Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion. Selbstbericht eines k a t h o l i s c h e n G e i s t l i e h e n , verSffentlieht mit Einleitung, Nachtrag, Anmerkungen und Epikrise von
Max Marcuse (Berlin). (Eingegangen am 8. Mdrz 1912.)
Der nachfolgende Bericht ging mir vor 1/s Ms zwei Jahren von einem katholischen Geistlichen zu, der mieh wegen seines Zustandes um Rat und Beistand bat. Der Patient, seiner Zeit 38 Jahre alt, wohnte ausw~rts, nicht nahe von Berlin, und mul~te sich darauf beschr~nken, reich schriftlich zu konsultieren. Er tat dies zun~chst in einem Briefe, in dem er reich fiber die zur Zeit qu~lendsten Symptome informierte. Ich gewann aus der Lektfire sofort ein w~rmeres Interesse ffir die Person und den Fall des Schreibers und machte ihm klar, dal~ eine briefliehe ,,Behandlung" bier vielleicht mehr als fiberall unm6glich sei und ieh, ohne ihn pers6nlich kennen gelernt zu haben, reich meines Urteiles und Rates enthalten mfisse. Meiner ~rztlichen Uberzeugung getable, ebensosehr abet auch, um dem in schwerer Not um Hilfe Flehenden nicht Steine start Brot zu reichen, schlug ich ihm vor, mir eingehend fiber sein ganzes Sexualleben zu berichten und sich alles, was ihn bedrficke und worunter er leide, herunterzuschreiben ; ich denke - - so ~ul~erte ich reich zu ihm in meiner Antwort - - , dal~ auf diese Weise zwar ich noch immer nicht in den Stand gesetzt wfirde, ihn aus der Entfernung ~rztlich zu ,,behandeln", wohl aber er sehon dutch die Aussprache an und ffir sich eine Erleichterung erfahren und ieh vielleicht doch irgendeinen Hinweis erhalten werde, der mir ermSgliehe, ihm eine brauchbare Anregung oder einen nfitzlichen Rat zu geben. Dal] ich bei dieser Aufforderung auch noch den unausgesprochenen Gedanken hatte, einen wissenschaftlieh interessanten Beitrag zur Kasuistik der Sexualpsychopathologie zu gewinnen, vermag und brauehe ieh nieht zu leugnen. Der Patient griff meine Anregung dankbar auf und kfindigte mir umgehend den Berieht an. Dieser traf in einzelnen Absehnitten naeh und naeh im Verlaufe von ca. drei Wochen ein. Ich habe den Empfang der Sendungen immer nur mit wenigen Worten best~tigt, ohne irgendwie auf den Inhalt Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. IX.
19
270
M. Marcuse:
des bis dahin vorgelegenen Berichtes einzugehen. Ich babe an den Patienten auch niemals irgendeine Frage gerichtet, seine Aufmerksamkeit niemals auf irgendeinen besonderen P u n k t hingelenkt, babe weder in meinem ersten Briefe, noch jemals sp~ter irgendeine spezielle Auskunft erbeten, - - kurz: alles - - ohne jede Ausnahme - - hat der Patient ungefragt und vollkommen spontan geschriebenl). Daraus erkl~ren sich die Liicken, die der Bericht, als Krankengesehichte betrachtet und beurteilt, aufweist, andererseits hat er dadurch an Wert gewonnen, weft jede MSglichkeit einer yon mir ausgegangenen, durch Inhalt oder F o r m der Fragen bedingten Suggestion auszuschliel~en ist2). Ich hatte das Dokument bisher liegen lassen, weft ich dachte, ich wiirde den Patienten noch pers6nlich kennen lernen; er hatte mir mehrmals einen Besuch in Aussicht gestellt, ~ber immer wieder abgeschrieben; die letzte Nachricht erhielt ich Ende vorigen Jahres; der Patient teilte mir darin mit, dal~ seine Absicht, reich Weihnachten endlich zu besuchen, abermals als unausfiihrbar sich erwiesen habe. So will ich denn die Ver6ffentlichung, die mir mit dem wissenschaftlichen Interesse des Falles zwingend begriindet erscheint, nicht l~nger hinausschieben, trotzdem der Mangel einer pers6nlichen Befragtmg und Untersuchung des Patienten den Wert dieser Arbeit beeintr~chtigt a). Es bleibt meines Erachtens des Wertvollen genug iibrig. Zuvor habe ich noch folgendes zu bemerken. Das Manuskript umfal~t ca. 4 Quarthefte - - in blauem Deckel - - , wie sie in den Schreibwarenl~den fiir Je 10 Pfg. k~uflich sind; die Seiten sind ohne Rand, mit engen Karos versehen und dicht beschrieben. Die ttandschrift 4) 1) Aueh naehdem der Bericht abgeschlossen vorlag, habe ieh keinerlei Fragen insbesondere auch nicht nach den Herediti~tsverh~ltnissen, an den Patienten gerichtet, weiI ich ihn persSnlich nicht k~nnte, auch bis heute noch nicht kennen gelernt babe und sehon deshalb die Wirkung, die solche Hinweise doch leieht auf seinen Gemiits- und Leidenszustand h~tten haben kSnnen, nieht zu fibersehen vermochte. 2) Dagegen hat auf den Patienten die Lektiire meiner Sehrift ,,Die Gefahren der sexuellen Abstinenz" (Leipzig, A. Barth, 1911), die fiir ihn der Anlal3 war, sieh gerade an mieh zu wenden, wohl einen gewissen Eindruek gemaeht; und ~hnliche Eindriicke sind offenbar auch yon der Lektiire noch einiger anderer sexologischer Arbeiten ausgegangen. DaB dies zu einer Verf~lschung des Tatbestandes im kleinen und einzelnen gefiihrt, dab dies namentlieh die Erkl~rungsversuehe des Patienten beeinflul~t habe, ist nicht unmSglich; da$ deshalb aber etwa die subjektive Wahrhaftigkeit des Berichtes und seine objektive Zuverl~ssigkeit in den wesentlichen Stricken in Frage gestellt werden diirfte, halte ich fiir sehr unwahrscheinlich, was nieht yon der Verpfliehtung entl~indet, den Schilderungen dieses Psyehopathen (-- man entschuldige diese anteceptio [ --) mit kritischer Zuriickhaltung zu begegnen. a) Siehe den ,,Naehtrag". a) Eine Schriftprobe gebe ieh nicht, um dadureh nieht die Identifizierung des Patienten zu ermSglichen.
Ein Fall von vielfach komplizierter Sexualperversion.
271
ist ziemlich steil, zierlich, klein, ,,perlenschnurartig"; die Buchstaben sind etwas ,,stilisiert" und daher nicht immer leicht zu entziffem, deutsch, nur in den FremdwSrtern lateinisch; der fibliche Unterschied zwischen Haar- und Grundstrichen besteht nicht; eher sind die Abstriche etwas weniger kr~ftig als die Aufstriche; das Manuskript zeigt so gut wie gar keine Korrekturen und ist tadellos sauber und korrekt gehalten. Das Ganze maeht ~uSerlich den Eindruek einer w e i b l i c h e n Arbeit; ich wfirde als den Verfasser eine gebildete und intelligente, energische und dermoch etwas eitle Dame vermuten. Der VoUst~ndigkeit halber ist erwhhnenswert, dal3 die Arbeit nicht frei yon orthographischen Fehlern ist; und zwar handelt es sich nicht um Flfichtigkeiten, denn sie kehren regelm~$ig durch das ganze Manuskript wieder; so sctu'eibt der doeh offenbar sehr gebildete V e r f a s s e r - noch dazu ein ,,Schulhrli cn . ,. ,,Schwehrmut . . . mann" - - stets z. B. ,,schwehr " , ,,schwehr , ebenso ,,Konsequens", ,,Abstinens" usw. Dal3 bier und da gelegentlich ein Wort ausgelassen und aus der Konstruktion gefallen ist, finde ich bei der Seltenheit dieser Vorkommnisse und dem Umfang des Manuskriptes durehaus unauff~llig. - - Schlie~lich ist noch eines zu bemerken. Die Darstellung des Patienten geht zwar im ganzen ziemlich streng chronologisch vor. Trotzdem feh]t ihr die Systematik und Geschlossenheit; die Ausfiihrungen sind wenig konzentriert, vielfach sehr weitschweifig und yon Wiederholungen keineswegs frei. Alles dieses versteht sieh beinahe yon selbst angesichts der Art, wie der Bericht zustande gekommen ist; abet es nStigte zu einer gewissen Redigierung des Manuskriptes - - nicht nut aus Raumriicksichten. Selbstverst~ndlich durfte ich hierbei aber nur mit der denkbar gr6Bten Zurfickhaltung und Zartheit vorgehen, und zwar nich~ nut gegeniiber dem Inha|te, sondern auch gegenfiber der Form des Originals, dessen Wesentliches unberfihrt bleiben mu~te. ,,Wesentlich" ist hier abet auch vieles yon dem, was vom literarischen und selbst vom stofflichen Gesichtspunkte aus als unerheblich zu bezeichnen w~re, da gera~le yon diesen Stellen her manches Licht auf die geistig-seelische Eigenart des Patienten f~llt und somit ffir die Beurteilung des Falles unentbehrlich ist. Das gilt besonders auch fiir die Exkurse des Patienten auf das religi6se Gebiet; die Bemerkungen fiber den Katholizismus, die Bekenntnisse des Patienten fiber seinen Glauben sind psychologisch (und sachlieh !) so bedeutsam, da~ ich reich nicht entsehlie~en konnte, sie bei der folgenden VerSffentlichung fortzulassen; dies um so weniger, als sie mir einen Beitrag zu dem wichtigen Problem der Beziehungen zwischen F r S m m i g k e i t , insbesondere k a t h o l i s c h e r Fr6mmigkeit und G e s c h l e e h t s l e b e n zu liefern sehienen. Dagegen habe ieh auf die Wiedergabe der zusammenh~ngenden, allgemein-philosophischen Auslassungen v o l l s t ~ n d i g , auf den Abdruek der zahlreiehen W i e d e r h o l u n g e n 19"
272
M. Marcuse:
i n d e n j e n i g e n A u s f i i h r u n g e n , i n d e n e n der P a t i e n t seine jeweiligen S t i m m u n g e n zu schildern u n t e r n i m m t , z u m g r S B t e n T e i l e verzichtet. I m iibrigen habe ich ausschheBlich solche Stellen gestriehen, die eine rein stilistisehe B e d e u t u n g haben, t~bera,ll, we i n der folgend e n Ver6ffentlichung der Originaltext u n t e r b r o e h e n wird, sind diese Liieken ausdriicklieh k e n n t l i e h gemacht. Soweit a b e t der Berieht i m N a c h s t e h e n d e n wiedergegeben wird, deekt sieh dieser A b d r u e k m i t d e m Original b u e h s t / i b l i c h . Einzig u n d allein o f f e n k u n d i g e l~liichtigkeitsfebler, sowie Orts- u n d /~hnliche Bezeichnungen, die auf die Person des P a t i e n t e n hinweisen k 6 n n t e n , habe ieh korrigiert. J e d e J~nderung dariiber h i n a u s ist u n t e r b l i e b e n . Die S a t z - A n o r d n u n g , insbesondere die E i n t e i l u n g in die versehiedenen A b s c h n i t t e , s t a m m t y o n m i r ; " abet ieh b a b e dabei die I n t e r p u n k t i o n , weil fiir d e n Stil des P a t . eharakteristiseh, gleiehwohl zu w a h r e n gesueht. I~
Ieh sehe es noeh vor mir klar, als were es gestern gesehehen - - ein heiger Augustnaehmittag - - die Sonne briitet und wirft gliihende Pfeile durehs Bl~tterwerk eines diehten WalnuBgebfisehes, und dort liegt ein 12j~hriger Knabe - er hat sieh mit dem Gesieht zum Boden hingestreekt - - er masturbiert ? Nein! er schwingt in der reehten Hand eine Haselrute und t~gt sie wohl hundertmal herabsausen auf Hinterbaeken und Obersehenkel; da Hose und Hemd abgestreift sind, so sieht man, wie die weiBe Haut yon den leiehten Hieben allmahlieh rosenrot sieh f~rbt, - - aber reehter Ernst ist's nieht; da erhebt sieh der Bengel, beugt sieh fiber einen Baumstumpf und sehl~gt nun kr~ftiger; dann aber stellt er sieh auf und selflagt nun mit ganzer Wueht, so, dab die dfinnen Ruten breehen; da nimmt er alas dicke Ende und sehlKgt, bis er yon SchweiB iiberronnen ist, bis das Rosenrot in Dunkelblau fibergeht und einige Blutstropfen an den Ruten h~ngen - naehher, als das Rot gewichen, sehleieht der Bengel vor Mutters Toilettenspiegel, reiBt sieh alas Beinkleid herab, und nun starrt er, als g~be es niehts Besehenswerteres in der ganzen Welt; nun starrt und starrt er minutenlang auf die blauen Fleeke und z~hlt sie; er bedeekt den sehwellenden Pfirsieh wieder; er deekt ihn wieder auf, langsam, dann rasch; und immer wieder starrt er die blauen Linien an, die fiber den meersehaumweiBen WSlbungen gezeiehnet sind. Lfisterne Selrilderungen zu geben, ist wahrhaftig nieht die Absieht Ihres Patienten, geehrter Herr Doktor; einmal aber mugten Sie es genau hSren - - ieh habe der Darstellung mit Absicht eine /isthetisehe F~rbung gegeben; denn diese Farbung ist wirklieh meinem jetzigen GesEBfetisehismus eigen. Meine Wollust hat/~sthetisehe F~rbung, und mein etwa ~sthetisehes Empfinden bekommt leieht wolliistige F~rbung. M.it Absieht nahm ich aueh das Stiickchen aus der Kinderzeit, we ieh ganz unverdorben, ganz unsehuldig war. Es gesehah alles ohne Masturbation, ieh erinnere reich, dab mir die Erektion des Penis dabei auffiel; aber es fiel mir nieht ein, diese Erektion mit dem Wollustgeffihl in Kausalnexus zu bringen, lch h/~tte iiberhaupt nicht sagen kSnnen, warum ich es tat; ieh hatte auch keine Phantasievorstellungen dabei, w~hrend sehr bald die Einbildungskraft hinzu kam und ich zurzeit yon einem Heer geiler Phantasiebilder erfiillt bin, die der bessere Tell meines Selbst glfihend haBt, - - doeh davon spEter... Ohne Seham konnte ich es sehreiben; keine Stimme im Herzen hSrte ieh: Du darfst nieht. Ein Kind, 9
Ein Fall yon vielfaeh komplizierter Sexualperversion.
273
des mal ganz u n d g a r u n d absolut im dunklen Drange aus dem Geheimnis der N a t u r heraus handelt ! denn - - merken Sie wohl - - ieh meg mein Ged~ehtnis anstellen wie ieh will - - ieh finde nichts, nicht das geringste, das yon augen den Ansto$ gegeben h a b e n k5nnte. Ieh bin niemals wie R o u s s e a u yon Mademoiselle L a m b e r e i e r geziiehtigt worden; Umgang m i t K n a b e n h a t t e ich darnels gar nicht; ieh fiirchtete mieh n u t vor K n a b e n meines Alters, well ieh ,,altklug" war und sie reich h~nselten. Prfigeleien m i t ,,~berlegen" - - des hiitte wohl in mir was anziinden miissen; aber ieh war sehr ,,artig", gar nicht ,,wild", wie ich h~tte sein miissen; ich las darnels viel, aueh Romane; viele Bilder aus einer illustrierten l~omanzeitung stehen mir noch vor Augen - - nichts, gar nichts Masoetfistisch-sadistisches war dabei. Jedenfalls aber war ich kein richtiger ,,Junge" - - einsam, tri~umerisch, roll Phantasie, der im P r i v a t u n t e r r i e h t (Sehule besuchte ieh darnels noch nicht) nieht gerade faul; lernte auch leicht u n d gerne Geschichte und Erdkunde, in den Sprachen u n d in Rechnen aber des grSBte Hornvieh, so dab es meinen Eltern schien, ieh wiirde nieht mal den ,,Einjiihrigen" machen kSnnen. - - Ich h a t t e einen einstiindigen Weg zum Unterricht, den ich immer allein ging, u n d auf diesen Wegen ist des geschilderte Stiickchen vielleicht ein dutzendmM in zwei J a h r e n vorgekommen. Ich kam in die Quarta eines Gymnasiums; das Geheimnis vom Ursprung des Lebens h a t t e ich erraten; ich wuBte - - als Landkind - - (Vater lebte darnels auf dem Lande), was ,,Deeken" war und wie daraus KElber wurden. - - Ich fragte Vater: Ist es so mit dem Menschen ? Vater gab keine rechte Antwort - - mein ~lterer Bruder aber sagte mir: J a ; es ist so; es mag unrecht sein, dab ich es dir sage, aber du wirst schon bald dahinter kommen; m a n h~nselt dich sonst zu sehr ! Ich weiB noch ganz genau, dab dieses , , J a " reich einigermaBen entt~usehte; ieh war schon genug yon dualistischem Gedankenstoff durchtr~nkt, es war mir peinlich, Vater u n d Mutter mir vorstellen zu miissen - - Mutter die K u h mit den stieren Augen, Vater der Bulle m i t dem groBen Penis, dem weiBen Schleim u n d den stieren Augen - - ich gehSrte ganz zu den Leuten, wie C a r l J e n t s e h sagt, die es dem Herrgott nicht verzeihen kSnnen, dab die Menschen nicht nach Art der Baumfriiehte zur Welt kommen. - - Doch sah ich im ,,groBen Meyer" Gebgren naeh - - und, als ieh nun sah, wie Miitterehen gelitten haben muBte, reich zur Welt zu bringen, da ging der Eindruck des Tierischen fort. Davon, dab ieh m i t meinen Selbstzfiehtigungen sehon ein wenig Bulle m i t stieren Augen gewesen, ahnte ich niehts. Das Gymnasium braehte vorerst noeh keinen Wechsel - - in den Juliferien kamen aber wieder Selbstziiehtigungen vor - - und hier begann langsam die Phantasie zu spielen. Ieh ging mit der Rute in einen R a u m mit Eisengitterfenstern, wo die Gutsobrigkeit manchmal Gauner einsperrte; ich blieb dort liingere Zeit; m i t den Hgnden fesselte ich reich ans B e t t ; ich phantasierte: der Schritt des Mannes, der mich richten wird, k o m m t ; er t r i t t ein - - VerhSr, Urteil - - Vollstreckung - Flehen u m Gnade, Sehmerzgeheul. Obrigens waren das Ferienvergniigungen - - wghrend des Semesters fiel mir kaum was ein! Indessen kam die Zeit der Vorbereitung auf die erste heilige Komreunion; ich h6rte yon den Selbstzfiehtigungen der Heiligen; ich war - - ein miitterliehes Erbe - - religiSs bis zur Uberspanntheit; es ward beschlossen, BuBe zu t u n : Du sollst biiBen, dab du schon eine Todsiinde begangen! Ein ,,Freund" niimlich h a t t e mir genau auseinandergesetzt, wie m a n masturbiert; er h a t t e auch die Empfindungen yon der Effusio seminis geschildert; u n d jetzt endlich fiel mir die Erectio penis bei den Selbstziichtigungen ein; u n d jetzt
274
M. Marcuse:
endlich wul~te ich, dal3 ich halb sehon auf dem Wege war, indessen die Jungen ziichtigten sich nieht; das war mein geheimes Wunder, das mit reich Stolz erffillte. Das Wort ,,Selbsterziehung" war mir yon irgendwoher angeflogen. Nun babe ieh aber einm~l nach einer Selbstziiehtigung doeh den l ~ t des Freundes befolgt, und so war die erste Masturbation vollzogen; nun aber Bul3e; mit Wollust daehte ieh es! Du hast Zfichtigung verdient wie nur einer. Lal~ nur die Osterferien kommen; dann wird das BuBgericht gehalten. Du hast noch vor deiner Kommunion die Unschuld, das Herzenskleinod, fiir einen Dreck hingegeben! Du sollst biil3en! Ich schleuderte die fanatischsten Kanzelphrasen gegen mich, ich schwelgte in sadistischen Phrasen gegen die Todsiinde, las Gebetbfieher mit sehauerlichen Fliichen und Strafdrohungen gegen die Siinde! Ich vollzog noch naeh der ersten Masturbation im fiinfzehnten Jahre mehrere Ziichtigungen ohne Masturbation; ich hatte erk~nnt, dal3 d~s leise, allm~hliche Anziehen des entblSl3ten Ges~13es Spielerei war, und dab die sp~teren energiseheren Sehl/ige nicht sehr schmerzten, well die Schl~ge ganz langsam von ganz leichten zu ,,richtigen" anwuchsen; auch wul~te ich aus dem Unterrieht, es sei unschamhaft und daher sfindh~ft, sich selbst unnStig zu entblSl3en, namentlich die ,,unehrbaren" KSrperteile. Aber sich mit dem Kopf nach unten fiber eine Rasenbank legen, Hinterbacken hoch, so dal3 sich das Beinkleid strammt, das war doch niehts Unehrbares? Und hatte ich denn dabei ,,unkeusehe Begierden", ,,unkeusche Gedanken"? Sich selbst schelten, zfichtigen, strafen, war das unehrbar ? Ieh suchte den Ort feierlichst aus, ein dichtes Waldgebiiseh auf einer grofSen Wiese; ein trockener Graben mit knorrigen armdieken, vom Wasser blol3gelegten Eichenbaumwurzeln; Kreuz, Rosenkranz - - langes Beten - - Bul3psalmen Davids - - Exekution (natfirlich ohne Masturbation) auf jede H/ilfte des strammgezogenen Ges~13es. Die Schlis mit einem fingerdieken Stock - - in langen P~usen - - aber dann so kr/iftig wie mSglich! Welehe Freude! Nachher waren wirklieh 12 blaue Linien zu sehen, namentlich auf dem rechten Hinterbaeken war ein dunkelbl~uer Strieh; die untere H~lfte der Hinterbacken schwelgte in Regenbogenfarbenglanzi Das wiederholte Nachsehen bei dem Spiegel war allerdings nicht ,,ehrbar"; aber Bticke auf blaue Flecke kSnnen doch nieht unehrbar sein; und zum wenigsten war das Besehen im Spiegel keine Todsiinde; also die HSlle stand nicht drauf. - Dabei war mir ganz wohl. Meine Sophistik iiberzeugte reich wirklich . . . II. Aber - - langsam - - langsam - - sehr tangsam kam eine Masturbation naeh der anderen - - nur alle 4--8 Wochen; und dabei arbeitete nur mehr die Phantasie - - Bul3psalmen, Ziichtigungen fielen weg. Die Phantasie stellt die Reden eines Jiinglings dar, der schilt und dann mich ,,fiberlegt", langsam stramm zieht; endlieh beginnt er; dabei wird der Penis zwischen die Faust genommen. Dies ,,Sexualziel" entstand im 15. oder 16. Jahre; und ist bis heute geblieben; nie habe ich den geringsten Drang zum Weibe gehabt. Schon damals waren die Jfinglinge immer schSn - - selbstbewuflt, yell milder Strenge; in meiner Umgebung war niemand sehSn; niemand legte reich fiber; die Phantasie nahm wohl Mensehen, die ieh gesehen; aber nur solehe, die ich ganz oberfl~ehlich kannte; die konnte dann die Einbildungskraft sieh benehmen lassen, genau wie es ihr einfiel - - aber bei bekannteren Personen ging das nicht - - da hatte die prosaische Wirklichkeit das Spiel der Einbildungskr~ft sogleieh zerst6rt. Ich litt seelisch sehr, denn ich war fromm, sehr fromm - - die Selbstziiehtigungen verwarf ich nun als ,,elenden Selbstbetrug", als Sekundaner nannte ieh e~ ,,diimonisehe Sophistik der Leidenschaft" - - ich beichtete volt Reue und mit
Ein Fall yon vielfach komplizie~ter Sexualperversion.
275
vollstKndiger Aufriehtigkeit; nach der Effusio grenzenloser Ekel; Vorsatz: nie mehr; drei Woehen sp~ter: noch einmal, das letztemal - - usf . . . . Ieh hatte einmal im Schlaf eine Pollution; diese machte mir grebe Serge; denn ieh hielt sie fiir eine krankhafte Erscheinung, fiir den Beginn einer Krankheir infolge meiner Masturbation; nun wurde der feierliche Schwur getan, nie mehr zu onanieren; knieend mit Furcht vor dem Kommenden! Mit der Angst dauerte es nieht lange; ich erfuhr - - wahrscheinlich wieder dureh das Konversationslexikon - - dab man krank nur durch ganz iiberm~Biges und Jahre fortgesetztes Masturbieren wiirde; die Angst hSrte auf, die Masturbation aber nicht; ob sie eine ,,iiberm~Bige" gewesen, weiB ich jetzt noch nicht; ich erinnere reich bestimmt einer Pause yon einem halben Jahre; ich erinnere reich, dab sic mir immer den Frieden stSrte, dab ich sehr froh war, wenn ich einmal oder das anderereal bei meinen Beichten (ich beichtete allc 4 Wochen) sic nicht zu erw~hnen hatte, denn auger der Masturbation hatte ich nie eine ,,Todsiinde" auf dem Gewissen und fiihlte reich dann ,,in der Liebe zu Gott fortgeschritten" - - ich erinnere reich, dab ich einmal die sechs ,,alopsianischen Sonntage" lfielt, d. h. 6 Sonntage hintereinander beichtete und kommunizierte, dab es reich sehr betriibte, an jedem dieser Sonntage die ,,Selbstbefleckung" beiehten zu rafissen, hatte ieh doeh wegen einer Geschichte, die der hl. Philippus Neri erz~hlte, bestimmt auf ,,Sieg" g e b o f f t . . . Was die Zahl der Masturbationen angeht, so wird as mir nicht leicht, hierfiber eine riehtige Angabe zu machen: sage ich, in den ersten Jahren durehschnittlich kaum alle 8 Tage - - im letzten Drittel der Gymnasialzeit wenigstens durchschnittlich einmal wSehentlieh, dann ist das sieherlieh nicht zu niedrig gegriffen. Ieh bin hie krank gewesen, aueh niemals faul - - ieh lernte schr fleiBig die Fgcher, die ieh konnte, Religion, Erdkunde, Gcschichte; die Sprachen und Mathematik qu~lten reich entsetzlieh; denn ich war sehr ehrgeizig und konnte kaum das Geniigend erlangen. Im Deutsehen sehw~rmte ich fiir die Dichter; ieh las sehr viel - - immer gute Sacheni Schakespeare, Goethe, Schiller - - niemals las ich Anreizendes; Liebesszenen las ich stets ohne Aufregung; dab es eine masochistische und sadistische SchSnliteratur g~be, wul~te ich natiirlich nicht; aber racine Vorstellungcn blieben stets masochistisch-sadistisch; stets lieB ich eine schSne Person (stets mgnnlich) die beschriebenc sadistischc Handlung vornehmen, und stets an einem schSnen Knaben; und dabei masturbierte ich! Eine Selbstziichtigung kam hie mehr ver; ich entziindete meinc Sinnlichkeit dureh Ansehauen eines bestimmten Knaben meiner Klasse; abet die die Masturbation begleitenden Phantasievorstellungen bildeten als den Ziichtiger meistens - - einen Griechen. Ich verkehrte n~mlich viel bei einer Familie, die im Salon ein grol~cs Buch liegen hatte: Bilder aus der Kulturgeschichte aller VSlker und Zeiten; war jemand da, so schaute ich immer die mittelalterliehen Bilder an - - war ieh allcin, die Griechen: Venus den Amor ziiehtigend: In einer griechischen Schule ziichtigt der Lehrer einen yon 4 Schiilern gehaltenen grol3en Knaben mit einer Rute auf den entblSBten Hintern - - ich sog das Bild wohl tausendmal in reich hinein - - - - - Alles ,,Zoten" war mir g r ~ l i c h zuwider; obszSne, hgl~lichc Bilder waren mir gr~Blich; die Knaben meines ngheren Umgangs hielten reich fiir sehr gutmiitig; aueh durfte ieh jeden necken; keiner nahm mir was iibel; indessen gait ieh nichts ein sehlapper Karl, den man gern hatte, aber nicht reeht hoehachtete. Von einem lieB ich reich wohl gem real fiber das Sofa legen oder tin wenig hauen; aber dabei stellten sieh soviel die Wollust stSrende Nebeneindriicke ein, dab ieh das kein halbes dutzendmal haben mochte. Einmal - - als Primaner - - m e r k t e ich, dab auch andere masochistisch fiihlten; ich wul3te das gar nicht; eine kleiner Vetter von mir im Matrosenanzug, 14 J a h r lieB reich - - ich weiB nicht wie - - merken, dab er iibergelegt sein wollte - - ieh -
-
-
-
276
M. Mareuse :
t a t es; ohne rechte Wollust, denn der Vetter war ein mfider, langweiliger, h/~B. licher J u n g e ; ieh t a t es - - mehr, u m fiberhaupt mal in eine so ganz ungewohnte Stellung zu kommen; ich war fiber reich selbst ganz erstaunt; rile h a t t e ich gewagt, einen Tertianer barsch anzufahren; u n d dieser wollte fibergelegt sein! W a r u m ? Ja, das verstand ieh sehr gut! E r wollte viel mehr haben, als ich ihm geben wollte, reizte mich durch Schimpfworte, u m mir AnlaB zur erneuten Zfichtigung (natfirlich nur Spielerei) zu geben. D a n n n a n n t e er reich seinen liebsten Vetter u n d verabredete mit mir eine Tour, wo wir zusammen schlafen wollten; ich willigte scheinbar e i n , u m ihn nicht zu verletzen; u n d schrieb ihm naehher u n t e r einem Vorwand ab, weil er mir so unsympathisch u n d langweflig war; in sexualibus war er kliiger als ich, denn er wollte das griechische Laster; u n d das kannte ich gar nicht trotz meiner wunderschSnen griechischen P h a n t a s i e k n a b e n ; die wurden n u t gezfichtigt, nie geseh/s w/~re die Tour zustande gekommen, so h/s der Tertianer den Primaner es lehren miissen. DaB er das wollte, steht beinahe fest; denn sp~ter erfuhr ieh, dab auf seinem Gymnasium sodomiert wurde; er selbst ist jetzt yon der ganzen Verwandtschaft in den B a n n getan, denn er h a t sp~ter sieh 5frets mit M~nnern abgegeben. Natiirlich hielt ich die Nacht mein griechisches Phantasiebild fest, aber ganz ohne den Vetter - - Meine Altersgenossen poussierten vielfach - - der kr~ftige, der mich real iiberlegte, heulte mal eine ganze Nacht, well seine Lia ihn verlassen. - - Ich s t a n d vor dem grSBten R~tsel! Der kr/iftige Junge war sonst so grKBlich kalt u n d gefiihllos - - wo ich welch und schw~rmerisch war; ich las mit Tr~nen Lenau u n d Eiehendorff; lernte Kassandra auswendig u n d las 10 Ges~nge des Messias von Klopstock; ich schw/irmte yon Frfihling und Blumen; fiir das alles h a t t e er n u t H o h n ; sonst war er mir an Verstand, Selbstgeffihl, praktischem Sinn sehr iiberlegen; und nun muBte ich ihn trSsten - - die Lia war ein albernes Schulm/idchen yon 16 Jahren. Ieh fand alle M/s n u t albern; ieh fand keine aueh nur hfibsch, u n d begriff nicht, wie m a n hinter den ,,G/insen" herlaufen konnte. J a ! Heines Liebeslieder, die lesen, das war der hSchste GenuB ! am FluB an J u n i a b e n d e n gehen u n d lesen, wie Romeo u n d Julia sich bereden - - das mochte ich; aber wie m a n mit diesen immer feixenden M~dchen, die fiir ernste Poesie keinen Sinn batten, fiberhaupt nur sprechen konnte, war mir unfaBlich. -
-
III. I m September 189'2 maehte ioh Abitfir u n d ging dann gleioh zum Milit~irdienst. Ich wollte Theologie studieren, nie habe ich was anderes wollen; ich h a t t e yon meiner Mutter, die zur katbolisohen Kirohe hbergetreten war, sehr viel religiSsen Geist geerbt - - und war ganz katholiseh, streng katholisch-ultram o n t a n erzogen worden - - dazu hatte meine Mutter den Vater, der evangelisch war, fiberredet. Vater wollte nun, ieh solle ,,anderen W i n d " um die Nase h a b e n u n d wenigstens erst dienen, das war sehr gut gedacht, aber ich bekam gerade den Wind, der reich ungliieklich machte, und der reich noch viel mehr in die Neigung zum religiSsen, u l t r a m o n t a n e n Mystizismus hineintrieb, der den EntschluB, katholischer Priester zu werden, nur befestigen konnte. Ich war n~mlich ein schlapper Soldat; die Offiziere glaubten, weft ich Sohn eines Generals war, weft ich aus einer westpreuBischen Milit~rfamilie stammte, ich mfiBte was Soldatisches im Blute haben, aber nichts rein gar nichts ! Das w~r mir furchtbar peinlieh; das ganze J a h r war mir eine fortgesetzte Qual. Vater sagte: mein S o h n . grau ist alle Theorie und griin des Lebens goldener Baum! die Stimme des Blutes wird in dir laut werden! Du wirst den Schulstaub hassen u n d wirst Lust zum Offizier bekommen! Wie recht
Ein Fall von vielfach komplizierter Sexualperversion.
277
hatte der Vater; h~tte man mir des Lebens goldenen Baum da gezeigt, we ieh dafiir meiner Natur nach empfindlieh war, ieh h~tte niemals katholische Theologie studiert. Auch die Stimme des Blutes ist erwacht, aber viel sp~ter! Allerdings nicht des soldatisehen Blutes, woven ich keinen Tropfen habe, wohl aber des protestantischen; meine Vorfahren beiderseits sind Protestanten; und meine s~mtlichen Verwandten! Ich sollte ganz frei w~hlen; niemand wollte eine Verantwortung iibernehmen; und ich w/thlte, wie ich w~hlen mu~te. Ich kannte mieh auch eben selbst nicht. Ieh kannte und liebte leidenschaftlich den Katholizismus, n~mlich seinen prachtvollen Mystizismus, seine vamdervolle Lithurgie, seine sinnberiickende Seh5nheit - - alle die tausend ~sthetisehen Momente, die ihn dem Protestantismus iiberlegen machen; ich liebte den Katholizismus, well ich seine eine Frau leidenschaftlich liebte - - die SehSnheit - - ; seine andere Frau kannte ich nieht; die andere Frau des Katholizismus ist sein fiirehterlicher Absolutismus, seine g r ~ l i c h rohe Geistes- und Gewissenskneehtschaft, seine gr~Bliche Herrschsucht, die den Massen jeden Aberglauben gestattet, herrliche Menschen und tiefe Gelehrten aber in die Verbrecherecke des Index steckt und dem Abseheu der Massen preisgibt. Der Katholizismus war mir ein Tempel yeller herrlieh sehSner Bilder und lockender Geheimnisse; dab er auch eine Schreekensburg ist mit Kerkern und schreckliehen Verliesen, das ahnte ieh nicht im mindesten. Einer h~tte mich retten kSnnen! Einer, der mich gut kannte, behauptete, ich miiI~te als Pfaff tier ungliieklieh werden; ieh sei ein Junge mit soviel Sinn ffir die deutsche Dichtung und mit soviel feinem ~sthetischen Sinn, daf~ er reich niemals als einen ultramontanen Pastor sich vorstellen kSnnte; fiir einen Pfaffen gehSre vor allem Sinn fiir Massenbeherrschung, und sei ich auch viel zu unpraktiseh; ieh sollte nach Miinchen gehen, sollte Germanistik und Kunstgeschichte studieren; aus mir kSnnte noeh nml ein Gymnasiallehrer werden, der den Piimanern Sinn fiir Goethe und Schiller beibr/s wie nur einer! Der Herr, der das sagte, hatte fast reeht! Ob ieh ein guter Gymnasiallehrer geworden w~re, wei~ ich nieht! Wie Sie aber sparer hSren werden, hat tatsiichlieh n~heres Eindringen in die deutsche Dichtung und deutsehes Denken meine ganze Orthodoxie zerstSrt; wahr ist auch, dab ich lieber bei Max Reinhardt Theaterlampenputzer w~re (um t~iglich Kunst zu sehen) als ein paar ]mndert BauernkSpfe regieren. Der Prophet, der allein recht hatte, wurde mit Schimpf und Schande fortgejagt; Mutter und ich schalten ihn als Ungl~ubigen und abgefallenen Katholiken - - Vater land die Zumutung, sein Sohn sollte ,,Schulmeister" werden, unglaublich! Er sprach immer mit grol3er Verachtung yon ,,Schulmeistern". Ich selbst hatte eine vielleicht mit meiner masochistischen Veranlagung zusammenhi~ngende Neigung, reich selbst ~uBerst gering einzusch~tzen; dab ich sollte Primaner beherrschen, schien mir geradezu Gr51~enwahn. Ich, der ich mit Mfihe und Not durch das Gymnasium gekommen war, Schulmonarch I DaB ich fiir die Sch5nheit klassischer Diehtwerke mehr Empfindung hatte, als selbst der Professor, das wuBte ich allerdings; ich war aber gewohnt, meine Leserei in den Klassikern als eine fiir das ,,praktische" Leben g~nzlich unfruchtbare Neigung zu betrachten; man schalt mich vielfach u n p r a k t i s c h . . , man sagte mir, ich h~tte keincn Sinn fiir das praktische Leben, lebte zu wenig mit den Fiil~en auf der Erde; ich mii~te ,,niichterner" werden; am meisten schmerzte es reich, wenn ich mal irgendwas zitierte, wenn man das dann als Geistreichtuerei verhShnte - - seit einem dutzend Jahren, nein l~nger n o c h - spreehe ich niemals mit irgend jemand fiber den Faust; aber ich gehe mit ihm und einem Kommentator heimlieh, ganz heimlich in den Wald und freue reich, da[3 ich weniger praktiseh, aber mehr ,,sen-
278
M. Marcuse :
timental" bin; meine Umgebung nennt ns Iiest, ,,sentimental".
einen Menschen, der ,,die Diehter"
IV. Bei dem Milits nahm ,,das Laster" erst langsam zu und dann raseh, so dab ieh vielleieht 7 Monate davon ts masturbierte. Die Vorstellungen wurden weniger grieehisch. Die geziichtigte Person wurde jetzt ieh selbst - - so, als Untersekundaner, wo ich ein hfibseher Junge gewesen war; und der Zfiehtigende war jener Liafreund Franz, der mieh wohl mal fiber das Sofa gelegt. Niemals fiihrte die Phantasie roh-wild-dumme Reden; stets spraeh Franz, ehe er bedauerte, mich ,,viiterlich" ziichtigen zu miissen, selbstbewuBt, feinhfhniseh, kaltl/~ehelnd und zog mir, nachdem er mich sorgfs fiber sein Knie gelegt hatte, langsam die Hose stratum, worauf er seine feine Reitpeitsehe ganz methodiseh-ruhig niedersausen liel~; in sehlimmeren Fs wenn er mieh bei dem Lesen des Faust entdeekt, mul3te ich selbst die Hose aufknfpfen und hiibsch demfitig mit entblfl~tem Hintern warren, bis er mich fiber einen Stuhl legte und mit einem Riemen mir 25 gab. Gern suchte die Phantasie jetzt die St/itten auf, die sie frfiher /ingstlich gemieden; statt der Pals und der Wohnung des Sokrates war es jetzt das Klassenzimmer, und dort ward ich fiber die Bank gelegt. Ich liebte in der Phantasie stets Variationen; in der Hauptsache blieb sie sich immer gleieh. Eine Prostituierte aufzusuchen, hatte ich nie den geringsten Drang. Natiirlich hfrte ich yon allen Seiten davon; Prostituierte sprachen mich selbst an - die Kameraden, die yon meiner Onanie wul~ten, forderten mich oft auf, nur einreal eine Prostituierte aufzusuchen, dann hfre es mit der Masturbation yon selbst auf. Ich tat es nicht, ich land das denn doch noch schlechter als meine Siinde; ieh wul~te auch nicht, wie man das denn eigentlich so im einzelnen anf/ingt; ieh ffirchtete, ausgelaeht zu werden. Ieh hatte nicht nur nicht eine Versuehung und keinen Drang, sondern sogar Schauer und Abneigung; in eins dieser schmierigen H/iuser gehen, mit derlei so sehreeklich geschmacklos angekleideten, frech lachenden Weibern sich abgeben, nein ! Da nahm ich abends lieber meinen herrlichen Dickens und weinte und lachte mit ihm. Aber ,,sittlieher" war ich ja nieht, wie die anderen so phariss war ich nie, das zu glauben; aber das einfs Reden mit den Kameraden, das dumme Zoten! niemand sprach ja von was Schfnem, nur von den Unteroffizieren; und mich neekten sie; war ich doch der Ungesehickteste; und das wurde bei mir um so mehr bemerkt, weil ich der ,,Generalsohn" war. Und das qu/~lte und ~rgerte mieh entsetzlich ! Um so sehfner war der Abend ! Ruhe, kfstliehe Ruhe, keine dummen, rohen, hs Menschen - - nein, Dickens' Welt! Und nachher Franz mit seinen Riemen, seiner Rute, seinem Radstock, seiner Reitpeitsche usf. . . . ,,Sic taugen zum Soldat, wie die Kuh zum F15tenspielen!" sagten die Unteroffiziere. ,,Wir mfissen Ihnen durchaus abraten, Avantageur zu werden; Sie haben vor der Front geradezu - - verzeihen Sie - - Ls ", sagten die Offiziere. V. -
-
Aber nun war ieh frei! Nun sollte das Leben erst anfangen. Friihes Aufstehen, Betrachten, Beten, eifriges Studium - - dann mfil~te es gelingen - - und es gelang. Im Oktober Exerzitien bei einem blinden Jesuitenpater. Die unvergeBliehsten Tage meines Lebens! Wie eine Neugeburt aus Schmaeh zum Streben nach beglfickender Herzensreinheit I Der ,,strengste" Beiehtvater wurde gebraucht ! Bis Weihnachten ohne Masturbation! Dann einige wenige Fs - - und bis Mai 1904 ohne ,,Todsfinde".
Ein Fall yon vielfaeh komplizierter Sexualperversion.
279
Der Friihling kam u n d die Ferien! Nun wollte ieh als ,,innerlieh freier" Mann mieh recht freuen, die Osterblumen freudig begriiflen, wollte n a e h dem beinahe unverniinftig vielen Studieren mieh recht erholen; jetzt konnte ich reich selbst aehten! Das war d e n n doeh eine Leistung! eine sittlicho Leistung ! Der sehwerste aller Siege ! Ich h a t t e reich selbst iiberwunden ! O Osterblumen! O Herzenshoffensfriihling! J e d e n Morgen u n d Abend wurde am Hausa l t a r bei brennenden Lichtern gebetet ! Beglfiekende Reinheit der Kinder Gotte~ ! . . Der Draehe sollte verhungern; Monatelang h a t t e ich ihm nichts gegeben - nicht meine Hand, beinahe auch niemals meine Phantasie, so dab wohl sexuell geistige Affekte vorgekommen sind, aber sexuell willkiirliche Affektationen yon einer gewissen Dauer n u r sehr selten. Ich erinnere mich sehr gut, dab nach den ersten Monaten Erektionen eintraten, fiir die mich absolut keine Schuld trifft - - ich h a t t e die Phantasie u n d das Auge gngstlich gehiitet u n d doch begannen nachmittags im Kellog sehr heftige Erektionen; ich staunte: weil ich den Vorgang so gar nie erlebt hatte. Zur Zeit der ,,Scbmach" begann immer erst die Phantasie bestimmte Vorstellungen auf der Bfihne des BewuBtseins, sodann kam die physische Hilfe, beide zusammen sieh steigernd arbeiteten bis zur Effusio, worauf d a n n stets das Geffihl des Ekels eintrat, woven der Schlaf ErlSsung brachte. Am anderen Morgen stets der erste Gedanke: du hast's getan! Hier aber - - bei einem hSchst mich interessierenden Vortrag, der absolut gar nichts libidinSs Anregendes enthielt, auch nichts fiir meine Speziallibidio, ohne die geringste Phantasiehilfe und ohne physischen Beistand! Erzdumm, wie ich war, erklarte ich mir das als Regung der ,,verdorbenen" N a t u r und als eine Folge der friiher so viel gereizten Libido; die rSmische Weisheit gestattet gnadigst, das m a n es der wenn auch (durch Adams Apfelschmaus) verdorbenen N a t u r zur Last lege; sie h a t es aber auch sehr gern, wenn m a n es dem Teufel zuschreibt, direkt dem ,,briillenden" LSwen; dal~ dieser auf seinen Wanderungen mich direkt tangiere, war mir zu absurd; also war es die N a t u r - - ,,das Fleisch geliistet wider den Geist". 9 . . Gegen das Weib war ieh nach wie vor kalt - - wie ein Eisblock - - ich sehaute sehr g e m schSne Madchen an, ich konnte die FrauensehSnheit ungestSrt yon geilem Empfinden genieBen; die Willenspolizei lieB den Augen darin volle Freiheit; aber, was anderes gibt's auf allen Gassen zu schauen! das gab der Polizei immer zu t u n - - es gibt fiberall - - Sehulknaben, frische bausbaekige, sie tragen reizende Matrosenanziige - - wenn sie laufen, spielen, springen, sich balgen, sich biieken, so zeigen sie - - ohne zu ahnen, was sis anrichten (taten sie es absichtlich - - freeh - - so ware das unsehSn u n d alle Wirkung fort fiir reich), - - so zeigen sie - - eine wundervoll geteilte Rundung - - etwas, das der Kiinstler zwar schSn n e n n t - - das aber gemeiniglich gerade als der unasthetischste KSrperteil gilt - u n d n u n bettelte das Tier nicht mehr um Phantasievorstellungen odor gar physisehe Hilfe; aber es bettelte immer wieder die Augen an, ihm K n a b e n zu zeigen, wie sie sich balgen, sieh biieken, das HSslein sich s p a n n t und die wunderbarste R u n d u n g sieh zeigt. Als die Ferien zu Ende waren - - am Tage der Abreise - - sah ieh zufallig, d a b eine Bauernfrau einen J u n g e n ziichtigte - - das entziindete mich dermal3en, da{~ ich nach langdauernden Erektionen zum ersten Male seit mehreren Monaten eine kleine physische Hilfe gab u n d eine Effusio bewirkte. Da ward mir das Herz ganz finster; die letzten Tage h a t t e n allerlei )~rger gebraeht - - das warum und wie gehSrt nicht hierher. - - In der Universitatsstadt angekommen, mietete ieh eine einsame W o h n u n g bei der Kapuzinerkirehe - - die ersten Tage des Semesters merkte ieh, da~ ich dureh mein scheinbar hochnasiges,
280
M. Marcuse :
wiehtig tuendes Ablehnen jedes Studenten, der reich fiir einen Verein keilen wollte, leise anfing, eine li~cherliehe Person zu werden; ich h a t t e gehofft, einen gewissen Freund, mit dem ich im Wintersemester gern verkehrt h a t t e (ein Student, der wie ieh nie abends ins Wirtshaus ging), wiederzufinden; er war so ziemlieh mein einziger U m g a n g gewesen; u n d so sollte es aueh im Sommer bleiben; dieser F r e u n d kam nieht wieder - - Von Haus kam ein i~rgerlieher Brief - - eine fiirchterliehe Sehwehrmut bedriickte mich - - - - - u n d da kippte der Wagen endlieh urn. VI. Ieh lieB Seelenheil Seelenheil sein - - ieh wollte doeh such frShlich sein! l e h t r a t in einen Verein u n d lebte jetzt, wie ein D u t z e n d s t u d e n t lebt. U n d zwar ein guter Dutzendstudent; ich besuchte die Kollegs im ganzen regelm~Ll]ig u n d war such zuhause zeitweise fleil3ig; ein Aufgehen im Verein war mir psychologisch unmSglich; im Trinken war ich fast ohne Ausnahme sehr m ~ B i g . . , tlbrigens kamen die Masturbationen (natfirlieh mit den bekannten Phantasievorstellungen) lange nicht zur quotidiana; ieh kann fiber die Zahl nichts Bestimmtes aussagen; ich bin aber iiberzeugt, dab ich durehschnittlich nicht mehr als einmal wSehentlieh masturbierte; u n d diese Angabe ist wahrseheinlich noeh zu hoeh. So hatto ieh wenigstens vor Erektionen Ruhe, und es lieBen mir die kleinen Matrosen Ruhe. U n d nun war der Oktober gekommen; u n d mit ihm beginnt eine Periode, die den Sieg brachte, wenn auch nieht den ganzen Sieg. Ich verzichtete n~mlieh auf das ,,freie" Studentenleben und t r a t in einen Theologenkonvikt, wo m a n in strengster Tagesordnung u n d klSsterlicher Zucht lebte. Es war dies mein freiwilliger EntsehluB; wohlgemerkt! ieh h~itte noeh zwei J a h r e ,,freier" S t u d e n t bleiben kSnnen. - - Es trieben reich noch viele andere Beweggriinde ins Theo]ogenkonvikt; ich darf darauf nicht eingehen, da es nicht zum Thema geh5rt; wahrseheinlieh h a t t e ieh es auch getan - - weil ieh immer ein tief religiSser Menseh war (und es noch bin). Jedenfalls aber daehte ich: allein hast du sehon vieles erreicht; mit den anderen zusammen, unterstiitzt durch die kl5sterliehe Zucht, gehoben durch den Strom, schwimmend mit dem Strom - - muB es dir gelingen - u n d es gelang - - wenn nicht ganz, so doch fast ganz. VII. Ieh war zwei volle J a h r e in einem sehr strengen Theologenkonvikt (es gibt aueh viel weniger strenge) - - Nur abgesehen yon den Ferien, in welehen einige wenige Masturbationen vorkamen, lebte ieh ganz ,,rein". Wie f u r e h t b a r ernst es mir damit war, m5ge I h n e n folgendes Stfiekehen beweisen; eines Tages wurde ieh yon sehr starken Erektionen gequ~lt - - selbstverst~ndlieh h a t t e ieh dureh freiwillig zugelassene Phantasievorstellungen nieht die geringste S e h u l d - - , die Erektionen waren so stark, dal~ nur ganz saehte Bewegungen des Beines u n d eine dadureh bewegte Reibung des Hemdes die Effusio bewirken mul3te, l e h h a t t e dabei keine sadistiseh-masoehistisehen Vorstellungen - - die h a t t e ieh mir wirklich abgewShnt - - und teils, um die l~stigen, beim Studium hinderliehen Erektionen loszuwerden, teils aus Wollust maehte ieh einige Bewegungen, welehe die Effusio bewirkten - - gleieh denselben Vormittag zum Beiehtvater: es wurde eine Beratung gehalten, wieviel wohl die N a t u r u n d wieviel der Wille getan habe - - wir kamen iiberein, dab die N a t u r zum mindesten die H~lfte getan, der Wille wahrseheinlieh die andere H~lfte; es sei - - so sehlol3 die Beratung - - wahrseheinlieher, dab eine Todsiinde vorliege, als dal~ keine solehe vorliege. Nun n a h m fiberhaupt der Beiehtvater meine sehon erw~ihnten ,,F~lle" in den Ferien sehr ernst, so ernst, dal3 er mir einmal riet, die Theologie aufzugeben; ieh nun erst reeht n a h m diesen , F a l l " furehtbar e r n s t . . , ieh pflegte abends naeh dem gemeinsamen Gebet
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
281
noch ein Extragebet zu spreehen, vor dem Bette knieend das Kreuz zu machen, bevor ich das Lieht 15sehte, und mit gefalteten H/inden einzusehlafen, damit der ,,bSse Feind" in den gef~hrliehsten Augenblicken vor dem Einsehlafen sieh mir zu n~hern nicht wagen mSge. Als BuBe wurden nun 8 Tage lang die 7 BuBpsalmen gebetet. Wenn - - die MSglichkeit eines Gedachtnisfehlers mug ieh zugeben - - mein Ged~ehtnis reich nieht t~useht, so ist das Theologenkonvikt nie dureh eine unzweifelhafte Todsiinde ,,entweiht" worden; a b e r die bSsen Ferienl Sobald ieh nieht dureh das MuB gehalten wurde zu einer strengen, aller GenuBfreude entsagenden Lebensweise, so stimmte es nicht ganz; in den Ferien stellten sich stets einzelne Masturbationen ein, das raubte mir die Siegesfreude, der Feind war nicht wirklich ausgerottet. - - Immer konnte ieh doeh nieht im Konvikt bleiben, und MSnch mochte ieh nieht werden. Eins gab es n~mlieh im Konvikt, das ieh grimmig haBte - - das war das Herdenmensehentum, dal~ man so gar nicht was Eigenes hatte, niehts Eigenes war - - das haBte ieh. Die Erfahrung bewies mir, dab ieh nur in diesem verhal~ten Herdenleben ,,keusch" sein konnte; nun war die Konsequens: ,,Also werde 1V[Sneh!" Aber diese Konsequens war zu hart, denn dies war zu sehr gegen meine Natur. Aber wie sollte es denn werden? Ein Priester und Masturbant! Ffirchterlicher Gedanke! Es gehSrt hier zum Thema, folgendes uus der Moraltheologie zu erw~ihnen: Ein Priester in der Todsiinde ist das Ffirchterlichste, was die ausschweifendste Phantasie erdenken kann; er ist eine lebende Todsiinde, denn jede Sakramentsspendung ist Todsiinde; zum allerwenigsten mug ein Priester, der im Stande der Todsfinde lebt, t~glich zwei Todsfinden begehen; denn jeden Tag liest der Priester die Messe - - er konsakriert und kommuniziert ja in jeder Messe. Jede Spendung der Absolution ist Todsiinde; an Tagen, an welchen viele Leute beichten, kann ein Priester auf 100 Todsiinden kommen; ein Fall, der sonst in anderen Verh~ltnissen bei Laien ganz undenkbar ist. Aus diesem Zustand kann den Priester nur die Beichte retten; er mug sobald wie mSglich beiehten; kann er das nicht sofort, so kann er sieh retten, wenn er einen ,,Akt der vollkommenen Reue" erweekt mit dem Vorsatz, sobald als mSglich zu beichten. - - Aber ich konnte doch nicht jedesmal zum Pfarrer laufen; das war ja eine schreckliche Alternative! Natiirlieh durfte sich der Pfarrer ja dann nicht das leiseste merken lassen; aber zu wissen, dab er d a s wiiBte! D a s ! Ich war des festen Glaubens, es sei keiner oder nur wenige im Konvikt, die ,,es" t~ten; ich war lest iiberzCugt, dab die Priester im allgemeinen keusch lebten! Und ich nun als Priester in dieser Schmach ! Naeh alledem ist zu begreifen, wieviel mir daran liegen muBte, ganz und vollst~ndig zu siegeni Und doeh verliel~ ieh Herbst 1896 dab Theologenkonvikt, um noch ein halbes J a h r vor dem Introitusexamen ,,frei" zu studieren; ich daehte: wenn du zu sehwaeh bist, iiberhaupt je in der Freiheit keuseh zu sein, dann kann dir das halbe J a h r auch nicht die Festigkeit bringen; zudem kam ja Herbst 1897 die heflige Weihe; und mit ihr eine ,,Fiille von Gnaden"i Und so verlieB ieh denn finster und schwehren Herzens das Konvikt; doeh froh, es niemals wiederzusehen. Drei Dinge sind noeh zu erwi~hnen: 1. In jenen 2 Jahren habe ich nie eine Pollutio nocturna gehabt, die ich immer erwartete. Uns wird ni~mlich folgendes gelehrt: Es sei falsch, dal~ der Mensch die Effusio seminis voluntaria fiir seine Gesundheit nStig habe; natura ipsa sese adjuvat; diese Selbsthilfe leiste sich die :Natur im Sehlaf; venerisch gef~rbte Tr~ume begleiteten diese Effusio; sie sei nur siindhaft, wenn man dutch freiwillig zugelassene Phantasie vor dem Einschlafen ,,schuld" daran sei. Bei ,,normalen" Menschen stellten sieh die Effusiones
282
M. Marcuse:
ungef~hr in jeder 3. Woehe ein; bei keinem Tier babe man solehes beobachtet; und in der Tatsaehe dieser Effusiones allein beim Mensehen liege ein Hinweis, dab der Mensch in dieser Beziehung vom SehSpfer so eingeriehtet sei, dab ihm die Totalabstinenz niehts schade (vgh L e h m e n t h , fiber Delectatio morosa und die bekannte Pastoralmedizin von C a p p e l m a n n ) . 2. Das Ausbleiben der Effusiones erkl~rte ich mir als Folge der friiheren so reiehliehen Masturbation; nun aber litt ieh sehr unter Sehwehrmut und Traurigkeit, die einmal - - was bei meiner heiteren Natur sehr merkwfirdig ist - - drei bis vier Wochen ohne Unterbreehung anhielt und sich dermaflen steigerte, dab ieh allen Ernstes ffirchtete, verrfiekt zu w e r d e n . . . 3. Vielleicht fragen Sie, wie denn der Traktat de sexto in der Moraltheologie auf mich gewirkt habe? Gar nieht! Im Kolleg wurde das Kapitel iiberschlagen; wir bekamen den Rat, sp~ter unter Gebet und Vorsieht die betreffenden, stets lateinisch gesehriebenen Absehnitte fiir uns zu studieren; ich habe sie damals kaum angesehen. VII1. Die Ferien lieBen Schlimmes fiirchten fiir den kommenden ,,freien" Winter 1896/1897. Denn es kamen hKufiger als sonst Masturbationen vor, und nach einer Pause yon vollen 2 Jahren begannen wieder die masoehistisehen Spielereien. Ich freute mieh, nun in der Freiheit streng asketisch zu leben; ich muflte mir beweisen, daft ich aus mir heraus, aus Grfinden der Vernunft und des Glaubens ein strenges Leben fiihren k S n n e . . . Die Tagesordnung ward genau entworfen - ieh hatte mir eine Peitsche gekauft mit silbernem Griff - - und ieh habe reich ein einzigesmal gesehlagen - - es waren nur 12 Sehl~ge; die waren ernst; man konnte blaue Streifen noch 8 Tage sp~ter sehen; darnaeh - - nieht gleieh - - naeh 5 Tagen kamen zwei Masturbationen in einer einzigen Nacht; und da wurde der ,,felsenfeste" EntsehluB gefaflt, nie mehr zu schlagen; als Symbol solehen Entsehlusses wurde die Peitsehe verbrannt; selbst der silberne Grill ward in den Ofen getan!!! Anfang Mai kam ieh in das Seminar. Der Sommer 1897 brachte viel seelische Erregungen. Ich hatte sehr viel zu tun und sehr viel in Kopf und Sinn. Ich hatte gemeint, bei soleher Ffille werde sich das Venerisehe kaum noeh melden! Wie tSricht war diese Meinung. Erektionen traten h~ufig und heftig ein; bis gegen Ende Juli aueh einige Masturbationen, allerdings in gemilderter Art; da reich der Drang sehr beunruhigte, so legte ieh mich einige Male fiber die Bettkante, was genfigte, um sogleich eine Effusio herbeizufiihren; es gesehah zum groBen Teil nur, um L5sung der Spannung zu bewirken und dadurch mehr Seelenruhe und erhShte Konzentration auf das Studium. Einmal babe ich mir eine Rute gebunden, bin in der Naeht aufgestanden und habe mieh dermaBen verhauen, dal3 schlieBlieh einige Blutstropfen flossen und ich eine Woche lang beim Sitzen stets an meine L~cherlichkeit erinnert wurde... Auch im Juli und August kamen noeh allerlei Dinge vor, die reich sehr beunruhigten: Erektionen, begleitet von ffei/villigen, lange dauernden masoetfistischen und sadistischen Vorstellungen; ieh beiehtete sie stets als ,,unkeusehe Gedanken" -ieh lief aueh oft zum Beiehtvater, nut um reich zu beruhigen; der wollte meine Beiehte nieht hiiren und sagte begiitigend: Es sind ,,Versuchungen"! - - . . . . Im September die W e i h e ! . . . Die Gnade des Sakramentes der Priesterweihe st~rkte mich. Es folgt eine Zeit g~nzlieher Abstinens bis zum Sp~tsommer 1 9 0 0 . . . Im Februar 1898 geschah endlich das L~ngsterwartete - - die erste Pollutio noeturna. Deo gratias! Die Natur schaffte sieh ein Ventil; nun hoffte ieh, dab die Erektionen und die stete Unruhe und Angst sehaffenden Vorstellungen aufhSren wfirden! Die Pollutionen k~men genau - - wie es in den Biichern stand - ungef~hr alle drei Wochen - - ich waehte kaum dabei auf; und wenn ieh a u f -
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
283
waehte, war es sehon vorbei; die psyetfisehen VorgEnge waren zwar die alten, abet ieh h a t t e sie nieht vor dem Einsehlafen angeregt, u n d so schien denn alles, wie es sein m u B t e . . . Trotz der Pollutionen blieben fiber Tag Erektionen nieht aus; ieh lieB sie zu, liel] auch die P h a n t a s i e n zu - - u n d so war mein Gewissen niemals rein - - ich mul]te immer wieder unkeusehe Gedanken beiehten; doeh war das nicht sehlimm. Es muff sehon ein sehr strenger Beichtvater sein, der ein Beiehtkind scharf anfaBt, wenn es n u r dureh unkeusche Gedanken siindigt. Aber ganz aufrichtig war ieh doch nieht in der Beichte! Ich lieB etwas aus, das n u n doeh vielleicht Todsiinde war; u n d ieh lieB es aus, well es gar zu sehSn war u n d well ich reich sehgmte, denn der Beiehtvater war zugleieh mein Hausgenosse u n d Vorgesetzter. Ich ging gern in ein Badezimmer mit weiBen Marmorfriesen u n d langem Spiegel; ieh war damals ganz hfibsch u n d rein u n d schlank; u n d n u n schaute ich mich selbst an; ich h a t t e niemals eine ~sthetisehe Abhandlung fiber die SchSnheir des menschlichen Leibes gelesen - - ich schwelgte ! ich seh~ute mich a n - - im Spiegel des Wassers - - ein unsagbares Wohlgeffihl erfiillte reich; zuweilen h a t t e ich blaue Striemen, gelbe Fleeke, denn ieh gab mir noch zuweilen eine Traeht Priigel - - aber meistens stSrte nichts das aphroditische Weifl - - ich s c h w e l g t e . . . IX. I m unteren S t a n d gesehieht es oft, da$ junge Kleriker in eine Stellung kernmen, we sie sehr, sehr wenig zu t u n haben. Ich wu$te nieht recht, was ieh mit meiner t~berffille a n freier Zeit anfangen sollte; an meiner ersten Stelle war meine Zeit einigermaBen ausgefiillt; an meiner zweiten Stelle h a t t e ieh a n 6 Wochentagen fast niehts zu t u n . . , mich qu~lte das! reich betriibte u n d driiekte es! Jeder Menseh heutigestags h a t viel zu t u n l U n d ieh? Ein inhaltloses L e b e n . . . I n dieser Pein u n d Not bet sich mir ein A u s w e g . . . I n diesen Zeiten, we m a n die Kirche langsam, sehr hSflich, aber sehr zielbewuflt aus der Schule hinauskomplimentiert, h a t der Bischof es se|rr gern, wenn die Kleriker Mittelschulexamen maehen; d a n n kann ihnen die Leitung der kleinen sog. Lateinsehulen nicht vorenthalten werden. Ich h a t t e Zeit, reich auf dies Ex~men vorzubereiten. Man mul3 P~d~gogik studieren u n d sich sonst ein Faeh wahlen; u n d ieh w~hlte Deutseh: ieh stand wie geblendetl I m m e r h a t t e m a n mir suggeriert, meine das DurehsehnittsmaB fibertreffende K e n n t n i s deutseher Klassiker sei ganz u n d gar ,,flit die K a t z " - - u n d nun sah ieh plStzlich, dal~ mir diese K e n n t n i s praktisehen W e r t haben konnte - - Grundlage war vorhanden; ja, u n d Begeisterung fiir dieses Stud i u m . . . Man mul~ sich einen Diehter wahlen, den man-tiefer durchforseht; und ieh n a h m Schiller u n d las nun seine Briefe, las Kommentare, v e r s t a n d das meiste und war so gliieklieh, wie ieh mieh nie, rile seit vielen J a h r e n geffihlt hatte. - Ieh mullte es tatig studieren; ieh durfte u n d mul~te viele Geister kennen lernen, die nieht u l t r a m o n t a n abgestempelt sind, aueh K a n t lernte ieh etwas kennen - u n d war unbesehreiblieh glfieklieh; ich las hie mehr wertlose Belletristik; keinen Morgen gab es mehr, den ich vertrSdelt hatte! U n d die Aussiehti Ein Rektor! Kinder! Den ganzen Tag zu t u n ! Mein Herz sehnte sich naeh Mensehen; ich wollte fiir Menschen leben u n d arbeiten! Ieh sehnte reich d~nach, Liebe zu geben u n d zu empfangen! Das ist alles wahr - - aber - - ein Aber war dabei - - die F r a u Venus h a t t e bedeutende Aktien genommen bei dem ganzen U n t e r n e h m e n ; u n d sofort begann sic kleine Dividenden einzuziehen. Sie flSBte mir ein merkwiirdiges Interesse ein ffir asthetisehe Betraehtungen fiber den mensehlichen KSrper - - sie gab mir bei der Padagogik grol3es Interesse fiir die griindliehsten ErSrterungen fiber
284
M. Marcuse :
die Frage der kSrperlichen Ziiehtigung - - ieh hatte in den letzten Jahren wohl gesiindigt dadureh, dab ich nieht alle Mittel aufgewendet hatte, die Erektionen zu entfernen und die Phantasie zu kiihlen, aber niemals eine positive physische Hilfe geleistet. Dutch gutes Essen dicker geworden, gliicklich in meinem Studium - - begann Frau Venus mir zuzureden, ich solle doch bei Erektionen die Phantasie mehr mit dem schSnen Aristides oder dem Antolynos aus dem Gastmahl des Kallias spielen lassen - - die Zulassung solcher Vorstellungen wurde gegeben und dann 1/inger und noch 1/inger unterhalten; allmiihlich bekam Antolynos die Rute - - und schlietllieh ring ieh an, bei solchen Erektionen und Phantasievorstetlungen den Penis zwisehen den Beinen zu d r i i c k e n . . . - - das kompromittelte sieh noeh einige Woehen so bin - - bis dann vielleicht im August 1900 die erste Effusio seminis bewirkt war; damit war das Ende der Masturbationsabstinenz erreieht... X. In meiner Phantasie ziiehtigt stets ein junger Mann, der sieh stets sehr rein ausdriickt, nie roh und wiitend, doch stets grausam kalt ist, einen Knaben yon etwa 14--16 Jahren. Dieser Knabe ist stets schSn und tadellos angezogen, hat immer sehneeweille Z/ihne und ist gegen seinen Herrn stets von einem Gefiihl effiillt, das man eher Adoration als sehw/irmerisehe Liebe nennen kann. In jenen Knaben denke ieh nun mein Ich hinein; ich riiste diesen Knaben aus mit entztickender Schamhaftigkeit und reizendem iJbermut; die Delikte, wegen deren er bestraft wird, sind stets yon jener Natur, die dem Erzieher gute geistige Anlagen verraten und keeken Mut und eine gewisse herrliehe Courage gegen die Welt. Diese prachtvolle Frechhei$ steht im Gegensatz zur tiefsten Demur, sehrankenlosesten Hingebung und Liebe gegen den Erzieher. Mein Knabe ist praehtvoll keck gegeu alle Welt; es ist ein psychologisches Gesetz, dab wir gerade jene Eigenschaften am meisten seh/itzen, die wir nieht haben. Von Keckheit und Furchtlosigkeit gegen die Welt hatte ieh in der Jugend viel weniger als nur der Durchsehnittsmenseh. Die Phantasie beseh/iftigte sieh nun eingehend mit den verschiedensten Ziichtigungsinstrumenten, den verschiedensten Stellungen und sucht dureh unendliche Variationen des stets gleichen Themas Erh5hung der Wollust herbeizufiihren. . . . Sic, Herr Doktor, sind der einzige Menseh, der in die masochistischsadistischen Geheimnisse meines Inneren gesehen hat, und Sie miissen darum fragen: wie verhalten Sie sich zu den Knaben ? Seit genau 7 Jahren bin ich jetzt Sehulmeister; 2 J a h r e vorher gab ieh schon t/iglich Stunden zur praktischen iJbung in der Volkssehule. In diesen 9 Jahren hat sich mein Verhalten genau so gezeigt wie in den G y m n a s i a l j a h r e n . . . Meine Venus war immer phantastisch/isthetisch - - sie lehnte immer Projizierungen naeh aullen a b . . . Es w/ire n/imlieh ganz unrichtig, wenn ich behaupten wollte: Ich mSchte mal gern ein perverses Vergnfigen haben, reich ,,massieren" lassen; ich mSchte gern t/iglich Jungens ziiehtigen, mSchte sie qu/ilen - - ieh tue es aber nicht, well ieh in Unannehmlichkeiten k/line. N e i n ! Ieh m 5 c h t e es nieht! Ich t/ite es nicht, wenn ieh es kSnnte. Der Beweis liegt darin, dall ich in einem gewissen Grade Kinder qu/ilen kSnnte, ohne in Unannehmliehkeiten zu koInmen; meine Stellung maeht mir das mSglich. Im Gegenteil: Ieh bin eft getadelt w~rden, dall ieh die Kinder zu wenig strafe. - - Es ist keine Folge meiner Selbstbeherrschung, wenn ich niemals auf irgendeine Art sadistisch mieh bet/itige, der Art, daB dieses zu tun mieh wohl geliistete, und ich es eben aus Griinden der Klugheit oder aus Anstand, Edelrout u. dgl. unterlielle - - in meiner Phantasie denke ich mich auch niemals in eines der konkreten, mir t/iglich zum Umgang gegebenen Kinder hinein, sondern nur 9
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
285
in fremde, entweder fliichtig in Wirklichkeit oder - - was meistens der Fall ist - auf Bildern gesehene. Wegen dieser besonderen Eigenttimliehkeit meines libidinSsen Gedankenspiels kann man mir jedes Kind getrost anvertrauen, da sie mir keine ,,Versuehung" s i n d . . . Aber ieh muB mit dem Gest~ndnis heraus, dab ieh doch vielleicht fiinf- oder sechsmal Jungen geschlagen habe, we durchaus das Schlagen h~tte unterbleiben kSnnen, j~ sogar mfissen. Es ist dies gerade in der Zeit sexueller Abstinens geschehen; seit 7 Jahren ist es nicht mehr geschehen; wohl sind in den letzten 7 Jahren einzelne Zfichtigungen vorgekommen, aber ich kann durchaus, so streng ieh mich erforsche, diese ZSchtigungen als verd~chtig nicht bezeichnen. Bei einer Ziiehtigung ha~e i~:1 selbstredend Erektionen, starke Erektionen, aber keine Effusio. Die dabei empfundene Wollust wird zehnmal aufgewogen durch andere unangenehme Empfindungen. Seit Jahren vermeide ieh jede Ziiehtigung, ~uch in F~illen, we andere Strafen als nieht so wirksam erscheinen. Wie Sie vielleicht gehSrt haben, hat Bosse als Kultusminister seinen Namen f/ir den vielgenannten ZfchtigungserlaB hergegeben. Danach mul~te man Listen ffihren mit Rubriken, we anzugeben war die Art der Zfichtigung, j~ die Zahl der erteilten Schl~ge. Diese Liste ffihrte ich mit Wollust und sehrieb solches immer auf mit den st~rksten Erektionen; ~ber zugleich konnte sich mein Urteil fiber diesen ErlaB ebensowenig triiben, wie bei irgendeinem, d e r n u r ein wenig mit P~dagogik sich besch~ftigt hat. Dieser Erlal~ ist einer der tollsten Streiche unseres ,,Nationalheiligen", des St. Bfirokratius und ein p~dagogischer Unsinn erster Giite . . . . . . . . . . . . . . Die erw~hnten Zfichtigungen ohne ausreichenden Grund bilden mir stets eine beseh~mende Erinnerung. Sicher ist, dal3 ich einmal eine Abstrafung von 4 Knaben 3 - - 4 Tage vor mir hatte und nun in diesem Vorhaben, in dem Ged~nken an die bevorstehende Exekution mieh wollfistig aufregte; dab ieh w~hrend dieser Tage dureh einen ungeheuren Aufwand yon Sophismen reich fiberreden wollte, ieh h~tte die p~dagogische Reehtfertigung - - es gelang mir aber nicht; nachher aber w~r der Abscheu fiber diese Tat als eine Konnexion yon Roheit und Dummheit sehr qu~lend. Ieh brauehe wohl nieht zu bemerken, da~ jene Ziiehtigungen - - wenn such p~idagogiseh nicht zu rechtfertigen - keine MiBhandlungen gewesen sind. Alles in allem sind meine sadistischen Exzesse fiber ein Minimum nieht hinausgekommen; sie sind kaum soviel Worte wert! Aus ihnen sind dem Bewul~tsein solehe Besch~mungen erwachsen, dab ich nunmehr schon seit gewiB 5 Jahren nur dann zum Stock greife, wenn es ~ndere l~ngst get~n h~tten. Ieh hatte einige sehr schwierige Ch~raktere, bei denen jeder dieses Mittel mal versueht h~tte; die habe ieh auch mal geprfigelt - - sie sind inzwisehen Primaner geworden und haben auch auf dem Gymnasium Schwierigkeiten bereitet; ich kann ohne das leiseste Unbehagen sie sehen und mit ihnen spreehen; anders bei einem jungen Manne, den ich als Quartaner einmal ziiehtigte - - ohne rechten Grund und sadistiseh; denn er hatte eine wundervolle Figur; diesem gehe ieh fSrmlich aus dem Wege, so peinlich ist mir sein Anblick; die Scham q u i l t mich. Da ich mieh so splitternaekt ausziehe, so mu~ ich auch dieses Zeiohen yon Zartgefiihl und klarer Selbstkritik erw~hnen - - ich bin das, was man einen ,,hSlliseh anst~ndigen Kerl" nennt . . . . . . . . 9 .. Der Umgang mit Knaben hat sehr viel Einflul~ auf reich, nieht der Art, dab ieh mieh versucht ffihlte, sie zu berfihren, sie zu schlagen oder gar P~derastie mit ihnen zu treiben, sondern der Art, dab mir ein unbestimmtes, dunkles Wohlgeffihl mitgeteilt wird. Sicher ist es das Kindliche, das reich anzieht, das Interesse fiir den reifenden, sich entwickelnden Mensehengeist; sieher ist es eine Art Z. f. d. g. Neut. u. Psych. O. IX.
20
286
M. Marcuse:
soziater Trieb, fiir werdende Mensehen zu arbeiten; sieher ist es ein Sehrei des Herzens nach Mensehenliebe gewesen, der mich in die Schule trieb; sicher fiihlte ieh mieh sehreeklich vereinsamt u n d wollte Mensehen nahe sein; sieher war es die Seham, nichts Rechtes zu t u n zu haben, die mich yon einem bequemen Leben zur t~gliehen Fronarbeit in der Sehule trieb! Es w~re sehr unrecht, wollte m a n mir diese edlen Motive nicht zubilligen und mein Handeln als von der Venus ganz und gar veranlagt eraehten. Sicher ist aber auch der groBe Anteil dunkler sexueUer Triebe - - jenes Wohlgeffihl im Umgang m i t K n a b e n ist venerisch affiziert; es reizt mieh; es bereitet die E n t z i i n d b a r k e i t ; es erregt die sinnliehe Glut; das Feuer selbst flammt d a n n auf und b r e n n t auBerhalb der Sehule - - r.ieht blog 5rtlich, sondern geistig; denn die Phantasie als stete Begleiterin des Masturbationsaktes bedient sich niemals der konkreten K n a b e n ; sie verwirft sie stets; sie empfindet sie als StSrung. So sind die konkreten K n a b e n die Diener, die die Glut erzeugen; sobald aber das Feuer richtig brennt, werden sie entlassen; u n d somit sind sie aueh stets auger Gefahr; ich selbst bin auger Gefahr, durch aueh nur leis sadistisch gefi~rbte Akte mir Unannehmlichkeiten zu bereiten. Heine K n a b e n haben mieh sehr gern, weil ich ein heiteres Gemiit habe u n d sie nie qui~le (aueh oft wohl da nieht, w o e s ihnen niitzlieher w~re, sie zu qui~len). Bekanntlich gibt es auch einen Wortsadismus; ieh sage nie aus Wollust unangenehme harte Worte; ieh strafe fiberhaupt so wenig, daB, wenn ieh auf einmal viel strafen wollte, die Eltern reich loben wfirden; ieh babe einen solchen Kredit naeh dieser g i e h t u n g ~fin, dal~ ieh mir schon eine groge Portion Priigel a n d sonstige Strafen erlauben kSnnte, ohne aufzufallen; u n d ieh babe nicht den geringsten Drang, diesen Kredit fiir kleine sadistische Vergniigungen auszunutzen. XI. Die Masturbationsgewohnheit kam nun sehr langsam wieder in Gang; ich beichtete immer gleieh einem sehr gfitigen, liebevollen alten Nachbarpfarrer, den ich per R a d aufsuchte, so dab also mein Pfarrer u n d Hausgenosse niehts erfuhr. Als die Todsiinden h~ufiger wurden, wurde ich so frivol, aueh anderswo meine Sfinde zu beichten, u m mich vor dem alten Mann nieht zu s c h g m e n . . . Allein ich raffte reich doch noch 5frets auf, so dab zuweilen 4 - - 5 Wochen ohne Siinde hingingen. Ieh war aber d a n n auch sehr roll Gluten, wenn ich ohne Sfinde lebte. Ich schlug reich griin u n d blau u n d schaute reich nackt im Spiegel u n d begann eine Art von richtigem Gesgl~fetischismus, der noch heute in Bliite steht. Kein Wandspiegel war vor mir sicher, dal~ ieh nicht die Hose herunterrii~, u m meinen H i n t e r n zu beschauen, namentlieh, wenn er m i t blauen Striemen geziert war. Ein Hauptvergniigen war fiir mieh, mir das Herod hochzuziehen, so dab die Hinterbacken nut v o n d e r Unterhose u n d der stratum anliegenden Hose bedeckt w ~ r e n . . . Ich trug aueh einen Buggfirtel aus Pferdehaaren, der das Fleiseh rosig fgrbte; ich wugte, dab er reich nur sinnlich reizte, aber zyniseh redete ich zu mir: der Giirtel soll dich erinnern an die ,,Herrschaft fiber die Lenden"; auch eine ,,Disziplin", MSnehsgeiBel, h a t t e ich mir kommen lassen; doeh kam sie hie zur Anwendung. Ich maehte auch Schrebers gymnastische Ubungen, wobei sieh Erektionen einstellten. Wundervoll war es, heimlich im Flug zu baden - wenn m a n im Wasserspiegel den Hintern besah, der allm~hlich sieh ausrundete (ieh war friiher sehr mager), namentlich wenn ieh mich mit der nassen H a n d vorher tfichtig geklatscht h a t t e - - d a n n hinabzusteigen in die kfihle Flut u n d langsam, langsam die wie Feuer gliihenden, dunkelrot sich spiegelnden t t i n t e r b a e k e n e i n z u t a u e h e n . . . Ich trug tagelang das Hemd hoch u n d suchte mir einzureden, dab dies eine symbolisehe Bekleidungsart sei - - die Hinterbacken seien das Sinn-
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
287
bild des Sinnliehen, des niederen Mensehen - - und dieser selbst miisse stratum von dem Willen gehalten u n d stets der Ziiehtigung gew/irtig sein. Die Masturbationen maehte ieh nie im Bett, sondern fiir gewShnlieh a m Sehreibtiseh oder bei dem NaehmittagsschlKfchen. - - Inzwisehen ward sehr fleiBig studiert - - das alte Laster war innerhalb zwei J a h r e n herangewachsen, so dab ieh alle zwei Wochen, hSehstens drei Wochen, dureh Zusammendriicken der Beine die Effusio bewirkte. Mein Geist ward durehaus nieht yon geilen Bildern ,,beherrscht" - - vielmehr kamen solche Dinge stoBweise - - nichts ist verkehrter als die Kanzelphrase, das unkeusche Luster verderbe den ganzen Mensehen; ieh verdarb durehaus nieht, sondern strebte sehr ehrlich u n d ernst naeh meinem Ziel, dem Mittelsehulexamen, das ich November 1902 mit gut bestand; ieh wurde darauf sofort naeh hier versetzt, we ich nun seit genau 7 J a h r e n in einer kleinen Lateinschule Unterrieht g e b e . . . Die Masturbationen kamen yon 1903---1905 etwa einmal in 14 Tagen vor; es ereiguete sieh zuweilen, dab in einer N a c h t zweimal, abends vor dem Einsohlafen u n d morgens vor dem Aufstehen, gesiindigt ward (dann direkt vor dem Altar ! ) ; . . . 1906 kamen die Masturbationen oft alle 8 Tage vor u n d e s gesehah - - ein iibrigens seltener Fall - - dab ieh stundenlang erektionsbewirkende Phantasien unterhielt, die d a n n natiirlieh mit Masturbationen abschlossen. 1907 u n d 1908 bildeten einen maBlosen Ges/s aus, die Masturbationen kamen durehsehnittlich alle 8 Tage - - u n d gegen Ende 1908 maehten sieh Anzeiehen bemerkbar, als wolle die Masturbatio quotidiana wiederkommen. J e t z t Ende 1909 ist die Quotidiana noch nieht erreieht - - allein wenn das so fortgeht, werde ieh Ende 1910 wieder bei ihr angelangt sein - - - - - XII. Ieh atme auf! Ieh habe zwar noeh sehr wichtiges u n d fiir I h r Urteil Unentbehrliehes zu sagen, aber jetzt, Herr Doktor, sind wir mit allen dem widerliehen Detail fertig; Gott sei Dank! Einer weiB es jetzt; ich sagte sehon: die Beiehtv/iter h a b e n niemals diese Details erfahren. Die Frage ist nun die: was will ich denn eigentlieh von I h n e n ? Zun~etrst: bin ieh krank? Nein! Ich bin hie seit den Kinderkrankheiten krank gewesen; ieh bin ein dureh und dureh gesunder Menseh. Erst reeht fehlt mir nichts an den Genitalien. Meine Nerven sind nicht ganz in Ordnung. Dies m a e h t sich aber nur fiihlbar durch eine geradezu sehreekliche MiBlaunigkeit, oder wie der Arzb sagtpsyehische Depressionen. ,,Schreeklich" sind diese Depressionen nur wegen ihrer Intensit~t; von Dauer - - wie die beschriebenen im Theologenkonvikt - - s i n d sie n i e . - Ich schlafe zuweilen schleeht, bei dem leisesten plStzlichen Ger~useh fahre ich zusammen; vor dem Einschlafen Herzklopfen - - aueh Kongestionen des Blutes zum Kopf; naeh der Schule G~hnen, wohl auch richtige G~hnkrKmpfe - - voila tout. Deswegen m a e h t m a n doeh keinen L~rm! Die genannten Dinge erkl~ren sich scheinbar sehr leicht aus meiner tells unversehuldet, tells versehuldet ungesunden Lebensweise: vieles Sitzen und Stubenhoeken, sp~tes Zubettgehen, unm~giges Rauehen, 30 Sehulstunden, 5 Privatstunden, dazu die rile Ruhe bringenden Sonntage - - Gottesdienste, Predigten, Beiehthiiren (stundenlang), Vereinsreden - - das muB ja die Nerven in Unordnung bringen. Dazu kommen eine Unmasse kleiner Unannehmlichkeiten, die (nichts Tragisehes) reich wie Nadelstiehe peinigen; dann der Verkehr m i t meiner Mutter, vor der ieh immer furchtbar a n mieh halten muB, u m ihr zu verbergen, dab ich hasse, was sic begeistert sehiitzt, niimlich den Ultramontanismus; meine innere Apostatie, mein Abfall vom Glauben, 20*
288
M. Marcuse:
die fortw~hrende Heuchelei und Unwahrhaftigkeit, zu der ieh gezwungen bin, das alles kann wohl ,,psychische" Depressionen bewirken . . . . . . . . . . . . . . . . Ich kann nieht riiekw~rts, ieh kann nicht vorwiirts - - ein glfickliches Temperament 1/s mieh dies ertragen - - doch bin ieh keineswegs frivol; aber ich kann nun einmal nieht anders als nur stunden- oder halbe Tage lang traurig sein; nachher finde ieh irgendeine feine Sentenz - - eine praehtvolle Ironie - - ich lege reich zu Bett - - mit Zuekerwasser und Zigarren, schneeweiSem, spitzenbesetztem Nachthemd, heilige Stille um reich - - alle die dummen Fratzen des Tages sind vergessen - - ich lose meinen Goethe und will mit keinem KSnig tauschen - und doeh war ieh am n~mlichen Tage vielleieht entsetzlieh t r a u r i g . . . Wie soll das enden ? Soll ich Masturbant bleiben, bis das Alter kommt? Das ist ein furehtbarer Gedanke. Ieh will Ihnen sagen: warum! Und damit den wiehtigsten Gedanken meines ganzen Berichtes darlegen: Niemals mehr als jetzt bedarf ich des BewuStseins: du lebst mit der rSmischen Ethik in Frieden; das kommt so: Ieh habe, als ich meinen Glauben w~nkend fiiMte, dem Zweifel naehgegeben, habe ein ,,ungl~ubiges" Bueh naeh dem anderen gelesen und so den Glauben verloren - - damit bin ieh unrettbar der HSlle verfallen. Sic kSnnen jeden Moralisten fragen: keinem unterrichteten Katholiken gesehweige einem Priester wird in einem solehen Falle die bona tides zugestanden. - - Er siindigt gegen den heiligen Geist, er verblendet sieh selbst, er wird verstoekt - - ist eo ipso exkommuniziert, suspendiert usf. Ich bin also, da ich nieht zurfiekkann, in der Todsiinde - - und rue morgen z. B. wenigstens 50 Todsiinden - - nun - - das glaube ieh nieht mehr; ich habe ein gutes Gewissen in dieser Beziehung. Ieh bin 39 Jahre alt, - - erst mit 32 Jahren habe ich angefangen, andere Denker kennen zu lernen; ich habe ehrlich gelernt - und keiner wird reich verdammen - - auger der rSmischen Kirche Das w~re alles ganz sehSn! Aber du bist Masturbant! Das s t i m m t m i t k e i n e r E t h i k - - in die H511e tun dich die anderen nieht; aber daS die Vernunft und nieht blinde Triebgewohnheit herrsehen soll, lehrt j e d e E t h i k . . . Mit mir ist's sehlimmer geworden seit dem ZerfaU meines Glaubens. Als 1907 die Eneyklika pascendi die edelsten M/s ( S c h e l l , L o i s y ) fiir eitle Geeken und hoehmiitige Narren erkl~rte, als Rom die besten Kinder wie KSnig Lear yon sieh stieS, die herrliehsten M/~nner dem Abscheu der Masse preisgab, dasselbe Rom, das der Masse den abseheulichsten Aberglauben gestattet, da spraeh ieh: saris! satis! Aber was hilft's; als ieh vor einem Jahre zum letzten Male einem Kapuziner alles beichtete, war demselben mein ,,Unglaube" ganz klar - - natiirlieh - der kam nur von der ,,Siinde". Ieh muB zu Rom sagen kSnnen: ich lebe mit deiner Moral in Frieden; nur meine Vernunft erdrossele ich nicht. Wegen des Glaubens k a n n ieh mit Rom n i e h t in Frieden kommen; aber wegen der Sittlichkeit m u B ieh e s . . . mieh sehaudert oft und reich ergreift Angst: Du willst fiber die Kirehe dieh erheben, du - - Masturbant! Nachtrag: Am 1. Februar 1912 besuehte reich naeh vorheriger brieflicher Anmeldung der Patient. doeh noeh persSnlieh. Ieh habe ihn nur dieses eine Mal gesehen und habe mir sowohl bei der Examinierung wie b e i d e r kSrperlichen Untersuehung groSe Zurfiekhaltung auferlegt. Ieh habe mieh mit der Feststellung des allgemeinen kSrperliehen Zustandes begniigt, dagegen z. B. auf die eingehende Untersuehung des Nervenstatus verziehtet und in anamnestiseher Hinsieht fast aussehlieSlieh den Patientcn nur selbst erzghlen lassen, yon eigenen Fragen aber naeh MSgliohkeit Abstand genommen.
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
289
Der Pat. berichtete folgendes. In den letzten 2 Jahren habe er fast jeden Tag, gelegentlich auch zweimal am Tage masturbiert. Die Phantasievorstellungen bei den Akten sind regelm~gig die gleiehen, mehrfach beschriebenen sadistischmasochistischen geblieben. Eine erheblich grSgere Bedeutung noeh als friiher hat jetzt der Trieb frir ihn gewonnen, sieh nackt im Spiegel zu beschauen; er rut das fast t~glich mit ausgesprochenem Wollustgefrihl, wobei er seine Blicke und sein Wohlgefallen beinahe aussehlieglich dem Ges~g zuwendet. Selbstziichtigungen sind in letzter Zeit nur vereinzelt vorgekommen. Im letzten Jahre bemerkt Pat., dab aueh yon dem Anblick der Ges~gkonturen w e i b l i c h e r Personen eine starke sinnliche Erregung frir ihn ausgeht; bisweilen hat er ein starkes Verlangen, real ein weibliches Ges~$ nackt zu sehen. Der Pat. glaubt diese neue Erscheinung u. a. mit dem mehrfachen planmis Besuch yon Possen und Operetten in Zusammenhang bringen zu sollen, weil er die erw~hnte sinnliche Erregung zum ersten Male beim Anblick jugendlicher Sehauspielerinnen und Si~ngerinnen auf der Biihne in Stricken der leiehten und leichtesten Muse empfunden habe; namentlieh seien es die Rollen yon drallen Zofen, Biifettmamsells usw., in denen die weiblichen Brihnenfiguren auf ihn wirken; dagegen sind ihm weibliehe ,,Hosenrollen" sehr unsympathisch. Seitdem betrachtet er auch, was er frfiher nie getan, weibliche Nuditiitenbilder mit Wollust. Sein Interesse bezieht sich lediglich auf das Gesgg und die anschliegenden KSrperteile; die GenitMien und insbesondere das Individuum als solches sind ihm naeh wie vor durchaus gleichgiiltig. ,,Selbstverstiindlich ist mir das Gesiig von strammen Jungen und kriiftigen jugendliehen M~nnern aueh heute noeh ein tausendfaeh willkommnerer und stgrkerer Reiz als das sch6nste weibliche Ges/ig" - - erl~uterte der Pat. Er deutete sein sinnliches Wohlgefallen an dem weiblichen GesiiB als ein kompensatorisches Surrogat, das sich eingestellt habe, weft er seit etwa einem Jahre nieht mehr im Sehuldienst ist, sondern eine kleine Pfarre hat und infolgedessen seine Knaben nicht mehr um ihn sin& Der Pat. fragte reich, ob ich yon einem normalen Gesehleehtsverkehr einen therapeutischen Nutzen fiir ihn erwarte. Er sei naeh Berlin gekommen, wo er nur anderthalb Tag bMben kSnne, urn mit mir namentlich aueh fiber diesen Punkt Rricksprache zu nehmen und im Falle meines Rates zum Geschlechtsverkehr diesen hier ~lsbald auszufiben. Aus Sehnsueht, ,,normal" zu werden, sei er bereit, alle die vielen schweren Hemmungen, die fiir ihn nach dieser Riehtung hin bestehen, zu iiberwinden, zumal er dadureh seine Lage yore Standpunkte der Moraltheologie nut verbessere, denn der normale Geschleehtsverkehr sei gegenriber der Masturbation die . k l e i n e r e ,,Siinde". Der Pat. ist schgtzungsweise 1,80 m grog, ziemlich sehlank, nut mit einem gerade angedeuteten Embonpoint. Er hat das typische Aussehen des katholischen Geistliehen. Der Pat. macht aufs erste durehaus den Eindruek eines gesunden Menschen. Die Gesichtsfarbe ist frisch, der Blick ruhig, das Wesen unbefangen und freundlich. In seinen mrindlichen Ausfiihrungen ist er sehr Mar und besonnen, nicht ohne Humor; ab und zu ,,verhaspelt" er sich und ,,stammelt" auch mal ein wenig. Der Ton seines Organs hat eine etwas helle Klangfarbe. Seine Gesichtsziige haben einen unverkennbar stark femininen Einschlag. Das - selbstverstiindlieh bartlose - - Gesicht erinnert an einige Frauenrechtlerinnen mit Tituskopf und energischem Ausdruck. Nach der Entkleidung des Pat. notierte ich folgenden Befund: Schlank, gut geniihrt, fiberall reiches Fettpolster, das nirgends Muskelkonturen hervortreten l~flt. Sehulter und Beckengrirtel sind einander gleich. Kehlkopf normal, Genitalien ohne Besonderes; nirgends Migbildungen oder auffgllige kSrperliehe Degenerationszeichen. Pubisbehaarung maskulin. - - Patellarreflexe und mechanisehe Muskelerregbarkeit sehr gesteigert. Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz normal. Keine Zeichen yon Ataxie usw.
290
M. Marcuse:
(~ber die Hereditiitsverh~ltnisse sprach ich absiehtlich erst gegen Ende unserer Unterredung und mit grSBter Vorsicht, und ieh erfuhr folgendes. Der Vater und die ganze v~terliche Familie sind gesund und normal. Die Mutter ,,riberspannt" religiSs. Ihre Verwandten, insbesondere Gesehwister und Geschwisterkinder ,,sexuell sehr wrist". Ein Vetter des Pat. miitterlicherseits, mit dem er als Gymnasiast das in seinem Bericht gesctfilderte Erlebnis hatte, - - homosexuell und schon mehrfach kriminell geworden. Pat. hat zwei ~ltere Briider. Der ~lteste, 49 Jahre alt, muBte nach dem l:~eferendarexamen das Studium wegen ,,geistiger Schw~che" aufgeben; ist ,,nicht gerade stumpf, abet minderwertig; betr~gt sich gelegentlich sehr auff~llig, hat barocke Einf~lle und bekleidet gegenwi~rtig eine subalterne Stellung als Sekret~r". Der zweite Bruder, 45 Jahre, ist aktiver Offizier, naeh eigenem Gest~ndnis homosexuell veranlagt, hat abet, ebenfalls nach sciner eigenen Angabe, die homosexuelle Anlage ,,durch schr reichlichen normalen Geschlechtsgenul~ unterdriickt"; ist seit 3 Jahren mit eincr um 4 Jahre ~lteren Frau verheiratet, kinderlos. Pat. tr~umt angcblich so gut wie nie; weder erotischer noch sonstiger Tr~ume vermag sich der Pat. zu erinnern.
Anmerkungen. Ad S. 272: Die engen Beziehungen zwischen J~sthetik und S e x u a l i t ~ sind bekannt; sie sind besonders ausgesprochen bei kiinstlerischen Naturen und - - im Zusammenhange damit - - bei mehr oder weniger stark effeminierten M~nnern. N i e t z s c h c spricht yon ,,Asthetik des GescMechtstriebes"; viele Philosophen und Sexologen betonen die Wechselwirkung zwischen Geschlechts- und SchSnheitssinn ( K u n o F i s c h e r , K r a f f t - E b i n g ) . Im vorliegenden Falle ist ,,die ~sthetische F~irbung der Wollust" und ,,die wollristige Fi~rbung des Asthetischen" frir den allgen~ein-psychischen wie den sexual-psychischen Charakter wesentlich. - - Im fibrigen hat man den bestimmten Eindruck, dal~ dem Pat. noch jetzt die Wiedergabe dieser und aller sp~teren Szcnen ein ,,~sthetisches" Behagen, d. h. sexuellen GenuB bereitet u n d e r bei der Niederschrift des Berichtes geschlechtlich erregt, vielleicht auch befriedigt wird. Ad S. 273: DaB der Pat. sich irgendeines determinierenden oder auslSsenden Ereignisses nicht erinnert, beweist natiirlich nichts gegen cin solches, das durch infantile Amnesie verdeckt sein kann. Auch ohne ,,Psychoanalyse" kSnnte es sehr wohl gelingen, durch persSnliche Unterredung mit dem Pat. in einem friihen Erlebnis den Grund oder den AnstoB fiir den qu. Vorgang ausfindig zu machen. Andererseits scheint festzustehen, dab gerade sadistisch-masochistische Phantasien und Handlungen rein psychogen, spontan auftreten ,,oft in sehr zartem Alter" und auf ,,keine persSnliche Erfahrungen oder zuf~llige Ideenverbindung zurfickzufiihren" sind (Ellis). S c h m i d t - H e u e r t frihrt aus, dal~ weniger eine wirklich erhaltene oder mitangesehene Ziichtigung, als scherzhaftes Drohen damit und mysteriSse Suggestionen, die sich daran knripfen, die Rute usw. sexuell faszinierend machen. Ad S. 273: Die auffallend ungleichm~l~ige B e g a b u n g fiir Geschichte und Erdkunde einerseits, ffir Sprachen und Rechnen resp. Mathematik andererseits ist interessant als Hinweis auf eine mSglicherweise auch i n t e l l e k t u e l l e E f f e m i n a t i o n , insofern die Disziplinen, in denen der Pat. leicht und gut fortkommt, diejenigen sind, in denen das weibliche Geschleeht mehr zu leisten pflegt als das m~nnliche ( , , T a t s a c h e n " ) , w~hrend in den F~chern, in denen der Pat. das Ziel so miihsam und unlustig erreichte, das m~nnliche Geschlecht iiberlegen zu sein pflegt (,,Gesetze"). Vgl. H. E l l i s u. a. ADS. 273: Problem der s c x u e l l e n A u f k l ~ r u n g !
Ein Fall von vielfach komplizierter Sexualperversion.
291
Ad S. 273: ,,Die Vorstellung des G e f e s s e l t s e i n s mit Ketten oder Stiicken scheint gar nicht selten mit angenehmen sexuellen Empfindungen verbunden zu sein, denn ich habe bei M/innern und Frauen derartige F~lle beobachtet, bei denen iibrigens nicht selten eine Tendenz zur Inversion zu konstatieren war" (Ellis). Ad S. 274: Von der Vermischung des R e l i g i S s e n mit dem S e x u e l l e n ist tmn~hernd das Gleiche zu sagen wie oben yon der _~sthetik und der Sexualit~t ,,Religion ist Wollust und Wollust ist Religion" ( S c h l e g e l ) . Besondere Zusammen his bestehen zwischen F l a g e l l a n t i s m u s und F r S m m i g k e i t . ,,Es ist wirklich wunderbar, dab nieht l~ngst die Assoziation von Wollust, Religion und Grau samkeit die Menschen auf deren innige Verbindung und gemeinsame Tendenz gebracht hat" (Novalis). ,,Das Ubel begann mit kleinen Anfiingen, in Einsiedeleien und K15stern, wo allm~hlich das freiwillige Sichselbstgeil3eln oder SichgeiBelnlassen durch andere als ein Zeichen der so hoch bewerteten Demut und Bul3fertigkeit in ausgedehnten Gebrauch k a m " (E u l e n b u r g ) . Ad S. 277: Die Anziehungskraft, die der K a t h o l i z i s m us ,,mit seinem prachtvollen Mystizismus" auf sensitive und kiinstlerische Naturen und auf M/inner mit starkem femininem Einschlag ausiibt, ist verst~ndlich und vielfaeh beobachtet. Vgl. W i n c k e l m a n n u. v. a. N u m a P r ~ t o r i u s weil~ yon homosexuellen Protestanten, die katholiseh geworden sind, dagegen well3 er keinen katholischen Homosexuellen, der zum Protestantismus iibergetreten w~re. ,,Die weibliche und oft mystisehe Natur mancher Homosexuellen hat eben mehr Fiihlung mit der sinnlicheren, weiblieheren, mystischeren katholischen Religion, als dem trockenen, mehr rationalistisehen Protestantismus." Ad S. 277: Man daft annehmen, dab der Gesi~13fetischismus des Pat nieht ein der Homosexualiti~t oder der Algolagnie usw. koordinierter Trieb ist, sondern nur ein S y m p t o m bzw. S y m b o l tier sadistischen Triebrichtung darstellt. H/~ufig ist das gleiehzeitige Auftreten yon Masoehismus und Schuhfetisehismus, das sieh nach K r a f f t - E b i n g damit erkliirt, dab der Schuhfetisehismus iiberhaupt nur einen larvierten Masoetfismus bedeutet und sehr wahrseheinlich die meisten, wenn nieht alle F~lle yon Sehuhfetischismus auf der Basis yon mehr oder minder bewuBten masoehistischen Selbstdemiitigungstrieben beruhen. Es liegt nahe, das Zusammentreffen des Ges~Bfetisehismus mit dem Flagellantismus im vorliegenden Falle ~hnlieh zu erkli~ren, da das Ges~B fiir den Pat. das spezifische Objekt und somit mSglieherweise das Symbol seiner flagellantisehen Triebe ist. G a r n i e r spricht ausdriicldieh yon S a d i f e t i s e h i s m u s mit Bezug auf die zahlreiehen Fi~lle, in denen krankhafte Liebe fiir ein bestimmtes Objekt mit sadistischem Triebe verbunden ist. In ~hnlieher Beziehung kann tier Ges~i~fetisehismus auch zur I-Iomosexualit~t (insbesondere zu p~derastisehen Trieben) stehen; im vorliegenden Falle ist dieser Zusammenhang aber nieht deutlieh. Vgl. den unten zitierten Fall u. a. yon Moll. Ad S. 281: Es ist sehr interessant, festzustellen, wie diese moraltheologische Lehre fast vSllig mit den Behauptungen und Beweisflihrungen m~neher Arzte iibereinstimmen: Aueh R i b b i n g , T o u t o n u.a. geben - - ganz wie der katholisehe Pastoralmediziner C a p p e l m a n n - - die Pollutionen fiir eine physiologisehe Selbsthilfe der Natur aus, die die Unseh/~dliehkeit der Abstinenz bezeuge. So sehreibt z. B. F i i r s t e n h e i m - - um nur einen der Autoren zu zitieren - - dab die Pollutionen nieht etwa das Signal seien, dab man zum Weibe miisse, sondern ,,ein Ventil, dab man es nieht brauche". - - t2ber Pollutionen beim Tiere schreibt Ni~cke: ,,Ober Pollutionen bei primitiven VSlkern wissen wir so gut wie nichts, ebensowenig bei Tieren, obgleieh man in der Brunstzeit )khnliches doeh erwarten sollte, und zwar als reinen spinalen Reflex wi~hrend des Sehlafes durch Fiillung der Samen- oder Harnblase usw. Doch sexuelle Triiume wird es hier sehwerlich
292
M. Marcuse :
geben; sind doch iiberhaupt Tr/s bei Tieren noch mehr als problematisch und die Analogieschliisse auf schwachen FilBert ruhend". - - Mit seiner Behauptung, ,,als Siinde gilt die Pollution auch bei den Katholiken", scheint N ~ c k e sich zu irren. - Ad S. 283: Die s e x u e l l - e r o t i s c h e E i g e n l i e b e des Pat. erreicht in der hier gesclfilderten Szene einen ihrer HShepunkte. Einen anderen siehe S. 286. Die als A u t o m o n o s e x u a l i s m u s yon R o h l e d e r besehriebenen 2 F/ille /s dem vorliegenden sehr: beide Patienten R o h l e d e r s waren M/s bei denen wenig oder gar keine sexuelle Neigung zu anderen Personen bestaud, bei denen aber die Betraehtung des eigenen K5rpers oder ihres Spiegelbildes sexuelle Erregung hervorrief. Noeh weiter geht die t~bereinstimmung mit den von M o l l beobaehteten 2 Fs die ebenfalls Homosexuelle betreffen, von denen einer tin Bewunderer der Nates von Ms war und, als er gelegentlich beim Hemdwechsel das Spiegelbild seines eigenen Ges/iSes sah, yon ihrer SchSnheit entziiekt wurde und sie wolliistig bewunderte. E l l i s , F4 r 6 u. a. haben zur Kasuistik dieser Perversionen beigesteuert; ebenso Ns c k e , der fiir die ausgesproehenen F/ille die treffende Bezeichnung N a r z i l ~ m u s gebraucht. Bekannt ist die Rolle, die der Spiegel schon im physiologischen Liebesleben spielt. - - I c h benutze die Gelegenheit, tiber folgenden Fall aus eigener Praxis, der auch wieder eine reiche Sammlung sexueller Abnormits darstellt, unter Vorbehalt sp/iterer eingehender Bearbeitung vorl~ufig kurz zu beriehten. Mann, 32 Jahre, 1,86 m ~ol~, 195 Pfund, Soldat (als Einj.-Freiw.) gewesen, katholisch; mit l g J a h r e n Onauie; ,,durch die Drohungen im Beiehtstuhl mit HSlle und Teufel davon abgeschreekt", besehrs er sie nur auf seltene Gelegenheiten. Mit 20 Jahren erster Coitusversuch mit P. p. aus Furcht und Ekel mil~lungen. W/~hrend der n~chsten Jahre abstinent. Mit 25 Jahren ,,Verh/iltnis mit sehr sympathischem, nettem Fraulein"; w/~hrend dieser Zeit ,,sehr froh und gliicklich". Nach gewaltsamer Trennung dureh die Eltern wieder Onanie in ms Grenzen; nur ,,wenn er es gar nicht mehr aushalten konnte". Wenn Pat. die Onanie auch dann noch unterdriiekte, wurde er ,,yon homosexuellen Gedanken und Begierden gequ/s ebenso yon anderen perversen Trieben", welche er ,,auch dann und wann zur Ausfiihrung brachte". Pat. vollfiihrte ,,wahnsinnige Verrenkungen und T/inze bis zur Bewul~tlosigkeit"; h K u f i g v o r d e m S p i e g e l . Z e i t w e i s e n a h m er d e n S p i e g e l y o n d e r W a n d , l e g t e s i c h darauf und fiihrte mit seinem eigenen Spiegelbild den Beischlaf aus. In diesen Zeiten hatte Pat. auch oft den Wunsch, seinen eigenen Kot zu essen und Urin zu trinken. Von Zeit zu Zeit iibte Pat. mit einer P. p. den Coitus aus; ,,dann fielen die Wahnvorstellungen g/s fort", aber die Angst vor Ansteekung hielt ihn yon 5fterem Geschlechtsverkehr zuriick. Naeh ls Abstinenz bekommt der Pat. das Verlangen, ,,yon einem Manne in den After befriedigt zu werden", glaubt aber, dal~ er vor der Ausfiihrung zuriickschreeken wiirde. Ferner hat Pat. ,,eine fast wahnsinnige Sehnsucht naeh hiibschen Kinderbeinen, dieselben zu kiissen und zu liebkosen, sofern sie eine schSne, natiirliche Form haben". Seit drei Wochen hat Pat. mehrmals normalen Beisehlaf ausgeiibt; seitdem sind aueh die perversen Empfindungen, Begierden, Gedanken usw. wesentlich schwKeher geworden, und wenn der Coitus infolge eines besonders sympattfischen Partners ihm die richtige Befriedigung verschafft hat, dann hSren die Perversionen fiir einige Zeit gs auf. ([Tber weitere A b s t i n e n z e r s c h e i n u n g e n bei dem Pat. werde ich in anderem Zusammenhange beriehten). Ad S. 286: Uber die ,,Disziplin" sehreibt E u l e n b u r g , dab der Gebrauch dieses ,,kirehliehen PSnitenz- und Absolutionsmittels" ,,gewisserma$en yon Berufs wegen" bei Priestern und MSnchen seit dem Dominikaner, sps Kardinal
Ein Fall von vielfach komplizierter Sexualperversion.
293
Damiani in hoher Bliite stand. ,,Besonders gef/s wurde der Gebraueh der ,,Disziplin" - - welche Bezeiehnung fiir diese kirehlichen Bug- und Zuehtmittel allm/ihlieh aufkam - - seitdem man dazu iiberging, die Ziiehtigung nieht mehr (wie im Anfange) auf Sehulter und Riieken, sondern vorzugsweise - - und namenttich beim ,,schwis Gesehlecht fast allgemein - - auf das GesKl] zu erteilen - - die sog. ,,Disciplina deorsum" oder ,,Secundum sub" gegeniiber der Diseiplina sursum oder Secundum supra im MSnehslatein jener Tage - - und seitdem man auch dazu gelangte, die PSnitenten bei der Ziichtigung mehr oder weniger vollst~ndig zu entblSBen, weil sehon in der geduldeten oder freiwillig vorgenommenen EntblSl~ung an sich ein verdienstlicher Akt echter Selbstdemiitigung liegen sollte..." Epikrise.
I. Der Patient entstammt einer augenscheinlieh unharmonisehen Ehe. Der Vater, Protestant, mit Lust und Liebe Offizier und als solcher zu einer der hSchsten Chargen emporgestiegen, klar und nfiehtern im Denken, gegen seine Frau anscheinend nachgiebig; die Mutter urspriinglich ebenfalls evangelisch, zum Katholizismus iibergetreten, Mystikerin, ,,fiberspannt religiSs". Der Patient folgte innerlich viel mehr der Mutter1), yon der er insbesondere ,,den religiSsen Geist" und die Begeisterung ffir ,,den wundervollen Mystizismus" des katholischen G]aubens geerbt hat. Die Mutter ist als Psychopathin sehr verd~chtig. Von den beiden Brfidern des Patienten ist der ~ltere schwachsinnJg (Dementia praecox ?), der jfingere homosexuell veranlagt. Ein rechter Vetter des Patienten mfitterlicherseits ist ebenfalls homosexueU und schon mehrfach kriminell geworden. Der Patient ist erblich sehwer belastet, sowohl in allgemeinpsyehischer, wie in speziell sexual-psyehiseher tIinsicht. II. Der Patient hat sich sehon in der Kindheit von den Altersund Geschlechtsgenossen unterschieden; er war ,,kein richtiger Junge - - einsam, tr~umerisch, voll Phantasie"; er zeigte in der Schule einen ungewShnlichen Mangel an Begabung ffir Rechnen und Sprachen und kam in diesen F~chern sehr schwer mit. Er war immer aul~erordentlich sensitiv, schfichtern, allem Mystischen zugetan, romantisch und sehr fromm. Als Soldat vollkommen unf~hig. Aus seinem 24. bis 25. Lebensjahr berichtet der Patient, er leide ,,sehr unter Schwermut und Traurigkeit, die einmal - - was bei meiner heiteren Natur seh~ merkwiirdig ist - - drei bis vier Wochen ohne Unterbrechung anhielt, und sich dermaSen steigerte, dab ich allen Ernstes ffirehtete, verriickt zu werden." Aus der jfingsten Zeit berichtet der Patient fiber Mil~launigkeit und schreckliche Depressionea; er schl~ft zuweilen schlecht, f~hrt ,,bei dem leisesten Ger~usch plStzlieh zusammen", hat vor dem Einsehlafen Herzklopfen, Blutandrang zum Kopf; wird zu1) Freud wiirde hier wohl den Hinweis auf die Genese der Inversion des Pat. - - ,,Flucht vor dem Inzest" - - sehen.
294
M. Marcuse:
weilen yon ,,richtigen G~hnkr~mpfen" befallen.. Der Patient ist an einem und demselben Tage morgens und mittags ,,entsetzlich traurig" und m6chte abends mit ,,keinem K6nig tauschen". - - Bei der miindlichen Unterhaltung f~llt ein gelegentliches Sich-Verhaspeln und Stammeln auf. Der Patient ist ein Psychopath mit zahlreichen geistig-seelischen Entartungszeichen; er leidet an psychoneurotischen Erscheinungen, die der Ausdruck einer degenerativen Konstitution sind; der vom Patienten selbst unternommene Versuch, seine Beschwerden mit den ~ul~eren Seh~digungen und den psychischen Aufregungen zu erkl~ren, ist, soweit diese nicht selbst schon Symptome der Entartung sind oder ihnen eine andere Bedeutung als die yon ausl6senden, dem Inhalte nach belanglosen Anl~ssen zugcwiesen wird, abzulehnenl). III. Der Geschlechtstrieb des Patienten ist in mehrfacher Beziehung pervertiert. Das am friihesten aufgetretcne und auf die Perversionen hiaweisende Symptom ist die Selbstziichtigung, mit deren Schilderung der Bericht des Patienten beginnt. Der sexuelle Charakter dieser Selbstziichtigungen und der zun~chst folgenden gleichartigen Prozeduren geht aus der Beschreibung nicht ohne weiteres hervor. Auch betont der Patient selbst, dab ibm l~ngere Zeit der sexuelle Charakter seiner Selbstflagellationen gar nicht bewu~t gewesen ist; er bemerkt, da~ selbst die Erektion, die freilich bei diesen Prozeduren regelm~l~ig auftrat, yon ihm wenig beachtet worden ist. In der Tat brauchen diese Erektionen nichts fiir den sexuellen U r s p r u n g der Ziichtigung zu beweisen; denn bei dem Zusammenhange der Schamund Ges~[~nerven ist es einleuchtend, dal~, wie Ejakulationen yon Zuckungen der Glut~en und Kontraktionen des Sphincters begleitet sind, Reizungen der Glut~en sich auch in umgekehrter Richtung fortpflanzen. Auf diese rein physische Ursache fiihren manche Autoren den Zusammenhang yon Erotik und Schmerz iiberhaupt zuriick. Diese Vorstellung wird aber dem Problem nicht im entferntesten gerecht. Dal~ in dem vorliegenden Falle die Erektionen und die sexuelle Erregung nicht sekund~r ausgel6st sind, sondern die Selbstziichtigungen einen durchaus sexuellen Ursprung und Charakter haben, kann nach dem ganzen Krankheitsbilde nicht bezweifelt werden. Der Trieb, aus und zwecks geschlechtlicher Wollust Schmerzen zu erzeugen und zu empfinden, beherrscht das Sexualleben des Patienten, in dem sich der Masochismus mit dem Sadismus vereint. Diese so h~ufige, nach Colin, S c o t t , F6r~, F r e u d u. a. sogar "best~ndige Gleichzeitigkeit der beiden nur anscheinend entgegengesetzten Triebe charakterisiert diesen Teil der Perversionen des Patienten als A l g o l a g n i e ( E u l e n b u r g ) . Das 1) Freud und Stekel wiirden jene ,,nervSsen Angstzust~nde"selbstredend anders deuten.
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
295
Sexualobjekt des Patienten ist in der Ausfilhrung fast ausnahmslos, in der Phantasie zum gr613ten Teile nur er selbst. Soweit in der Phantasie noch ein zweiter an den Zilchtigungsprozeduren beteiligt ist, fibernimmt letzterer regelm~$ig die aktive Rolle; bei den vereinzelten, leichten Entgleisungen des Patienten in seinem Amtsleben ist die sadistische Komponente die vorherrschende. Schon bei der Schilderung jener ersten Zilchtigung erw~hnt der Patient ,,Mutters Toilettenspiegel". Der Patient betrachtet nach jeder an sich selbst vollzogenen Ziichtigung, wenn sich nur irgendwie die Gelegcnheit dazu bietet, im Spiegel mit Wollust das gezilchtigte Ges~13. Gelegentlich ersetzt den Glas- der Wasserspiegel. Die wollfistige Freude an der Bctrachtung gerade der blutunterlaufenen Streifen und ilbrigen Zilchtigungseffekte, wie das fast regelm~$ige Beschauen des Spiegelbrides gerade nach den Flagellationen deckt den algolagnischen Anteil in diesem N a r z i ~ m u s auf, ohne doch darin einen stets erkennbaren Bestandteil zu bilden, da der Patient auch beim Anblick des dutch keinerlei Zilchtigungsmerkmale entstellten ,,aphroditischen Weii3" ,,schwelgt". Seine wollfistige Frcude konzentriert sich im wesentlichen dabei auf das Ges~13; dieser G c s ~ $ f e t i s c h i s m u s ist wahrscheinlich als Symbol der Algolagnie aufzufassen. Eigentliches Sexualobjekt ist hierbei nur sein eigenes Gesi~B. Zwar wirkt spKter auch das Ges~$ der Knaben auf ihn fetischistisch, aber doch nur ,,erregend", nicht ,,befriedigend". Die ,,Befriedigung" verschafft ihm in dcr Regel erst die Betrachtung oder Zilchtigung seines eigenen Ges~$es. Der Patient zeigt im wesenthchen das Bild des A u t o e r o t i s m u s . Es fehlt auch nicht die M a s t u r b a t i o n , die Patient zeitweise exzessiv betreibt. Trotzdem kann er nicht als Onanist im eigentlichen Sinne gelten, da die Masturbation an und ffir sich nicht das dem Patienten adequate Sexualziel ist, sondern ffir ihn mehr die Bedeutung des sexuellen ,,Surrogates" hat. Auch bei der Masturbation ist das psychische Sexualziel ein algolagnisches und -- homosexuelles. Soweit in seine algolagnischen Phantasievorstellungen ilberhaupt eine zweite Person sich einschob, war diese regelm~Big ein Jilngling oder Knabe, in den der Patient gew6hnlich sieh selbst hineinidealisierte. Insoweit Antrieb oder Ziel seiner Libido eine andere Person unabh~ngig yon ihm selbst betrifft, ist diese regelm~l~ig m~nnlichen Geschlechts. Jilnglinge und Knaben, insbesondere auch seine Schiller reizen h~ufig und stark den Patienten zu den filr i h n s pezif i s c h e n S e x u a l z i e l e n - - zu denen der Geschleehtsverkehr oder ,,beischlafghnliehe Handlungen" n i c h t geh6ren - - an. Ein Weib hat den Patienten nicmals geschlechtlich gereizt (durch die einsetzende Umstimmung in jilngster Zeit wird das Urteil fiber den Sexualstatus des Patienten im wesentlichen nicht beeinflul3t). Der Patient ist ein
296
M. Marcuse :
Homosexueller, yon dem besonderen Typus des P K d o p h i l e n l ) . In Zusammenhang mit der Effemination des Geschlechtstriebes m u g auch die nur andeutungsweise, abet unverkennbar vorhandene Neigung zur Verweiblichung der Kleidung (,,spitzenbesetztes Nachthemd") gebracht werden; der Patient zeigt den leichtesten Grad des T r a n s v e s t i s m u s ( H i r s c h f e l d ) . Erws zu werden verdient auch als Symbol der ,,mannweiblichen" N a t u r des Pat. - - eine Bedeutung dariiber hinaus k o m m t ihr wohl k a u m zu -- die Vorliebe des Pat. fiir ,,Zuckerwasser und Zigarre". IV. Die kSrperlich-gescblechtigen (feminine Gesichtsziige, weib/s Muskulatur usw., ann~hernde Gleichheit des Becken- und Schultergiirtels), wie auch die geistig-seelischen (Schiichternheit, triiumerisches Wesen, Mystizismus usw.), wie auch endlich und vor allem die psychosexuellen und psychoerotischen (Homosexualits Besonderheiten des Patienten weisen ihn den , , Z w i s c h e n s t u f e n " zu. Damit soll abet nicht das Geringste zugunsten der sogen. Zwischenstufentheorie gesagt werden. Festzustellen ist, dab mir ein Zweifel dariiber ausgeschlossen zu sein scheint, dab die Homosexualits des Patienten , , v e r e r b t " oder zum mindesten , , a n e r z e u g t " , nicht aber ,,erw o r b e n" ist - - in dem iiblichen Sinne dieser Bezeichnungen. DaB diese Unterscheidung in den Diskussionen eine Rolle spielt, die ihr meines Erachtens weder wissenschaftlich (biologisch und /itiologisch), noch praktisch (therapeutisch und forensisch) auch nur im entferntesten z u k o m m t und nur aus einer Verwirrung der Begriffe und des Urteils heraus so wichtig genommen werden konnte, wie es tats~ch]ich der Fall ist, sei nebenher erws namentlich auch, dab man F r e u d darin beipflichten muB, dab weder mit der Annahme, die Inversion sei angeboren, noch mit der anderen, sie werde erworben, das Wesen der Inversion erkl/s ist. Da$ auch die anderen Perversionen des Patienten nicht etwa ,,normale Variets oder ,,einfache Anomalien", sondern vielmehr schwere Erkrankungen des Geschlechtssinnes auf degener a t i v e r G r u n d l a g e darstellen, braucht bier nicht des ns begriindet zu werden; was nicht heiBen soll, dal~ es einfach sei, die Krankhaftigkeit irgendwelcher sexueller Perversionen zu erkennen und 1) ,,Wir haben bei allen untersuchten Fis festgestellt, dab die sp~ter Invertierten in den ersten Jahren ihrer Kindheit eine Phase yon sehr intensiver, aber kurzlebiger Fixierung an das Weib (meist an die Mutter) durchmachen, nach deren l)berwindung sie sich mit dem Weib identifizieren und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen, d. h. vom Narzil~mus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ~s Ms aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat" (Freud). Diese Ausffihrungen scheinen mir angesichts des vorliegenden Falles doch beachtenswert.
Ein Fall von vielfach komplizierter Sexualperversion.
297
ohne Inkonsequenz und eine gewisse Willkfr die Grenze zwischen normal und anomal, krank und gesund zu ziehen. V. Neuerdings hat L. L o e w e n f e l d die Wichtigkeit der individuellen S e x u a l k o n s t i t u t i o n fiir die wissenschaftliche und praktische Beurteilung sexual-psychischer und -psychopathischer Zust~nde und Vorg~nge betont. Nach dem Selbstbericht des Patienten und dem Ergebnis der Untersuehung wird man seine Sexualkonstitution als r o b u s t , als e r e t h i s c h , als l i b i d i n S s und wohl aueh als p l e t h o r i s e h im Sinne L o e w e n f e l d s bezeichnen miissen - - alles aber anscheinend innerhalb der Norm; namentlich ist die recht starke I n t e n sit g t des Gesehlechtstriebes doch wohl noeh ,,normal". VI. Die regelmgBig zu beobachtende Erscheinung, dal~ selbst die schwersten und vollkommensten Formen sexueller Perversionen B ez i e h u n g e n u n d U b e r g g n g e z u m N o r m a l e n aufweisen, findet sich auch im vorliegenden Falle. Der Autoerotismus des Patienten wird dureh libidin6se Erregungen, (lie yon einem anderen Individuum ausgehen, bzw. auf dieses hinzielen, gelegentlich durchbrochen. Ebenso zeigt die Homosexualit~t des Patienten in jiingster Zeit unverkennbare Inkonsequenzen im Sinne heterosexueller Erregbarkeit. Und es sind nieht nur Hinwiese zu dem normalen Sexualobjekt vorhanden, sondern aueh das spezifische Sexualziel scheint sich neuerdings in der Richtung auf den normalen Geschleehtsverkehr verschieben zu wollen, zum mindesten ist der - - wenn auch nJcht triebm~l~ige, sondern nur vernunftm~l~ige - - Wflle und das Selbstvertrauen zum normalen Sexualakt bei der pers6nlichen Unterredung mit dem Patienten offenkundig gewesen. VII. T h e r a p e u t i s e h u n d p r o g n o s t i s c h daft der vorliegende Fall nicht als aussiehtslos betrachtet werden. Der Patient selbst hat aus eigenem Gefiihl und ?2~berlegen heraus eine Art A s s o z i a t i o n s b e h a n d l u n g begonnen. Er hat in letzter Zeit mit voller Absicht hgufig die Bilder weiblicher Nudit~ten betraehtet und ist in Theaterstiicke gegangen, die auf die Sinnliehkeit berechnet sind. Es kann nicht bestritten werden, dab solehes planvolle Aufsuehen normalsexueller Reize, die systematischen Versuehe, sich an diesen ,,kiinstlich aufzuregen", einen wertvollen therapeutischen Faktor in der Behandlung yon Perversione~ darstellen, und im vorliegenden Falle Ja auch in der Tat unzweifelhaft schon einen gewissen Erfolg gezeitigt haben. Nach meiner Erfahrung ist die Assoziationstherapie (Moll) die aussiehtsvollste, und es ist von ihr auch im vorliegenden Falle ein Erfolg wohl zu erhoffen, wenn sie mit sorgf~ltiger Anpassung an die individuell-konstitutionellen und die ~ul~eren Bedingungen und bei gleiehzeitiger neuropsyehischer Allgemeinbehandlung von einem saehverst~ndigen Arzte durehgefiihrt werden k6nnte. Das therapeutische
298
M. Marcuse:
Ziel k6nnte natiirlieh nur sein, das pathologische Sexualleben des Patienten in ein physiologisches iiberzuleiten; kS k6nnte dagegen nicht etwa darin bestehen, das Sexualleben des Patienten v611ig brachzulegen; das hie13e erstens einen pathologischen Zustand durch einen anderen ersetzen wollen, und das wiire zweitens nakh meiner Auffassung yon vornherein utopisch, weil eben gerade die a l l m i i h l i e h e Herstellung normaler, sexueller Reaktionsfghigkeit und T r i e b e das wiehtigste Mittel ffir die Heilung der Perversionen darstellt. Daraus ergibt sigh die besondere Schwierigkeit, die der vorliegende Fall in therapeutisGher Hinsicht bietet, weil der Patient zum Z61ibat gezwungen ist und weil der Mangel an geselligem Verkehr mit Frauen und Miidchen hindert, den neu zu sehaffenden bzw. zu wekkenden und zu festigenden ,,Assoziationen" die notwendige r e a l o Stiitze zu geben, wghrend fiir sie die p s y k h i s c h e Basis jene l~berggnge liefkrn, die auch bei diesem Patienten yon dem Pathologischen zum PhysiologisGhen festgestellt werden konnten. Die yon dem Patienten an den Arzt geriGhtete Frage, ob er dutch A u s f i i h r u n g d e s n o r m a l e n G e s G h l e c h t s v e r k e h r s I-Ieilung oder erhebliGhe Besserung erwarten diirfe, ist insoweit zu bejahen, als man mit der M6gliGhkeit reGhnen k6nnte, dag in dem Patienten, dem der normale Geschlechtsverkehr, iiberhaupt die intime Beriihrung mit einer weiblichen Person etwas v611ig Unbekanntes ist, dutch das Erlebnis ,,eine neue Welt aufgeht" u n d e r damit gerade die breiteste und festeste Briicke betritt, auf der er bei geniigender Unterstiitzung durch Arzt und Milieu vielleiGht den Weg ins Normale findet. ,,Innere Widkrstgnde" ( F r e u d ) hi~tte der Patient iiberdies, wie aus dem Bericht fiber die pers6nlikhe Konsultation bei mir hervorgeht, nicht gar zu erheblikhe zu iiberwinden; seine , , S e x u a l - A b l e h n u n g " ist keinesfalls starker, anseheinend sogar betrgchtlich geringer als sein , , S e x u a l t r i e b " zum normalen GeschleGhtsakt, so dab yon einem sikh bier etwa abspielenden sekliskhen Konfhkte her also Bedenken gegen den therapeutischen Nutzen des Coitus kaum vorli~gen; ist doch aukh die Anregung zu der Frage y o r e P a t i e n t e n s e l b s t ausgegangen, so dab kS eines eigentliGhen iirztlichen Rates zum Geschlechtsverkehr gar niGht bedarf, sondern nut ein an nicht so diffizile Indikationen gebundenes G u t a c h t e n in Frage kommt. Dieses ist meines Erachtens in dem Sinne vorstehender Erwggungen zu geben; mit dem I-Iinweis darauf, da6 der vereinzelt oder gar iiberhaupt nur einmalig ausgefiihrte Coitus, auf den der Patient im wesentliGhen doch angewiesen skin diirfte, jeweils nur einen sehr fliichtigen Nutzen haben k6nnte, ein irgendwie nakhhaltiger Erfolg abet, wenn iiberhaupt, gerade nur durch die r e g e 1m g 13i g e A u sii b u n g des normalkn Geschlechtsverkehrs und die s y s t e m a t i s e h e Gew S h n u n g an ihn erwartet werden kann. Ob nun dieses ,,GutaGhten"
Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
299
sich im vorliegenden Falle zu einem R a t zum Geschlechtsverkehr verdichten daft, diese Frage will ich bier nicht erSrtern; ich verweise auf meine Arbeiten, in denen ich zu dem Problem prinzipie]le Stellung wiederholt genommen habe und bemerke nur, dab ich reich hier zu jenem Rat n i c h t verstanden habe. Ich halte ihn aber nach Lage der Dinge trotz allem fiir durchaus diskutabel, wiirde ihn nur unter allen Umsts unlSsbar mit der Forderung verkniipfen, dab der Patient sorgfs pers0nliche P r o p h y l a x e g e g e n e i n e I n f e k t i o n iibt und die rassehygienische Verpflichtung der F o r t p f l a n z u n g s V e r h i i t u n g auf das strengste erfiillt. Wenn ein weitgehender Erfolg einer wirklich rationellen Behandlung, die allerdings in dem vorliegenden Falle fast uniiberwindliche Schwierigkeiten findet, auch keineswegs unwahrscheinlich ist, so hs er doch seine Grenze an der degenerativ-psychopathischen Konstitution des Patienten. Der dadurch bedingte Rest ist groG, wiirde aber einen therapeutischen Nihilismus selbst bier meines Erachtens nicht rechtfertigen. Die Tatsache des ,,Eingeborenseins" der Perversionen schlieBt an und fiir sich therapeutische Erfolge durchaus nicht aus. VIII. Es erhebt sich die Frage nach der Gefahr einer k ri mi n ell e n B e t i ~ t i g u n g der krankhaften Triebe und nach der p s y c h i a t r i s c h f o r e n sis c h e n Beurteilung, die eine strafbare Handlung zu gews hs Die M6glichkeit, dab die Perversionen, insbesondere der S a d i s m u s und die P ~ d o p h i l i e , den Patienten einmal mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt bringen (KSrperverletzung, t~tliche Beleidigung, widernatiirliche Unzucht, unziichtige Handlungen mit Kindern usw.), ist nicht abzuweisen. Freilich schiitzt der A u t o e r o t i s m u s und die vorzugsweise Beteiligung der P h a n t a s i e den Patienten vor der Verletzung fremder Rechtsgiiter in weitgehendem MaBe. Die Perversionen erschSpfen sich hier im wesentlichen in i d e e l l e n Vorg~ngen. Hat Patient doch die an Versuchungen und Gelegenheiten so reiche Zeit seiner schulamtlichen Ti~tigkeit ohne nennenswerte Entgleisungen durchgemacht. Der Pat. selbst betont, man k6nne ihm ,,jedes Kind getrost anvertrauen", da sie ibm keine ,Versuchung' sind; insbesondere fiihlt er in bezug auf seine sadistischen Triebe sich und die anderen ,,auGer Gefahr". Immerhin ist die Zukunft des Patienten nach dieser Richtung hin nicht vorauszubestimmen. Fiir den Fall, dab die Notwendigkeit eintreten sollte, die strafrechtliche Verantwortung des Patienten ~rztlich zu begutachten, so ws wohl zwanglos aus der degenerativ-psychopathischen Konstitution eine v e r m i n d e r t e Z u r e c h n u n g s f i i h i g k e i t herzu]eiten; ob dariiber hinaus die Anwendbarkeit des w 51 StGB. angenommen werden diirfte oder mfil~te, ist zurzeit kaum zu entscheiden. Weder k6nnen meines Erachtens die Perversionen sehon an und fiir sich als
300
M. Marcuse: Ein Fall yon vielfach komplizierter Sexualperversion.
das Zeichen einer ,,Geisteskrankheit" sensu stricto, iiberdies gar einer solchen, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird, aufgefa~t werdenl), noch ist der Patient aus anderen Griinden als ,,geisteskrank" zu betrachten. Das schlie~t aber natiirlich nicht aus, dal~ die Voraussetzungen des w 51 ,,zur Zeit der Begehung der ttandlung" in concreto doch vorliegen; um hier zu einem richtigen Urteil zu gelangen, wird der ~rztliche Sachverst~ndige besonders den yon K a rl B i r n b a u m angegebenen Richtungslinien fiir die Beurteilung der Kriminalit~t yon Degenerierten und konstitutionell-psychopathischen Personen folgen miissen; namentlich wird auch ,,das innere Verh~ltnis der Strafhandlung zur psychischen Eigenart des T~ters" mitbestimmend sein. Resultiert die Handlung aus der krankhaften StSrung des Geschlechtssinnes, so kSnnte doch leicht die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Patienten fiir d i e s e s p e z i f i s c h e K r i m i n a l i t ~ t verneint und das Vorliegen des Tatbestandes des w 51 StGB. bejaht werden miissen; namentlich wird hier die S e x'u al ko n s t i t u t i o n, insbesondere die I n t e n s i t ~ t d e r L i b i d o des Patienten bestimmend sein, well sie der kriminellen Handlung dieses Psychopathen gelegentlich doch einmal den Charakter einer Z w a n g s h a n d l u n g aufzudriicken vermag. Die MSglichkeit, daI] der w 6 BGB. fiir den Pat. praktische Bedeutung erlangt, scheint einer Diskussion nicht bediirftig. 1) Die Schwierigkeit, sexuelle Triebabweichungen nosologisch zu bewerten, habe ich schon betont. Auf keinen Fall sollte auf selbst schwere Erkrankungen des Geschlechtssinnes al 1ei n das betreffende Individuum fiir geisteskrank erkl~rt werden.