Übersichten Manuelle Medizin 2014 · 52:305–313 DOI 10.1007/s00337-014-1129-x Online publiziert: 2. August 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
K. Schildt-Rudloff DGMM/ÄMM e. V., Seminar Berlin für Manuelle Medizin und osteopathische Techniken, Berlin
Das „Janda-Konzept“ Untersuchung und Behandlung der Muskulatur im Kontext der manuellen Medizin
Innerhalb des Bewegungssystems stellt … die Muskulatur den exponiertesten Teil dar. Die Anpassungsfolgen sieht man an der Muskulatur am frühesten und am deutlichsten. … In der klinischen Arbeit ist die Muskeldiagnostik sehr wichtig und sie stellt u. a. die Basis für eine rationelle Behandlung dar. (Janda [4], Vorwort) „Muskelkurse“ unter Jandas1 Leitung fanden seit den 1970er Jahren parallel zur manualmedizinischen Fortbildung statt. In das Lehrsystem des jetzigen DGMM-Ärzteseminars Berlin der Ärztevereinigung für Manuelle Medizin (ÄMM) e. V. wurden immer mehr „Muskeltechniken“ in das manualmedizinische Weiter- und Fortbildungsprogramm aufgenommen. In diesem Beitrag wird darüber berichtet, welche Rolle Jandas Konzept zur Untersuchung und Behandlung der Muskulatur bei der Entwicklung des ÄMM-Konzepts zukam. Inhalte und zeitlicher Ablauf des Entwicklungsprozesses wurden von J. Sachse, der alle deutschen Auflagen von Jandas Buch Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik [4–8] redaktionell bearbeitete, maßgeblich mitgeprägt. Im Folgenden wird auch versucht, den aktuellen Stand der Betrachtungsweise in der ÄMM zu vermitteln.
der vereinfachten Klassifikation aus dem Jahr 1947 mit den Kraftstufen 0 bis 5. Voraussetzung für die Beurteilung der Kraft ist die Untersuchung im vollen Bewegungsausmaß und eine genaue Analyse der verursachenden Faktoren. Janda erweiterte diese Einstufung nach der Kraft um weitere Bewertungskriterien. Für ihn war wichtig, dass Minderung der Muskelkraft auch als funktionelle Hemmung aufgefasst werden kann und dass die Methode mehr und mehr als Untersuchung „bestimmter, genau definierter, verhältnismäßig einfacher motorischer Stereotype“ angesehen werden sollte. Nozizeptive Afferenzen aus Gelenkfunktionsstörungen oder verspannten Muskeln können über reflektorische Hemmung die Kraft vermindern. Wenn Muskelfasern oder Muskeln nicht ausreichend verlängert werden können, behindern sie die freie Beweglichkeit. Die Bewegungsradien verändern sich und mit ihnen die Aktivierungsgröße und -reihenfolge der Einzelmuskeln bis hin zur Ausbildung neuer Koordinationsmuster (Stereotype).
„Muscle tightness“ bzw. reversible strukturelle Verkürzung Jandas Verdienst ist es, für die Muskeln, die mehr als andere zu „muscle tightness“ neigen, standardisierte Verlängerungstests und Behandlungstechniken beschrieben zu haben. Um für die Bezeichnung „muscle tightness“ eine deutsche Entsprechung zu finden, wurde lange gerungen. Schließlich wurde der Begriff „Muskelverkürzung“ trotz der Synonymie mit der eigentlichen Arbeitsverkürzung der Muskeln eingeführt. Er beschreibt den Muskelzustand, der im standardisierten Test die Beweglichkeit des Gelenks nicht endgradig zulässt, einen harten Anschlag bei Endfederung zeigt und bei dem sich auch nach Proberelaxation keine weiche Endfederung einstellt. Eine Verlängerung durch Dehnung ist erreichbar. Die erfolgreiche Dehnung zeigt die Reversibilität an, weshalb dieser Befund auch zur funktionellen Pathologie zählt und jetzt als reversible strukturelle (Muskel-)Verkürzung (RSV) bezeichnet wird.
Muskelfunktionstests Bei den Muskelfunktionstests folgte Janda dem Vorbild von Daniels et al. [2] und 1
Prof. Dr. Vladimir Janda (1928–2002) Neurologe, Prag, gilt als Vater der medizinischen Rehabilitation in Tschechien.
Abb. 1 8 Horizontale Verkettungen. (Mod. nach einer Skizze von Janda [6]) Manuelle Medizin 4 · 2014
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Abb. 2 9 Horizontale Verkettungen. a Muskuläre Schlüsselregionen an der Wirbelsäule, b Schlüsselregionen der Wirbelsäulengelenke
Abb. 3 9 Gekreuzte Syndrome nach Janda – Syndrome der Muskeldysbalance im Dienste der Statik. a Statik der Halswirbelsäule: oberes gekreuztes Syndrom, b Statik der Lendenwirbelsäule und des Beckens: unteres gekreuztes Syndrom
Im Gegensatz zur Muskelverspannung, die sich durch Relaxation normalisieren lässt, ist bei der RSV der bindegewebige (fasziale) Anteil maßgeblich an der Restriktion beteiligt. Zur Auflösung bedarf es spezifischer Dehnungstechniken. Janda beschrieb sie in ihrem Ablauf: schnelle Bewegung ans aktuelle Bewegungsmaximum nach maximaler Muskelanspannung und langes Verharren in dieser Stellung über die muskulären Spannungsnachschwankungen hinaus. Die Ergebnisse der Bindegewebsforschung machen verständlich, dass der zeitlich lange Verlängerungsreiz das Bindegewebe zur Reaktion bringt. Erst die Befreiung aus dem Bindegewebspanzer ermöglicht auch die Funktionsverbesserung im Muskelgewebe. In den ersten Auflagen von Jandas erwähntem Buch [4, 5, 6] fehlt noch die Beschreibung der Untersuchung von Bewegungsstereotypen, auf die Janda in der Einleitung hinwies: Gegenwärtig gibt es bereits besondere Teste, die die Grenze zwischen einer leichten Herabsetzung der Muskelkraft bzw. einer leich-
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ten Änderung des Bewegungsstereotyps und der so genannten Norm festlegen, und es ist zu erwarten, dass es in allernächster Zeit zu einer wesentlichen Entwicklung auf diesem Gebiet kommen wird.
Verkettungen In Fortbildungskursen legte Janda zur gleichen Zeit schon Wert auf die Vermittlung von Zusammenhängen, die über die neurophysiologischen Grundbausteine, die reflektorischen Reaktionen mit Verspannung und Hemmung, hinausgehen. Kombinationen von Funktionsstörungen im Bewegungssystem, die häufig auftreten, nennt er Verkettungen. Im Wissen um die große Bandbreite neurophysiologischer Prozesse schlägt er für die Alltagspraxis zwei verschiedene Betrachtungsweisen vor. Die Befundkombinationen der ersten Betrachtungsform nennt er horizontale Verkettungen (. Abb. 1). Hierbei werden die Befunde von Strukturen eines Metamers (Sklerotom, Myotom, Enterotom, Neurotom, Angiotom) in ihrer Wechselwirkung zu-
einander bewertet. Die zweite Betrachtungsform bezieht zwingend die neurophysiologischen Zusammenhänge aller Regel- und Steuerungsebenen des Gesamtsystems mit ein. Janda empfahl, Befundkombinationen aus dieser Betrachtungsweise als vertikale Verkettungen zu bezeichnen. Je nachdem, welche Struktureinheiten, welche reflektorischen, mechanischen und dynamischen Verbindungen oder welche Regel- und Steuerungsmechanismen die Betrachtungsweise bestimmen, gibt es viele Formen von Befundkombinationen, die als Verkettung beschrieben werden können. Jeder Manualmediziner/-therapeut ist gut beraten, zuerst die jeweilige Betrachtungsweise des Kollegen und Gesprächspartners zu hinterfragen, wenn es um die Verständigung hinsichtlich Verkettungen geht. Die diagnostische Festlegung auf eine Befundverkettung ist für die Planung effektiver Behandlungsabläufe und für die Ergebniskontrolle wichtig. Wenn Befund A, B und C zusammen auftreten, wird erwartet, dass bei der Behandlung von Befund A auch Befund B und C reagieren
Zusammenfassung · Abstract [11]. Eine verbleibende Störung C könnte ihrerseits die Rezidive von A und B verursachen. In die Wertung von Befundkombinationen als Verkettungen gehen das Wissen über pathogenetische Zusammenhänge und die Erfahrung des Therapeuten ein. Befunde aus globalen und regionalen orientierenden Untersuchungen zeigen mögliche Verkettungen an. Spezifische regionale Spannungsphänomene (z. B. Patrick-Kubis-Zeichen) sind gleichzeitig hinweisender Kombinationsbefund und Indikator für die Effektivität des Behandlungsansatzes.
Horizontale Verkettungen In einer einfachen Skizze hat Janda die Komplexität dieser Zusammenhänge deutlich gemacht. Sie betont die horizontale Verkettung (. Abb. 1). Die Einzelbefunde, die in dieser Betrachtungsweise als verkettet bezeichnet werden, kommen aus der manualmedizinischen Gelenkuntersuchung und aus der Muskeluntersuchung durch Inspektion, Palpation, Prüfung auf Kraft und Verlängerungsfähigkeit. Als Beispiel horizontaler Ketten sei die Befundkombination von Blockierungen der muskulären Schlüsselregionen an der Wirbelsäule (. Abb. 2a) und der Schlüsselregionen der Wirbelsäulengelenke (. Abb. 2b) genannt. In diese Klassifizierung sind die Muskel- und Faszienketten der Extremitäten einzuordnen, deren Verkettungsreaktion sowohl von distal nach proximal (distoproximale Verkettungen) als auch in der Gegenrichtung (proximodistale Verkettungen) verlaufen kann. Das gilt auch für die Befunde der Wirbelsäule sowie viszeraler und neuronaler Bindegewebe; je nach bekanntem oder vermutetem Ausgangspunkt der Verkettungsreaktion werden sie als kraniokaudale oder kaudokraniale Verkettungen bezeichnet. Für die Therapie in der manualmedizinischen Akutsprechstunde ist es vorteilhaft, sich zuerst mit den Befunden horizontaler Ketten zu befassen. Beispielsweise wird die Behandlung von Schlüsselregionen der Wirbelsäule von erfahrenen Manualmedizinern/-therapeuten deshalb so geschätzt, weil sie eine wesentliche Ordnung des Gesamtsystems bewirkt (Behandlungsprinzip Gelenk vor Muskel).
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Das „Janda-Konzept“. Untersuchung und Behandlung der Muskulatur im Kontext der manuellen Medizin Zusammenfassung Die Ausführungen beschreiben das gestufte System, das V. Janda zur Untersuchung manualmedizinischer Schmerzsyndrome hinsichtlich des Muskelsystems und seiner Steuerung und Regelung vorgeschlagen hat und dessen Grundthesen sich im Lehrsystem der ÄMM wiederfinden: 1) Muskeldysbalance und klinische Syndrome, 2) inkoordinierte Bewegungsmuster und klinische Syndrome. Verkettungen teilt Janda nach zwei Betrachtungsweisen ein, zum einen nach der Kombination von Funktionsstörungen in den Strukturen eines Metamers (horizontale Verkettung), zum anderen nach der Kombination von Befunden in den Strukturen aller Metamere unter dem Einfluss der zentralen Regelung und Steuerung (vertikale Verkettung). Die Betrachtung der horizontalen Verkettung ist bei akuten Schmerzsyndromen legitim. Die neurophysiologische Ansteuerungs-
störung ist häufige Ursache chronischer manualmedizinischer Symptomatiken; deshalb ist die frühe orientierende Untersuchung der Motorik wichtig und die Betrachtungsweise der vertikalen Verkettung für die Behandlung Pflicht. Als Beispiel für die therapeutische Automatisierung optimierter Bewegungsmuster durch Afferenzverstärkung vermittelt die ÄMM Jandas Methode der „propriozeptiven sensomotorischen Fazilitation“. Beispiele werden beschrieben, die zeigen, wie sich eigene manualmedizinische Diagnostik und Therapie unter dem Einfluss von Jandas Thesen entwickelt haben. Schlüsselwörter Muskuloskeletales System · Haltungsbalance · Muskelverkürzung · Manuelle Therapien · Fazilitation
The Janda concept. Examination and treatment of musculature in the concept of manual medicine Abstract This article describes the staged system which Janda suggested for examination of manual medical pain syndromes from the perspective of the muscular system, its control and regulation. The basic principles can be found in the teaching system of the Ärztevereinigung für Manuelle Medizin (ÄMM, Medical Association of Manual Medicine): 1) muscle imbalance and clinical syndromes and 2) uncoordinated movement patterns and clinical syndromes. Janda subdivides concatenations according to two perspectives: according to the combination of functional disorders in the structures of a metamer (horizontal concatenation) and according to the combination of findings in the structures of all metamers under the influence of central regulation and control (vertical concatenation). The horizontal view of concatenation is legitimate for acute pain syndromes.
Muskuläre Syndrome horizontaler Verkettung
Die gekreuzten Syndrome nach Janda ist die klinische Bezeichnung für sicht- und tastbare Befundkombinationen der Muskulatur, d. h. aus horizontaler Befundbetrachtung. Die Entstehung setzt statische Fehlbelastungen bei gestörter Halswirbel-
The neurophysiological control disorder is often the cause of chronic manual medical symptoms, which is why the early orientation examination of the motoric is important and the vertical view is mandatory for the treatment. As an example of the therapeutic automation of optimized movement patterns by strengthening the afferent pathways, the ÄMM mediates Janda’s methods of proprioceptive sensomotoric facilitation. Examples are described which show how individual manual therapeutic diagnostics and therapy methods have developed under the influence of Janda’s theses. Keywords Musculoskeletal system · Postural balance · Muscle tightness · Manual therapies · Facilitation
säule- oder Lendenwirbelsäule-BeckenStatik voraus. Diese werden vor allem durch solche Muskeln kompensiert, die zur RSV neigen. Zusammen mit den reflektorisch und adaptiv gehemmten Muskeln (Muskeln, die zur Abschwächung neigen) ergeben sich wiederkehrende Befundmuster, die „gekreuzten Syndrome“ Manuelle Medizin 4 · 2014
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Abb. 4 9 Etagensyndrom nach Janda – Syndrom der Muskeldysbalance im Dienste von Wirbelsäulenstatik und Gangdynamik. (Mod. nach [9])
Abb. 5 8 Vertikale Verkettungen. (Mod. nach einer Skizze von Janda [6])
(. Abb. 3). Ein gekreuztes Syndrom besteht, wenn die Befunde von Abschwächung und RSV symmetrisch vorliegen. Die funktionsverbessernde Therapie der Statiksyndrome muss mit der Dehnung beginnen. Nur so wird das von Muskeln mit RSV ausgehende Hemmungspotenzial auf die im Dienste der Statik synergistischen Antagonisten vermindert und das Gesamtsystem wieder trainierbar. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass diagnostizierte horizontale Verkettungen im Behandlungsplan im Vordergrund stehen sollten.
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Das Etagensyndrom ist, wie die gekreuzten Syndrome, gekennzeichnet durch eine typische Kombination von Muskeln mit RSV und gehemmt abgeschwächten Muskeln [9]. Es beschreibt die für den klinischen Blick am Relief des Rückens sichtund tastbaren Wechsel hypotoner und hypertoner Zonen (. Abb. 4) und folgt damit der horizontalen Betrachtungsweise.
Vertikale Verkettungen Wenn im Klinikalltag von Verkettungen gesprochen wird, ist meist die horizonta-
le Betrachtungsweise die Grundlage der beschriebenen Ketten und ihr kraniokaudaler bzw. kaudokranialer bzw. proximodistaler/distoproximaler Charakter wird beschrieben. Zu empfehlen ist, möglichst viele Glieder einer erkannten Kette zu behandeln, um die Rezidivneigung zu minimieren. Dafür ist die Kategorie horizontale Verkettung als Arbeitshypothese sehr geeignet. Die angestrebte Behandlung möglichst vieler relevanter Glieder der Kette zielt auf die umfangreiche Löschung nozizeptiver Afferenzen und trägt der Tatsache Rechnung, dass alle Befunde den Prozessen von Regelung und Steuerung unter Einbeziehung der Informationen aus dem gesamten Körper unterliegen. Die Befundmuster aus dieser Betrachtungsweise nannte Janda vertikale Verkettungen. Janda verwies darauf, dass auch die klassischen Muskelfunktionstests als Untersuchung „bestimmter, genau definierter, verhältnismäßig einfacher motorischer Stereotype“ angesehen werden sollte. Das Wesen vertikaler Verkettungsmuster ist sehr komplex. Beispielsweise erfasst eine Gelenkstörung mehrere Muskeln. Die zentralen Regelungsebenen regenerieren Adaptations- und Kompensationsmuster, die weitere Muskeln und Gelenke in die Reaktion einbeziehen (. Abb. 5). Die Eingrenzung auf das Bewegungssystems ist nur aus didaktischen Gründen zu rechtfertigen. Die zentrale Regelung erfasst in jedem Fall alle metameren Strukturen. In diese Verkettungen gehören auch fasziale, viszerofasziale und neurofasziale Befunde (. Abb. 6). Afferenzen aus diesen Strukturen beeinflussen ihrerseits die gesamte Entwicklung.
Untersuchung von Bewegungsmustern Die Befunde für die Betrachtung der vertikalen Verkettung im Bewegungssystem erhalten wir aus der Beurteilung der koordinierten Aktivierung von Muskeln bei Bewegungsabläufen (Synonyma: Bewegungsmuster, „motor pattern“, dynamisch-motorisches Stereotyp). Dabei ist uns immer bewusst, dass alltägliche Bewegungen für das ökonomische Zusammenspiel der Muskeln ständig so geregelt werden, dass Halte- und Bewegungsfunktion optimal gekoppelt ablaufen.
ZNS (spinal, medullär) Gelenk
Muskel
Gelenk
für den jeweiligen Test gewählt wird und die Bewegung langsam, fast im Zeitlupentempo durchgeführt wird.
Muskel
Gelenk
Muskel
Gelenk
Muskel
Gelenk Sklerotom
Myotom
Muskel
Neurotom Angiotom
Enterotom
Dermatom
Abb. 6 8 Vertikale Verkettungen metamerer Strukturen
Orientierende Untersuchung Diese große Variabilität der Aktivierungsfolgen in Bewegungsmustern erschwert die Reproduzierbarkeit von Befunden, die zum Vergleich herangezogen werden können. Deshalb werden Bewegungsmuster, deren Abläufe durch die gleichbleibende lebensbestimmende, lebenserhaltende Motivation relativ konstant sind, für die klinische Testung der Koordination bevorzugt. Wir nennen sie mit Janda und Lewit Basisstereotype. Zu ihnen gehören: F Gehen F Stehen F Greifen und zum Munde führen F Posturale Funktion der Atmung (s. unten)
Gezielte Untersuchung – Teilabläufe Die Indikation für diese Untersuchungen ergibt sich aus der Anamnese und Auffälligkeiten in der globalen orientierenden Untersuchung der genannten Basisstereotype. Zur besseren Standardisierung werden nur Teilabläufe dieser Stereotype untersucht. Sie werden als aktive Bewegungen durchgeführt. Für die Reproduzierbarkeit ist immer die gleiche Ausgangsstellung des Patienten zu wählen. Sehr langsame Bewegungen erfordern mehr koordinative Leistung, weshalb die Testbewegung im
Zeitlupentempo ablaufen sollte. Beurteilt werden die Muskelgruppen, deren Aktivierung sich in sichtbaren und tastbaren Veränderungen der Körperkonturen widerspiegelt. Empirische praktische Erfahrung führte zu den festgelegten Erwartungswerten, die durch Aktivierungsmuster aus elektromyographischen (EMG-)Untersuchungen gestützt werden konnten. Koordinationsstörungen zeigen sich in Abweichungen von den Erwartungswerten. Sie finden ihren Ausdruck in Haltungs- und Bewegungsstörungen und äußern sich in vielfältigen Schmerzsyndromen.
Stereotyptests nach Janda 1. Gehen/Abstoßphase: Hüftextension aus der Bauchlage 2. Gehen/Einbeinstand: Hüftabduktion aus der Seitlage 3. Greifen und zum Munde führen: Armabduktion 4. Rumpfstabilisierung (Koordination der tiefen und oberflächlichen Stabilisatoren) bei allen Bewegungen: Rumpfvorbeuge aus der Rückenlage 5. Stabilisierung des Kopfs über dem Rumpf (Koordination der tiefen und oberflächlichen Stabilisatoren): Kopfanhebung aus der Rückenlage Für die Vergleichbarkeit ist es wichtig, dass immer die gleiche Ausgangsposition
Weitere Koordinationstests „Die automatischen Bewegungen der Haltungsanpassung begleiten die willkürlichen Bewegungen wie Schatten. Die sich ständig ändernde Haltung geht willkürlichen Bewegungen voraus und erleichtert so ihre Ausführung“ [1]. Dieser Aussage entspricht, dass in allen von Janda vorgegebenen Tests die Rumpfstabilisierung in die Bewertung als Voraussetzung für die Ökonomie der Bewegungen mit eingeht. Eine weitere, sehr wichtige Bewertungskomponente hat Lewit mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Zwerchfells für die automatische Haltungsanpassung eingebracht, die er die „posturale Funktion der Atmung“ [10] nennt. Dazu wird die koordinierte Aktivierung von kurzen, wirbelsäulennahen Muskeln, M. transversus abdominis, Zwerchfell und Diaphragma pelvis, untersucht. Die Bewegungen Greifen und zum Munde führen dienen der Nahrungsaufnahme mit Kauen und Schlucken. Die Untersuchung der Koordination beim Kauen und Schlucken ist auch deshalb wichtig, da vom Kausystem häufig die Entwicklung kraniokaudaler Verkettungen ausgeht.
Untersuchungsbeispiel: Hüftextension aus der Bauchlage
Der Test wird in Bauchlage ausgeführt. Aus dem Stereotyp Gehen wird der letzte Teil der Bewegung des Standbeins, die Hüftgelenksextension in der Abstoßphase, untersucht. Für die Standardisierung wählte Janda den M. glutaeus maximus, die Ischiokruralmuskulatur, die lumbalen und thorakolumbalen Rückenstrecker sowie die Schultergürtelstabilisatoren. In EMG-Untersuchungen fand er deren synergistische Funktion bei der Hüftgelenksextension (gemeinsame Aktivierung innerhalb weniger Millisekunden) bestätigt und beschrieb ein Reihenfolgemuster (. Abb. 7). Das Auge des Untersuchers kann solche schnellen Abläufe nicht erfassen. Deshalb wird im Test auf die Qualität der Koordination im Zusammenspiel von Stabilisierung (HaltefunktiManuelle Medizin 4 · 2014
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Abb. 7 8 Links: Synergistisches elektromyographisches Muster bei Hüftgelenksextension, Wertung nach Janda. Rechts: Koordination in der Abstoßphase des Gehens
on) und Dynamik (Bewegungsfunktion) geachtet: Erfolgt die für die Beinbewegung nötige Rumpfstabilisierung und wie ist der M. glutaeus maximus an der Bewegung beteiligt? Eine ungenügende Stabilisierung oder eine Verlagerung des Bewegungsmoments nach kranial ist als pathologisch zu werten. Lumbale und thorakolumbale Rückenstrecker sind in diesem Test die Indikatoren für die Qualität der Rumpfstabilisierung. Zeigt dieser Test eine Störung, muss die Qualität der „posturalen Funktion der Atmung“ unbedingt auch untersucht werden.
Beispiele klinischer Syndrome durch Inkoordination beim Gehen Etagensyndrom
Bei genauer Betrachtung ist das Etagensyndrom der sichtbare Ausdruck einer beidseitigen Dekompensation der muskulären Koordination in der Standphase des Gehens und verlangt ein Behandlungsprogramm, dass die Korrektur des unökonomischen Kompensationsmusters einschließt. Das ist umso wichtiger, als durch die schwerwiegende Funktionspathologie mit ungenügender Stabilisierung der Lendenwirbelsäule die Entstehung von unteren lumbalen Bandscheibenvorfällen begünstigt wird und ein bestehendes Etagensyndrom die Rehabilitation nach Bandscheibenoperationen langwierig, in manchen Fällen unmöglich macht. Die Dehnung der bestehenden RSV ist postoperativ nicht möglich,
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Kräftigung ohne Dehnung bewirkt eine weitere Verkürzungsschwäche. Bei bestehendem Etagensyndrom sollte die Indikation zur Bandscheibenoperation besonders streng gestellt werden.
Chronische Rückenschmerzsyndrome
Jede bewusste, willentliche Bewegung hat unbewusste Komponenten, dazu gehören die automatischen Bewegungen der Haltungsanpassung. Bei der Bewegungsanalyse der Erwachsenen mit chronischen Rückenschmerzen begegnet der Untersucher meist ontogenetisch sehr frühen Bewegungsmustern. Fast immer zeigt sich ein Atemstereotyp wie beim 2 Monate alten Säugling (Lateralbewegung der unteren Rippen ohne Hebungsbewegung). Folglich fehlt die Stabilisierung für die optimale Rumpfvorbeuge und die Kopfanhebung aus der Rückenlage, aber auch für die Bewegungen der Extremitäten [10]. Damit die unökonomischen frühen Muster nicht gefestigt und verstärkt werden, muss jede Behandlung chronischer Schmerzsyndrome bei diesem Befund konsequent und stufenweise die Koordination der Rumpfstabilisierung auf entwicklungsmäßig höherem Stand anstreben.
Inkoordination beim Gehen und Stehen am Fuß erkennen
Die vermehrte Außenkantenbelastung des Fußes beim Gehen, auch abzulesen an den Schuhsohlen, kann oft beobachtet werden. Der automatisierte Bewegungsab-
lauf, auf den dieser Befund schließen lässt, entspricht einem ontogenetischen Entwicklungsmuster im 3. Trimenon (Collis horizontal, modifiziert von Vojta [14]). Bei diesem Hintergrundautomatismus ist die Fähigkeit, die Gelenke unter Belastung beim Gehen und Stehen zentriert zu halten, vermindert. Deutlicher wird dies, wenn der Patient willentlich das Belastungsmuster von der Fußbelastung her starten soll. Erwartet wird, dass beim Belastungsaufbau der Füße ein Aufrichtungsimpuls entsprechend der automatischen Haltungsanpassung die gesamte Wirbelsäule bis zum Scheitel durchläuft. Vielen Patienten fehlt das Gefühl für die Vorfußbelastung, noch weniger verstehen sie, die Belastung auf den gesamten Ballenbereich von Kleinzehen- bis Großzehengrundgelenk zu verteilen und dabei mit den Zehen losen Bodenkontakt zu halten. Wenn sie es – meist mit dem Protest „das geht gar nicht“ – doch versuchen, erreichen sie die mediale Belastung entweder durch Adduktion und Innenrotation im Hüftgelenk, sichtbar an der Bewegung des Knies nach medial, oder durch eine Beckenkippung mit Vorverlagerung des Rumpfs. Dies sind Zeichen der Inkoordination beim Gehen und bei aufrechter Haltung. Die zur Kompensation notwendigen Aktivierungsmuster bedeuten im Sinne der Bewegungsökonomie Inkoordinationsmuster. Aus diesen Inkoordinationsmustern erhellt sich die Pathogenese der Schmerzsyndrome.
Häufige Schmerzsyndrome der unteren Extremitäten Zu den Schmerzsyndromen am Fuß, die aus dem zugehörigen Inkoordinationsmuster resultieren, gehören z. B. die Morton-Neuralgie, der mediale Ballenschmerz, der plantare, mediale und laterale Fersenschmerz sowie die Achillodynie. Auffälliges sichtbares Störungszeichen im Fußbelastungstest ist am Knie dessen Bewegung nach medial durch eine Adduktion und Innenrotation des Oberschenkels. Schmerzsyndrome aus den regionalen Anteilen der Inkoordinationskette sind z. B. der Kniekehlenschmerz bei Kniebeuge (M. popliteus), das Patellaspitzensyndrom sowie die Chondropa-
thia patellae. Das „scheinbare Meniskussyndrom“ steht für die Dekompensation eines Teilmusters bei inkoordinierter Gangdynamik: Im Muster der lokalen myofaszialen Dysbalance mit lateraler Translation der Tibia entsteht der Schmerz aus der verspannten Muskulatur des Pes anserinus superficialis. An der Hüfte lässt sich im Fußbelastungstest oft beobachten, dass der Fußsohlenkontakt am Boden über Gewichtsverlagerung durch Hüftbeugung (M. psoas) aufgebaut wird. Nicht sichtbar ist die kompensatorische Aktivierung der kleinen Mm. glutaei und der Beckenbodenmuskultur. Die vermehrt notwendige Zentrierungsarbeit geht als erhöhte Grundspannung in die Spannungsphänomene Patrick/Kubis (M. iliopsoas, Adduktoren) und gebeugte Adduktion (kleine Mm. glutaei) ein. Diese Spannungen sind Teil des Spannungsphänomens „Beckenverwringung“. Die Dekompensation kann sich als Piriformis-Syndrom mit und ohne Bursitis, als Kokzygodynie oder als lumbosakrale, lumbale, bzw. thorakolumbale Schmerzsyndrome äußern. Die häufige Kombination der genannten Schmerzsyndrome mit chronisch rezidivierender „Zystitis“ bzw. „Prostatitis“ weist auf mögliche somatoviszerale Verkettungsreaktionen hin. Eine Form der Ausbreitung weiter nach kranial wurde bei den Koordinationstests Hüftextension beschrieben. Sie kann zu Schmerzsyndromen der Brustund Halswirbelsäule, des Schultergürtels und der Arme führen.
Neurophysiologische Ansteuerungsstörung
Sehr viele Schmerzsyndrome entwickeln sich aus Koordinationsstörungen, wenn überlastete Einzelstrukturen oder Musterketten dekompensieren. Aus dieser Betrachtung, die die neurophysiologische Ansteuerungsstörung als Ursache ansieht, erklärt sich die große Rezidivneigung von Lokalbefunden. Daraus wird deutlich, warum das Spannungsphänomen Beckenverwringung, das sich z. B. durch eine Gelenkbehandlung an Wirbelsäule und Becken schnell auflösen lässt, genauso schnell rezidiviert, wenn nicht alle verketteten Befunde im Bewegungssystem, im viszeralen und neurofaszialen System
in das Behandlungsprogramm einbezogen werden. Abhängig davon, welche Strukturen den aktuellen Schmerz verantworten, ist als Einstieg die manuelle Therapie der myofaszialen und Gelenkbefunde, die Behandlung viszerofaszialer oder auch neurofaszialer (kraniosakraler) Befunde nötig. Das Vorgehen muss verlassen werden, wenn diese Löschung der Nozizeption nicht auch zur Löschung unökonomischer, inkoordinierter Bewegungsabläufe führt (vertikale Verkettung). Geht die Behandlungsplanung weiterhin von der horizontalen Verkettung aus, schreitet die Chronifizierung fort. Erst wenn es gelingt, die unökonomische Koordination zu bessern, vermindert sich auch die Zahl der lokalen Rezidive. Die Koordination ist eng verbunden mit angeborenen Programmen und Programmen aus der posturalen Ontogenese und im Wesentlichen spinal repräsentiert. Höhere Koordinationsmuster müssen neu gelernt werden. In dieser Lernphase und bei allen intendierten Bewegungen wird die spinal-sensorische Rückkopplung ständig verarbeitet („Sensomotorik“).
Diagnostik und Behandlung der Inkoordination Bewegungslernen ist ein Prozess, bei dem die Reaktion auf einlaufende Afferenzen eine entscheidende Bedeutung hat [3]. Die angeborenen Programme aus der posturalen Ontogenese sichern die Reaktion auf die Afferenzen. Das Primat der Afferenz besagt, dass Bewegungsabläufe sich in Abhängigkeit von einlaufenden Afferenzen verändern. Folglich sind sie über nozizeptive Afferenzen auch störbar. Seit 1979 erarbeitete Janda auf der Grundlage des Prinzips der Afferenzverstärkung eine praxisrelevante Methode zur Basisbehandlung gestörter Motorik, die propriozeptive sensomotorische Fazilitation. Die kontrollierte Koordination der Basisstereotype Stehen und Gehen wird aus der Fußsohle mit ihrem sehr hohen Besatz an Propriozeptoren gestartet. Die Verteilung der Propriozeptoren ist an der Ferse und über der Basis aller Mittelfußknochen besonders groß. Mit diesen Teilen der Fußsohle soll der Patient den Bodenkontakt aufbauen und halten. Dabei wird
die Standphase des Stereotyps Gehen vom Beginn mit Aufsetzen der Ferse am Boden bis zur Ablösung der Zehen vom Boden aktiviert.
Fußbelastungstest im Sitzen Als gute Koordination wird erwartet, dass die Zentrierung aller Gelenke die Beinkette im mittigen Gleichgewicht hält und die Rumpfaufrichtung bis zum Kopf hin sichtbar durchläuft. Mangelhafte mediale (Großzehengrundgelenk) Belastungsfähigkeit, krallende, statt flach greifender Zehen, hyperaktive Zehenextensoren und Unruhe im Sprunggelenk zeigen die Inkoordination. Weitere Inkoordinationszeichen an der unteren Extremität sind oben beschrieben. An Rumpf und Hals ist erkennbar, in welcher Höhe die Stabilisierung abbricht. Ersatzmuster werden registriert; häufig sind phylogenetische Muster wie der Handwurzelreflex oder Zungenbewegungen zu beobachten.
Propriozeptive sensomotorische Fazilitation (PSF) Voraussetzung ist die Leistungsbereitschaft der Peripherie, d. h. die manualtherapeutische Behandlung von gelenkigen, myofaszialen, viszero- und neurofaszialen Funktionsstörungen und die Fazilitation der gehemmten Muskeln im Bewegungsmuster. Erst danach wird die eigentliche zentrale Steuerung des Bewegungsablaufs und die Ausprägung der Abweichung vom Ideal zu beurteilen sein. Durch den Vergleich zum Anfangsbefund wird außerdem die Relevanz der Einzelbefunde für die Störung deutlich. Die Therapie nutzt startend die Afferenzverstärkung aus den Fußsohlen. Zu den Methoden des Vorgehens gehören: F Bewusstmachen der Abweichung, Erklären der idealen Bewegung F Passive Führung der korrekten Bewegung, mitdenken → mittun → allein tun F Ständige aktive Wiederholung F Merkpunkte zur Erinnerung an die Wiederholung Die Korrekturen zielen auf die unbewusste (propriozeptive) und die intellektuelle (sensomotorische) Verarbeitung im NerManuelle Medizin 4 · 2014
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Übersichten vensystem. Die Automatisierung des Gelernten mit Übergang aus der kognitiven in die automatische Phase wird durch mehrere Grundbedingungen erleichtert. Koordinationsabläufe der Basisstereotype Gehen und Stehen bilden das Fundament der Übung. Aktivierungsafferenzen aus der Fußsohle stehen in ihrer Vielzahl für einen starken Afferenzinput zur Verfügung. Die Füße können den ganzen Tag an jedem Ort als „Übungsgerät“ benutzt werden.
Zusammenfassung Die Ausführungen beschreiben das gestufte System, das Janda zur Untersuchung und Behandlung manualmedizinischer Schmerzsyndrome hinsichtlich des Muskelsystems und seiner Steuerung und Regelung vorgeschlagen hat. Hemmung/Abschwächung – Verkürzung/RSV. Der Einstieg in die Vielfalt von Funktionsstörungen mit Muskelbeteiligung ist immer noch am leichtesten auf der Ebene der reflektorischen Aktivierung und Hemmung von Agonisten und Antagonisten. Janda hat die Wertung der bestehenden Muskelfunktionstests, ursprünglich für die Graduierung der Kraft gelähmter Muskeln entwickelt, um Wertungskriterien für funktionell gehemmte Muskeln erweitert. Er hat Muskelgruppen, die vorwiegend zur Verspannung bzw. reversiblen Verkürzung neigen, zusammengestellt und den Unterschied der RSV zur Verspannung in der Retraktion des Bindegewebes der Muskeln gesehen. Zur Behandlung dieser myofaszialen Funktionsstörungen hat er mit seinen Mitarbeitern Dehntechniken entwickelt, die vorrangig die bindegewebige Komponente erreichen. Die Behandlung der Dysbalance besteht in Dehnung vor Kräftigung. Syndrome muskulärer Dysbalance. Typische Kombinationen von gehemmt abgeschwächten Muskeln und solchen mit RSV am Rumpf, die die Statik der Region verändern und symmetrische Ausprägung zeigen, bezeichnete Janda als gekreuzte Syndrome. Diese Nomenklatur bezeichnet nicht die Pathogenese der Dysbalance, sondern ist die Beschreibung einer Befundkombination zur schnellen
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Verständigung der Therapeuten untereinander. Gekreuzte Syndrome sind besonders häufig bei konstitutioneller Hypermobilität zu beobachten und resultieren aus statischen Fehlbelastungen zervikothorakal sowie thorako- und lumbosakral. Wegen der wichtigen Stabilisierungsfunktion der RSV bei Hypermobilität ist die Indikation zur Dehnung erst bei hochgradiger Bewegungseinschränkung gegeben und die Verlängerung wird begrenzt. Bei konstitutioneller Hypermobilität sind gekreuzte Syndrome besonders häufig zu finden. Für die Bewältigung statischer Belastungen sind sie bei hypermobilen Patienten wichtige Kompensationsreaktionen. Die Dehnung erfolgt nur dann, wenn ein Funktionszustand erreicht ist, der zur Verkürzungsschwäche führt. Die Aspekte der Hypermobilität hat Sachse in Jandas Lehrbuch und das Lehrsystem eingebracht. Stereotypuntersuchungen – Koordina tionsstörungen. Der großen Variabilität der Aktivierungsfolgen in Bewegungsmustern wird die Untersuchung und Bewertung von Einzelmuskeln und Muskelgruppen nicht gerecht. Für die klinische Testung der Koordination werden Teilabläufe der Bewegungsmuster bevorzugt, deren Abläufe durch die gleichbleibende lebensbestimmende, lebenserhaltende Motivation relativ konstant sind (Basisstereotype). Horizontale und vertikale Verkettun gen. Für die Behandlungsplanung ist wichtig, Zusammenhänge in ihrer Wertigkeit zu erfassen. Die Kombination von Störungen, die klinisch häufig zu beobachten sind, werden Verkettungen [13] genannt. Beim gegenwärtigen inflationären und dabei sehr unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs Verkettungen erscheint Jandas Vorschlag von 1986 für zwei Vorgehensweisen bei der Bewertung für die Alltagspraxis und die Verständigung untereinander exzellent. Dabei ist die horizontale Betrachtung gerichtet auf die Befundkombinationen eines Metamers und auf die reflektorischen Reaktionen, die die Behandlung dieser Kette innerhalb der Kette und in den anderen metameren Strukturen bewirken. Sie ist legitim für alle akuten manualmedizinischen
Syndrome. Im Wissen um die Sensomotorik ist dabei auch auf Effekte zu hoffen, die regulierend in das Gesamtsystem eingehen. Wenn die Löschung lokaler Nozizeption nicht zur Verbesserung inkoordinierter Bewegungsabläufe führt, muss die alleinige Therapie horizontaler Verkettungsbefunde verlassen werden. Dies ist bei häufigen Rezidiven und chronischen manualmedizinischen Symptomatiken immer wichtig. Die orientierende Untersuchung von Gehen, Stehen, Arm- und Atembewegung gehört deshalb in die Erstuntersuchung von Patienten mit längerer Schmerzanamnese, denn die motorischen Regelungs- und Steuerungsstörun gen sollten schon sehr früh in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden (J. Buchmann, persönl. Mitteilung 2014). Das Therapieprogramm von Schmerzsyndromen des Bewegungssystems mit Verkettungsreaktionen in das viszerale, neurofasziale und Gefäßsystem unter Anpassung und automatisierter Veränderung der Bewegungsabläufe muss diese Befunde bei der Planung berücksichtigen. Die therapeutische Automatisierung optimaler Bewegungsmuster bleibt immer ein Problem, da die Störungsafferenzen der Alltagsgewohnheiten und des Alltagslebens in ihrer Summierung eine wesentlich höhere Intensität haben. Mit der PSF wird über Methoden der Afferenzverstärkung Zugang zum neurophysiologischen Vorgang der Automatisierung von Bewegungen gesucht. Der Vorteil dieser Methode ist, dass wir unsere Füße immer dabei haben, im Gegensatz zu Geräten wie z. B. „Galileo“ oder „Power Plate“ mit vielleicht höherem Wirkungsgrad in der Einzelsitzung. Die Afferenzverstärkung aus der Fußsohle lässt sich jederzeit an fast jedem Ort üben. Patienten können zur Selbstübung motiviert werden.
Schlussfolgerung In dieser Darstellung hat die Autorin versucht, die Vorzüge von Jandas Untersuchungs- und Behandlungssystems für die manualmedizinische/-therapeutische Weiterbildung und für den Gebrauch in der Alltagssprechstunde hervorzuheben. Eigene Sichtweisen und solche, die in der kriti-
Buchbesprechungen schen Auseinandersetzung im Ausbilderteam der ÄMM entstanden sind und zur Entwicklung des Systems beigetragen haben, wurden mit eingebracht. Eine weitere wissenschaftliche Hinterfragung der benutzten Thesen zur Erklärung ist notwendig. Dazu sei Vojta [14] zitiert: „Wo und wie das alles passiert, müssen wir gelassen anderen zur Erklärung überlassen, die unsere geordneten klinischen Erfahrungen kontrollieren und analysieren.“ Erst wenn neue wissenschaftliche Ergebnisse so ausreichend sind, dass sich daraus Methoden der Untersuchung und Behandlung ergeben, sollten die bewährten klinischen Erfahrungen verlassen werden.
Korrespondenzadresse Dr. K. Schildt-Rudloff DGMM/ÄMM e. V., Seminar Berlin für manuelle Medizin und osteopathische Techniken Puccinistr. 14, 13088 Berlin
Einhaltung ethischer Richtlinien
11. Lewit K (2012) Manuelle Medizin bei Funktionsstörungen des Bewegungsapparates, 8. Aufl. Urban & Fischer, München 12. Sachse J (2000) Hypermobilität – Hypomobilität? Untersuchung der konstitutionellen Beweglichkeit. In: Janda V (ed) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik. Urban & Fischer, München 13. Sachse J, Harke G, Linz W (2012) Extremitätengelenke. Manuelle Untersuchung und Behandlung für Ärzte und Physiotherapeuten. Urban & Fischer, München 14. Vojta V (1988) Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter. Enke, Stuttgart
S. Hentsch, R.E. Willburger (Hrsg)
Pschyrembel Orthopädie und Unfallchirurgie De Gruyter 2013, 1. Aufl., 350 S., (ISBN 978-3-11-028560-4), Hardcover, 39.95 EUR Die Autoren legen mit ihrem Buch ein tolles Nachschlagewerk vor, in dem sämtliche Begriffe, auch Krankheitsbilder und Behandlungstechniken, nach Stichworten geordnet sind und in einem sehr ausführlichen Text Erläuterungen bis hin zu tabellarischen Auflistungen geben. Hervorragend auch die Bebilderung, die einem Lehrbuch entspricht und keine Wünsche offen lässt. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, Lehrbücher zu ersetzen, sondern es ist in der Form des bekannten Pschyrembels gehalten und dient damit als Nachschlagewerk für Begriffe. Somit ist es nicht nur ein „Muss“ für Schreibbüros, sondern dient ebenso als schnelles Nachschlagewerk für die Weiterbildung junger Kollegen, beispielsweise in der Ambulanz. J. Grifka (Bad Abbach)
Interessenkonflikt. K. Schildt-Rudloff gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
Literatur 1. Chritchley M (1954) Discussion of volitional movement. Roy Soc Med 47, zitiert nach Bobath B (1993) Die Hemiplegie Erwachsener. Thieme, Stuttgart 2. Daniels l, Williams M, Worthingham C (1966) Muskelfunktionsprüfung. Thieme, Stuttgart 3. Freeman MAR (1965) Instability of the foot after injuries to the lateral ligament of the ankle. J Bone Joint Surg Br 47(4):669–677 4. Janda V (1959) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik. Volk und Gesundheit, Berlin 5. Janda V (1972) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik. Steinkopff, Dresden 6. Janda V (1986) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik. Muskeltest, Untersuchung verkürzter Muskeln, Hypermobilität, 2. Aufl. Volk und Gesundheit, Berlin 7. Janda V (1994) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik, 3. Aufl. Ullstein Mosby, Berlin 8. Janda V (ed) (2000) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik, 4. Aufl. Urban & Fischer, München 9. Jull GA, Janda V (1987) Muscles and motor control in low back pain: assessment and management. In: Twomey I, Taylor J (eds) Clinics in physical therapy: physical therapy of the low back. Churchill Livingstone, pp 253–278 10. Kolar P et al (2014) Clinical rehabilitation textbook. Prague School, Prague
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