Z Vgl Polit Wiss https://doi.org/10.1007/s12286-018-0389-6 LITERATURBERICHT
Eine neue Generation von Protesten? Ein Literaturbericht Roland Roth
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
Nicht nur Proteste und soziale Bewegungen, sondern auch ihre Erforschung haben Hochkonjunktur – und dies weltweit. Davon künden bereits die hier vorgestellten Veröffentlichungen, aber noch mehr die weitaus größere Zahl an neueren Texten, die nicht in dieser Sammelrezension erwähnt werden. Schon ihre schiere Zahl verbietet im Rahmen dieses Berichts eine detaillierte Auseinandersetzung mit einzelnen Studien. Stattdessen werden sie als Ausdrucksformen und Belege von generellen Trends aufgegriffen. Im ersten Teil dieses Beitrags werden neuere Entwicklungen im Protestgeschehen beleuchtet, die Gegenstand der vorliegenden Texte sind. Es folgen im zweiten Teil einige Anmerkungen zu zentralen Trends und Herausforderungen in der Protest- und Bewegungsforschung selbst.
1 Merkmale aktueller Protest- und Bewegungspraxis 1.1 Protest und soziale Bewegungen gehören weltweit mit zunehmender Tendenz zum politischen Alltag
Die gegenwärtige Veralltäglichung und Normalisierung von Protesten und sozialen Bewegungen ist keineswegs selbstverständlich, sondern stellt einen Bruch mit den vorherrschenden Bildern liberaler Demokratien, aber auch von autoritären Regimen dar. Auch wenn die euphorischen Zeiten vorüber sind, als Protestierende („protester“) vom Time-Magazin zu Personen des Jahres 2011 gekürt wurden und Proteste wie ein weltweites Lauffeuer die politischen Ordnungen ihrer Länder aufmischten, arabische Autokratien herausforderten und erneut gemeinsame transnaR. Roth () Fronhoferstr. 3, 12165 Berlin, Deutschland E-Mail:
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tionale Initiativen für eine neue Weltordnung entstanden (vgl. Roth 2012), ist das Protestgeschehen seither nicht ärmer geworden. In den liberalen Demokratien der Nachkriegszeit wurde noch davon ausgegangen, dass vor allem Parteien und Verbände für die politische Interessenvermittlung zwischen Wählerschaft und politischer Führung zuständig sind und Proteste allenfalls die temporäre Funktion haben, auf Defizite und vernachlässigte Interessen aufmerksam zu machen, die – einmal artikuliert – via (neue) Parteien und Organisationen ihren Weg ins System intermediärer Interessenvermittlung finden oder als irrelevant ausgegrenzt bleiben. Die Idee eines dauerhaften Protest- und Bewegungssektors neben den Parteien und Verbänden hat erst in den letzten Jahrzehnten an Boden gewinnen können. Offensichtlich hat der Alleinvertretungsanspruch von Parteien und Verbänden auf Politikvermittlung in den letzten Jahren weiter gelitten. Die neue Normalität des Protests ist nicht nur ein Zeichen für die Attraktivität dieser direkten, projekt- und themenorientierten Form der politischen Meinungsäußerung, sondern verweist gleichzeitig auf Bedeutungsverluste repräsentativer Demokratieformen, die Aufmerksamkeit verdienen. Offensichtlich sind auch autoritäre Regime immer weniger in der Lage, Proteste ihrer Bevölkerung dauerhaft und flächendeckend zu unterdrücken. Abgesehen von Nordkorea, Kuba und einigen wenigen anderen Ländern häufen sich auch die Proteste in Staaten, die klassische politische Freiheitsrechte wie Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit weitgehend suspendiert haben. Selbst in Ländern wie China und Vietnam, im Iran oder in arabischen Staaten gibt es ein mehr oder weniger lebendiges Protestgeschehen, das klassische Maßstäbe autoritärer Herrschaft mit einem Fragezeichen versieht. Sicherlich sind die individuellen Risiken und Kosten für die Protestierenden in diesen Regimen ungleich größer und die staatliche Repression ungleich härter, dennoch erkämpfen sich auch unter diesen Umständen Menschen immer wieder Protesträume und erzielen Sichtbarkeit für ihre Anliegen. Zwar fehlt es an internationalen Datenbanken, die verlässlich Auskunft über die weltweite Protestentwicklung geben könnten – oft fehlen sie auch auf nationaler Ebene –, aber die vorhandenen Übersichten (vgl. Ortiz et al. 2013 und die Länderübersichten in den rezensierten Büchern) verweisen bei allen Schwankungen auf einen Aufschwung der Protestaktivitäten in der letzten Dekade. In diesen Trend passt eine schier unglaubliche Themenvielfalt des Protests. Es fällt schwer ein Handlungsfeld auszumachen, das nicht mehr oder weniger dicht von protestbereiten und mobilisierungsfähigen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Akteuren bevölkert ist. Kampagnenpolitik ist zu einem professionellen Tätigkeitsfeld geworden (Stiftung Mitarbeit und Bewegungsstiftung 2018), auf das auch etablierte politische Akteure und Unternehmen bei Bedarf zurückgreifen (Walker 2014). Damit korrespondiert eine anhaltende Gewichtsverschiebung im politischen Handlungsrepertoire der Bürgerinnen und Bürger – zumindest in den westlichen Demokratien – hin zu vormals „unkonventionellen“ Formen der politischen Beteiligung. „Aus politischen, ethischen oder Umweltgründen bestimmte Waren nicht mehr zu kaufen“, gehört z. B. in Deutschland zu den bevorzugten Formen der politischen Teilhabe der 12- bis 25-jährigen Jugendlichen (Albert et al.
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2015, S. 198). Demonstrieren ist für Erwachsene in Deutschland inzwischen zu einer politischen Selbstverständlichkeit geworden1. Es gibt zwar einige Einrichtungen und Initiativen, die Bewegungs- und Protestpolitik themenübergreifend unterstützen (wie z. B. die „Bewegungsstiftung“ oder die Internetplattform „campact“), aber das Protestwachstum vollzieht sich vor allem in Form von horizontalen themen- und kampagnenspezifischen oder lokalen und regionalen Vernetzungen vielfältiger Initiativen und Gruppen (etwa Protestbewegungen gegen „land grabbing“, Dämme und Bergbauprojekte, Initiativen für die Energiewende oder gegen den Klimawandel, städtische Bewegungen unter der Überschrift „Right to the City“ etc.). Oft bieten sie eine Plattform unterschiedlicher Akteure von Themenanwälten bis zu direkt Betroffenen, von Bürgerinitiativen bis zu NGOs. „Die Träger von Protestaktionen reichen von lokalen Bürgerinitiativen bis hin zu transnationalen Aktionsbündnissen und Kampagnen, die auch Großorganisationen einbinden. Auf allen Ebenen geht der Trend in Richtung einer losen Vernetzung, die den beteiligten Gruppen und Organisationen Spielräume für ihre je spezifischen Themensetzungen und Aktionsformen lässt und sie nicht in das Korsett verbindlicher Aktionsformen und Slogans zwingt“ (Rucht und Teune 2017, S. 24). Dies bestätigt einen Entwicklungstrend, der bereits für die neuen sozialen Bewegungen charakteristisch war: die Abkehr von Groß- und Dachorganisationen hin zu aktivierenden „Netzwerken von Netzwerken“. 1.2 Mit ihrer Ausbreitung und Normalisierung sind Proteste und soziale Bewegungen in allen politischen Lagern zu finden und ihre Grenzen zur etablierten Politik sind unscharf geworden
Gerade im Westeuropa der Nachkriegszeit, aber auch in den USA und in vielen anderen Weltregionen galten Proteste und soziale Bewegungen überwiegend als Artikulationsformen für progressive politische Anliegen und Ideen, geht es doch um die Herausforderung etablierter Herrschaftsverhältnisse. Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit gehörten zu ihren übergreifenden Protestthemen der Nachkriegszeit (für Deutschland vgl. Roth und Rucht 2008). Dazu haben sicherlich die US-Bürgerrechtsbewegung und die weltweiten Protestbewegungen um die mythische Jahreszahl „1968“ ebenso beigetragen wie die „neuen sozialen Bewegungen“, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in vielen Ländern den Bewegungssektor dominierten. Letztere dürften auch heute noch einen wesentlichen Beitrag zum Protestgeschehen in den westlichen Ländern leisten. Diese starke Verknüpfung von Bewegungspolitik mit progressiven, demokratisch-menschenrechtlichen Inhalten stellte einen bemerkenswerten Bruch mit einer zentralen Hypothek der Zwischenkriegszeit dar, war doch der Bewegungsbegriff selbst durch die faschistischen Bewegungen und ihre genozidale Herrschaftspraxis kontaminiert. Zwar hat es stets auch Proteste und Mobilisierungen der „dunklen Zivilgesellschaft“ gegeben (vgl. Roth 2004), aber sie waren in den Nachkriegsjahrzehnten zu Randerscheinungen geworden.
1 Die bundesweiten Beteiligungswerte von 2014 liegen für Demonstrationen zwischen 29 % (Westdeutschland) und 40 % (Ostdeutschland) (vgl. Wessels 2016, S. 402).
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Dies hat sich in den letzten Dekaden massiv verändert. Rechtsextreme und rechtspopulistische Bewegungen und Proteste haben in fast allen westlichen Demokratien, aber auch in den „neuen Demokratien“ und Transformationsgesellschaften Osteuropas erheblich an Bedeutung gewonnen. In einigen Ländern stellen sie sogar die Regierung oder sie sind daran beteiligt. Dennoch gehört der „Kampf um die Straße“ zum festen Repertoire rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien. Auch in Deutschland, im europäischen Vergleich ein Spätkommer (vgl. Kriesi et al. 2008), hat sich dieses Zusammenspiel von Bewegungs- und Parteipolitik, um das sich seit den 1990er-Jahren bereits die NPD bemühte, mit „Pegida“ und der „Alternative für Deutschland“ (AfD) in jüngster Zeit erfolgreich etablieren können. Bei allen Unterschieden im Detail bedienen sich die Mobilisierungen aus dem rechten Spektrum zunehmend aus dem Protestrepertoire, das einst das Monopol einer linksliberalen Szene war. Rechtspopulistische Mobilisierungen strahlen zuweilen bis in die „Mitte der Gesellschaft“ aus. Gelegentlich kommt es auch zu Protestereignissen, deren Akteursspektrum nach außen politisch diffus bleibt. Wenn überhaupt eine politische Verortung möglich und sinnvoll ist, sind Proteste und Bewegungen aktuell im gesamten politischen Spektrum zu finden – von rechtsradikalen und rechtspopulistischen Mobilisierung à la „tea party“, „Pegida“ und anderen Aktion gegen Zugewanderte und entsprechenden Gegenmobilisierungen bis hin zu globalisierungskritischen Protesten vom Typus „Occupy!“ oder urbanen Protesten für ein „Recht auf die Stadt“, die in der Regel von linken und linksliberalen Akteuren dominiert werden. Auch das Verhältnis von Protest und etablierter Politik in Parlamenten, Parteien und Verbänden hat sich in jüngster Zeit verschoben. Proteste begleiten kritisch die Ergebnisse von Wahlen und Abstimmungen, wie die vielfältigen Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, die Abstimmung über eine Präsidialverfassung in der Türkei im April 2017 oder die Proteste gegen den Einzug der AfD in den Bundestag gezeigt haben. Nicht nur die Hinnahme von Wahlergebnissen, sondern auch die Akzeptanz von parlamentarisch gefällten Einzelentscheidungen hat in der Bevölkerung gelitten. Vieles deutet darauf hin, dass es sich dabei in der Summe um bedeutsame Legitimationsverluste liberaler Demokratien handelt. Am deutlichsten wird dies in den Veränderungen in den Parteiensystemen, die zumeist auf Kosten der lange Zeit dominierenden Volksparteien gehen. Mit Blick auf ihre Mitgliedszahlen, ihre Stimmanteile und Mobilisierungskraft scheint sich ein Entleerungsprozess zu vollziehen (Mair 2013). In diese Lücke drängen einerseits mehr oder weniger erfolgreich netzaffine „Bewegungsparteien“, wie die „Piraten“ in Deutschland oder das „Movimento 5 Stelle“ in Italien (Tronconi 2015). Andererseits versuchen etablierte Akteure sich des Kredits „sozialer Bewegungen“ zu versichern – so jüngst US-Präsident Donald Trump, der seinen Wahlsieg als Erfolg einer „Bewegung“ gegen das Establishment der Konservativen Partei und gegen „Washington“ präsentiert hat. Im europäischen Kontext sei auf die jüngsten Wahlerfolge der ÖVP in Gestalt der „Liste Kurz“ in Österreich und den spektakulären Aufstieg von Emmanuel Macron mit seiner Liste „en marche“ in Frankreich und zuvor von Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien verwiesen. Bei allen ideologischen Unterschieden im Detail ist ihnen der positive Bezug auf Bewegungen gemeinsam oder der Versuch, sich selbst als solche zu präsentieren. Dieser Rekurs gilt nicht zuletzt dem aus der Bewegungspolitik entlehnten Politikmodus der
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„projekt- und themenorientierten Mobilisierung“, der auf die mediale Präsenz mit einigen wenigen Themen und Vorhaben setzt. Klassische Parteistrukturen, langwierige Willensbildungsprozesse und aufwändige Parteiarbeit erscheinen demgegenüber als altmodisch und unattraktiv. 1.3 Viele Proteste, aber keine soziale Bewegung?
Die aktuelle Protestvielfalt erschüttert sowohl klassische, aber auch neuere Bilder von sozialen Bewegungen. Der Diskurs über soziale Bewegungen war lange Zeit stark von geschichtlichen Vorläufern geprägt. Auch wenn von der historischen Arbeiter- und Frauenbewegung sinnvoller Weise nur im Plural gesprochen werden kann, ließen sich relativ beständige Organisationen, langjährige politische Strömungen, prominente Führungspersonen und zentrale Protestereignisse identifizieren, die es erlauben bei aller Vielfalt von einer sozialen Bewegung zu sprechen, der sich die Aktiven meist dauerhaft zugehörig fühlen konnten. Oft haben diese soziale Bewegungen zudem eigene Bewegungskulturen hervorgebracht, die Zugehörigkeiten in vielen Lebensbereichen befestigen konnten. Die auf dem Höhepunkt der neuen sozialen Bewegungen vorgeschlagene prominente Definition von Joachim Raschke ist trotz wichtiger neuer Akzente noch deutlich von diesen Vorbildern geprägt: „Soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“ (Raschke 1985, S. 77). Wer heute nach „einem kollektiven Akteur“ mit einiger „Kontinuität“ und „hoher symbolischer Integration“ sucht, steht vor enormen Schwierigkeiten, wenn der Bewegungsbegriff nicht so ausgeweitet wird, dass er seine Konturen zu verlieren droht. Selbst die plurale Form „neuer sozialer Bewegungen“ setzte noch gemeinsame Milieus, eine übergreifende, miteinander kompatible Agenda und eine längerfristige gemeinsame Protestpraxis voraus. Dies scheint weniger denn je der Fall zu sein: „Das facettenreiche Protestgeschehen der letzten Jahre und Jahrzehnte entzieht sich einer klaren Verortung als Ausdruck von Krisenbewegungen oder aber Wohlstandsbewegungen, als Bewegung der gesellschaftlichen Progression oder Regression, als Zeichen einer ,Misstrauensgesellschaft‘ (Walter 2013), als Aktivität einer spezifischen Generation, sozialen Schicht oder eines bestimmten politischen Lagers, als Aufstand der direkt Betroffenen oder als anwaltschaftliche Vertretung der Interessen der Allgemeinheit oder marginalisierter Gruppen“ (Rucht und Teune 2017, S. 24). Das Themenspektrum aktueller Proteste lässt sich kaum mehr überschauen und ihre Gestaltungsansprüche reichen vom kleinteiligen Widerstand gegen lokale Industrie- und Infrastrukturvorhaben bis zum universellen Credo „Eine andere Welt ist möglich“. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner hält dennoch oder gerade deshalb an. Als Kandidaten stehen gemeinsame Gegnerschaften zur Debatte, wie z. B. „neoliberal urbanism“ (Mayer et al. 2016), Austeritätspolitik (Giugni und Grasso 2015) oder finanzmarktgetriebene Globalisierung und neoliberale Weltordnung (Konak und Dönmez 2015). Die Liste ließe sich noch um den Protest gegen Rechtspopulismus oder staatliche Repression und Überwachung im Sinne autoritä-
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rer Staatlichkeit erweitern. Damit werden durchaus wichtige gesellschaftliche Kontexte und Mobilisierungsthemen und -anlässe benannt, aber sie charakterisieren in der Regel kein gemeinsames Selbstverständnis von Bewegungen, sie wirken nicht identitätsstiftend und begründen keine übergreifende Agenda oder kontinuierliches kollektives Handeln. Dies gilt auch für Versuche, Bürgerrechte bzw. Bürgerschaft („citizenship“) als gemeinsamen Nenner vielfältiger Proteste auszuweisen (Ofer und Groves 2016). Sicherlich geht es in vielen Mobilisierungen um die Anerkennung von Bürgerrechten. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht als ein zentrales politisches Bürgerrecht ist ein historisch instruktives Beispiel. In heutigen Bewegungen geht es um eine Vielzahl von Bürgerrechtsdimensionen, die einerseits die klassische Trias von zivilen, politischen und sozialen Bürgerrechten aktualisieren und vertiefen sollen (z. B. in Richtung direkte Demokratie oder ein garantiertes Grundeinkommen) und andererseits weit darüber hinausweisen. Im Gespräch sind z. B. sexuelle, multikulturelle, ökologische, städtische, europäische oder kosmopolitische Bürgerrechte, um nur einige zu nennen. Unstrittig geht es in vielen Protesten und sozialen Bewegungen um die Anerkennung und Ausgestaltung solcher Bürgerrechte (vgl. umfassend van der Heijden 2014). In Teilen der Schwulen- und Lesbenbewegung, aber besonders in den auf den Kampf um gleiche Rechte konzentrierten Strömungen der neuen Frauenbewegungen konstituiert „citizenship“ einen gemeinsamen Fokus. Aber er taugt wenig, um ein gemeinsames Selbstverständnis vielfältiger Protestakteure rund um die Welt zu identifizieren. Am stärksten ist dies vermutlich noch für städtische Proteste und Bewegungen gelungen, wo zahlreiche Akteure selbst ein vielgestaltiges „Recht auf die Stadt“ einklagen (vgl. Mayer et al. 2016). Ähnlich verhält es sich mit Versuchen, emotionale Aggregatzustände („Wut“, „Empörung“, „Angst“, „Misstrauen“) zum gemeinsamen Nenner von Protesten und sozialen Bewegungen zu machen (vgl. Balint et al. 2014; Castells 2015; Kneuer und Richter 2015). Unstreitig knüpfen sie an sichtbare Elemente in der Gefühlswelt von Protestierenden unterschiedlichster Couleur an und finden in deren großen Erwartungen und starken Gefühlen, ihren Hoffnungen oder Befürchtungen Bestätigung. Dies gilt vor allem für populistische Bewegungen von Rechts und von Links. Der in jüngerer Zeit populär gewordene Begriff „Empörungsbewegungen“ hebt diese Dimension hervor, und nicht wenige Protestierende haben sich das von Medienvertretern erfundene Etikett „Wutbürger“ gerne zu Eigen gemacht. Trotzdem dürfte in historischer und analytischer Perspektive klar sein, dass Proteste und soziale Bewegungen grundsätzlich ohne starke Emotionen nicht entstehen und längere Zeit mobilisieren können (vgl. Jasper 1997). In Abgrenzung zur historischen Massenpsychologie, die mit Begriffen wie Ansteckung und Verführung vor allem die Irrationalität von Protestmobilisierungen betont hatte, setzte die Bewegungsforschung der letzten Jahrzehnte einen Kontrapunkt, indem sie den rationalen und kalkulierten Charakter von Bewegungspolitik betonte. Dass dabei zuweilen die emotionalen Triebkräfte von Mobilisierungen vernachlässigt wurden, steht außer Zweifel. Dennoch spricht wenig dafür, emotionale Zustände zum gemeinsamen Nenner gegenwärtiger Proteste zu adeln, auch wenn sie für eine breite Öffentlichkeit „cool“ sind, weil sie einen „heißen“ gesellschaftlichen Aggregatzustand möglicher Veränderungen reprä-
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sentieren und sich so von dem mehr oder weniger erstarrten Zustand von politischen Parteien und Verbänden abheben. Aktuell gibt es wenig verbindende Deutungen und keine gemeinsame Agenda, viele Projekte, aber kein gemeinsames Projekt. Dies bedeutet einen Bruch mit den Traditionen alter und neuer sozialer Bewegungen, deren Impulse durchaus noch vorhanden sind, aber sie dominieren nicht mehr den Bewegungssektor (Kriesi et al. 1995). Wie schwierig sich heute die Suche nach sozialen Bewegungen gestaltet, die als gemeinsames Band für die vielen Proteste und Mobilisierungen gelten können, belegt indirekt ein neueres Handbuch zu Protestkulturen (Fahlenbrach und Klimke 2016). Hätte man noch vor wenigen Jahrzehnten eine Darstellung von Protestkulturen verschiedener sozialer Bewegungen erwartet (z. B. der Frauen-, Friedens- oder Ökologiebewegung), so fehlt dieser Versuch in dieser facettenreichen Darstellung von verschiedenen Dimensionen des Protests völlig. Die Konzentration liegt stattdessen auf solchen Aspekten wie Protestformen, Mediennutzung, Emotionen, Gewalt, biografischen Wirkungen und vielen anderen mehr. Dennoch zeichnen sich einige übergreifende Themen ab, die Bewegungen und Proteste in vielen Ländern adressieren, die aber kontextspezifisch sehr unterschiedliche Ausprägungen erfahren. 1.4 Kapitalismuskrisen und Globalisierung
Mit der weltweiten Finanzkrise von 2007/2008 hat sich global eine deutliche Verlagerung des Protestgeschehens hin zu ökonomischen Themen vollzogen. Diese Entwicklung ist bemerkenswert, schien es doch unter dem Eindruck „neuer sozialer Bewegungen“ in den OECD-Ländern ausgemacht, dass die klassischen Protestthemen entlang von ökonomischer Ungleichheit, Armut, Arbeitslosigkeit und Ausbeutung nur noch Randerscheinungen sind, die allenfalls in der globalen Peripherie eine Rolle spielen. Joachim Raschke (1985) diagnostizierte z. B. einen Wandel in Richtung kulturorientierter Bewegungen, Alberto Melucci (1996) sah die Auseinandersetzung um „Altri Codici“, um alternative kulturelle Orientierungen als gemeinsame Signatur zeitgenössischer sozialer Bewegungen. Lebensweisen, kulturelle Identitäten und Anerkennungsverhältnisse schienen die zentralen Herausforderungen der „neuen“ Proteste, die als Protagonisten eines Wandels von materialistischen hin zu postmaterialistischen Werten galten. Sicherlich spielen solche „weichen“ identitätspolitischen Themen im aktuellen Protestgeschehen nach wie vor eine Rolle – vor allem in den reicheren Ländern, wie z. B. Deutschland und den skandinavischen Länder, die sozialstaatliche Sicherungen und ökonomische Inklusion weitgehend erhalten konnten. Aber schon in der westeuropäischen Peripherie, in den Staaten, die von der Krisenpolitik der EU, von IWF und Weltbank bzw. der „Troika“ besonders betroffen waren (und sind), änderte sich die Protestagenda dieser Länder in der letzten Dekade nachhaltig und für das jeweilige politische System durchaus folgenreich. Das Aufbegehren gegen die Krisenfolgen von 2008 und eine Krisenpolitik, die am Leitbild von Austerität und Bankenrettung orientiert die Lebenssituation vieler Menschen nachhaltig verschlechterte, haben „Brot-und-Butter-Themen“ erneut auf die politische Agenda gesetzt. Neue Protestbewegungen, wie z. B. Syriza, 15M und die Indignados sind entstanden, haben – wie in Griechenland und Spanien – neue einflussreiche Parteiformationen hervorgebracht oder linke Koalitionsregierungen ermöglicht (wie
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in Portugal – vgl. David 2018). Ein genauerer Blick auf die Anti-Austeritätsproteste in Europa zeigt ein deutliches Nord/Süd-Gefälle. In den von der Finanzkrise von 2008 und der Krisenpolitik der „Troika“ besonders betroffenen Länder des europäischen Südens gab es ein ungleich stärkeres und radikaleres, politisch polarisiertes Aufbegehren (vgl. della Porta 2015, 2017; della Porta et al. 2015, 2017; Kneuer und Richter 2015). Besonders in Deutschland konnten z. B. die von einer New Yorker Aktivistenszene ausgelöste „Occupy“-Bewegung und die zahlreichen Solidaritätskundgebungen für die südeuropäischen Ländern nur eine vergleichsweise bescheidene Resonanz erzielen (Geiges 2014). Die Anti-Austeritätsproteste und „Occupy“ bedeuteten jedoch keine Rückkehr zu traditionellen Aktionsformen und brachten auch meist kein Wiedererstarken der klassischen linken Akteure mit sich. Ihre Proteste, Akteure und Aktionsformen lassen sich eher als eine Mischung von Elementen alter und neuer sozialer Bewegungen beschreiben. Als „new old social movements“ teilen sie zahlreiche Charakteristika der alten sozialen Bewegungen, vor allem die Themen Ungleichheit, soziale Gerechtigkeit und soziale bzw. ökonomische Bürgerrechte. In ihren Aktionsformen und mit Blick auf die zentralen Akteursgruppen bewegen sie sich eher in der „postindustriellen“ Protestkultur der neuen sozialen Bewegungen (vgl. Giugni und Grasso 2015, S. 80). Solche Zuschreibungen sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten, laufen sie doch Gefahr, Protestformen (z. B. Streiks) und Protestaktionen traditioneller Akteure auszublenden (Peterson et al. 2015). Ökonomische Austerität, wachsende soziale Ungleichheit und globale Gerechtigkeit sind auch die dominierenden Themen weltweiter Proteste im Zeitraum von 2006–2013 (Ortiz et al. 2013; della Porta und Mattoni 2014). Soziale Ungleichheiten und ökonomische Marginalisierung sind jedoch auch in die Agenda zahlreicher nationaler und regionaler Proteste eingeschrieben, die mit anderen oder weiterreichenden Forderungen verbunden werden. Das gilt besonders für die Aufbrüche im arabischen Raum („Arabellion“ bzw. „arabischer Frühling“), deren revolutionärer Schwung und breite Resonanz in der Bevölkerung nicht zuletzt durch die massive materielle Ausgrenzung der – oft besser gebildeten – jüngeren Generation befeuert wurde (s. Grimm 2015). Dies gilt mit leichten Abstrichen auch für die iberischen Protestbewegungen 15M und Indignados (David 2018; Kneuer und Richter 2015). Die Rückkehr der Kapitalismuskritik gehört zu den hervorstechenden Merkmalen neuerer Protestbewegungen. Einen ersten Aufschwung erlebte sie bereits in den globalisierungskritischen Mobilisierungen um die Jahrhundertwende und auf den alternativen Weltsozialforen. Einen weiteren Höhepunkt lösten die Finanzkrise von 2007/2008 und die anschließende „Bankenrettung“ aus. Im Rückblick zeigt sich, dass es (bislang) nicht gelungen ist, aus den vielfältigen weltweiten Protesten dauerhaften Gegenstrukturen zu entwickeln, die für die Identität und Kontinuität einer oder mehrerer Bewegungen unabdingbar wären. Viele der oppositionellen Vernetzungs- und Aktionspraktiken, wie z. B. die Sozialforen oder die Occupy-Bewegung waren nur für eine Weile in der Lage, einen gemeinsamen Rahmen für kapitalismusund globalisierungskritische Aufbrüche zu schaffen. Dies hat sicherlich auch mit dem in sich sehr heterogenen Fokus Globalisierungsund Kapitalismuskritik zu tun. Die Hoffnung auf einen „irresistible rise of global anticapitalism“ (Notes from Nowhere 2003) der frühen Aufbrüche hat sich jedenfalls
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nicht bewahrheitet. Globalisierungskritische Themen sind inzwischen im gesamten politischen Spektrum anzutreffen, wobei die radikale linke Kapitalismuskritik eine Randerscheinung geblieben ist. Trotz der massiven globalen Wiederkehr der „alten“ sozialen Fragen in Gestalt von Prekarisierung, sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, Raubbau und blutiger Ausbeutung ist es bislang nicht gelungen, dauerhafte Strategien und Netzwerke aufzubauen, die traditionelle Organisationsaufgaben und -ansätze der Arbeiterbewegung mit den neuen Themen und Formen des Protests verknüpfen (vgl. Davis 2017). In aktuellen Mobilisierungen, wie z. B. in den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Juni 2017, reicht das politische Spektrum von reformerischen (etwa für „Global Social Protection Floors“ und sozial wie ökonomisch nachhaltigen Regulierungen) bis zu radikal antikapitalistischen Zielsetzungen (vgl. Zajak et al. 2017). Globalisierungskritik und die Thematisierung wachsender sozialer Ungleichheiten haben längst das Weltwirtschaftsforum in Davos erreicht. Nach dem Wahlsieg Trumps erfährt eine protektionistische Politik Aufschwung, und das Vertrauen in die finanzmarktgetriebene Globalisierungs- und Liberalisierungsagenda schwindet. Die Ausbreitung einer Renationalisierungsrhetorik ist auch ein Resultat erfolgreicher rechtspopulistischer Bewegungen und einer Globalisierungskritik von rechts, die sich propagandistisch an die Opfer der Globalisierungsprozesse im eigenen Land wendet und – neben der EU-Kritik – in der Abwehr von Migrantinnen und Migranten ihren kleinsten gemeinsamen Nenner findet. Der Aufschwung rechtspopulistischer Bewegungen und fremdenfeindlicher Attacken erinnert an die folgenreiche Kapitalismuskritik von rechten Kräften in der Zwischenkriegszeit. Globalisierungsund Kapitalismuskritik hat als Fokus sozialer Proteste und Bewegungen nicht nur zugenommen, sondern auch ihre politische Eindeutigkeit verloren. 1.5 Mehr Demokratie
Ähnlich fällt auch die Diagnose in Sachen Demokratie als Protest- und Bewegungsthema aus. „Mehr Demokratie“ lautete eine der zentralen Forderungen in den sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte (vgl. della Porta 2013; Roth und Rucht 2008; Taylor 2017). Daran hat sich auch in jüngerer Zeit nichts geändert. Proteste von Bürgerinitiativen und regionale Konflikte – allen voran um das Großprojekt „Stuttgart 21“ (vgl. Brettschneider und Schuster 2013) – haben eine breite Suchbewegung nach demokratischen Erweiterungen und Ergänzungen repräsentativer Entscheidungsprozessen durch Bürgerbeteiligung, direktdemokratische Verfahren und bürgerschaftliches Engagement ausgelöst. In globalisierungskritischen Mobilisierungen, wie z. B. in den Platzbesetzungen von „Occupy“ und „Acampada“, und besonders in den Anti-Austeritätsprotesten in vielen Ländern Süd- und Mitteleuropas wurde die alte Idee der unmittelbaren Versammlungsdemokratie neu belebt (Kneuer und Richter 2015; Figueiras und Espirito Santo 2016). Die spanische Indignados/15 M-Bewegung hat das offene und öffentliche Zusammenkommen auf zentralen Plätzen zum Markenzeichen der geforderten „echten“ Demokratie gemacht. Aber der gleichberechtigte Zugang zu Debatten auf öffentlichen Plätzen und damit verbundene Protestcamps spielten auch in anderen Protesten eine wichtige Rolle, wie z. B. auf dem Taksim-Platz bzw. im Gezi-Park von Istanbul oder dem Syntag-
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ma Platz in Athen (Mayer et al. 2016). Vorbild waren die Proteste des „arabischen Frühlings“, besonders auf dem Kairoer Tahrir-Platz. In dieser direktdemokratischen Praxis aktueller Protestbewegungen verbinden sich unterschiedliche Momente. Erstens geht es um den Anspruch auf eine gleichberechtigte demokratische Teilhabe innerhalb der sozialen Bewegungen selbst. Die oft reklamierte demokratische Praxis in sozialen Bewegungen wird in einigen neueren Studien eindrucksvoll bestätigt und der Anspruch auf eine vorwegnehmende, präfigurative Umsetzung demokratischer Ambitionen durch vielfältige „Erfindungen“ – erinnert sei z. B. an die „lebendigen Mikrofone“ in der Occupy-Bewegung – in beachtlicher Weise eingelöst. Zweitens wendet sich die Forderung nach „echter Demokratie“ gegen autoritäre Regime (von China bis Ägypten) bzw. autoritäre Praktiken in formalen Demokratien (Türkei). Drittens kritisieren die Protestbewegungen der OECD-Länder demokratische Defizite in den etablierten Parteien- und Verbändesystemen. Ihr Anspruch auf eine breite Repräsentation von Bevölkerungsinteressen und Gemeinwohl wird zunehmend in Zweifel gezogen und herausgefordert. Proteste sind Auslöser und Ausdruck schwacher Legitimation bestehender politischer Verfahren und bringen die Forderung nach einer Demokratisierung liberaler Demokratien zum Ausdruck. Viele der dominierenden Parteien der Nachkriegszeit sind auf dem Rückzug oder weitgehend verschwunden. Die wahrgenommenen Repräsentationsdefizite sind größer geworden, und in dieser Lücke können sich Proteste breiter Zustimmung erfreuen. Viertens verweisen aktuelle Protestbewegungen auf ein bekanntes, aber sich verschärfendes Spannungsverhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie, das oft unter der missverständlichen Überschrift „Postdemokratie“ diskutiert wird. Ökonomische Imperative und Interessen sind so übermächtig geworden, dass die Spielräume staatlicher Politik und demokratischer Gestaltung zu schwinden drohen. In der Regierungspolitik werden solche Vermutungen durch die Anrufung des TINAPrinzips („There is no alternative“) oder durch Leitbilder einer „marktkonformen“ Demokratie bekräftigt. Aktuelle Protestbewegungen drängen deshalb oft auf die Ausweitung politischer Gestaltungsspielräume. Fünftens machen ökonomische Globalisierungsprozesse und politische Formationen wie die EU auf ein weiteres strukturelles Demokratiedefizit aufmerksam. An wichtigen Entscheidungen über globale Regulationen gibt es allenfalls eine konsultative, oft nur symbolische Beteiligung von NGOs, während die Mitsprache betroffener Bevölkerungsgruppen nicht vorgesehen ist. Dünn ist auch die demokratische Legitimationsdecke solcher regionalen Zusammenschlüsse wie der EU. Gerade die Krisenpolitik der „Troika“ hat auf die Bedeutung der letzten beiden Dimensionen aufmerksam gemacht. „Der Kapitalismus und seine Logik frisst inzwischen auch das letzte bisschen Demokratie, das er uns das eine oder andere Mal zugebilligt hat“, heißt es in einem Aufruf christlicher Gruppen zur Demonstration gegen den G20 Gipfel im Juli 2017 in Hamburg. Sechstens darf nicht übersehen werden, dass die aktuellen Proteste Anlass und Triebkräfte zahlreicher demokratischer Innovationen weltweit geworden sind. Erinnert sei nur an die Praxis der Bürgerhaushalte, die im brasilianischen Porto Alegre erfunden wurden und inzwischen weltweite Verbreitung gefunden haben. Aber auch die unterschiedlichsten Formen der Bürgerbeteiligung und Betroffenenmitsprache
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sind unter dem Eindruck bewegter Politik ausgeweitet worden – ein Umstand, der in der Debatte über Postdemokratie meist übersehen wird. Gleichzeitig sind politische Gegenspieler stärker geworden, die nicht auf mehr, sondern auf weniger Demokratie setzen. Rechtspopulistische Bewegungen und Proteste setzen auf autoritäre Führerschaft und Formen der Mehrheitsherrschaft (z. B. durch Volksentscheide), die gesellschaftlichen Minderheiten, allen voran den Zugewanderten jegliche politische Beteiligungsrechte absprechen2. Die bewegte Kritik an liberalen Demokratien hat auch einflussreiche autoritäre Gegenentwürfe „gesteuerter“ oder „illiberaler“ Demokratie hervorgebracht. 1.6 Digitalisierung
Digitalisierung und Internetkommunikation haben nicht nur unsere Gesellschaften insgesamt, sondern auch die Kontextbedingungen und Handlungsmöglichkeiten von Protesten und sozialen Bewegungen aus der Sicht vieler Beobachterinnen und Beobachter entscheidend verändert3. Soziale Medien erscheinen als ideale Mittel und Wege um Protestthemen zu verbreiten, für gemeinsame Aktionen zu mobilisieren und ihnen zudem – zumindest im weltweiten Netz – zu medialer Sichtbarkeit und Resonanz zu verhelfen. Sie sind nicht nur vergleichsweise kostengünstig, sondern haben in der Regel auch niedrigere Barrieren als dies in der klassischen medialen Öffentlichkeit der Fall ist. Zudem sorgt die zunehmende Verbreitung von Smartphones dafür, dass die noch vor Jahren intensiv beklagte „digital divide“ kleiner wird. Heute dürften weltweit die Zugangshürden zur Internetkommunikation – trotz zunehmender staatlicher und privater Einschränkungen und Regulierungen – niedriger sein als für alle anderen Formen medialer Kommunikation. Die förderlichen Auswirkungen für Protestmobilisierungen sind vielfältig (Kneuer und Richter 2015). Das gilt zunächst für die Binnenkommunikation in Protesten und Bewegungen, die nicht nur schneller und kostengünstiger wird, sondern auch ihre Reichweite enorm gesteigert hat. Translokale und transnationale Protestmobilisierungen werden damit erleichtert und ihre Zahl hat im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommen. Online-Kommunikation verbessert die Möglichkeiten, eigene Öffentlichkeiten über den Kreis der unmittelbar Beteiligten zu schaffen und damit stärkere Resonanz in kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien zu erzeugen. Diffusionsprozesse von Themen und Aktionsformen werden schneller und lokale 2 Für diese Tendenz sei auf ein Beispiel aus Deutschland verwiesen. Der Thüringen-Monitor, ein Instrument zur Langzeitbeobachtung von Entwicklungen in der politischen Kultur in diesem Bundesland, berichtet in seiner Ausgabe 2017 von steigender Demokratiezufriedenheit, höherer Wahlbeteiligung und größerer Bereitschaft zur Mitarbeit in Parteien. Dies hat wohl in erster Linie mit den Erfolgen der AfD zu tun, bietet sie doch die Möglichkeit für bisher „stumme“ Gruppen zur Wahlurne zu gehen und sich in den Parlamenten vertreten zu sehen. Aber dieses positive Bild ist trügerisch. Zwar seien 57 % der Befragten mit der Demokratie zufrieden, gleichzeitig sehen 69 % ihre Anliegen in der Demokratie nicht wirksam vertreten, 74 % beklagen, dass die Parteien nur ihre Stimme haben wollen, aber kein Interesse an ihren Ansichten haben, und 63 % der Befragten wollen eine starke Partei, die die „Volksgemeinschaft“ verkörpert (Best et al. 2017, S. 199). 3 „The structure and operation of social movements have undergone a transformation with alternative new media, especially with social media. A polycentric, horizontally networked, flexible, and dynamic structure has replaced the centralized, hierachical, strictly ruled structures in the past“ (Coban 2016, S. xiii).
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Protestimpulse können weltweit nahezu in Echtzeit zum Gegenstand von gezielten Mobilisierungen und Kampagnen werden. Weder die Ausbreitung des „Arabischen Frühlings“ noch von „Occupy“ wären ohne die neuen transnationalen Kommunikationsnetzwerke in dieser Dichte und Geschwindigkeit denkbar gewesen. Indem sie auf Überraschung, öffentliche Sichtbarkeit (z. B. durch Platzbesetzungen), Provokation und moralische Empörungen setzen oder weitreichende Utopien zum Ausdruck bringen, haben Proteste und soziale Bewegungen grundsätzlich einen hohen Nachrichtenwert, der durch die Möglichkeiten digitaler Kommunikation noch gesteigert wird. All diese förderlichen Potentiale senken nicht nur die Transaktionskosten für Mobilisierungen und erleichtern die Ausbreitung von Protesten, sondern sie machen sie auch unabhängiger von der Unterstützung durch Großorganisationen und der Resonanz in den etablierten Medien. Wie in der allgemeinen Debatte über die gesellschaftliche Digitalisierung findet sich auch in der Auseinandersetzung über deren Einfluss auf Protestmobilisierungen eine Bandbreite von skeptischen bis zu euphorischen Einschätzungen4. Dabei zu bedenken ist, dass wir erst in einer frühen Phase der digitalen Durchdringung der Gegenwartsgesellschaft stehen. Leistungsfähige Smartphones, wie sie heute von Vielen benutzt werden, gibt es erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt. Unstrittig scheint jedenfalls, dass sich im „digitalen Kapitalismus“ Formen der politischen Mobilisierung und Repräsentation in einer Weise ändern, die den Abschied von den klassischen Parteien- und Verbandssystemen beschleunigen5. Dass Protestakteure Nutznießer dieser Veränderungen sind, scheint unstrittig. Von Arabellion, über Occupy und den Indignados bis zu den Gezi-Protesten scheint offensichtlich, dass ihre internationale Resonanz erheblich durch digitale Kommunikation gefördert wurde. Manuel Castells hat bereits zu Beginn des Jahrzehnts von „networked social movements“ (2015) gesprochen; „E-Protest“ (Sonntag 2013), „mediatisierter Widerstand“ (Balint et al. 2014) sind einige weitere Stichwort, die auf die besondere Bedeutung des Internets für die aktuelle Protest- und Bewegungslandschaft aufmerksam machen. Welche Bedeutung den neuen Medien für die Entwicklung von Protesten wirklich zukommt, ist jedoch schwerer auszumachen, als dies auf den ersten Blick scheint. Die schnelle, aber regional durchaus begrenzte Ausbreitung der arabischen Aufbrüche oder die weltweiten Occupy-Proteste sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass es die schnelle Diffusion von Protesten auch schon zu analogen Zeiten gab – erinnert sei nur an die globalen Proteste um das Jahr 1968 oder den Aufschwung von transnationalen Nichtregierungsorganisationen und Kampagnen in den 1970er4 Hoffnungsvolle Projektionen eines heraufziehenden digitalen „Postkapitalismus“ und ein befreiendes „Internet der Dinge“ (Srnicek und Williams 2015; Mason 2016) stehen unvermittelt neben düstersten Gesellschaftsprognosen, gegen die sich Orwells „1984“ wie ein Idyll ausnimmt (so Evgeny Morozov in zahlreichen Publikationen, z. B. 2011), wobei die Ausbreitung internetgestützter Kontrollpraktiken durch Staaten und Internetfirmen sowie die Debatte über fake news, bots etc. Visionen von einer grundsätzlich befreienden Wirkung der neuen Kommunikationstechnologien in jüngerer Zeit gedämpft haben. 5 Dafür steht nicht nur der twitternde Trump, sondern die Karriere von politischen Formationen, die sich selbst als vernetzte „Bewegung“ definieren, wie zum Beispiel das italienische „Movimento Cinque Stelle“ (M5S), das bei den nationalen Wahlen 2013 aus dem Stand ein Viertel der Stimmen gewinnen konnte (vgl. Tronconi 2015).
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und 1980er-Jahren. Da sich die Möglichkeiten digitaler Kommunikation nicht auf Protestakteure und ihre Mobilisierungen beschränken, stehen sie in Konkurrenz mit zahlreichen anderen Akteuren, wenn es um die Aufmerksamkeit und das Interesse des Publikums geht. Internetgestützte Kampagnen sind zwar leichter geworden, aber sie werden mit ihrer Vervielfältigung auch banal oder beliebig und drohen stets in einem vielstimmigen Rauschen unterzugehen. In der Protestpraxis der letzten Jahre ist deutlich geworden, dass soziale Bewegungen und Proteste ohne direkte Kommunikation und persönliche Begegnungen nicht zustande kommen und mit einiger Kontinuität mobilisieren können (Gerbaudo 2012). Nur auf diesem Wege entsteht das Vertrauen, das notwendig ist, um gemeinsames Protesthandeln zu ermöglichen. Noch immer ist es die körperliche Präsenz von Menschen auf Plätzen und Straßen, die den besonderen Anliegen und Forderungen besonderen Nachdruck verleiht. Riskantere Formen des Protests, wie z. B. ziviler Ungehorsam in Form von Platzbesetzungen und Blockaden, benötigen nach wie vor vertrauensvolle Bezugsgruppen. Es ist daher kein Zufall, dass gerade in den scheinbar „networked social movements“ direkte, sichtbare und offen zugängliche Kommunikation auf urbanen Plätzen eine zentrale Rolle spielt und immer wieder ein „unplugging the protest movement waves“ (Figueras und Espirito Santo 2016) stattfindet. Aus dieser Perspektive gewinnt für die Entfaltung sozialer Bewegungen eine Ambivalenz an Bedeutung, die technikkritische Studien über Digitalisierungsprozesse betonen. Mit den erleichterten digitalen Kommunikationsmöglichkeiten geht ein Verlust direkter Kommunikation und damit eine Vereinzelung einher – „alone together“ (Turkle 2011). Öffentliche Proteste und soziale Bewegungen lassen sich deshalb nicht nur als Nutznießer, sondern auch als Gegenbewegungen verstehen, die gegen einen schier übermächtigen digitalen Trend direkte Kommunikation und Begegnung einklagen und praktizieren („Reclaiming Conversation“ – Turkle 2015). 1.7 Paradoxe Wirkungen
Der Aufschwung von Protesten und sozialen Bewegungen ist stets mit großen Erwartungen verbunden. Schon das Konzept soziale Bewegung ist eng mit der Idee eines zielstrebig betriebenen, grundlegenden sozialen Wandels verknüpft, der entweder bewusst angestrebt, verhindert oder zurückgenommen werden sollen. Im letzten Jahrzehnt ist das Wort „Revolution“ wieder häufiger aufgetaucht (vgl. Sonntag 2013); radikale Forderungen, progressive Aufbrüche und revolutionäre Umwälzungen schienen erneut in vielen Ländern und im globalen Maßstab auf der Tagesordnung. Ein Anklang an die historischen Parolen der Jugendbewegung „Mit uns kommt die neue Zeit!“ wurde hörbar, als z. B. Proteste im New Yorker Bankenviertel mit der stolzen Parole „Wir sind die 99 Prozent“ antraten. Einen Höhepunkt erreichten diese hochgesteckten Erwartungen zu Beginn des Jahrzehnts, als Protestierende wie in einem weltweiten Lauffeuer die politischen Ordnungen ihrer Länder aufmischten, Autokratien herausforderten und erneut gemeinsame transnationale Initiativen für eine andere Weltordnung entstanden.
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Das Protestgeschehen ist seither nicht ärmer geworden, aber die Zweifel an der Gestaltungskraft von Protesten und Bewegungen sind gestiegen. Dazu haben die weitgehend gescheiterten Hoffnungen, die z. B. mit der „Arabellion“6, den Widerständen gegen eine neoliberale Krisenpolitik7 oder der Infragestellung der finanzmarktgetriebenen Weltordnung verbunden waren, ebenso beigetragen wie die wachsende Stärke von autoritären und rechtspopulistischen Gegenbewegungen, die sich nicht zuletzt gegen die gesellschaftlichen Liberalisierungserfolge und basisdemokratischen Ansprüche der „neuen sozialen Bewegungen“ richten. Von Protesten und sozialen Bewegungen geht dennoch eine anhaltende Faszination aus. Ihre Themen, Mobilisierungen, Aktionsformen und Botschaften sind aktuell aus dem politischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Aber ihre Dauer und politische Reichweite scheint letztlich gering. Sie bieten immer wieder neue Überraschungen und Provokationen, aber sie erzeugen nicht (mehr) jene politische Zuversicht, die einmal mit den großen historischen Sozialbewegungen verbunden war. Es fehlt heute weitgehend die Erwartung, dass sie Geburtshelfer und Protagonisten einer neuen Gesellschaft sind oder zumindest sein könnten. Nicht nur das Beharrungsvermögen der politischen und ökonomischen Eliten, sondern vor allem der Aufschwung extrem nationalistischer und rechtspopulistischer Kräfte und damit verbunden die autoritären Rückentwicklungen in zahlreichen „liberalen“ Demokratien haben die gesellschaftspolitische Rahmung des Protestgeschehens maßgeblich verändert. Wie Nationalstaaten und ihre Gesellschaften nach ihrer protektionistischen Schließung aussehen werden lässt sich zwar schwerlich prognostizieren, allerdings dürften sich die Einflussmöglichkeiten progressiver sozialer Bewegungen und Proteste erheblich reduzieren. Schon deshalb verbietet sich eine schlichte Erfolgsbilanz der Proteste und sozialen Bewegungen der letzten Dekade. Wenn wir ihre vielfältigen Aktionen und Zielsetzungen betrachten, dann zeigen diese Proteste einen gesellschaftlichen Veränderungsbedarf an, der national wie international enorm angestiegen ist. Nach und mit dem Neoliberalismus verdüstern autoritäre Regime, rechtspopulistische Bewegungen und Regierungen die Aussichten auf eine progressive Veränderungsperspektive. Rechtspopulistische Bewegungen und Regierungen mobilisieren mit großer Resonanz gegen die identitätspolitischen, ökologischen und kulturelle Themen der neuen sozialen Bewegungen, greifen vernachlässigte materielle Themen auf und geben negativen Globalisierungsfolgen oder verstärkter Zuwanderung einen rückwärtsgewandten Deutungsrahmen – verbunden mit Option für nationale Schließungsprozesse. Viele der oppositionellen Vernetzungs- und Aktionspraktiken, wie z. B. die Sozialforen oder Occupy, waren ein Weile erfolgreich, konnten aber keine dauerhaft handlungsfähigen Strukturen ausbilden. Der Blick fällt auf ein Patchwork an Möglichkeiten, nicht auf eine oder mehrere Bewegungen im Sinne von benennbaren, 6
Amazon verzeichnet Anfang 2018 mehr als 200 Buchtitel zu den bewegten Aufbrüchen im arabischen Raum („arab uprisings“), deren Spektrum von Analysen der politischen Entwicklungen in der Region über die detaillierte Analysen von unterschiedlichen Teilbewegungen bis zu Veränderungen im Alltagsleben und in den intimen Beziehungen in Folge der Rebellionen reicht. 7 Symptomatisch die weitgesteckten Erwartungen des Aufsatzbands „,Everywhere Taksim‘. Sowing the Seeds for a New Turkey at Gezi“ (David und Toktamis 2015).
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kooperierenden und strategisch handlungsfähigen Akteuren. Weniger denn je gibt es Anhaltspunkte, dass eine Vielfalt an oppositionellen Haltungen und Protesten spontan zu einer gemeinsamen Bewegung verschmelzen. Am stärksten scheint dies noch in den Ländern wie den USA der Fall zu sein, in denen der Widerstand gegen autoritäre Formierungen auf der Tagesordnung steht. Mit der massiven Wiederkehr der „alten“ sozialen Fragen in Gestalt von Prekarisierung, sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, Raubbau und blutiger Ausbeutung scheinen aber längerfristige Strategien und dauerhafte Netzwerke dringender denn je (vgl. Davis 2017). Aktuell vertiefen sich zudem die politischen Frontstellungen innerhalb und zwischen Protestbewegungen und Regierungen. Das Zusammenspiel von Protest und Reform, das gerade die Ära der neuen sozialen Bewegungen geprägt hat, scheint heute weitgehend blockiert (vgl. Roth 2018).
2 Zugänge und Herausforderungen der aktuellen Bewegungsforschung Die internationale Zunahme und Verbreitung von Protesten findet in der Protest- und Bewegungsforschung in unterschiedlicher Weise ihren Niederschlag. Nicht zuletzt die davon ausgehende Faszination ist auch in der Bewegungsforschung, vor allem den Beiträgen jüngerer Forscherinnen und Forscher zu spüren. Es ist „angesagt“, sich mit Protestbewegungen zu beschäftigen. Vermutlich gibt es im Wissenschaftsbetrieb aktuell sogar mehr Aufmerksamkeit für Proteste und soziale Bewegungen als für Veränderungen in Parteien, Parlamenten und Verbänden. Die internationale Konjunktur der Bewegungsforschung lässt sich auch daran erkennen, dass Publikationen zu Protesten und Bewegungen ein ähnliches Niveau erreichen wie Veröffentlichungen zu politischen Parteien8. Dieser Trend ist spektakulär, hat sich doch die neuere Protest- und Bewegungsforschung international und in der Mehrzahl der Länder9 erst in den 1970er- und 1980er-Jahren – wie prekär auch immer – etablieren können. Neben dieser quantitativen Entwicklung zeichnen sich einige Konturen in der Bewegungsforschung ab, die nach der Durchsicht der hier zu berücksichtigenden Literatur besondere Aufmerksamkeit verdienen:
8 Einen sicherlich im Detail nicht verlässlichen, aber groben Indikator bietet das aktuelle Buchangebot von „Amazon“: „Social Movements“ ergaben 20.058 Treffer, „Political Parties“ 23.451 Treffer, bei deutschsprachigen Büchern lagen die Zahlen bei 1790 („Soziale Bewegungen“) bzw. 4451 („Politische Parteien“) – abgefragt am 14.04.2017. Noch deutlicher sind die Relationen in den Trefferzahlen von „Google Scholar“ für den Zeitraum seit 2016 (abgefragt am 15.04.2017): „Social Movements“ bringen es auf 79.900 Einträge, „Political Parties“ dagegen nur auf 51.700. Im deutschsprachigen Raum verzeichnen „Soziale Bewegungen“ 9610 Treffer, politische Parteien dagegen 14.900. 9 Zwei Beispiele: Die beiden einschlägigen Research Commitees der International Sociological Association (RC 47 + RC 48) wurden erst 1986 gegründet, in der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft gelang ebenfalls erst in 1980er Jahren die Etablierung einer ad hoc Gruppe zum Thema soziale Bewegungen.
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2.1 Internationalisierung
Bis in die 1980er-Jahre waren Studien über soziale Bewegungen und Proteste stark von nationalen und regionalen Traditionen geprägt. Es folgte mehr als ein Jahrzehnt an Debatten, die sich um die unterschiedlichen Traditionen der Bewegungsforschung in Westeuropa einerseits und den USA andererseits drehten. Davon ist heute nur noch wenig zu spüren. Analysekonzepte und theoretische Zugänge sind um die Welt gewandert und heute weit weniger lokal oder regional geprägt, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war (vgl. Balint et al. 2014; Torres und Mateus 2015; Bosi et al. 2016; Fahlenbrach und Klimke 2016). Die Zahl der Publikationen nimmt zu, die sehr selbstverständlich Proteste und Bewegungen über regionale Grenzen und kulturelle Differenzen hinweg versammeln und mit einer gemeinsamen Fragestellungen konfrontieren (z. B. Castells 2015; Mayer et al. 2016; Ofer und Groves 2016). Am deutlichsten wird die transnationale Perspektive auf das Bewegungsgeschehen wenig überraschend in der thematischen Auseinandersetzung mit globalisierungskritischen Mobilisierungen, wie z. B. den Occupy-Protesten (vgl. Mörtenböck und Mooshammer 2012; Balint et al. 2014; Kneuer und Richter 2015). Ähnliche Studien gab es bereits zu den Protesten gegen die diversen G8/G7-Gipfel oder die Treffen des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation, die mit dem „Battle of Seattle“ Ende November 1999 einen ersten Höhepunkt erreichten. Auch die ersten Weltsozialforen in Porto Alegre zu Beginn der 2000erJahre lösten große internationale Aufmerksamkeit aus. Der vernetzte transnationale globalisierungskritische Aktivismus ist keineswegs verschwunden, wie die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 gezeigt haben (Zajak et al. 2017). Sie finden ebenso wissenschaftliche Beachtung wie die weniger spektakulären themenspezifischen Protestnetzwerke etwa gegen den Bau von Dämmen, gegen landgrabbing oder den Extraktivismus im Bergbau (vgl. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 2017). 2.2 Institutionalisierung
Lehrbücher, Handbücher und Lexikonartikel sind in der Regel ein guter Indikator für die Institutionalisierung eines Forschungsbereichs. In der Protest- und Bewegungsforschung herrscht daran aktuell kein Mangel. Im deutschsprachigen Raum sei an die einflussreiche Monografie „Soziale Bewegungen“ von Joachim Raschke (1985) erinnert, der das Verdienst zukommt, die Verknüpfung der hiesigen Debatte mit der angelsächsische Forschungslandschaft gefestigt zu haben. Für den angelsächsischen und internationalen Diskurs dürfte der Einführung „Social Movements“ von Donatella della Porta und Mario Diani (2006) eine ähnlich stilbildende Bedeutung zukommen. Aus der Reihe der einführenden Lehrbücher ragt Greg Martins „Understanding Social Movements“ (2015) heraus. Ihm gelingt eine informative und leicht verständliche Übersicht über die verschiedenen theoretischen und konzeptionellen Zugänge zu kollektiven Aktionen, Protesten und sozialen Bewegungen, die er in historischer Perspektive ordnet und bis zu den aktuellsten Protesten und Interpretationsansätzen fortschreibt. Den anregenden Charakter dieses interdisziplinär angelegten Studienbuchs unterstützt eine Fülle von eindrucksvollen und teilweise il-
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lustrierten Protestbeispielen, die der Autor quer durch die Geschichte und verstreut über den Globus (von der Nazi-Bewegung in Deutschland bis zu den Aktionen von Pussy Riot in Russland) zusammenträgt. Dass er aktuellen Protesterscheinungen (Hacker, globalisierungskritische Bewegungen, „Right to the City“-Initiativen etc.) besonderes Augenmerk schenkt, dürfte den Wert dieses Einführungsbuches für Studierende noch unterstreichen. Die einzelnen Kapitel sind gut aufbereitet und mit weiterführenden Lektüreempfehlungen versehen. Aus einer strengen Forschungsperspektive werden einige der von Martin vorgestellten Aktionen nicht dem Anspruch genügen, dass es sich hierbei wirklich um soziale Bewegungen handelt. Aber gerade die Breite und Aktualität des präsentierten Aktions- und Themenspektrums dürfte eine jüngere Leserschaft dazu bringen, sich mit diesen unkonventionellen Formen näher zu beschäftigen. Dies gilt auch für die engagierte Haltung, mit der dieses Buch verfasst wurde. Martin macht immer wieder deutlich, dass soziale Bewegungen und Proteste dafür stehen, dass die beklagten Ungerechtigkeiten und Missstände durch kollektives Handeln thematisiert und zuweilen auch abgebaut werden können. 2.3 Interdisziplinäre Zugänge
Der Blick auf soziale Bewegungen und Proteste ist interdisziplinärer und vielseitiger geworden. Klassisch dominierten Politik- und Sozialwissenschaften mit Einschränkungen auch die Geschichtswissenschaften das Feld. In ihrem Handbuch „Social Movements Across Disciplines“ versammelten Klandermans und Roggeband (2010) bereits zusätzlich psychologische und anthropologische Ansätze. Disziplinäre Verstärkung kommen aktuell zudem aus den Kulturwissenschaften (z. B. Mörtenböck und Mooshammer 2012), der Geographie, der Stadtforschung, von Jugendstudien, den Religionswissenschaften, den Kommunikationswissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften – so haben z. B. Acemoglu und Robinson (2017, S. 25) nachdrücklich die Bedeutung von sozialen Bewegungen für die Wohlstandsentwicklung von Nationen hervorgehoben. In den Sammelbänden dieses Literaturberichts werden sehr selbstverständlich Beiträge aus den verschiedenen Forschungsdisziplinen zu einzelnen Fragestellungen produktiv aufgenommen – so z. B. zu Protestkulturen (Fahlenbrach und Klimke 2016), zu den Folgen von sozialen Bewegungen (Bosi et al. 2016), zur elektronischen Kommunikation in Protesten (Sonntag 2013). Dabei entsteht ein außerordentlich inspirierendes und facettenreiches Bild des Protestgeschehens, das dabei helfen kann, die ausgetretenen Pfade der öffentlichen Kommunikation über Protest zu verlassen und neue Blickwinkel zu entdecken – eindrucksvoll sind die 57 Aspekte von Protestkulturen (weitere ließen sich sicherlich hinzufügen), die der von Fahlenbrach u. a. herausgegebene Sammelband in Einzelbeiträgen aufzeigt. 2.4 Bewegungsforschung im Vergleich
Vergleiche gehören inzwischen zum Standardrepertoire der Bewegungsforschung. Klassisch sind diachrone Studien zu Protesten und sozialen Bewegungen, die immer erneut und keineswegs ohne Kontroversen Merkmale von „alten“, „neuen“ und „allerneuesten“ Bewegungen hervorheben. Besonders prominent wurde dieses Vor-
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gehen in der Profilierung von „neuen sozialen Bewegungen“, die seit den 1960erJahren für einige Jahrzehnte und in einigen Ländern den Ton angegeben haben (vgl. Klein et al. 1999). Länderstudien fügen meist eine synchrone Vergleichsdimension hinzu, um das spezifische Profil und die Entwicklungsdynamik nationaler Protestund Bewegungskulturen sichtbar zu machen. Mit der verstärkten internationalen Kooperation sind weitere Vergleichsperspektiven hinzugekommen, wie einige der zu rezensierenden Veröffentlichung belegen. Der von Fillieule und Accornero editierte umfangreiche Band „Social Movement Studies in Europe“ (2016) informiert insgesamt zuverlässig und anregend über den Stand der Bewegungsforschung in Europa10. Der Sammelband ist zweigeteilt. In einem ersten Teil werden Forschungsansätze und -ergebnisse zu ausgewählten länderübergreifenden Bewegungen in Europa vorgestellt und analysiert, so die Proteste der Jahre 1968 und 1989, die Arbeiterbewegung, rechtsradikale Bewegungen, Konflikte um Migration und ethnische Vielfalt, Arbeitslosenproteste, Frauen(bewegungs)forschung und die mit der Finanzkrise von 2008 und von verschärften Austeritätspolitiken in den südeuropäischen Ländern ausgelösten Protesten (Indignados und Occupy). Einige dieser vergleichenden und länderübergreifenden Beiträge beruhen auf größeren, von der EU geförderten Forschungsprojekten der Autorinnen bzw. Autoren und bieten vertiefende Einblicke in die Forschungspraxis. Die Aufzählung der Beiträge macht jedoch auch deutlich, dass zahlreiche Bewegungen kein eigenes Kapitel bekommen haben, wie z. B. die Ökologie- und Anti-AKWBewegung, Friedensbewegungen, Bauernproteste oder die Schwulen- und Lesbenbewegungen. Immerhin ist ein wichtiger Meilenstein gesetzt. Der zweite Teil des Bandes versammelt informative Übersichten zur Bewegungsforschung in verschiedenen europäischen Ländern (England, Deutschland, Niederlande, Frankreich, Italien, Schweiz, Irland, Schweden, Spanien, Portugal, Griechenland, Türkei, Ungarn, Rumänien, Sowjetunion bzw. Russland). Auch wenn es den Herausgebern gelungen ist, Länder aus allen europäischen Himmelsrichtungen zu präsentieren, fehlen doch einige wichtige Nationen. Die Beschränkung auf nur ein skandinavisches Land ist ebenso bedauerlich, wie z. B. die Nichtberücksichtigung von Belgien oder der Ukraine, Tschechien und vor allem von Polen, das nicht nur bedeutende Protestbewegungen (erinnert sei nur an „Solidarnosc“) hervorgebracht, sondern auch intensive Bewegungsstudien angeregt hat. Der präsentierte Forschungsstand lässt einige Entwicklungen deutlich werden, die hergebrachte Annahmen und Unterscheidungen infrage stellen. (a) Die Gegenüberstellung eines identitätsorientierten europäischen und eines pragmatischen usamerikanischen Paradigmas in der Bewegungsforschung ist nicht mehr zu halten. Die europäische Bewegungsforschung war stets vielfältiger und ist in den letzten Jahrzehnten noch bunter geworden. Sie hat sich längst auf breiter Front den vielfältigen angelsächsischen Forschungsansätzen geöffnet. Erleichterte und kostengünstige Kommunikationsmöglichkeiten haben einen internationalen Austausch vorangebracht, der nationale Idiome zunehmend perforiert, ohne landesspezifische 10
Ähnliche Profile von Bewegungen und Bewegungsforschung liegen auch für andere Regionen vor (Arbatli und Rosenberg 2017), so z. B. für den Mittleren Osten und Afrika (Beinin und Vairel 2013; Engels et al. 2015) oder Lateinamerika (Almeida 2014; Almeida und Cordero Ulate 2015).
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Bewegungstraditionen völlig aufzulösen. (b) Bewegungsforschung folgt nicht in erster Linie wissenschaftsinternen Logiken, sondern ist stark von den Veränderungen ihres Gegenstands geprägt. Proteste und Bewegungen verdanken ihre Sichtbarkeit und öffentliche Resonanz permanenten Veränderungen und immer neuen Projekten, Aktionsformen und Themen, das heißt sie sind auf permanente Veränderung gestimmt. Dazu trägt auch bei, dass ihre populären Aktionsformen zunehmend auch von Gruppen genutzt werden, die bislang nicht protestaffin waren. In den sich herausbildenden „Bewegungsgesellschaften“ (Neidhardt und Rucht 1993) werden immer neue Bevölkerungsgruppen aktiv. Entsprechend vielfältig sind die Forschungspfade, um dem vielfältigen Protestgeschehen gerecht zu werden. Blickt man auf den akademischen Betrieb, dann gilt noch immer, dass die Protestund Bewegungsforschung in Deutschland weniger stark institutionalisiert ist als in anderen westlichen Ländern. „Research on social movements in Germany started late and has never really managed to establish a stable foothold within the German university system“ (Haunss 2016, S. 214). Oft entstehen Proteststudien unter dem Einfluss der Parteien- und Demokratieforschung, halten Distanz zur internationalen Protestforschung und können so kein dem Gegenstand angemessenes Profil gewinnen oder die internationale Debatte beeinflussen. 2.5 Digitale Netzwerke und Protest
In jüngerer Zeit gehen von Internet und sozialen Medien eine enorme Faszination für die Protest- und Bewegungsforschung aus (vgl. Sonntag 2013; Kneuer und Richter 2015; Coban 2016). Bahnbrechend waren die Erfahrungen des „Arabischen Frühlings“ und die Studien von Manuel Castells, der die Ausbreitung von globalen Protesten in einem engen Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten der Internetkommunikation gesehen hat (zusammenfassend Castells 2015). Allerdings werden in jüngster Zeit auch verstärkt die Grenzen von „connective action“ (Bennett und Segerberg 2013) für die Möglichkeiten von „collective action“ (Figueiras und Espirito Santo 2016) in den Blick genommen. Der Einfluss des Internets und der digitalisierten Kommunikation auf die Praxis sozialer Bewegungen und Proteste wird auch in der Zukunft große Aufmerksamkeit auf sich ziehen müssen. Dabei kommt es nicht nur darauf an, mit den rasanten technologischen Entwicklungen und ihren Nutzungen in Protesten Schritt zu halten und die Chancen der zunehmenden Digitalisierung von Forschungsmethoden, z. B. im Sinne einer „digital sociology“ zu nutzen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Ambivalenzen digitaler Kommunikation für die Dynamik von Protestbewegungen. Neben den offensichtlich förderlichen und protestaffinen Faktoren wie schnelle, kostengünstige Kommunikation und Mobilisierung, Globalisierung und Internationalisierung von Themen und Aktionsformen und diversen Formen des digitalen Aktivismus gilt es auch die negative Effekte im Blick zu behalten, wie z. B. der Rückgang der face-to-face Kommunikation und damit fehlendes interpersonales Vertrauen, geringe Verbindlichkeit, zunehmende Beliebigkeit, verstärkte Kontroll- und Repressionsmöglichkeiten, die von einer umfassenden staatlichen Internetkontrolle bis zur Video-Überwachung von Protesten reichen. Sicher dürfte aktuell nur sein, dass solche Ambivalenzen nicht stabil bleiben werden.
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2.6 Proteste statt Bewegung
Parallel zu den diagnostizierten Entwicklungen im Forschungsfeld selbst hat sich auch die wissenschaftliche Aufmerksamkeit weg von sozialen Bewegungen hin zu Protesten verschoben. Diese Entwicklung hat ihre Berechtigung und ist analytisch ertragreich. „Zum Ersten findet Protest zunehmend als eine politisch wie wissenschaftlich relevante Kategorie Anerkennung und Beachtung. Zum Zweiten löst sich die Protestforschung zumindest teilweise aus ihrer Einbettung in den breiteren Rahmen der Bewegungsforschung und gewinnt damit eine gewisse Eigenständigkeit. Diese hat auch insofern ihre Berechtigung, als nicht alle Akteure, die zum Mittel des Protests greifen, als Bewegungsakteure zu verstehen sind. Zudem erweist sich Protest als ein durchaus komplexes Phänomen, dessen theoretische, methodische und empirisch-deskriptive Erschließung erhebliche Anforderungen stellt und damit auch konzertierte Anstrengungen nahelegt“ (Rucht und Teune 2017, S. 30). Allerdings drohen mit der verstärkten Protestorientierung auch ambitionierte gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven verloren zu gehen und Protestdynamiken, die sich mittelfristig zu Bewegungen verdichten, einer kurzfristigen Betrachtung geopfert zu werden. So fehlt z. B. ein synthetisierender Versuch, die globalisierungskritischen Proteste der letzten Jahrzehnte in einer Entwicklungsperspektive zu sehen, die über den gerade aktuellen Mobilisierungszyklus hinaus reicht. Damit droht zudem eine wichtige Gedächtnisfunktion von öffentlicher Wissenschaft verloren zu gehen. Eine weitere Leerstelle ist der Mangel an theoretisch ambitionierten und gleichzeitig empirisch anspruchsvollen Forschungsprojekten in der Tradition der Forschungsgruppe um Alain Touraine. Auch wenn ihre prophetischen Ambitionen, Bewegungen eine spezifisches Selbstverständnis nahezulegen, nicht zum Vorbild taugen, gilt dies doch für den Versuch, Gesellschaftsdiagnosen mit empirischer Protest- und Bewegungsforschung systematisch zu verknüpfen. Aktuelle Zeitdiagnosen kommen weitgehend ohne den Bezug auf Proteste und soziale Bewegungen aus und umgekehrt dominiert in der Protestforschung eine kurze und mittlere Reichweite. Ihre Theoriebezüge beschränken sich meist auf generelle Referenzen (Stichwort „Neoliberalismus“) oder die selektive Betonung einzelner Dimensionen etwa im Sinne von „Empörungsbewegungen“ oder „networked social movements“. Die benannten gesellschaftlichen Kontexte und Trends bleiben dem Protestgeschehen dabei eher äußerlich. 2.7 Bewegungen von Rechts
Rechtspopulistische Bewegungen und rechtsradikale Proteste haben zu recht einige wissenschaftliche Aufmerksamkeit ausgelöst (vgl. Geiges et al. 2015; Vorländer et al. 2016). Ihre politische und wissenschaftliche Brisanz dürfte schwer zu überschätzen sein. Schließlich bedeutet der autoritäre Backlash in vielen westlichen Demokratien eine massive Infragestellung zahlreicher Gesellschaftsdiagnosen wie etwa der Postmaterialismus-These, die ja eine Hintergrundannahme der Debatte über neue soziale Bewegungen darstellte. Auch die Fukuyama-Diagnose vom „Ende der Geschichte“ im Sinne eines Siegeszugs liberaler Demokratien nach 1989 erlebt mit dem autoritären Niedergang und inneren Zerfall einiger liberaler Demokratien ihre Umkehrung.
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Wichtig wäre in der Auseinandersetzung mit dem durchaus erfolgreichen Rechtspopulismus nicht nur eine Stärkung der historischen Perspektive bis hin zu entsprechenden Kämpfen und Konflikten in der Zwischenkriegszeit und den schon damals zirkulierenden „Retrotopien“ (Bauman 2017). Ihre Einbettung in die aktuelle globalisierungskritische Debatte verspricht zusätzliche Aufklärung, artikulieren diese Protestbewegungen doch auch als bedrohlich wahrgenommene Globalisierungsfolgen, die z. B. als Ergebnis von Migration und Flucht oder von Souveränitätsverlusten durch EU etc. gesehen werden. 2.8 Nähe zum Forschungsgegenstand
Die Deutungsangebote der Bewegungsforschung bleiben meist nahe an den Perspektiven der Bewegungsakteure oder ihrer Gegenspieler. Dies gilt auch für die bevorzugten Forschungsstrategien. Auch sie wollen möglichst nahe an den Akteuren bleiben. Eine Ausnahme bilden rechtsradikale und rechtspopulistische bzw. linksradikale Bewegungen, die sich dem forschenden Blick häufig entziehen. Dies zeigt sich z. B. am starken Interesse an den Mikromobilisierungskontexten im Sinne der alltäglichen Netzwerke von Bewegungsakteuren und der zivilgesellschaftlichen Einbettung von Protestorganisationen11, der Praxis des Protests oder den Binnenstrukturen und Entscheidungsprozessen in Bewegungen12. Solche Themenfelder sind akademisch zunehmend anerkannt und attraktiv. Zudem besteht ein Repertoire an vertrauten und bewährten Untersuchungskonzepten mittlerer Reichweite: Bewegungsorganisation, Mobilisierungsstrategien, Framingprozesse, politische Gelegenheitsstrukturen etc. Dies begünstigt zweifellos internationale Kooperation und Vernetzung in der Bewegungsforschung, wie die wachsende Zahl von internationalen Fachtagungen bestätigt. In einigen Themenfeldern hat auch ein verstärkter Austausch mit dem akademischen Mainstream begonnen, der angesichts bewegter Zeiten bereit ist, den Einfluss von Protesten und sozialer Bewegungen auf ihr spezifisches Feld stärker zu berücksichtigen. Dies gilt z. B. für das Feld internationaler Beziehungen, wie einige der präsentierten Texte verdeutlichen, oder für die Soziale Arbeit und die Sozialpolitik, die verstärkt ihre bewegten Wurzeln freilegt und die Impulse aktueller Proteste und Bewegungen aufnimmt (vgl. Franke-Meyer und Kuhlmann 2018). Diese Herausforderung gilt auch umgekehrt. Die beschriebenen Bewegungs- und Forschungstrends verlangen eine permanente Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte und Handlungsfelder, in denen sich Proteste und Mobilisierungen bewegen. Gerade die Nähe zum Forschungsgegenstand erfordert – so die auf den ersten Blick paradoxe Schlussfolgerung – verstärkte gesellschaftsanalytische Anstrengungen, um der möglichen Bedeutung von Protesten und Bewegungen auf die Spur zu kommen. 11
Exemplarisch der Sammelband zu den „Microfoundations of the Arab Uprisings“ (Volpi und Jasper 2018). 12 Inspirierend für diese Forschungsperspektive war u. a. die Studie von Poletta (2002) über demokratische Entscheidungsstrukturen in US-Bewegungen. Neuere empirische Studien zu Entscheidungsprozessen in „Global Justice Movements“ (della Porta und Rucht 2013) und autonomen bzw. gewaltfreien Aktionsgruppen in Deutschland (Leach 2016) bestätigen die Bedeutung von demokratischen Entscheidungsmustern in Protestgruppen.
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R. Roth
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