Z Außen Sicherheitspolit (2014) 7:525–527 DOI 10.1007/s12399-014-0423-y REZENSION
Cohen, S. P. (2013). Shooting for a Century. The India-Pakistan Conundrum. Washington D.C.: Brookings Institution Press, 236 S., ISBN: 978– 0815721864, ca. € 20,-. Christian Wagner
Online publiziert: 24. Oktober 2014 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
Nur wenige ForscherInnen haben die akademische Diskussion über Indien und Pakistan international so sehr geprägt wie der amerikanische Wissenschaftler Stephen P. Cohen. In seinem neuesten Buch erstellt er eine Gesamtschau über das „Rätsel“ (conundrum) der indisch-pakistanischen Beziehungen. In sieben Kapiteln gibt er einen Überblick über den Kontext, die Konflikte, die innenpolitischen Situationen in Indien und Pakistan, Erklärungsansätze und Perspektiven sowie die amerikanischen Interessen und Politiken gegenüber beiden Staaten. Cohen analysiert zunächst die wichtigen/wichtigsten Konfliktbereiche zwischen beiden Staaten, d. h. Kaschmir, den Siachen-Gletscher und die Wasserverteilung (S. 39–59), die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftliche Verflechtung zwischen beiden Staaten kaum in Gang kommt. Die beiden Länderkapitel zu Indien und Pakistan geben einen Einblick in die verschiedenen nationalen Diskurse, die Cohen in den letzten Jahrzehnten mit verfolgt hat. Sehr aufschlussreich ist die Auffächerung der verschiedenen Denkschulen in Indien, wie mit Pakistan umgegangen werden soll. Diese Denkschulen reichen von gemäßigten Kräften, über solche, die auf die Kraft von Handel und Austausch setzen, bis hin zu so genannten „Falken“, die eine weitere Aufteilung Pakistans anstreben (S. 74–84). In Pakistan wird das Verhältnis zu Indien hingegen stärker von ideologischen Faktoren, d. h. von der Rolle der Religion und vom Einfluss der Armee geprägt (S. 92–95). Trotz einiger positiver Entwicklungen in Pakistan wie etwa die 18. Verfassungsänderung im Jahr 2010 oder der Übergang zur Demokratie nach den Wahlen 2008 bleibt Cohen in seinem Ausblick zu Pakistan eher pessimistisch und sieht die Armee weiterhin als Kerninstitution, auch wenn diese nicht der monolithische Block ist, als der sie oft erscheint (S. 117). Dr. habil. C. Wagner () Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirschplatz 3–4, 10719 Berlin, Deutschland E-Mail:
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C. Wagner
Cohen identifiziert insgesamt sechs unterschiedliche Erklärungsansätze für die indisch-pakistanische Rivalität (S. 119–138). Diese lassen sich in einen kulturellen bzw. zivilisationstheoretischen Ansatz, die Konkurrenz der Staatsidee, die dominierende Rolle Kaschmirs, sowie realistische Ansätze, die auf das Sicherheitsdilemma beider Staaten abheben, die Identitätskonflikte zwischen beiden Staaten sowie die Rolle externer Akteure bei der Aufrechterhaltung des Konflikts unterteilen. Für Cohen ist die indisch-pakistanische Rivalität vor allem ein „paired minority conflict“ (S. 138), in dem sich Elitengruppen in beiden Staaten durch den jeweils anderen Staat bedroht sehen. Unsicherheit und Misstrauen perpetuieren diese Konfliktkonstellationen ebenso wie die jeweils zugeschriebenen wechselseitigen Identitätsvorstellungen und Stereotypen im Konfliktfall, der Verweis auf die jeweils eigene Opferrolle und das Gefühl einer anhaltenden Ungerechtigkeit. Daraus folgt für Cohen eine „strukturelle Komplexität“ (S. 146), die den Konflikt so dauerhaft macht und kaum Lösungsansätze bietet. Die Dauerhaftigkeit des Konflikts ergibt sich für ihn aus der Mischung von drei unterschiedlichen Ebenen: Erstens die materiellen, sichtbaren Konflikte über Kaschmir, Wasserverteilung und territoriale Ansprüche. Zweitens die unterschiedlichen staatlichen Identitätsvorstellungen, die sich seit 1947 entwickelt haben und die eher ein Problem für die jeweiligen Eliten als für die Masse der Bevölkerung bilden. Drittens die strategische Rivalität zwischen beiden Staaten, wie sie gegenwärtig vor allem in Afghanistan zu beobachten ist (S. 165). Sehr lesenswert sind Cohens Ausführungen über die unterschiedlichen Ansätze zur Beilegung des Konflikts (S. 147–165). Sein Augenmerk liegt dabei weniger auf den erfolglosen diplomatischen Bemühungen der 1950er und 1960er Jahre als auf den verschiedenen Ansätzen auf der Track-Two-Ebene, mit denen verschiedene Akteure versucht haben, die wechselseitigen Vorurteile und Perzeptionen über einen stärkeren Austausch zu verändern. Dabei sieht er kein Ende der Rivalität, die zwischen beiden Staaten seit ihrer Unabhängigkeit 1947 herrscht, sondern geht davon aus, dass diese noch einige Jahrzehnte bis 2047 anhalten wird. Allerdings sieht Cohen auch Worst-Case-Szenarien, z. B. einen Zerfall Pakistans, das Wiederaufflammen eines Bürgerkriegs in Afghanistan, der erneut zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Indien und Pakistan werden würde, oder eine wachsende nukleare Aufrüstung beider Staaten (S. 168–172). Er hofft auf eine „Normalisierung“ (S. 175) der Beziehungen, in dem sich beide Staaten auf ihre jeweiligen nationalen Interessen konzentrieren, die nicht mehr automatisch mit dem anderen Staat in Verbindung stehen müssen. Für Cohen ist dies zunächst ein Top-down-Ansatz, der von den Eliten in beiden Staaten ausgeht, ohne eine Unterstützung von „unten“ (bottom up), z. B. durch eine Ausweitung des Handels und der zivilgesellschaftlichen Beziehungen, aber kaum gelingen kann (S. 177). Im abschließenden Kapitel über amerikanische Interessen und Politiken setzt sich Cohen kritisch mit der Politik der USA gegenüber Indien und Pakistan auseinander. Cohen, der die US-Politik gegenüber Indien und Pakistan in seinen verschieden Funktionen teilweise mit geprägt hat, plädiert für ein selektives Engagement der USA in der Region (S. 191). Allerdings sind ihm auch die Grenzen der amerikanischen Politik bewusst, denn der Schlüssel für die Überwindung der Rivalität liegt in Islamabad und Delhi, nicht in Washington.
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Cohen, S. P. (2013). Shooting for a Century
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Cohen hat ein sehr gutes, detailreiches und lesenswertes Buch über das indischpakistanische Verhältnis geschrieben. Die zahlreichen Querbezüge machen die Lektüre nicht immer einfach. Cohens großes Verdienst ist es aber, mit dem Buch eine fundierte Gesamtschau über die Komplexität der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Staaten zu geben.
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