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Originalarbeit: Analyse und Evaluation akuter Verletzungen im professionellen Bühnentanz unter besonderer Berücksichtigung präventiver Aspekte
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Abteilung Tanzmedizin, Institut für Arbeitsmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main 3 Abteilung Prävention, Unfallkasse Berlin 2
Analyse und Evaluation akuter Verletzungen im professionellen Bühnentanz unter besonderer Berücksichtigung präventiver Aspekte Eileen M. Wanke1, 2, Helmgard Mill3, Michael Arendt3, David A. Groneberg2, 1 E. M. Wanke, H. Mill, M. Arendt, D. A. Groneberg: Analyse und Evaluation akuter Verletzungen im professionellen Bühnentanz unter besonderer Berücksichtigung präventiver Aspekte. Zbl Arbeitsmed 62 (2012) 166–172 Schlüsselwörter: Arbeitsunfälle – Bühnentanz – Prävention Zusammenfassung Einleitung: Professionelle Tänzerinnen und Tänzer sind die Hochleistungssportler innerhalb der darstellenden Kunst. Im Rahmen der Berufsausübung entstehen akute Verletzungen und/oder chronische Überlastungsschäden. Bereits minimale körperliche „Defizite“ führen zu Einschränkungen in der Berufsausübung bzw. zu einer Arbeits- oder gar Berufsunfähigkeit. Daher kommt der Prävention und Therapie von Verletzungen eine große Bedeutung zu. Für die Umsetzung gezielter Maßnahmen, sind Kenntnisse über arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren, die zu akuten Verletzungen führen, unerlässlich. Ziel der Studie ist die differenzierte Darstellung genannter Aspekte im spezifischen Arbeitsumfeld. Methoden: Grundlage für die Auswertung bilden die Durchgangsberichte, Unfalldokumentationsbögen der Theater, sowie Fallakten der Unfallkasse Berlin (UKB) aller staatlichen Bühnen (n = 1099, m: 569, w: 530) über 11 Jahre. Die statistische Auswertung erfolgte mit SPSS, Version 18 und Excel 2007. Ergebnisse: Die untere Extremität ist die am häufigsten betroffene Lokalisation (m: 61,8%; w: 69,9%) und Distorsionen (m: 61,8%; w: 69,9%) und Zerrungen (m: 23,8%, w: 25,9%) häufigste Verletzungsarten bei beiden Geschlechtern. Häufungen finden sich im letzten Quartal (31,2%) und in den ersten vier Jahren nach Anstellung (51,8%). Es lassen sich präventiv bedeutsame exogene und endogene Faktoren als Ursachen für Entstehung von Arbeitsunfällen definieren. Es werden geschlechtsspezifische Unterschiede beobachtet. Diskussion: Es können bedeutsame arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren im professionellen Bühnentanz dargestellt werden. Daraus ergeben sich Hinweise für präventive Maßnahmen unter Berücksichtigung des Geschlechts. Praktikable präventive Maßnahmen sind komplex und eine Umsetzung ist letztlich nur durch die Zusammenarbeit aller im Bereich des Tanzes tätigen Berufsgruppen möglich.
Analysis and evaluation of work accidents in professional dance with preventative implications E. M. Wanke, H. Mill, M. Arendt, D. A. Groneberg: Analysis and evaluation of work accidents in professional dance with preventative implications. Zbl Arbeitsmed 62 (2012) 166–172 Key words: occupational accidents – professional dance – prevention Abstract Introduction: Professional dancers are the top athletes among performing artists. As a result of this stress acute injuries and/ or chronic afflictions frequently occur. Even minor physical ‘deficits’ may result in severe limitations to work and lead to a temporary or even permanent occupational disability. Therefore, the prevention of injuries is of great significance. To be able to initiate adequate and practicable preventive measures, it is decisive to increase the knowledge on health hazards in professional dance. Aim of this study is to precisely specify occupational accidents Methods: Basis for the evaluation are accident reports (DAB, F1000) of six Berlin theatres of the Berlin State Accident Insurance (UKB) as well as case records of all Berlin State Theatres over a period of 11 years (n=1099, m: 569, w: 530). Evaluation and descriptive statistics were conducted by with Excel 2007 and PASW Statistics 18. Results: The lower extremity is the most affected region (m: 61.8%; w: 69.9%) whereas distortions (m: 25.9%, w: 27.2%) and muscular strains (m: 23.8%, w: 25.9%) are the most frequent types of injuries in either sex. There
Kontaktadresse: Dr. med. Eileen M. Wanke Abteilung Tanzmedizin ■ Institut für Arbeitsmedizin ■ Charité – Universitätsmedizin Berlin Thielallee 69 ■ 14195 Berlin Tel: 030–450529552 ■ Fax: 030–450529952 ■ E-Mail:
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is an increase of occupational accidents in the final quarter (31.2%) and in the first four years after initial employment (51.8%). Exogenous and endogenous factors can be defined as causes for occupational accidents. Discussion: There are numerous aspects as to acute injuries that allow initial steps toward a preventative approach with the necessary gender-specific consideration. Diverse significant occupational hazards may be presented in professional dance. Practicable preventive measures are only possible by the cooperation of all professional groups in dance.
1. Einleitung Der Beruf des/der professionellen Bühnentänzers/in ist mit über viele Jahre einwirkenden hohen physischen Belastungen verbunden (Wyon et al. 2004; Breuer 2004; Wyon et al. 2007). Die Basis im Tanz wird durch die technischen Fertigkeiten des Körpers gebildet. Sie werden im Rahmen einer jahrelangen, täglich mehrstündigen, Trainingsund Probenarbeit erworben, erhalten und ausgebaut (Wanke et al. 1999). Den Arbeitsprozess erleichternde Arbeitsmittel gibt es kaum. Wichtigstes und fast einziges Arbeitsmittel und Kapital der Karriere ist der gesamte Körper des Tänzers selbst (Wanke 2009). Die Bewegungselemente liegen – obgleich für den Tanz im Normbereich und Mindestvoraussetzung für eine erfolgreiche Berufstätigkeit – oftmals weit jenseits von Alltagsbewegungen. Da grundsätzlich eine Berufsausübung nur mit einem insgesamt funktionsfähigen Organismus möglich ist, führen bereits minimale körperliche „Defizite“, die im Tanz nicht kompensiert werden können, zu Einschränkungen der Berufsausübung oder sogar zu einer Arbeits- oder gar Berufsunfähigkeit. Wie in nahezu keinem anderen Beruf steht einer begrenzten Zeit der Berufsausübung, die in der Regel spätestens vor dem vierzigsten Lebensjahr endet, eine sehr lange, rein monospezifische, Ausbildungszeit gegenüber. Erschwerend wirken dabei die sich verschärfende Situation auf dem Arbeitsmarkt, die sich vor allem durch einen Rückgang der nationalen Tänzer/innenstellen um mehr als ein Viertel in den letzten 10 Jahren sowie eine rasant steigende Arbeitsbelastung auszeichnet (Wanke & Mill 2006; Greben 2002). Aufgrund der oben genannten Aspekte kommt der Prävention von Verletzungen eine maximale Bedeutung zu (Kelman 2000). Diese setzt das Wissen um die spezielle Arbeitssituation, arbeits-
bedingte Gesundheitsgefahren sowie Ergebnisse zudem Referenzcharakter. Entstehungsmechanismen für akute Ver- Aufgrund der Tendenz im professionelletzungen (Arbeitsunfälle) voraus. len Tanz, Verletzungen/Schäden zu baEs finden sich zahlreiche Publikatio- gatellisieren, ist nicht auszuschließen, nen zur Verletzungsproblematik im Tanz dass nicht alle Unfälle gemeldet worden (Zentek 1981; Denton 1997; Macintyre sind und die tatsächliche Anzahl daher & Joy 2000; Drees 2000; Byhring & Bo höher liegt. Da aber selbst leichte Verlet2002; Fuchs et al. 2003, Campoy et al. zungen zu Auswirkungen in der Berufs2011). Es fehlen jedoch Studien zu aku- ausübung führen, ist davon auszugehen, ten Verletzungen, die sich im Rahmen dass die Anzahl gering ist und nur leichder Berufsausübung als Arbeitsunfälle te Verletzungen, die keine Einschränkung ereignen. Ziel dieser Studie ist daher die der Berufsausübung nach sich zogen, differenzierte Darstellung der akuten betrifft. Somit werden die vorliegenden Verletzungen im professionellen Büh- Ergebnisse nicht verfälscht. Weiterhin nentanz. Von besonderem Interesse ist werden die Ergebnisse nicht durch die dabei die Definition arbeitsbedingter subjektive Einschätzung der Befragten Gesundheitsgefahren, wie beispielswei- beeinflusst, wie es in einer klassischen se Arbeitsinhalte, Arbeitsorte, Tätigkei- Fragebogenstudie der Fall sein kann. ten, Bewegungen oder zeitliche Parameter, aus denen sich Konsequenzen für ein 3. Ergebnisse optimiertes präventives Vorgehen zieJeder 2. Tänzer/in (0,52/Saison) verhen lassen. letzt sich im Verlauf der Saison mindestens einmal im Rahmen eines Arbeits2. Methodik unfalls akut. 37,2% (m: 36,6%, w: 38%) Grundlage für die Auswertung bilden stellen die Arbeit sofort ein, 56,5% (m: die standardisierten Durchgangsberich- 56,9, w: 56,0%) arbeiten (zunächst) te (F1000 bzw. DAB) und die Unfall- weiter. Bei den übrigen 6,3% (m: 6,5%, dokumentationsbögen aller Bühnen w: 6,0%) fehlt diese Angabe. 39,8% (m: (n = 6) mit angestellten Tänzer/innen 31,5%, w: 35,7%) der Verletzten sind (n = 1099, m: n = 569, w: n = 530). Aus- länger als 3 Tage arbeitsunfähig. 9,6% gewertet wurden alle als Arbeitsunfall der Fälle werden nach der tanzunspezigemeldeten akuten Verletzungen. Alle fischen Einteilung des UnfallversicheMeldungen zogen eine ärztliche Be- rungsträgers als „schwer“ eingestuft. handlung mit entsprechender standardisierter Dokumentation nach sich. Die Lokalisation Auswertung und deskriptive Statistik Abbildung 1 zeigt die nach Regionen erfolgte anonymisiert und nicht mehr differenzierten Verletzungslokalisationen. personenbezogen mit SPSS, Version 18 Das Sprunggelenk (24,7%, m: 20,9%; sowie Excel 2007. Vorwiegend erfolgte w: 28,9%), das Kniegelenk (14,2%, m: die Auswertung in Form von Häufig- 14,2%; w: 14,2%) und der Fußbereich keitsanalysen. Einschränkungen: Der (12,4%; m: 11,2%, w: 13,6%) stellen die Tanz in Berlin nimmt aufgrund der An- häufigsten Verletzungslokalisationen im häufung von Daten wegen der Anzahl Bühnentanz mit deutlichen geschlechtsder angestellten Tänzer eine Ausnahme- spezifischen Unterschieden dar. Die stellung ein, die nicht nur auf Deutsch- Wirbelsäule ist bei den Tänzern im Verland begrenzt ist, sondern auch den gleich zu den Tänzerinnen nahezu dopinternationalen Raum mit einschließt. pelt so häufig betroffen (HWS: m: 4,6%, Aufgrund der Datenfülle haben die w: 6,0%; BWS: m: 2,6%, w: 0%; LWS:
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Nur jede/r 10. Tänzer/in (9,2%) verletzt sich im Rahmen des täglichen Trainings, 40,2% der Tänzer/innen während der Proben, 45,8% während einer laufenden Vorstellung sowie 4,7% bei anderen Gelegenheiten (z. B. Raumwechsel, Gastspiele, Wege). Abbildung 2 zeigt die Zeitspanne zwischen dem Beginn des Arbeitsverhältnisses und dem Unfallereignis. Je jünger das Arbeitsverhältnis ist, desto größer ist die Gefahr, einen Unfall zu erleiden.
70,0 69,9
61,8 60,0 m
w
50,0 40,0 % 30,0 20,0
16,7
13,2 9,8
10,0
8,4
9,1
11,2
0,0 Wirbelsäule
Kopf/Stamm
Obere Extremität
Untere Extremität
Abbildung 1: Lokalisation der Verletzungen im Bühnentanz (n = 1099)
m: 9,5%, w: 3,8%). Bei den Tänzern ist die rechte Körperseite (Extremitäten) häufiger verletzt (m: 42,9%, w: 39,0%), bei den Tänzerinnen ist es die Linke (m: 31,6%, w: 43,3%). In 25,5% (m) bzw. 17,5% (w) der Fälle sind nicht paarige Körperteile betroffen. Verletzte Struktur und Art der Verletzung: Gelenkstrukturen einschließlich des Bandapparates gehören zu den Anteilen, die am häufigsten verletzt werden, gefolgt von Muskelverletzungen und Knochenverletzungen. Es finden sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Verstauchungen (26,5%; m: 23,8%, w: 25,9%) und Zerrungen (24,8%, m: 23,8 %, w: 25,9%) sind die häufigsten Verletzungsarten bei beiden Geschlechtern. Es folgen Prellungen (17,2%, m: 17%, w: 17,4%). Bei den Tänzerinnen müssen Prellungen in 17,4% der Fälle genannt werden, die häufig als Folge von Hebungen (Greifen/Festhalten) vom Partner verursacht wurden. Rupturen (10,7%, m: 9,9%, w: 11,6%) und Frakturen sind deutlich seltener (5,2%, m: 4,4%, w: 6,2%).
Unfallzeitpunkt 31,2% der Unfälle ereignen sich im letzten Quartal des Jahres als Folge einer in der Regel vor Weihnachten relativ höheren Vorstellungsfrequenz in diesem Zeitraum, 30% im zweiten Quartal, also kurz vor Ende einer Saison. Der November ist der Monat mit den meisten Unfällen (12,8%), gefolgt vom Mai (10,4%), Oktober (10,3%) und April (10%). Im Tagesverlauf ereignen sich 64,6% aller Unfälle in den ersten 3 Stunden nach Arbeitsbeginn.
Unfallursache (Unfall auslösender Gegenstand) Zu den klar definierbaren „äußeren“ (exogenen) Unfall auslösenden Gegenständen im Bühnentanz gehören unter anderem der Tanzboden/Untergrund, das
18 16 16 14 11,9
12 11,9
12
%
10 7,7
8
6,9 5,4
6
3,8
4
3,6 2,8 1,5
2
2,2 2,1
2,7 1,6 1,5 1,4 1,5
1,8 0,9 0,8
0 1
Unfallort Mehr als die Hälfte aller Unfälle ereignen sich auf der Bühne (54,7%), gefolgt vom Ballettsaal (20,3%) sowie der Probebühne (17,6%).
Tätigkeit (Bewegungsinhalt) während des Unfalls: Bei allgemeinen Tanzbewegungen („Tanzen“ = tänzerische Schrittfolgen, sofern nicht anders erwähnt auch kleinere Sprünge am Platz) und beim „Drehen“ (explizit benannte Pirouetten) verletzen sich die Tänzerinnen häufiger, während sich dagegen vor allem bei großen Sprungbewegungen („Springen“ = explizit benannte Sprünge oder Sprungkombinationen, meistens „grand allegro“). Gleiches gilt für das „Heben“ (Abbildung 3a u. b, Abbildung 4).
3
5
7
9
11
13
15
Jahre seit Beschäftigungsbeginn
17
19
> 20 Jahre
Abbildung 2: Zeitspanne zwischen dem Beginn des Arbeitsverhältnisses und dem Zeitpunkt der ersten Verletzung (n = 1099)
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Abbildung 3a und 3b: Sprünge und Hebungen gehören zu den Bewegungselementen, die häufig zu Verletzungen führen. (Foto: Jörg Mannes)
Kostüm, der Mensch, Türe/Tore/Treppen, unspezifische Bewegungsabläufe sowie Requisiten und die Proben- und Vorstellungsplanung. Zu den „multifaktoriellen“ (= endogene) Unfallursachen, bei denen letztlich der auslösende Gegenstand nicht eindeutig benannt werden kann, werden unter anderem der Trainingszustand (individuelle körperliche Leistungsfähigkeit), der Ernährungs-
50 45 40 35 30 % 25 20 15 10 5 0
männlich 42,8 38,5 30,4 26,0 16,2 7,4 4,9
zustand, die Position innerhalb der ren sind der/die Tanzpartner/in, der Gruppe sowie die technischen Fertigkei- Tanzboden sowie die Requisiten am ten, die körperlichen Voraussetzungen häufigsten. oder die Vertragssituation und die psychische Belastbarkeit gezählt. Tabelle 1 Bewegung während des Unfalls: zeigt die Unfallursachen im professioAbbildung 5 stellt die Bewegung des/ nellen Bühnentanz. Dabei sind exogene der Verletzten während des UnfallereigUrsachen (51,5%) und ein multifak- nisses in der Gesamtdarstellung dar. Das torielles Geschehen (49,5%) nahezu so genannte „Umknicken“ (Supinationsgleichhäufig. Bei den exogenen Fakto- bewegung) im Sprunggelenk ist die am häufigsten zur Verletzungen führende Bewegung während des Unfallereignisses bei beiden Geschlechtern (m: 19,4%, w: 25,1%). Es folgen bei den Tänzerinweiblich nen das „Getroffen werden“ (10,6%) und das „Überdehnen“ (10,4%). Bei den Tänzern lassen sich vor allem ein „schlechtes Landen“ nach Sprüngen in 16,7% der Fälle und ein „Getroffen werden“ (11,1%) beobachten. 12,7
5,8 0,2 0,4
"tanzen" springen drehen schieben andere
0,9
1,2 1,1
0,5 0,6
heben beugen ziehen
1,6 0,4
3,5 3,2 0,7 0,9
keine tragen Angaben
stehen
Abbildung 4: Darstellung der Tätigkeit vor dem Unfallereignis im Bühnentanz (n = 1099)
4. Diskussion: Die ohnehin schon mit dem Tanz verbundene physische und psychische Schwerarbeit ist durch den explosiven Anstieg der Anforderungen im 20. Jahrhundert nochmals gestiegen (Rossol &
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Hinkamp 2001). Der in den letzten Jah- Tabelle 1: Verletzte Strukturen im professionellen Bühnentanz (n = 1099) ren zu beobachtende Abbau der TänzerVerletzte Struktur gesamt n (%) männlich n (%) weiblich n (%) stellen bei kaum oder gar nicht veränderKnochen 157 (14,3) 74 (6,0) 83 (15,7) ter Anzahl der Vorstellungen hat die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung Haut 53 (4,8) 34 (16,1) 19 (3,6) für eine weitaus geringere Anzahl von Bandapparat 214 (19,5) 92 (34,1) 122 (23,1) Tänzern noch weiter erhöht (Wanke Gelenke 391 (35,6) 197 (34,6) 194 (36,7) 2007, Wanke 2009). Und während sich die Verletzungshäufigkeit bei den übriMuskulatur 228 (20,7) 142 (24,9) 86 (16,3) gen Bühnenangestellten in den letzten andere 33 (3,0) 17 (3,0) 16 (3,0) Jahren konstant verhielt, stieg sie im Tanz deutlich an (Wanke 2006). Die ArSehne 23 (2,1) 14 (2,5) 9 (1,7) ten der akuten Verletzungen sowie die Gesamt 1099 570 529 Lokalisation deckt sich weitgehend mit den zumeist nicht geschlechtsspezifisch differenziert betrachteten Ergebnissen faktoriellen Einflusses (Rossol & Hin- Bewegungen, die jenseits der Alltagsder anderen Autoren (Goertzen et al. kamp 2001). Dabei ist nicht vollständig bewegungen liegen, auch kleinste endo1987; Scharff- Olson et al. 1996; Schon zu klären, welcher Einzelaspekt genau gene oder exogene Einflüsse, ohne dass & Weinfeld 1996; Nilsson et al. 2001; Unfall auslösend war, da der Bühnen- diese genau benannt werden können, zu Ahrend & Kerschbaumer 2003; Brown tanz eine chronische physische und maximalen negativen Auswirkungen & Micheli 2004; Kadel 2006). Es finden psychische Belastungssituation darstellt führen und auslösend im Sinne eines sich auffällige geschlechtsspezifische (Liederbach et al. 1994). Die tanzspezi- Arbeitsunfalls sein können, was den Häufungen hinsichtlich der Lokalisati- fischen Bewegungsmuster und Bewe- hohen Anteil eines multifaktoriellen Geon, der Tätigkeit und der Bewegung. gungsabläufe sind mit normalen Bewe- schehens erklären könnte (Wanke 2010). Hier sind einerseits die Hebungen und gungsabläufen des alltäglichen Lebens Dieses hat präventive Konsequenzen. andererseits die großen Sprungkom- nicht vergleichbar. Auch wenn Tänzer an Exogene Einflüsse sind offensichtlicher. binationen der Tänzer zu nennen, die ein bestimmte Bewegungselemente „ge- Sie können leichter gesehen und behohohes Maß an koordinativer und kardio- wöhnt“ sind, beinhalten die abgeforder- ben werden (z. B. glatter Boden, Unreinpulmonaler Leistungsfähigkeit erfor- ten Bewegungsabläufe dennoch – zu- heit, Faltenbildung, nicht ausreichend dern. Sie gehören zu den typischen mindest teilweise – das Bewegungssys- abgestimmte Partnerarbeit, nicht adäBewegungselementen der männlichen tem unphysiologisch belastende Anteile. quate(s) Kostüm(länge), Beleuchtung). Tänzer. Bei den Tänzerinnen sind dies Dies gilt sowohl für bekannte, als auch Die Ergebnisse bestätigen die große dagegen die Arbeit mit Spitzenschuhen choreografisch bedingte „neue“ Bewe- Bedeutung des Tanzbodens. Er ist als bei hoher Flexibilität des gesamten Kör- gungselemente. Hinzu kommt, dass bei zweithäufigster „äußerer“ Unfall auspers bei den Tänzerinnen (McCormack et al. 2004). Diese Aspekte spiegeln sich in den Ergebnissen wider. Die vermehrte geschlechtsspezifische Seitigkeit inner25,0 22,1 halb der Verletzungen lässt sich einerseits mit den zumeist seitenbetonten 20,0 choreografischen Anforderungen sowie mit der Bevorzugung einer Seite bei 15,0 12,8 12,6 Sprüngen oder Drehungen erklären, was 10,9 % 9,3 9,1 8,7 beide Geschlechter gleichermaßen be10,0 6,6 trifft. Es sind jedoch nicht ausschließlich die 5,0 2,6 3,4 1,1 Bewegungselemente, die zu Verletzun0,7 gen führen können. Vielmehr kommen 0,0 noch andere Einflüsse hinzu, die sich in exogene und endogene Faktoren einteilen lassen (Motta-Valencia 2006; Wanke 2007. Während sich die exogene Faktoren als äußere Unfall auslösende Gegenstände klar definieren lassen, er5: Darstellung der Bewegung des/der Verletzten während des Unfallereignisses im eignet sich eine Vielzahl von akuten Ver- Abbildung Bühnentanz (n = 1099) letzungen jedoch aufgrund eines multi-
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Tabelle 2: Darstellung des Unfall auslösenden Gegenstandes im Bühnentanz (n = 1099) Unfall auslösender Gegenstand
n
%
Kulisse
2
0,2
Kostüm
23
2,1
Mensch
200
18,2
Fussboden
137
12,5
83
7,6
Requisite Unreinheit
6
0,5
Treppe
26
2,4
Tür Tor Graben
11
1,0
Andere
32
2,9
Tanzunspezifische Bewegung
26
2,4
Multifaktoriell während des Trainings
87
7,9
Multifaktoriell während der Probe
257
23,4
Multifaktoriell während der Vorstellung
200
18,2
9
0,8
1099
100
keine Angabe Gesamt
lösenden Gegenstand zu nennen. Die be- es vor allem in Phasen von Ermüdung sondere Bedeutung ergibt sich, da er ne- (Ende des Trainings, der Saison, des ben dem Partner für den Tänzer oder die Tages) bei koordinativ und konditionell Tänzerin den einzigen Halt bei Bewe- anspruchsvollen Bewegungselementen gungsabläufen darstellt. Er dient dem aufgrund der frühzeitigen Ermüdung zu Tänzer als weiteres wichtiges Arbeits- Defiziten in Konzentration und Koormittel. Daher kommt einer optimalen dination und so zu Verletzungen Bodenbeschaffenheit eine große Bedeu- (Liederbach et al. 1994, Wanke 1999). tung zu. Auch kleine Defizite sind daher Somit beinhaltet eine erfolgreiche Präzu vermeiden. Zur Reduzierung multi- vention zahlreiche und vielfältige Anfaktorieller Einflüsse müssen dagegen – sätze (Goertzen 1987; Poggini et al. häufig umfassendere und sich von Ge- 1999; Wanke 2007). wohnheiten unterscheidende VerändeZwar werden 90% der Unfälle als rungen in Trainingsgestaltung (verbes- leicht oder mittelschwer eingestuft (Einserte Trainingsspezifität, Ausdauertrai- teilung Unfallkasse Berlin). Doch ist ning, Ausgleichstraining), Proben- oder immerhin jeder dritte Tänzer länger als Saisonplanung, eigener Lebensgestal- drei Tage arbeitsunfähig. Aufgrund der tung – einschließlich der Ernährung und besonderen Situation kann auch der des Trinkverhaltens, Pausengestaltung leichteste Unfall den Fortgang der Tanzsowie eine Akzeptanz körperlicher karriere gefährden. Somit kommt den Grenzen erfolgen, um das Auftreten von präventiven Maßnahmen eine große BeVerletzungen erfolgreich beeinflussen deutung zu. Voraussetzung für die Umzu können. Dies würde beispielsweise setzung präventiver Maßnahmen ist die auch ein durch diätetisches Verhalten er- Bereitschaft zur Zusammenarbeit aller reichtes körperliches Idealbild betref- im Bereich des Tanzes tätigen Berufsfen, das bei Tänzerinnen mit einer hohen gruppen. Dabei müssen sowohl geGelenkbeweglichkeit und einem nied- schlechtsspezifische und ggf. auch tanzrigen Körpergewicht einhergeht (Wiesler stilrichtungsabhängige Besonderheiten et al. 1996; Thomas et al. 2011). Bei berücksichtig werden. Die Untersuchungleichzeitig bestehender unzureichen- gen weisen auf die Notwendigkeit weider Grundlagenausdauerleistungsfähig- terer Analysen hin. Dabei sollten nekeit bei professionellen Tänzern kommt ben den exogenen Faktoren auch die
Tanzrichtungen innerhalb des professionellen Bühnentanzes Berücksichtigung finden. Danksagung: Mein Dank gilt Jörg Mannes und dem Ballett der Staatsoper Hannover für die freundliche Bereitstellung der Fotos. Literatur Ahrend YD, Kerschbaumer F (2003) Verletzungen und Überlastungserscheinungen im professionellen Ballett Z Orthop 141: 349–356. Breuer H-WM (2004) Leistungsphysiologische Kenngrößen professioneller Balletttänzer (Görlitzer Balettstudie). Dt Z Sportmed 10: 259–63. Brown TD, Micheli LJ (2004) Foot and ankle injuries in dance. Am J Orthop 33 (6): 303–9. Byhring S, Bo K (2002) Musculoskeletal injuries in the Norwegian National Ballet: a prospective cohort study. Scand J Med Sci Sports 12(6): 365–70. Campoy FA, Coelho LR, Bastos FN, Netto Júnior J, Vanderlei LC, Monteiro HL, Padovani CR, Pastre CM (2011) Investigation of risk factors and characteristics of dance injuries. Clin J Sport Med 21(6): 493–8. Denton J (1997). Overuse foot and ankle injuries in ballet. Clin Podiatr Med Surg. 14(3): 525–32. Drees P (2000) Verletzungen beim professionellen Balletttanz. Z Orthop 3: 2–6. Fuchs E, Hess H, Kunz M (2003) Injuries and chronic damages in classic ballet. Sportverletz Sportschaden. 17(3): 123–31. Goertzen M (1987) Verletzungen und Überlastungsschäden im klassischen Ballett, Unas Verlag, Aachen. Greben SE (2002). Career Transitions in Professional Dancers 1: 14–19. Kadel NJ (2006). Foot and ankle injuries in dance. Phys Med Rehabil Clin N Am 17(4): 813–26. Kelman BB (2000) Occupational hazards in female ballet dancers. Advocate for a forgotten population. AAOHN J 48(9): 430–4. Liederbach MJ, Gleim GW, Nicholas JA (1994) Physiologic and psychological measurements of performance stress and onset of injuries in professional ballet dancers. Med Probl Perform Art 9(2):10–4. Macintyre J, Joy E (2000). Foot and ankle injuries in dance. Clin Sports Med 19(2): 351–68. McCormack M, Briggs J, Hakim A, Grahame R (2004). Joint laxity and the benign joint hypermobility syndrome in student and professional ballet dancers. J Rheumatol 31(1): 173–8. Motta-Valencia K (2006) Dance-related injury. Phys Med Rehabil Clin N Am 17(3): 697–723. Nilsson C, Leanderson J, Wykman A, Strender LE (2001). The injury panorama in a Swedish professional ballet company. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 9(4): 242–6. Poggini L, Lossaso St, Iannone S (1999) Injuries during the Cancer’s Growth Spurt: Etiology, Prevention and Treatment. J dance Med & Science 2(3): 73–79. Rossol M, Hinkamp D (2001). Hazards in the theater. Occup Med 16(4): 595–608.
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Personalia
Institut für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin in Düsseldorf
PETER ANGERER NEUER LEITER wissenschaftlich am Institut und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, als leitender Oberarzt und stellvertretender Institutsdirektor bei Herrn Prof. Dr. med. Dennis Nowak. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte in Düsseldorf, wo die Arbeit der Münchener Zeit fortgesetzt wird, z.T. in Kooperation mit dem Münchener Institut, sind die Themenkomplexe „psychosoziale Belastungen bei der Arbeit“, „Führung“, „Schichtarbeit“ und „Lärm“, die Auswirkungen dieser Einflüsse auf die Gesundheit, insbesondere auf das kardiovaskuläre System, die berufsbezogene Psychokardiologie. Besonderes Interesse gilt Berufen im Gesundheitswesen (Ärzte, PflegeDas Institut für Arbeitsmedizin und kräften). Methodisch im Vordergrund Sozialmedizin, Medizinische Fakultät der steht die Entwicklung von gesundheitsHeinrich Heine Universität Düsseldorf, förderlich und präventiv ausgerichteten steht seit dem 01.10.2011 unter der Interventionen in unterschiedlichen SetLeitung von Herrn Prof. Dr. med. Peter tings, mit besonderem Schwerpunkt auf Angerer, der damit die Nachfolge von arbeitsbezogene Stressprävention, dem Frau Prof. Dr. med. Sieglinde Schwarze Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit Älteantritt, die das Institut über Jahre seit rer und der Minderung gesundheitlicher dem Ausscheiden von Frau Prof. Dr. Folgen von Arbeitslosigkeit. Der Beitrag med. Elisabeth Borsch-Galetke erfolg- der Arbeitsmedizin zur Gesundheitsförreich kommissarisch geführt hat. derung und zur medizinischen VersorPeter Angerer ist Arzt für Arbeits- gung der Bevölkerung, insbesondere die medizin, Umweltmedizin, Innere Medi- Rolle der Betriebsärzte, d.h. die arbeitszin und Kardiologie. Geboren in Nürn- medizinische Versorgungsforschung ist ein berg, aufgewachsen in Berlin, studierte neuer Entwicklungsschwerpunkt. er in Berlin, Heidelberg und München Die Medizinische Fakultät der HeinMedizin. Nach den ersten klinischen rich Heine Universität Düsseldorf hat Berufsjahren, 1984–1986 in Landshut die Bildung eines neuen Zentrums für (Labormedizin) und Augsburg (Innere Gesundheit und Gesellschaft, Centre for Medizin), war er von 1987–2011 am Health and Society, beschlossen, in dem Klinikum der Universität München die Institute für Arbeitsmedizin und Sotätig, zunächst in der Arbeitsmedizin zialmedizin, für Medizinische Soziolo(Facharzt 1990), ab 1991 in der kurati- gie (Prof. Dr. phil. Nico Dragano), für ven Medizin (Innere Medizin, Facharzt Allgemeinmedizin (Prof. Dr. med. Ste1996, und Kardiologie, Schwerpunkts- fan Wilm) und für Public Health (Prof. bezeichnung 2003). Seine Habilitation Dr. Dr. Andrea Icks) eng zusammenbehandelt ein Thema aus der Präven- arbeiten. Diese Kooperation stärkt die tiven Kardiologie. Er arbeitete kontinu- Bedeutung der Arbeitsmedizin für die ierlich von 2001 bis 2011 klinisch und Gesunderhaltung der Bevölkerung. ■