Uber familiare, vererbbare Dystr0phien der Gesichtsmuskulatur. Nach einem Vortrag, gehalten im ~rztlichen Verein zu Frankfurt a/M. am 3. April 1922. Von
Dr. Waither Riese. (Mit einem Stammbaum.) Die Dystrophia muscularis progressiva ist bekanntlich eine vorwiegend heredit/~re, famili/ire Erkrankung. In ihrem Erbgamg, dem Weitz 1) in einer jiingst erschienenen ausfiihrlichen Arbeit nachzugehen sucht~ erscheinen oft bestimmte Gesetzm~Bigkeiten. Zu diesen geh5rt die recht h~ufig zu konstatierende Erfahrungstatsache, da~ zwiscben den Erkrankungsformen der Geschwister grol]e _~]mlichkeit vorwalten kann. Abet auch zwischen den Erkrankungstypen der Aszendenten und Deszendenten kann weitgehende ~bereinstimmung: I-Iomologie, angctroffen werden. Insbesonderc habcn L a n d o u z y et D ~j 6 r in e 2), ])i e r r e M a r i e et G ui n o ha) bei der uns bier interessierenden Form der Dystrophic m i t B e t e i l i g u n g der G e s i c h t s m u s k u l a t u r homologe Heredit/~t nicht nur zwischen Geschwistern, sondern auch zwischen Aszendcnten und Deszendenten auf Grund eigener Untersuchungen festgestellt. Uns selbst gestattete ein glfmklicher Zufall, die gesamte iiberlebende Deszendenz einer muskeldystrophischen Familie vom Typ facio-scapulo-hum~ral ( L a n d o u z y - D ~ j ~ r i n e ) in ihren beiden Endverzweigungen kennen zu lernen und au[ diese Weise je zwei Gcncrationen, insgesamt 5 Erkrankte; persSnlich zu untersuchen, l~ber die hShere Aszendelm belehrten uns miindliche und schriftliche Auskiinlte von FamilienangehSrigen, Aufzeichmmgen in Kirchenbiichern, endlich alte Familienphotographien. Wir vermochten l) Deutsche Zeitschr. f. Ncrvenheilk. 1921, Bd. 72, Heft 3--4. 2) Revue de n:6d., Tome V. -- F6vrier 1885; Tome VI. -- D6cembre 1886. 3) Rev. de M6d., Tome VI, 1886.
l~ber familiiire, vererbbare Dystrophien der Gesiehtsmuskulatur.
215
alff diesem Wege fiber die erkrankten Familienmitglieder folgendes zu ermitteln: Friedrich Wilhelm Ferdinand Stei~ike, gestorben 1843 im Alter von 41 .lat~ren, angeblich art ,,Riickenmarkszehrung". Er sei 5fters hingefallen, so (Iag man itml, wenn er ausging, Gesellen naehschiekte zur ctwaigen Hilfeleistung. Versehlossen, hcrriseh, streng. Karl Max Steinike, geboren 1831, gestorbcn 1892 an Lungenleiden, 61j~ihrig, war sehmal unit konnte nicht gut gehen. Auf einer vorziigliehen Photogra.phie aus dem Jahre 1892, kurz vor dcm Tode, zeigt er das t y p i s c he Gesieht der Steinikcs: spitze Nase, hohle W a n g e n , a b s t e h e n d e Ohren, g l a t t e Stirn. Es k 6 n n t e eine P h o t o g r a p h i e seines Ncffen B a p t i s t e S e h l o t t c r b e c k sein. 5teinike
f/elalsHauptmann bt,Jeneu#d,4uer.f26df
I
a~
Z~ ~
_
g3 9
Fr.Wilh. Ferd.$teinike ~
Bor#srogeJJz~n
4
8
5
6
7
9
1
2 ~
Mar, a Maria fli~. Maria Johann. " - Karl ferdi, cfd#m/?erbe~%JAmalle Marga: bQTh Fran. Bap. jos@r Metd ~" I ~be~:lom n~te Rosina ziska tist i Max nand
l
~,[l~/'ia
Abzehrung
I _l..,#,eunehel..
1 3 4 5 CO 2 9 Kind _J~#~jJohanna(Mis~.t ein ein ein Johann,,.~Jo,##nn# ~, J/um#/, Mofhilde~faIl/Kind I~ind I'(ind Baptist ,#e:.7?#~zP~'~e IF
II
.-
9
,~
-i- i- +
2delt m den
_ ~n iun~en- e P b ? t ~ _ entidnd. ZebenWg
9 Theodora J o s e f "
5tumpf 6tumpt
rMathilde I=li~beth~ N'hlotterb~k Schlotterbeck
JGseph Steinike: Starb etwa als ein Vierziger in den 80er Jahren, soil schon als junger Mensch ,,gichtkrank" gewesen un4 an Kriicken gbgangen sein. Aber sein Gang soll dem seines schwer 4ystrophischen Neffen Baptiste Schlott.erbeck ungemcin iihnlich gewesen sein. Matin Amalie Theodore Schlotterbeck geb. Steinike, geboren 1839, gestorben 1895 angeblich an ,,Zehrung": Hat alff einer alten verblichenen Familicnphotographie deutlich w u l s t i g e L i p p c n , abstehencle Ohren. Sic habe sich angeblich nie die Bluse zumachen k6nnen, hiitte m i t n i c h t ganz g e s c h l o s s c n e n A u g e n g e s c h ! a f e n und um den Mund herum d i e s e l b e n Ziige g e h a b t , wlc alle k r a n k e n S t e i n i k e s . Die nun folgenden erkrankten Mitglicder 4er Familie sin4 mehrmals, persSnlich untcrsucht worden. Allc habcn die t y p i s c h e F a c i e s
216
Rinse.
m y o p a t h i c a . Dadurch kommt ein/hlBerst charakteristischer Familientyp zustande, dessen wesentliche Kennzeichcn sind: g l a t t e , f a l t e n l o s e Stirn, lunge, schmale, spitze Nase, wulstige, aufgeworfene Lippen, a b s t e h e n d e Ohren, s t a r k e l I o h l w a n g i g k e i t , m o n o t o n e Mimik um den Mund. Alle leiden, wenn auch in vcrschieden starkem Grade, an einer Unvollst{~ndigkeit des Lidschlusses, alle hubert eine I n s u f f i z i e n z der Augcnmuskeln. Fernerfindetsichbeidergesamten kranken Deszendcnz eine sehr charaktetistische seelische Grundstimmung, die etwa sich kennzeichnen liil]t als ernstes, zuriickhaltendes, scheucs, wortkarges Wesen; dabei sind es h6chst anst/~ndige, arbeitsame Menschen yon starkem pers6nlichen Verantwortungsgefiihl. Mittlcrer Biirgeistand. Theodore Stumpf und Joseph Stumpf haben starke kfinstlerische Interessen. Im besonderen ergibt die Untersuchung bei den einzelnen noch folgendes: Mathilde Stumpf, geborene Schlotterbeck, geboren 27. X. 1876: Von K n o b l a u c h im Jahre 1906 bereits untersucht. K. konstatierte nur: ,,Angeborene funktionelle Schw/iche" der Gesichtsmuskulatur, ohne sich zur Annahme einer pro~'e~ssiven Muskclatrophie entschliel~en zu k6nnen. Tatsache ist, dab die Patientin schon als junges M/~dchen beim W/ischeaufh/ingen und bcim Hutaufsetzcn mit dem rechten Arm nieht so hochkam ~ie mit dem linken. Schon mit etwa 6 Jahren hatte sic Schwierigkeiten beim Biicken und Heben; Treppensteigen war immcr nur mit groBen Anstrengungen mSglich. Heute ist der LidschluB rechts unvollkommener und k r a f t l o s e r als links. Bei Blick nach oben wird die Stirn nur in wenige borizontale F a l t e n gelegt. Senkrechtes S t i r n r u n z e l n geht besser. Bei Konvergenz versagt der r e c h t e I n t e r n u s . Yerziehen des Mundes nach beiden Seiten ist wohl mSglich, aber wenig ausgiebig. Keine Beeintr~ichtigung der Kau- und Schluckmuskulatur, Gaumensegel wird gerade gehoben. Typische Facies m y o p a t h i c a . Sichtbare Atrophien am Brustkorb und an den Oberarmen, insbesondere Triceps, :Pectorales, Rhomboidei, Supra, Infraspinatus, Trapezius, Deltoidei. Scapulae alatae, und zwar rechts ausgeprggter als links. H:~indedrueklinks besser als rechts. An entsprechender Stelle gemessen: Rechter Oberarm 23,5 cm Linker Oberarm 23,0 ,, Rechter Unterarm 18,5 ,, Linker Unterarm 18,5 ,, Aktive Hebung tier Arme nach den Seiten nicht einmal bis zur Horizontalen m6glich. Im iibrigen sind die Bewegungen des gestreckten Armes nach allen Richtungen links ausgiebiger und kraftvoller als rechts. H~nde lang und schmal, Interossei kaum sichtbar. Alle Bewegungen im Gebiet tier Arm- und Handmuskulatur links mit mehr Kraft als rechts. Adduktion des gestreckten Beines ist rechts bezser, im Gegensatz zur Abduktion, die links kraftvoller ausf~llt. Bei Heben und Senken des gestrevkten Beines scheint ]inks mehr Kraft aufgewandt werden zu kSnnen.
Uber faraili~re, vererbbare Dystrophien der Gesiehtsmuskulatur. 217 Auch die an slch sehr rag$ige Beugung im Kniegelenk ist links etwas besser, vor allera aber wird der Unterschenkel ira Kniegelenk links rait wesentlich besserer K~aft ~sCreekt als reehts. Auch Plantar- und Dorsalflexion des Fuf~es gelingt links besser. Auf beiden Seiten ist n u r d e r raittlere Bauchdeekenreflex auslSsbar. Gate Bauchpresse. Kniesehnenreflexe links etwas lebhafter als rechts. Die Achillessehnenreflexe haben einen ausgesprochen tr~gen Charakter. Trizepssehnenreflexe sine[ nicht auszulSsen. An Itiifte und Obersehenkel Pseudohypertrophien. Johann Baptiste Schlotterbeck, geboren ant 13. XI. 1872, wurde ebenfalls yon K n o b l a u e h 1906 untersucht, und der damalige Zustand in seinera Lehrbuch ausfiihrlieh dargestel!t. ])as Leiden begann bei ihm rait 9.1 3ahren, aber er schlief schon als Kind rait nichtgeschlossenen Augen. tteutiger Zustand: Selten schwere Form yon Muskeldystrophie. Der Kranke geht m i t bewun4erungswiirdiger Ansdauer un4 unter enorraer Kraftaufbietung seinera Berufe nach, f~h~t t~igtich yon seinera Vorolt in die Stadt, rauB in Stral~enbahnen, auf Treppen usw. getragen werden. T y p i s c h e Facies rayopathica. S t i r n r u n z e l n n u t in Forra einiger weniger senkrechter F a l t e n m6glich. Schwgehe beider E x t e r n i und I n t e r n i , besonders des l i n k e n , bei der Konvergenz. Fibrillgre Unruhe der herausgestreekten Zunge. t t d c h s t unvollkoraraener, k r a f t l o s e r LidschluB: ein breites Stiick, etwa ein D r i t t e l der Sclera bleibt sichtbar. Seitliches Verziehen der Mundwinkel n a c h links ausgiebiger als nach rechts. Mundspitzen, Pfeifen, Backen aufblasen k a n n er ebensowenig wie ulle iibrigen E r k r a n k t e n , dagegen kann der Unterkiefer vor den Oberkiefer geschoben werden, andeutungsweise kann er aueh die Zghne zeigen. Starke Lordose, sackartig vorfallendes Abdomen, Scapu!ae alatae, sichtbare schwere Atrophien an der Muskulatur der Oberarrae, Schultergiirtel und OberschenkeL Kopfneigungen etwas beeintr~ichtigt. Der rechte Brustkorb arbeitet bei Aterabewegungen ausgiebiger als der linke. Der reehte Arm kann aktiv nach vorn und nach den Seiten his fiber die HorizontMe, der linke nicht his zur Horizontalen gehoben werden. Das Strecken der Arrae nach hinten und der Versuch, sie auf dera Riicken zu verschr~inken, miBlingt: die Arrae kSnnen nut nach hinten geschleudert werden. Uberhaupt helfen bei, allen Bewegungen der oberen Extrerait~ten Rurapfbewegungen mit. Arrabewegungen (Abduktion und Ac[duktion) and Hgndedruck reehts mit raehr K~aft als links. Beugnng ira Ellbogengelenk nur mit gteichzeitiger Abduktion des Oberarmes radglich. Supination des Vorderarras beiderseits beeintr~chtigt. Zweiter, dritter und vierter Finger, naraentlich drifter und vierter Finger beider ttgnde stehen in dauernder Beugestellung aller Fingergelenke. Passive Streckung dieser Gelenke gelingt ohne Schwierigkeiten. Aktiv kann aber nur der Zeigefinger der linken :Hand gestreckt werden. Als einzige Danraenbewegung gelingt rechts die Opposition. Links sind alle Dauraenbewegungen raSglich. Abduktion und Adduktion der a ufgelegten Finger links besser als rechts. Beira Aufriehten aus liegender Stellung rauB er sich auf die Seite werfen.
218
Rinse.
Abduktion des gestreckten Beines nur links angedeutet, Adduktion fiillt beiderseits aus. Ebensov,enig kann das gestreckte Bein ~eder reehts noeh links emporgehoben werden. Beugung im Kniegelenk beiderseits sehr unvollkommen, Streckung des Unterschenkeis im Kniegelenk unmSglich. Es fehlt die Dorsalflexion des Ful]es auf beiden Seiten, abet die Plantarflexion des passiv gestreckten Fu]es gelingt, und zwar links besser als rechts. Stehen auf dem rechten Bein bei seitwiirts erhobenem linken wird liinger ausgehalten als umgekehrt. Sehwere Gangstdrung, dabei Oberkdrper vorniibergeneigt, die Arme hiingen herab, die Beine werden im Kniegelenk gebeugt und dann stark seitwiirts ausgeschleudert. Gute Bauchpresse. Bauehdeekenreflexe, PateUarreflexe beiderseits nicht auszuldsen. Die Achil]essehnenreflexe haben triigen Charakter. ~athiide Schlotterbeck, geboren am 22. III. 1906, sehlief sehon ais Kind mit nieht ganz geschlossenen Augen. Merkliches Nachlassen der muskul/iren Kraft etwa seit dem 14. Lebensjahre. Sie schliel]t die Augen r e c h t s entschieden vollkommener als links, wenn auch bier u n v o l l k o m m e n u n d k r a f t l o s , t l e i m B l i c k n a c h d e n Seiten gehen beide Bulbi n i c h t vollkommen in die Endste!lung. Aul]erdem versagt der linke I n t e r n u s bei der Konvergenz. S t i r n r u n z e l n unmdglich. Ebenso alle Bewegungen der Mundm n s k u l a t u r mit Ausnahme des Verziehens der Mundwinkel naeh den Seiten, was r e c h t s wesentlieh besser geling~ als links. Sie k a n n den U n t e r k i e f e r n i c h t vor den Oberkiefer sehieben , hebt bei der P h o n a t i o n das Gaumensegel kaum, abet r e c h t s d e u t l i e h e r als links, li~Bt beim T r i n k e n 5fters Fliissigkeit d u r c h die Nase laufen. Scapulae alatae, reehts ausgesprochener als links. Lordose der LendenwirbelsSule, VorwSlbung des Bauches. Beim Atmen bleibt die linke Brusthiilfte etwas zuriiek. H~indedruek links kr~iftiger als reehts, Abduktion und Adduktion des Oberarmes links kr~ftiger als reeh~s. Streekung der Arme naeh hinten sehr m~il]ig, naeh vorn ausgiebig, aber alles immer links kr~ftiger. Aueh die Beugung im Ellbogengelenk ist links kr~iftiger. Ebenso Supination und Pronation, Beugung und Streekung der tland, alle Fingerbe~egungen links kr~iftiger als reehts. Gute Bauehpresse. Rumpfbewegungen naeh hinten sehr miiBig, naeh vorn und naeh den Seiten besser. Stehen auf einem Bein ohne Se.hwierigkeiten. Kann sieh aus liegender Stellung bei gestreekten Beinen gut und gerade aufriehten. Emporheben des gest~eekten Beines, Abduktion und Adduktion reehts krSftiger als links. Streekung des Untersehenkels im Kniegelenk, Pronation und Supination, Beugung und Streekung des Ful]es reehts besser als links. Patellarreflexe, Aehillessehnem-eflexe, Bauehdeekenreflexe reehts lebhalter als links. In den Reflexen der oberen Extremitiit kein Untersehied. Theodora Stumpf, geboren am 29. IX. 1893, hat Ms Kind sehon im Schlaf die Augen nicht fest geschlossen. Mit etwa 10 Jahren merkte sic Sehw~ehe des reehten Armes. Starker Fortschritt der Krankheit im Alter yon 14--16 Jahren. Jetziger Befund: Vorgewdlbter, Ningender Leib,
l~-ber famili~re, vererbbare Dystrophien der Gesichtsmuskulatttr. 219 Lordose. In HShe des 7. Halswirbeldorns eine knollige Auftreibung von ziemlich derber Konsistenz, St~rkste Atrophien im Bereich des Gesichts, des Schultergtirtels, des Trapezius, Supra- und Infraspinatus, Deltoideus, Pectoralis maior, Thenar, Antithenar. Spitze Nase, g l a t t e Stirn, a u f f a l l e n d g e w u l s t e t e Lippen, die U n t e r l i p p e starker als die Oberlippe, eigenttimlicheMimik beim L a c h e n (rire en jaune). Sic vermag a n d e u t u n g s w e i s e die Stirn in hor]zontale und s e n k r e e h t e F a l t e n zu l e g e n . Der Augenschlul~ ist unv o l l k o m m e n und kraftlos, und zwar links u n v o l l k o m m e n e r und k r a f t l o s e r als rechts. Beide Aughpfel w a n d e r n bei ext r e m e m S e i t w ~ r t s b l i c k n i c h t ganz bis in den seitlichen Augenwinkel. Aul]erdem v e r s a g t der linke I n t e r n u s bei der K o n v e r g e n z . D e u t l i c h e r E x o p h t h a l m u s . Pfeifen, B a c k e n aufblasen unmSglich. Andeutungsweise: Zeigen der Z~hne und Vorschieben des U n t e r k i e f e r s vor den Oberkiefer. Verziehen der Mundwinkel naeh den Seiten reehts besser als links. Das Gaumensegel wird bei der Phonation d e u t l i c h nach rechts verzogen. Drehungen und l~eigungen des Kopfes sind nach allen Richtungen etwas eingeschr~inkt. Bei der Atmung bleibt die linke Brusth~lfte etwas zuriick. Links It~ndedruck kr~ftiger als rechts. Riickw~rtspressen der Schultern stark beeintr~chtigt. Seitw~rts-, u und Aufw~irtsheben des Armes nur fiir wenige Sekunden mSg]ich, reehts mit wesentlich geringerer Kraft. Nach hinten kann nur der linke Arm gestreckt werden. Abduktion und Adduktion des Oberarmes links bedeutend besser als rechts. Supination und Pronation bei gestrecktem Ellbogengelenk mit mehr Kraft als rechts. Beugung und Streekung im Ellbogengelenk links besser als rechts. Streckung aber aueh reehts sehr mangelhaft. Beugung und Streckung der Hand, sowie alle Bewegungen der Handmuskeln gesehehen links mit mehr Kraft als rechts. Bauehpresse mangelhaft, beim Husten und Pressen ~51bt sieh "das iinke Abdomen saekartig heraus. Glutaeus reed. rechts kritftiger als links. Vorwgrtsstrecken des gestreckten Beines rechts mit mehr Ausdauer als links, ebenfalls tteben des im Knie gebeugten Beines. Auswgrts- und Eim~,~irtsstellung des Fu~es rechts ausgiebiger als links. Abduktion und Adduktion, t]eben und Senken des gestreekten Beines reehts wesentlieh kraftiger als links, Beugen und Strecken des Unterschenkels reehts krgftiger als links. Dorsal- und Plantarftexion des Furies reehts kr~ftiger als links. Reflexe der oberen Extremitgten: Trizepsselmenreflex weder rechts noeh links zu erhalten, aber Bizepsreflex und l%adiusperiostreflex rechts deutlieher als links. Patellarreflex reehts sehr lebhaft und wesentlich deutlicher als links, Bauchdeckenreflexe: die oberen beiderseits deutlich, die unteren beiderseits rechts lebhafter als links.
220
Rinse.
Rechter Obera~m 24,5 cm Linker Obera~m 25 ,, Rechter Unterarm } Linker Unterarm 20,5 ,, Rechter Oberschenkel 46 ,, Linker Oberschenkel 4:4 ,, Rechter Unterschenkel Linker Unterschenkel ~ 29,5 ,, ~osef Stumpf, gebor~n am 9. November 1898, fie[ als Kind yon 5 Jahren zuerst dutch den Schlaf mit unvol!st~indiggeschlossenen Augen auf. Eigent: iicher Beginn 4er Erkrankung mit 16--17 Jahren. Im Jahre 1909 hSlt Knoblauch ihn und seine Schwester Then fiir noch nicht sieher dystrophisch, abet gef~ihrdet. Von jeher stili fiir sieh: ,,mehr ~-ie ein M~4chen". Jetziger Befun4: Sehr schwere Form c[er Dystrophie am ganzen KSrper. Facies m y o p a t h i c a , kul]erordentliche Familienghnlichkeit mit seinem Onkel J o h a n n B a p t i s t e S c h l o t t e r b e c k und Karl Max Steinike. G l a t t e falten]ose Stirn, a b s t e h e n d e Ohren ~ h e r v o r t r e t e n d e B a c k e n k n o c h e n , spitze Nase, wulstige Lippen, U n t e r l i p p e stgrker als Ober]ippe gewulstet, das typische siiBsaure L a e h e n der ganzen Familie. Stirn k a n n in wenige senk- un4 wagerechte F a l t e n gelegt werden. Lidschlug, rechts v o l l k o m m e n un4 k r g f t i g e r als links, aber b e i d e r s e i t s unvollkommen.' M a n g e l h a f t e F u n k t i o n der guBeren A u g e n m u s k e l n und des l i n k e n I n t e r n u s bei der Konvergenz. Verziehung des Mundwinkeis nach r e c h t s ausgiebiger als nach links. U n t e r kiefer ka-nn vor den Oberkiefer geschoben wer(~en, Pfeifen, B a c k e n a u f b l a s e n nicht ansfiihrbar. Kopfneigungen auf die Schlflter beiderseits beeintrgchtigt. Kopfdrehungen intakt. Rumpfneigungen nach allen Richtungen ausffihrbar. Scapulae alatae, Taille en gu~pe, lose Schulte~'n, Lordose 4er Lendenwirbelsiiule. Sichtbare Atrophien: Schultergiirtel, besonders Deltoideus, Trapezius, Pectoralis, Intercostales. Oberarmmuskulatur, Daumen-, Kleinfingerballen. Atrophien an den oberen Extremit~iten rechts stKrker als links. Finger iang un4 sehmal. MaBe: Oberarm rechts i5,5 cm, links 16,5 cm; Unterarm rechts 20 era, links 20 cm. H~ndedruck links kr~ftiger als rechts. Beide Arme kSnnen glcichzeitig nur his etwa 45 ~ isoliert bis ann~ihernd 90 o gehoben werden, beide Male links ausgiebiger als rechts. Bei Vorwiirtsstrecken der Arme werden seitliche gumpfverschiebungen gemacht, im iibrigen kSnnen beide nur bis etwa 45 o vorw~rts gestreckt werden. Streckung nach hinten stark beeintr~chtigt. Pronation un4 Supination 4es gestreckten krmes beiderseits mSglich, links mit mehr Kraft. Beugung nur links ohne Zuhilfenahme yon Schultermuskeln mSglich. Auch die Beugung und Streckung im Ellenbogengelenk links besser als rechts.
lJber famili~ire, vererbbare Dystrophien der Gesichtsmuskulatur.
2_91
Aufriehtung aus der liegenden Lage bei gestreektem Knie olme Seitw~irts~]zung des Rumpfes mSglieh. Bauehpresse gut. Stand auf einem Bein bei Seit~-~itsspreizung des anderen geht bei erhobenem rechten besser als bei erhobenem linken. Strecken der Beine nach hinten geht nur mit dem rechten, nach vorn mit dem linken besser. Adduktion un4 Abduktion des gestreckten Beines rechts besser als links, ebenso Emporheben des gestreckten Beines. Streckung des gebeugten Beines im Kniegelenk links besser als rechts. Dorsal- und l~lafltarreflexion des Ful]es reehts kr~ftiger als links. Oberschenkel reehts 34 cm, Unterschenkel rechts 26,5 cm; Oberschenkel links 32,5 cm, Unterschenkel links 26,5 cm. Knieph~nomen rechts deutlicher als links. Kremasterreflex links deutlicher als rechts. Bauchdeckenreflex beiderseits sehr deutlich. An der rechten oberen ExtTemit~t nur Bizepssehnenreflex angedeutet; links auch dieser ebensowenig ~ie die iibrigen Reflexe der oberen Extremitiit auszulSsen. Achillessehnenreflex links etwas lebhafter als rechts. Bei allen Erkrankten, die daraufhin untersucht werden konnten, fanden sich weder SensibilitStsstSrungen noch elektrische Entartungsreaktionen. Auf Grund eigener Untersuchungen~ hSchst charakteristischer Familienphotographien und bezeichnender Schilderungen der Vorfahren seitens der Oberlebenden wird die Geschichte einer muskeldystrophischen Familie dargestellt, innerhalb derer die Ausdehnung der Erkranknmg fiber vier Generationen wahrschein]ich gemaeht, die Homologie nieht nut zwischen Verwandten, insbesondere Geschwistern, sondern vor allem auch zwisehen Aszendent e n u n d D e s z e n d e n t e n fiber drei G e n e r a t i o n e n sichergestellt werden kann. Es handelt sieh bei allen Erkran~en urn den facioscapulo-humeralen T.wp von L a n d o u z y - D ~ j ~ r i n e , dessen charakteristisehes Kennzeichen in der Beteiligung der Gesichtsmuskulatur zu suchen ist. Diese Erlcranklmg der Gesicht,~muskulatur sehafft iiberall dort, wo sie zur Beobachtung gelangt; und auch hier, einen wohlumschriebenen, sofort zu erkennenden Familientyp. Alle E r k r a n k t e n u n s e r e r F a m i l i e h a b e n d i e s e l b e G e s i c h t s b i | d u u g , die zus t a n d e k o m m t d u r c h die H o h l w a n g i g k e i t , die w u l s t i g e n L i p p e n , den E x o p h t h a l m u s , die a b s t e h e n d e n Ohren, die s p i t z e N a s e u n d die g l a t t e : f a l t e n l o s e Stirn; sie h a b e n f e r n e r d i e s e l b e m o n o t o n e , steinerne' Mimik, an der die funktionelle Unzul~nglichkeit namentlich der Mundm u s k u l a t u r s c h u l d tr~gt. Auf die B e t e i l i g u n g der A u g e n m u s k e l n , die bei a l l e n 5 U n t e r s u e h t e n sich n a m e n t l i c h in Deutschc Zeitschrift f: Ncrvenhcilkunde. Bd. 75.
15
222
R1ESE
einer Schw~iche des I n t e r n u s einer S e i t e bei der K o n v e r genz kundgibt, daft insofern mit besonderem Nachdruck hingewiesen we~den, als diese an sich schon ~iuL~erst seltene Erscheinung bier sich noch dazu dem Gesetz einer streng homologen IIeredit~t unterwirft. D a s s t ~ r k e r e E r g r i f f e n s e i n einer Seite v o m d y s t r o p h i s e h e n Prozel~ bctrifft nicht nut die Augenmuskulatur: sondern die Gesichtsmuskulatur I iiberhaupt: bei dem einen ist die linke Seite mehr benachteiligt, bei dem andera mehr die rechte. Diese Beobachtung linden wir beim Studium fremder Untersuchungsprotokolle best~itigt. Hier diirfen wir uns daran erinnern, dal~ auch am Rumpf und an den Extremit~ten bei allen Erkrankten eine Seite in hSherem MaBe am dystrophischen l~ozefi teilnimmt als die andere. Abet es ist nicht durchgiingig stets die gleiehe Seite; die bei allen Erkrankten in hSherem Ma~e benachteiligt whre. lm iibrigen lehrt die Geschichte unserer Familie fiir Gang und Gesetzm~igkeit in der Vererbung dieser Erkrankun~form aul~er: 1. der streng homologen HereditSt. 2. dal~ die l~bertragung, eine sogenannte direkte, vom Manne (l~riedrich Wilhelm Ferdinand Steinike) auf zwei SShne trod eine Toehter~ yon diesen wiederiun auf eine Enkelin und einen Enkel des Vorfahren geschieht, um in zwei Seitenlinien einerseits ein Geschwisterpaar, andererseits eine Urenkelin zu ergreifen und nut ein Ureukelkind (Elisabeth Schlotterbeck) zu verschonen. Es er~ol~ also die'l~bert r a g u n g bier s o w o h l d u t c h die e r k r a n k t e M u t t e r (Maria Amalie Theodore Schtotterbeck und Mathilde Stumpf) als a u c h d u r c h den e r k r a n k t e n V a t e r (Johann Baptiste ScMotterbeck). Aber es sind im ganzen doch m e h r M~inner als F r a u e n b e f a l l e n . A u f 9 Erk~rankte kommen 5 Mi~nner und 4 Frauen. Und nicht mlr, da~ Sich diese schon yon anderen Seiten ermittelte Gesetzm~Bigkeit. wiederfindet, l~il]t sich auch feststellen, da[~ -- zum mindestens yon d e n ~berlebenden mit Sieherheit -- die m~innlichen K r a n k e n w e s e n t lich s c h w e r e r b e t r o f f e n sind als die w e i b l i c h e n . 3. Das hiiufige Vorkommen vo~ Phthise in der Familie verdient Beachtung. Uns scheinen nun diese vererbbaren, homologen Dystrophien der Gesichtsmuslmlatur (auch des Stammes und der Extremit~ten) noch in einer bestimmten Richtung besonderes Interesse zu verdienen. Wenn auch hie und da ein progressiverer Verlauf der Erkrankung yon Generation zu Generation beobachtet worden ist, so darf es andrerseits keines-
~;ber familiiire, vererbbare Dystrophien der Gesichtsmuskulatur.
223
wegs als ausgeschlossen gelten, da~ irgendwann einm.~l diese heredit~iren Erkrankungen zum Stiilstand gelangen kSnnen. Es ist auch die Frage der Heilbarkeit der Dystrophia muscularis progressiva yon mancher Seite -- wenn auc]l bisweilen z6gernd -- beja.ht worden. J e n dr a s s i k 1) hat sehr mit Recht darauf hingewiesen, da B nut solche F~ille in den B[ickpunkt des Forschers gelangen, die eben die Erkrankung und ihre H creditiit demonstrieren; da~ aber aus naheliegenden Griinden jene Familicn dem Arzte entgehen, in dcnen eine ehemals manifeste Dystrophie erloschen ist. Was wird nun abev aus solchen Familien werden, welche die Erkrankung iiberwinden ? Wir werden erwarten diirfen, dab welt hinab sich noch Reste jenes krankhaften Prozesses werden finden lassen, welcber die Muskulatur des Gesichtes (und auch des KSrpers) ehemals so ents'tellt hat. Die fiir die Gesichtsdystrophischen so charaktcristische muslollSre Konfiguration des Gesichtes wird sich auch nach AufhSren des eigentlichen Krankheitsprozesses welter vererben kSnnen, und wit w~iren durchaus berechtigt, gewisse fami]i5.re Eigentiimlichkeiten {soweit sie eben m u s k u l / i r beding~ sind) auch auf diesem Gebiete zu erwarten. Wit sind ja allerdings be~eiflicherweise gewohnt, famili~ire Eigentiimlichkeiten vor allem im Gesicht zu suchen. WSre unser Brick auch fiir die muskul~ire Architektonik unseres Ksrpers geschult, so wiirden wir hSchstwahrscheinlich auch dort charakteritische, wiederkehrende Ziige zu entdecken wissen. Es wiire eine solche famili~ire Bewahrung eines bestimmten muskuliiren Reliefs~ et,wa auf kSrperlJchem Gebiete, eine Analogie zu jener bekannten Erfahrung, welche lehrt, dab bestimmte psychoti~he Erkrankungen eines Aszendenten in bestimmten seelischen Reaktionstypen seiner Deszendenten ausklingen. 1) Deutsche recd. Wochenschr. 1909; Nr ]9, und Lewandowsky, Handbuch der Nervenkrankheiten.