftsordnung mehr Gewicht beigemessen hatten. Ausgehend v o n d e r Condillacschen langage d'action, betrachtete man die Sprache als Entfaltung geistiger FS_higkeiten und sch6pferischen Denkens in einem jeweils historisch bedingten Raum. 4 Auf dieser Basis suchte J.J. Rousseau die Sprache und deren Verfallserscheinungen aus evolutionfirer Sicht wegzuerkl~ren. Die Sprache, so ffihrt er in seinen zwei berfihmten gesellschaftskritischen Abhandlungen Discours sur l'origine et les fondements de l'in~galitd parmi les hommes (1755) und Essai sur l'origine des langues (1781) aus, sei fiber die Jahrhunderte hin von einem Medium der unbefangenen Kommunikation individuellen Empfindens und Denkens zu einem Instrument der Etablierung und Festigung sozialer Unterschiede und schlieglich politischer Gegens~itze degeneriert. 5 DaB Goethe an diese entwicklungsgeschichtliche Dekadenztheorie der Sprache anknfipfte, geht u.a. aus folgender Reflexion deutlich hervor: "Kein Wort steht still, sondern es rfickt immer durch den Gebrauch von seinem anfanglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher ins Schlechte als ins Bessere . . . . ~, 6 Die Frage, inwieweit Faust ! sich im Spiegel allgemeiner sprachtheoretischer Denkrichtungen vor und w/ihrend seiner monumentalen Vollendungszeit (1775-1808) sowie im Hinblick auf Goethes eigenes Sprachverstgndnis interpretieren lfil3t, hat die Faust-Forschung trotz zahlreicher Textbelege bislang kaum beriicksichtigt. 7 Zwei Themenkonstellationen insbesondere verdienen nfihere kritische Behandlung: die Unzulfinglichkeit der Sprache als Beschreibungsinstrumentarium und Verstehens- und Verst~indigungsapparat, sowie die bisher kaum ausgewertete Beziehung
Neophilologus 79: 451-463, 1995. © 1995 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands.
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yon Redekunst und sprachlicher Verstellung, die im Fokus des rhetorikfeindlichen Diskurses der Sp~itaufkl~irung stand. Es liegt also zun~ichst nahe, der zentralen Frage nachzugehen, wamm Faust - wenigstens vor seiner Verjtingung in der Hexenktiche - einen tiefen Verdacht gegen die Sprache als Medium der Mitteilung hegt. Offensichtlich geht eine gewisse Sprachskepsis mit Fausts Wissenskritik einher, als der griibelnde Himmelsstiirmer sich im Eingangsmonolog gegen die scholastische bzw. frtihhumanistische Buchgelehrsamkeit ausspricht: "Und tu nicht mehr in Worten kramen" (V. 385 [32]). 8 Dabei geht es nicht um einen existentiellen Sprachekel angesichts des Wirklichkeitsbzw. Bewul3tseinsverlustes, wie er im ausgehenden 19. Jahrhundert wohl bei Hofmannsthal seine klarste literarische Dokumentierung fand. Faust verstummt nicht; er bleibt bis zum letzten Atemzug redselig. Was also for Werther gilt, trifft gleichermaBen auf Faust zu: er "verf~illt niemals einer Sprachkrise im Sinne einer totalen 'Versprachlichung' des Bewul3tseins".9 Eher wurzeln seine Bedenken fiber die zul~ingliche Mitteilbarkeit und Expressivitgt yon Worten in der Kantischen Erkenntniskrise, deren verheerenden weltanschaulichen Auswirkungen der junge Goethe und seine Zeitgenossen nicht entgehen konnten. 1° Goethe hatte - nach eigenem Eingest~indnis - die Implikationen der neuen Epistemologie erfal3t, wenn auch freilich nicht in ihrer Komplexitfit, wie folgender Gemeinplatz aufzeigt: " . . . dab niemand den anderen versteht, dab keiner bei denselben Worten, dasselbe, was der andere, denkt, dab ein Gespr~ich, eine Lektiare bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen", l~ Da Fausts Wissensdrang sich als ein absoluter Imperativ versteht, mul3 Sprache for ihn der ad~iquate Ausdruck aller Realit~iten, der Wahrheit 'an sich' werden. Aber laut der Kantischen Vernunftskritik bleibt dem auf die Schein- bzw. Erscheinungswelt reduzierten subjektiv wahrnehmenden Einzelnen jeglicher Zugang zu dem Wesen der Dinge, den Noumena selbst, versperrt. Sprache erfiillt demgemSg nur die relativierende Funktion, die Beztige der Dinge zu den Menschen im Bereich des Ph~inomenalen zu bezeichnen. Sie vermag die wahre Beschaffenheit der Wirklichkeit nur schwer auszudrticken.12 Goethe selbst stand dem Postulat eines apriorischen Sprachverst~indnisses skeptisch gegeniiber, wenn er etwa mutmal3t: "Nicht die Sprache an und for sich ist r i c h t i g . . , sondern der G e i s t . . . der sich darin verk6rpert". 13 Oder andernorts: " . . . die Sprache ist . . . eine Erscheinung ftir sich, die nur ein Verh~iltnis zu den abrigen hat". 14 Goethes (neu)platonisch-klassizistische Schliisselvorstellung einer Sprache, die die "Gegenst~inde" (Begriffe) niemals "unmittelbar" sondern nur im "Widerschein" darzustellen vermag, kommt Faust zun~chst fremd vor, ~5weil dieser eben, zumindest ehe der Erdgeist sein gottgleiches Selbstbildnis vernichtet, v o n d e r Erkennbarkeit der "Sterne Lauf" (V. 422 [69]) fest iJberzeugt ist und sich daher mit dem " . . . farbigen Abglanz" (2. Teil; V. 4727) noch nicht abzufinden braucht. Als autonome Entelechie, als dynamis-
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cher Bestandteil des Mikrokosmos des Makrokosmos sieht er sich dazu befahigt, die "heilgen Zeichen" (V. 427 [74]) im nekromantischen Buch von Nostradamus zu entziffern: "Wie spricht ein Geist zum andem Geist?" (V. 425 [72]). So fragt er sich, ohne sich der Ironie bewugt zu sein, dab die Enth011ung eines solchen Geheimnisses einen R0ckgriff auf das von ihm mehrmals diskreditierte B~cherwissen erforderlich macht. Dadurch dab Faust, wie Mephisto h6hnisch von ihm behauptet, " . . . welt entfemt von allem Schein,/Nur in der Wesen Tiefe trachtet" (V. 1329-30) und lieber nach dem "Geist", der inneren Gesetzmfigigkeit, fahndet, welche die Welt "ira Innersten zusammenh~lt" (¥. 383 [30]), hofft er sich einen Ausweg aus dem Kantischen Erkenntnisdilemma zu bahnen. Und insofem er das rein AuBerliche, das Oberfl~chliche, ja den 'farbigen Abglanz' ablehnt, verh6hnt er mit gleicher Vehemenz die Erstarrung der Sprache zu homer Phrasenhaftigkeit, ja, die Verwendung von Worten als Selbstzweck oder aus Grgnden deklamatorischer Affektiertkeit. So stellt er seinen utilitaristisch denkenden Famulus Wagner der provokativen Frage gegen0ber: "Und wenns euch Ernst ist, was zu sagen,/Ists n6tig, Worten nachzujagen?" (V. 552-53 [199-200]). Hinter diesem milden Verweis verbirgt sich zum einen die rhetorikkritsche Position, die Goethe in direktem AnschluB an Rousseau, Lavater und Kant fur sich beanspruchte: "Die Redekunst ist Verstellung vom Anfang bis zu Ende"; 16zum anderen aber Fausts Angst vor der Trivialisierung einer tiefergehenden, der Geniezeit entstammenden Ausdrucksproblematik, die schon bei Werther vorhanden war und in der Gretchen-Trag6die nachklingt. Von ausschlaggebender Bedeutung for die damalige sprachtheoretische Diskussion um das (MiB)verhfiltnis von sprachlichen und gedanklichen Vorg~ngen zeigt sich die mephistophelische Diatribe gegen das Stadium der Theologie und der Metaphysik im Verlauf der berfihmten erkennmiskritischen "Schfilerszene". Man denke spezifisch an jene sp6ttische Lobrede auf die rettende oder manipulierende Funktion yon Worten, wann immer es sich um problematische Begriffsbezeichnungen handelt. So r~it der im Talar eines gelehrten Professors verkleidete Mephisto einem noch formbaren Erstsemestler: "Im ganzen: haltet Euch an Worte! Dann geht Ihr durch die sichre Pforte/Zum Tempel der Gewissheit ein" (V. 1990-92). Als der teuflische Sophist folgendermaBen weiterdoziert: " . . . eben, wo Begriffe fehlen,/Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" (V. 1995-96), so berfihrt er eine sprachspekulative Kernvorstellung, die John Locke in seinem 1690 publizierten An Essay concerning Human Understanding schon unterbreitet hatte: dab die Worte sich rapider als die Begriffe erzeugen, iv Gerade dieser Denk- und Argumentationsweise zufolge sei for nahezu jeden Wissenszweig ein ganzes "System" (V. 1998) terminologisch verschwommener Fachausdriicke leicht erstellbar: "Mit Worten l~iBt sich trefflich streiten,/Mit Worten ein System bereiten,/An Worte l~iBt sich trefflich glauben,/Von einem Wort 1/~13t sich kein Iota rauben" (V. 1997-2000). TM Die berfihmte sprach- und begriffskritische Maxime, mit der Mephisto .
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den nunmehr verblilfften Schiller entl/il3t: "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie" (V. 2038 [432]) stimmt mit Goethes allgemeiner Beobachtung ilberein: "Theorien sind gew6hnlich Obereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die PMnomene gern los sein m6chte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt". 19 Sogar der greise Dichter mil3billigte, wie ein Gespr~ich mit Eckermann aus dem Jahr 1828 erhellt, die weitverbreitete, wenn auch allzu menschliche Gewohnheit, den Primat des Wortes vor kritischer Reflexion zu betonen: " . . . um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu thun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren, welches schon mein Mephistopheles gewul3t und nicht ilbel ausgesprochen hat". 2° Es wfire freilich ein anachronistischer Fehltritt gewesen, Mtte die mephistophelische Polemik gegen die sprachlich-begriffiiche Unexaktheit der damaligen Fachgebiete die analytisch-experimentellen Naturwissenschaften umfal3t, wie sie im Zeitalter Goethes praktiziert wurden. Wenn Goethe mit der Autorit~it eines bereits 'empirischen' Wissenschaftlers beteuert: "Indem wir von inneren Verh~iltnissen der Natur sprechen wollen, bediirfen wir gar mancherlei Beziehungsweisen", zl so wird ersichtlich, weshalb Faust, in der weil3en Magie des ausgehenden Sp~tmittelalters geschult, wenig Ahnung von analogem Denken und gleichnishaften Untersuchungsmethoden hat, als es darum geht, zu erproben, was die Welt "im Innersten zusammenh~ilt". Bezeichnenderweise tut Goethe als Naturforscher - und wohl im Schatten Kants - jeden Versuch, "das UrsprOngliche aus dem Abgeleiteten zu erkl~iren" als "eine unendliche Verwirrung, ein Wortkram" ab. 22 Demgegenilber stehen die Bemilhungen Fausts als Renaissance-Gelehrter die Urkr~ifte, die "heilgen Zeichen" der Natur, unter Berufung auf die theosophische Signaturenlehre eines Paracelsus oder eines Jakob B6hme zu dechiffrieren. Dem B6hmeschen Naturverst~indnis gem~il3 war der Finger Gottes im Werk seiner Sch6pfung allgegenw~tig, so dal3 die Natur einer heiligen Schrift glich, die gelesen, geh6rt, oder gesprochen werden konnte. 23 Doch der Faust der Eingangsszenen ist nicht in der Lage, die Naturgesetze nach objektiv-empirischen Magst~iben 'anzuschauen'. Seine Sturm und Drang-Pers6nlichkeit verlangt ein spontanes, seelisches Miterleben der "wirkende[n] Natur" (V. 441 [88]). Faust will sie nicht nur begreifen, sondern auch ergreifen, als hfitte er mit einem erotischen Gebrauchsgegenstand zu tun: "Wo fag ich dich, unendliche Natur?/Euch BrOste, wo? Ihr Quellen alles Lebens" (V. 45556 [102-03]). Erst nachdem die Erdgeist-Beschw6rung ihn mit der Endlichkeit eigener Natur konfrontiert und dadurch sein Er-fassen der Naturkr~ifte als "Quellen alles Lebens" erschwert, wendet er seine Aufmerksamkeit dem Neuen Testament zu, um nach Lutherscher Art "das heilige Original/In [sein] geliebtes Deutsch zu ilbertragen" (V. 1222-23). Hinter dieser Tatigkeit steckt weniger ein rein altphilologischetymologiches Forscherinteresse an der Beschaffenheit der vorbabylonischen Ursprache als vielmehr eine erkennnmisgebundene Sehnsucht nach
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"Offenbarung" (V. 1217), wie sie etwa dem sprachherkunflstheoretischen Denken Hamanns zugrundeliegt: Die Natur ist herrlich, wet kamnsie tibersehen, wer versteht ihre Sprache? Sie ist stumm, sie ist leblos ftir den natiirlichenMenschen. Aber die Schrift, Gotteswort,die Bibel, ist herrlicher, ist vollkommener,ist die Amme,die uns die erste Speise giebt...24 Es ist besonders auff/illig, dab der wissensdurstige und wahrheitssuchende Faust, sofern er als Repr~isentant der Geniezeit fungiert, sich entschliegt, bei der Bibelfibersetzung eher intuitiv-instinktiv, mit "redlichem Gef~hl" (V. 1221) vorzugehen, als mit der Pedanterie und phantasielosen Genauigkeit eines biblischen Exegeten (Er hat die Bticherweisheit letztlich doch in Frage gestellt). Als Faust den Band aufschl/~gt und den 1/ingst umstrittenen Anfangsversen des Johannesevangeliums begegnet, gibt er sich mit der semantischen bzw. ontologisch-teleologischen Gleichsetzung von logos und Wort keineswegs zufrieden: "Ich kann das Wort so hoch unm6gtich schgtzen" (V. 1226). Solche metaphysikfeindlichen Bedenken erinnern an eine briefliche Augerung Hamanns aus dem Jahre 1784 seinem Freund und Adepten Herder gegenfiber, wo es u.a. heigt: "Vernunft ist Sprache, logos. An diesem Markknochen nage ich und werde reich zu Tode darfiber nagen. Noch bleibt es immer finster fiber dieser Tiefe ffir mich". 25 Vom "[Heiligen?] Geiste . . . erleuchtet" (V. 1228), 26 nimmt sich Faust vor, das "Wort" in rapider Sukzession durch "Sinn", "Kraft" und "Tat" zu ersetzen, wobei sich ein fruchtbarer Vergleich mit Herders in seinen Erliiuterungen zum Neuen Testament abgedruckter Verteidigung der Austauschbarkeit der logos-Surrogate "Gedanke", "Wort", "Wille', "Tat", "Liebe" sich anstellen liel3efl7 Es bleibt dahingestellt, ob Fausts terminologische Akzentverschiebungen von philosophisch-theologisch fundierten Argumentationsprinzipien zeugen, oder ob die Progression eher eine blog willkfirliche, improvisierte Begriffswahl ausmacht, die Fausts schrankenloser Subjektivit~it entspricht. Dar/iber herrscht in der Faust-Literatur wenig Konsens. 28 Fest steht aber, dab Fausts textliche l~lbertragungsschwierigkeiten fiber das rein Semantische hinausgehen. Obwohl sie freilich die Gegebenheit best~itigen, dab eine jeweilige Fremdsprache "mit einem Worte ausdrficken kann, was die andere umschreiben mug",29 spiegeln sie doch zugleich die an mehreren Stellen des ersten Teils wiederkehrende allgemeinere Problematik linguistischer Begriffsvermittlung wider. So verwundert es kaum, daB der nunmehr zum Gegner metaphysischer Spekulation gewordene Faust das logos-Konzept mit dem ontologischen Abstrakmm "Sinn" unwillig tibersetzt: "Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?" (V. 1232). Die sinn- bzw. bedeutungsentleerte Substitution bringt ihn keinen Schritt weiter zum "Urquetl" (V.324). Die yon Gott erschaffene Welt ist zwar "herrlich wie am ersten Tag", doch sind die "hohen Werke" der Menschheit nahezu "unbegreiflich" geblieben ("Prolog am Himmel", V. 249-50). Indem er sich endgtiltig
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zur Tat bekennt ("Im Anfang war die Tat! - " [V. 1237]), stellt er - wie jeder andere Bibelausleger - den christologischen Nexus zwischen dem Urwort und dessen Selbstverwirklichung bzw. dessen Fleischwerden (Joh. t,14) in der Erscheinungswelt her. 3° Dennoch ist es ihm nicht gelungen, die Sprache von ihrer arbitrfiren Zeichenhaftigkeit zu befreien. Faust ist im ersten Teil der Trag6die noch nicht zur Erkenntnis durchgedrungen, dab er seinen Argwohn gegenfiber einer logoszentristischen Ursprungsthese durch die von Hamann und den Frahromantikem vertretene Auffassung einer poetischen Protosprache, und zwar nach dem Motto 'am Anfang war die Poesie', fiberwinden k6nnte. Es fragt sich nun, ob nicht Fausts Umschreibungsver-fahren doch eigentlich in der Herderschen Alternative "Liebe" (agape) gegipfelt h~itten, wS.ren Fausts monologische Spekulationen nicht durch das teuflische PudelGebell unterbrochen worden. Offensichtlich kommt dem "Geist, der stets verneint!" (V. 1338) und alle g6ttlichen Rettungsman6ver vereiteln will, die Idee von verkl~irender Himmelsliebe, wie sie in der Erl6sungsszene am Schlul3 des zweiten Teils verkiindet wird, bedrohlich vor. Aus welchen Grtinden auch immer, Mephistos Auftritt als fahrender Scholastiker verschfirft die Problematik der Namengebung. Indem er jetzt glaubt, "das Wesen [Mephistos]/ . . . aus dem Namen" (V. 1331-32) lesen zu k6nnen, ger~it Faust aufs neue in die epistemologische Falle, "das Ursprfingliche aus dem Abgeleiteten" extrapolieren zu wollen. So bleibt ihm nichts anderes fibrig, als auf die aus biblischen und volkstfimlichen Quellen fiberlieferten Anredeformen "Fliegengott", "Verderber", "Lfigner" zurOckzugreifen (V. 1334), wobei die Etikette "Satan" (Widersacher) oder "Luzifer" (Der Gefallene Engel) nicht einmal berficksichtigt werden. Obwohl Mephisto wiederum eigene kosmisch-metaphysische Antezedentien preisgibt, wenn auch freilich in Ratseln ("[Ich bin] ein Teil jener Kraft,/Die stets das B6se will und stets das Gute schafft" [V. 1336-7]), versorgt er dennoch den nach Ursprfinglichkeit hungernden Faust mit keinerlei definitiven Hinweisen dartiber, wie es mit den Ersten und Letzten Dingen steht, ja, wer oder was denn das b6se Prinzip eigentlich konstituiert. Es ist kein Zufall, dab Mephisto, dessen Wirkungsbereich nur dem Diesseitigen, der Welt der Materie, gilt, das B6se an sich (summum malum) nicht bestim-men bzw. nicht benennen kann, sondern vielmehr das Noumenon auf den menschlichen Vorstellungsbereich hin relativiert: "So i s t . . , alles, was ihr Stinde/Zerst6rung, kurz, das B6se nennt,/Mein eigentlich Element" (V. 1343-45; meine Hervorhebung). Sobald Mephisto sich auf seinen Plan einl~il3t, den "Knecht" des Herrn (V. 299) in die Angelegenheiten der (kleinbfirgerlichen) Aul3enwelt zu verstricken, vollzieht sich ein bedeutsamer Wandel in Fausts Beziehung zur Sprache, insofern seine akademisch-puristischen Reflexionen fiber das Wesen und die Grenzen der Sprache durch zunehmende Zweifel an der Zuverlfissigkeit bzw. Glaubwfirdigkeit yon Worten im moralischen Sinne abgel6st werden. Genauer formuliert: die Goethesche Vorstellung von Sprachrichtigkeit besitzt sowohl sozio-ethische Implikationen als
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auch erkennmistheoretische (Schtilerszene) und philologische Ausmage (Logosszene). Die Gewissensfrage, bis zu welchem Grad man aus dem Umstand, dab Worte betrtigen und verftihren, pers6nliche Vorteile ziehen sollte, kristallisiert sich in tier Stral3enszene der Gretchen-Trag6die heraus, wo Faust von seinem "Diener" gebeten wird, "falsch Zeugnis" (V. 3042 [896]) tiber den Tod von Marte Schwerdtleins Mann in Padua abzulegen. Um seine Skrupel zu beseitigen, gemahnt ihn Mephisto sarkastisch an die leeren Worthtilsen, mit denen er seine philosophischen "Definitionen" (V. 3045 [899]) einst sttitzte. 3I Ftir Faust - und zwar im Gegensatz zum Erstsemester, der die mephistophelische Wamung in ihren Abschattierungen noch nicht erfagt hat, erweist sich diese Anklage als ein wunder Punkt, sogar als ein Wendepunkt, denn sie stellt sein absolutistisches Streben "nach allen h6chsten Worten" (V. 3063 [915]) in ein recht dubioses Licht. Die Frage erhebt sich: wenn abstrakte Dinge und Konzepte jeglichem Bezeichnungs- und Definierungsversuch widerstehen, wie soil es sich denn von nun an mit der Sprache des Herzens, mit der eloquentia cordis verhalten? In diesem Zusammenhang sei der Mensch, so Goethe, gleichsam doppelt belastet: "Durch Worte sprechen wir weder die Gegenst~nde noch uns selbst v611ig aus". 32 Faust, der sich zu Gretchen bereits leidenschaftlich hingezogen fiihlt und seiner "Glut" adfiquaten Ausdruck zu verleihen sucht, hat jetzt mit dem Werther-Dilemma zu ringen: "Wenn ich empfinde,/Ffir das Geftihl, ftir das Gewtihl/Nach Namen suche, keinen finde,/.../Ist das ein teuflisch Liigenspiel?" (V. 3059-61; 3066 [911-913; 918]). Diese Schlngfrage, welche die Dichotomie von Sein und Schein hervorhebt, bekrfiftigt Fausts frfiheren Verdacht, das Zeichen des Makrokosmos sei NoB ein "Schauspiel" (V. 454 [10111), eine Sinnestfiuschung. Als Antwort auf die orthodoxe Gretchenfragerei: "Nun sag: wie hast du's mit tier Religion?" (V. 3415 [1107]) und "Glaubst du an Gott?" (V. 3426 [1118]) bekennt sich Faust emeut, wenngleich auf Umwegen, zu einem dogmenfreien Geftihlskult (V. 3456 [1148]). Es w/ire aber allzu einseitig, wollte man seine Gegenfrage: "Wer daft ihn nennen [?]" (V. 3532 [1124]) nur unter theologischem Aspekt auslegen, als beziehe sich die Modalit/it "dfirfen" auf die Jaweh-Figur des Alten Testaments, deren Namen man innerhalb gewisser konfessioneller Traditionen nicht einmat auszusprechen wagte. 33 Insofern aber Fausts Kosmogonie an dieser Stelle die Paradoxie eines pantheistisch-spinozistischen "Allumfasser[s]" (V. 3432 [1130]) und eines deus abscond#us zul/il3t, sind "dtirfen" und "erlauben" nicht ohne weiteres gleichbedeutend. Eher deutet das Modalverb auf ein sprachliches Problem hin: auf jene "Dialektik yon Name und GefiJhl",34 wie sie in der Elegie "Euphrosyne" (1799) wieder zutage tritt: Sch6ne GOttin!enthiJlledich mir und t~iusche,verschwindend, Nicht den begeisterten Sinn, nicht das gertihrteGem/it. Nenne, wenn dues darfst vor einem Sterblichen, deinen G6ttlichen Namen; wo nicht: rege bedeutend reich auf,
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DaB ich fiahle,welche du seist von den ewigen T6chtem Zeus', und der Dichter sogleichpreise dich wiirdig im Lied.35 Ohne Zweifel ist Faust im Laufe seines weitschweifigen Glaubensbekenntnisses wie eben vorher in der Logosszene auf begriffliche Llbersetzungshfirden gestol3en: "Nenn es . . . . wie du willst:/Nenns Gltick! Herz! Liebe! Gott!/Ich habe keinen N a m e n / D a f t i r ! / . . . / N a m e ist Schall und Rauch,/Umnebelnd Himmelsglut" (V. 3454-56 [1145-1150]). 36 Doch besteht der wesentliche Unterschied darin, dag Faust, wie G6rner meint, "sich nicht mehr um die a n g e m e s s e n e . . . Benennung bemiiht, sondern eine Serie von Namen angibt, die dem einzelnen Wort kein besonderes Gewicht mehr einr~iumen". 37 Damit ist aber die grundlegende Ursache der Benennungshindernisse nicht angesprochen. Zum theologischen Ansatz mul3 zweifellos die im Gefolge der Kantkrise epistemologisch ausgerichtete Erklarung hinzutreten, wie sie Goethe im Gespr/ich mit Riemer abgibt: "Wir sollten nicht von Dingen an sich reden, sondern von dem Einen an sich. Dinge sind nur nach menschlicher Ansicht . . . . Es ist alles nur Eins; aber yon diesem Einen an sich zu reden, wer vermag es?". 38 Auf einer anderen Ebene sind die obigen Sprachzeichen-Substitutionen symptomatisch ftir den folgenschweren Umstand, dab Faust - ob als Denker oder Gefiihlsmensch - Credo und Rhetorik im ganzen Drama oft kaum auseinanderzuhalten weil3. Da Faust kein intellektuelles Spiel mehr in der asozialen Isolation seiner vier Wgnde treibt, sind Worte moralisch und existentiell verbindlicher geworden. Sie stehen nicht 1/inger im Dienst des amour-propre, sondern Faust hat sie fortan vor einem Gegeniiber zu verantworten: zun~ichst vor einer opportunistischen Teufelsgestalt, deren schriftlicher, mit Blut zu unterzeichnender Wettvertrag ihn ewig bindet, 39 dann vor einem ungebildeten B.firgerm/idchen aus den unteren Mittelschichten, das sich an jede einzelne Aul3emng klammert, als enthielte sie eine Binsenwahrheit. Gretchens unbefangene Anfalligkeit ftir " . . . seiner Rede Zauberflul3" (V. 3398-99 [1090-91]), 40 entpuppt sich daher als ein omin6ses Pr/~ludium zu ihrer k6rperlichen Verftihrung und sprachlichen Vergewaltigung durch einen sprachttichtigeren Werber. 41 Worte verstehen sich, um Nietzsches Sprachdenken vorwegzunehmen, als die von den gesellschaftlichen Machtstrukturen willktirlich auszuiibenden "Herrschaftsinstrumente". 42 Interessanterweise weist Goethe in expressis verbis - als hfitte er gerade seine Faust-Dichtung im Hinterkopf - auf die sophistisch-irrefiahrende Gewalt des gesprochenen Wortes hin: Sie [die Sprache] . . . ist ein Werkzeug, zweckmal3igund willkiirlich zu gebrauchen; man kann sie eben so gut zu einer spitzfindig-verwirrendenDialektik wie zu einer verworrenverdtistemden Mystik verwenden.43 Was die "spitzfindig-verwirrende Dialektik" des Widersachers selbst betrifft, so geht sein Wortmil3brauch mit einer angeborenen Verstel-
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lungskunst, mit seinen Liststrategien ~berhaupt, eindeutig Hand in Hand. 44 Als Geist der Verneinung weig er "mit einem Worthauch" die "Gaben" des Erdgeists zunichtezumachen (Vo 3246), wobei "Worthauch" unverkennbare Assoziationen mit dem biblischen Sch6pfungswerk (Gen. 2, 7) hervorruft. FiJr Faust hingegen verschrirft sich die Spannung zwischen eloquentia cordis und dissimulatio in den Liebesintrigen der GretchenHandlung zu einem ethischen Konflikt, den sein ReisegefS_hrte nicht z6gert auszubeuten und zu vertiefen. Zwar kann Faust die paracelsische Maxime 'wes das herz vol ist, lauft der taunt uber' ffir sich selbst beanspruchen, doch lauert gleichzeitig in jedem Sprechakt die Gefahr, auf die Goethe aufmerksam machte, als er einmal schrieb: "Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren". 4s Gretchen ihrerseits leuchtet die verffihrerischsubversive Potentialitrit miJndlicher Beredsamkeit erst viel zu sprit ein, nrimlich in der Kerkerszene. Daraus erklfirt sich ihre ahnungsvoll-tadelnde Einsicht: "Warum wird mir an deinem Hals so bang,/Wenn sonst von deinen Worten, deinen Blicken/Ein ganzer Himmel mich ~iberdrang [?]" (V. 4487-89). Gretchens instinkthaftes Vertrauen in die Aufrichtigkeit bzw. Redlichkeit der faustischen "Blicke" beglaubigt eine zentrale These der physiognomischen Studien des Goethe-Mitarbeiters J.K. Lavater. Dieser war in seiner 1772 erschienenen Abhandlung Von der Phyiognomik (1772) davon ausgegangen, dab der Charakter des Menschen an seinem Augeren bzw. an seiner K6rper- und Gerbgrdensprache ablesbar sei. Nicht zufrillig also schaudert Gretchen vor dem "widrige[n] Gesicht" (V. 3475 [1167]) des Mephisto zurtick, vor seiner "Stirn" (V. 3489 [1181]), an der geschrieben steht, "dab er nicht mag eine Seele lieben" (V. 3490 [1182]). 46 Von Belang ffir die hier vorgelegte Diskussion ist nicht zuletzt die Beziehung zwischen Rhetorik und Metaphorik. Goethes dichtungstheoretische Aussage: "Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie: sie . . . migbraucht sie, um gewisse riul3ere. . . . augenblickliche Vorteile im btirgerlichen Leben zu erreichen", 47 trifft zum Tell auf Fausts Umgang mit Gretchen zu, Ungeachtet seiner lyrischen Ausbrfiche, u.a. im Intermezzo "Wald und H6hle", ist Faust kein dichtendes Genie. Er begibt sich auf keine heilige Mission zur 'Poetisierung der Welt' (Novalis), zur Ersch6pfung eines neuen Eden. Das zauberhafte Kauderwelsch der Hexenkfiche steht in ironischem Kontrast zum Vertrauen der Frfihromantiker in die magisch verwandelnde Potenz der Sprache. Es fNlt auf, dab Fausts stark metaphorisch ausgeprrigte Sprechweise ihm die Ausflucht aus dem oben umrissenen erkenntnistheoretischen Benennungs- und Bezeichnungsdilemma erm6glicht. Das heil3t also: sosehr das Wort - ganz buchstriblich - jeder Beschreibung spottet, sosehr es Begrifflichkeiten schwer ausdnlickt, es vermag ohnedies als dichterisches Vehikel das Urbildliche abzubilden; und gerade das Reden in Gleichnissen er6ffnet den Ausblick auf ein Sprachverstrindnis yon der kunsttheoretischen Richtung aus, das im zweiten Tell des Dramas evidenter wird, und zwar hinsichtlich der Goetheschen Auseinandersetzung mit der
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W e c h s e l w i r k u n g v o n Idee, Mythos, Wort u n d S y m b o l . 4s Hier ist aber nicht der Ort, G o e t h e s ~isthetisch-poetologische S p r a c h t h e o r i e n in die vorl i e g e n d e n D a r l e g u n g e n zu G o e t h e s m e t a p h y s i k s k e p t i s c h e r bzw. e r k e n n t niskritischer sowie gesellschaftsethischer Sprachschau einzugliedern. D e p a r t m e n t o f G e r m a n Studies The University o f Q u e e n s l a n d Brisbane, Qld, 4072, Australia
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Anmerkungen 1. Nach Fritz Mauthner, Beitr6ge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1 (Leipzig: Meiner, 1923) fbte Goethe eine Art "intuitive Sprachkritik" aus (S. 137). Mauthners Behauptung, Goethe sei immer ein Wortverachter gewesen (ebd.), scheint andererseits kaum haltbar zu sein. 2. Vgl. zur einschl~igigenFachliteratur in chronologischer Reihenfolge die Darstellungen von Ewald Boucke, Wort und Bedeutung in Goethes Sprache (Berlin: Felber, 1901); Hans Schweizer, Goethe und das Problem der Sprache (Bern: Francke, 1959); Achim Bonawitz, "Die Grenzen der sprachlichen Mitteilung bei Goethe (bis 1786)", Diss., Uni. Princeton, 1959; Walter Strolz, "Goethes versteckte Sprachphilosophie", Jahrbuch des F.D.H. (1981), 1-86; Louis Wiesmann, "Goethe und die Grenzen der Sprache", Muttersprache 92 (1982), 105-108; Heinz Endermann, "Einige Bemerkungen zu Goethes Ansichten fiber die Sprache", GoetheJahrbuch 100 (1983), 159-62; Hans-Detlef B~insch, Semiologische Paradoxien in Goethes Sprach- und Dichtungsversti~ndnis (Essen: Die blaue Eule, 1986); Josef Simon, "Goethes Sprachansicht", Jahrbuch des F.D.H. (1990), 1-27; Alan Corkhill, "Goethes Sprachdenken in beziehungsgeschichtlicher Hinsicht", Neophilologus 75 (1991), 239-51. 3. Vgl. zur Goetheschen Stellung zur intellektuellen Kontroverse, die Hamanns und Herders Sprachherkunftstheorien ausl6sten: Dichtung und Wahrheit II/10, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespriiche (= GA), hg. v. Ernst Beutler (ZUrichund Stuttgart: Artemis Verlag, 1948), Bd. 10, 445f. 4. Vgl. Ulrich Ricken, "Condillac: Sensualistische Sprachursprungshypothese, geschichtliches Menschen- und Gesellschaftsbild der Aufkl~imng",in: Theorien vom Ursprung der Sprache, hg. v. Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden, Bd. 1 (Berlin/New York: de Gruyter, 1989), 290. 5. Ebd. 301. 6. Maximen u. Reflexionen 983, GA, 9, 625. Zit. in: Simon 19. 7. Einschlagige Sonderstudien, die sich mit Teilaspekten der faustischen Sprachproblematik befassen, schlieSen u.a. ein: Rfdiger G6rner, "Vom Wort zur Tat in Goethes 'Faust' - Paradigmenwechsel oder Metamorphose?", Goethe-Jahrbuch 106 (1989), 119-132; Alwin Binder: "'Seiner Rede Zauberflul3'. Uneigentliches Sprechen und Gewalt als Gegenstand der 'Faust'-Szene 'Wald und H6hle' ", in ders., 211-229. Ffr eine wertvolle l)bersicht aller Zitate, denen Fausts bzw. Mephistos "Verachtung des Wortes" zu entnehmen sind, sei insbesondere auf Hans Arens, Kommentar zu Goethes Faust 1 (Heidelberg: Carl Winter, 1982), S. 79f hingewiesen. 8. S~imtlicheTextzitate beziehen sich auf Faust. Der Trago'die erster Teil, in: GA, 5, 153-288. Die in eckigen Klammern stehenden Verszeilen beziehen sich auf Urfaust (1775), in: GA, 5, 9-65. Wortlautunterschiede, falls vorhanden, sind jedoch nicht angegeben. 9. Dirk G6ttsche, Die Produktivitgit der Sprachkrise in der modernen Prose (Frankfurt/M: Athen~ium, 1987), S. 48.
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10. Siehe zur Goetheschen Bezugnahme auf Kant die umfassende Pionierstudie von Karl Vorlgnder, Kant, Schiller. Goethe (Leipzig: Verlag der Diirr'schen Buchhandlung, 1907); und zur Faust-Dichtung selbst: G6za yon Molnar, "Conceptual Affinities between Kant's 'Critique of Judgment' and Goethe's 'Faust' ", Lessing Yearbook 14 (1982), 23-41. Letztere Studie ist ftir die vorliegende sprachphilosophische Diskussion yon keiner direkten Relevanz. 11. Dichtung und Wahrheit, IV/16, GA, 10, 733. Vgl den unmittelbar yon Kant beeinflul3ten Glauben Schillers an die Unvereinbarkeit yon Sprache und Erkenntnis. 12. Der K6nigsberger Philosoph hat sich erstaunlicherweise nur in einem wenig ergiebigen 16seitigen Aufsatz zum Thema Sprache ge~iugert, wohingegen es nicht an Versuchen gefehlt hat, seine Kritik der Vernunft durch eine Kritik der Sprache zu erg~inzen; vgl. hierzu u . a . C . L . Reinhold (1758-1823). 13. Maximen u. Reflexionen aus Wilhelm Meisters Wanderjahren 102, GA, 9, 579. 14. Paralipomenon 84, in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, hg. i. Auftrag der Grol3herzogin Sophie yon Sachsen, Abt. 2, Bd. 5.2 (Weimar: B6hlau, 1887), 298. 15. "Schlul3betrachtung tiber Sprache und Terminologie", Schriften zur Farbenlehre, GA~ !6, 203. 16. "Verwahrung", Divan. Noten u. Abhandlungen, GA, 3, 479. Im Sinne Rousseaus identifiziert Goethe daher die Entstellungs- und Verstellungseigenschaften der Redekunst mit dem Verfall des nattirlichen Charakters der Sprache. Vgl. zur rousseauischen Entrhetorisierungstendenz die Darlegungen yon Ursula Geitner, Die Sprache der VerstelIung, Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert (Ttibingen: Niemeyer, 1992), S. 209ff (= Studien zur europ~iischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 1). 17. Den geistesgeschichtlichen Bezug zu Locke hat u.a. Arens (S. 206) nahegelegt, wobei hinzuzufilgen w~ire, dab Locke in der obengenannten Abhandlung Sprechen ohne Denken als eine "papageienmSgige" Nachahmung der Sprache selbst verwaff. 18. Arens (S. 207) erkennt im letztzitierten Satz eine Anspielung auf die Buchstabengl~iubigkeit des Judentums. 19. Maximen u. Reflexionen aus den Hefien zur Naturwissenschaft, GA, 9, 551; meine Hervorhebung. Zur Goethes Vorstellung eines wissenschaftlichen Aneignungsprozesses, der auf empirischer Erfahrbarkeit beruht, vgl. die Behauptung: "Der echte Schiller lemt aus dem Bekannten das Unbekarmte entwickeln" (Maximen u. Reflexionen aus Wilhelm Meisters Wanderjahren, 9, 580.). 20. Zit. in: Hans Gerhard Gr~f, Goethe iiber seine Dichtungen (Milnchen: Riitten & Leoning, 1968), S. 470. 21. "Symbolik", Schrifien zur Wissenschaftslehre, GA, 16, 855; meine Hervorhebung. 22. "Verhfiltnis zur Philosophie", Schriften zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, GA, 16, 193. 23. Vgl. Thomas Willard, "Rosicrucian Sign Lore and the Origin of Language", in: Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. 1, 146. 24. Johann G. Hamann: Siimtliche Werke, hg. v. Josef Nadler, Bd. 1 (Wien: Herder, 1949-1957), 91. Zit. in: Detlef Otto, "Vom Ursprung lesen: Johann Georg Hamanns Obersetzung der Herderschen 'Abhandlung tiber den Ursprung der Sprache' ", in: Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. 1,408. 25. Zit. in: Strolz, S. 20. 26. Vgl. den Hinweis von Osman Durrani: Faust and the Bible (Berne/Frankfurt/Las Vegas: Peter Lang, 1977), S. 61, auf Apg. 2, 4: "Und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an zu predigen in anderu Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen". Vgl. auch Mephistos Persiflierung in der Schiilerszene jeglicher verbalen Eingebung durch den "Heilig Geist" (V. 1963 [394]). 27. Johann G. Herder, Siimtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 7 (Hildesheim: Olms 1967 [1877-1913]), 356. 28. Arens (S. 147f) liefert einen perspektivenreichen Querschnitt der interpretatorischen Ans~itze hierzu. Interessant, wenn auch ziemlich weit hergeholt, ist die yon G6mer aufgestellte
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These einer Parallelitat zwischen der Reihenfolge Wort-Sinn-Kraft-Tat und den Entwicklungsstufen der Pflanzen: "Goethe nelmt zunachst den Samen, der den Sinn der Pflanze in sich birgt; er entfaltet sich wirkend und schaffend in Keimen der Blatter, bewirkt durch eine Kraft, die sowohl im Lehrgedicht ["Metamorphose der Pflanzen"] wie auch in der Logosszene einen zentralen Platz einnimmt. Als die Tat der Pflanzen versteht er dann ihr Wachsen, teleologisch gerichtet auf Vervollkommnung" (S. 126). 29. Goethe an den Sprachforscher Riemer am 30. Juni 1813, GA, 19, 705; meine Hervorhebung. 30. DaB einige Kommentatoren hier unter dem Begriff "Tat" das actio-Wort "Handlungs(fahigkeit)" verstehen (etwa G6rner, S. 125), oder ihr eine wertgeladene bzw. ethische Dimension zuschreiben (u.a. Bansch, S. 86), scheint mir kaum berechtigt. Faust ist immer noch nicht der zum verantwortungsbewul3ten Handeln aufgerufene Tatmensch des zweiten Teils. 31. Vgl. die mephistophelische Stellungnahme zur Einmaleins-Zauberformel in der Hexenkiiche: "GewOhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte h 6 r t , / E s miisse sich dabei doch auch was denken lassen" (V. 2565-6). 32. Siehe Anm. 21; meine Hervorhebung. 33. Zum uralten Unsagbarkeitstopos siehe Werner Keller, Faust eine Trag6die (1809), in: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer (Stuttgart: Reclam, 1980), S. 273f: "Auch Origenes und Gregor von Nyssa wul3ten, dab das endliche Wort des Menschen die Unendlichkeit Gottes nicht ausdrOcken kann . . . . Die alte Einsicht, Gott sei unaussprechlich, nimmt Faust auf, doch ist er yon einer neuen mehr angetan: Individuum est ineffabile das 'innere Universum' des (grol3en) Menschen ist sprachlich nicht auszusch6pfen". 34. Bansch, S. 91. 35. Siimtliche Gedichte, GA, 1, 196. Durrani (S. 105) zieht Herders Gedicht "Gott" zum literarischen Vergleich an, wo es in den Anfangsversen lautet: "Wie nenn' ich dich, du Unnennbarer? du/Der Wesen Quell und Ende seiner Selbst". 36. B~insch (S. 212) bringt den Zweizeiler "Name ist Schall und Rauch,/Umnebelnd Himmelsglut" in Zusammenhang mit Mephistos Klage im Fiinften Akt des Faust H: "Und das verfluchte Bim-Baum-Bimmel,/Umnebelnd heitern AbendhimmelJMischt sich in jegliches Begebnis/Vom ersten Bad bis zum Begrabnis,/Als ware zwischen Bim and Baum/Das Leben ein verschollner Traum: (V. 11263-11268). Es ist gut m6glich, dab Goethe mit "Schall und Rauch" das Wandlungslauten und den Weihrauchnebel der ihm verhaBten katholischen Mel31iturgie meinte. 37. G6rner, S. 129. Vgl. in diesem Zusammenhang die wenn auch zutreffende, so doch etwas l~issige Behauptung des jungen Goethe: "Wenn man von Dingen spricht, die niemand begreift, so ist's einerlei, was fi~r Worte man braucht". Briefe des Pastors (1773), GA, 4, 129. 38. Brief an Riemer (2.8.1807), GA, 22, 470. Zit. in: Strolz, S. 61. 39. Faust kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, daB sein "Manneswort" (V. 1717), d.h. sein verbales Versprechen, die Bedingungen des Teufelspakts zu erfiillen, keine Geltung besitzt. Vgl. dazu Goethes Annahme, das Geschriebene habe im Gegensatz zum gesprochenen Wort "den Vorteil, dab es dauert und die Zeit abwarten kann" ("13ber Literatur und Leben", Maximen u. Reflexionen 891, GA, 9, 616.). Der Goethesche Beitrag zur Schriftkritik in der Nachfolge Rousseaus verdient, so scheint mir, eine Studie fiir sich. Siehe zum damaligen Verschriftlichungsdiskurs die Ausfiihrungen von Geitner, S. 258ff. 40. Vgl. das Werther-Zitat" " . . . wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht h6rt, mit denen sie sich ausdrOckte" (Werther. Erste Fassung, GA, 4, 284). 41. In den faustischen Deklamationen der Gretchen-Episoden artikuliert sich die Paradoxie von hoher Liebe und sexueller Begierde, was Mephisto mit einem Seitenhieb auf Fausts Zwei-Seelen-Natur ("Du ~bersinnlicher, sinnlicher Freier" (V. 3534 [1226])) verspottend klarmacht. 42. Simon, S. 20. Siehe auch Binder, der die adamitische "Ursprache der Liebe" vor -
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dem Siindenfall als Gegenmodell zur "listigen" Beredsamkeit Fausts aufstellt (S. 224ff). Binders These, die faustische Sprache sei "ununterbrochene Gewalt" und lasse "ffir Liebe und Humanit~it" keinen Raum (S. 225), erscheint aber durchaus iibertrieben. 43. "Natur. Naturwissenschaft", Maximen u. Reflexionen, GA, 9, 662. 44. Vgl. die Aussage des Mephisto in Faust H: "Einbl~tsereien sind des Teufels Redekunst" (V. 6400). 45. "Epigrammatisch", Siimtliehe Gedichte, GA, 1,456. Zit. in: Strolz, S. 64. 46. Siehe Kurt Hohoff, Johann Wolfang von Goethe. Dichtung und Leben (Miinchen: Langen Mraller, 1989), S. 268f: "Lavaters Schliisse vom Aussehen des Gesichts auf den Geist des Menschen gingen von den weichen Teilen des Kopfes und dem Blick des Auges aus". Vgl. auch den Weft, den Faust auf physiognomisch-intuitive Eind~cke in seiner Beziehung zu Gretchen legt: "Ein Blick yon dir, ein Wort mehr unterhalt,/Als alle Weisheit dieser Welt" (V. 3079-3080 [931-32]); ferner: die Wirksamkeit einer k6rpersprachlichen Geste: LaB diesen H~ndedruck dir sagen,/Was unaussprechlich ist" (V. 3190-91 [ 1038-39]). 47. Maximen u. Reflexionen aus Wilhelm Meisters Wanderjahren, GA, 9, 565. Simons Annahme einer Goetheschen Identifikation von Rhetorik und sprachlicher Dekadenz im Sinne Nietzsches (20, Anm. 53) muB in Ermangelung ausreichender Belege rein spekulativ bleiben. 48. Vgl. u.a. Manfred Jurgensen, Symbol als ldee. Studien zu Goethes Asthetik (Bem/Miinchen: Francke, 1968), S. 102ft.