Österreich Z Soziol (2012) 37:219–222 DOI 10.1007/s11614-012-0029-3 Ta g u n g s b e r i c h t e
„Hillarys Hand. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart“ Ein interdisziplinärer Workshop zur Bildanalyse an der Universität Hildesheim, 18./19. November 2011 Irene Leser
Eine Fotografie aus dem „Situation Room“ im Westflügel des Weißen Hauses, in dem sich am 1. Mai 2011 das nationale Sicherheitsteam der USRegierung versammelte, ging um die Welt. Laut der Bildunterschrift des Weißen Hauses erhalten Präsident Barack Obama, der Vize- Präsident Joe Biden und andere Mitglieder des National Security Team „an update on the mission against Osama bin Laden“. An Kommentaren zu diesem Foto fehlt es im öffentlichen Diskurs nicht. Wissenschaftlich begründete Aussagen hingegen waren bisher rar. Daher widmete sich ein zweitägiger Workshop der Fotografie. Der Forschungskreis „Materiale Kulturanalysen“ im HerderKolleg und das Methodenbüro des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim hatten acht Bildanalytikerinnen und -analytiker eingeladen, um das Foto im interdisziplinären Diskurs zu besprechen. Die einzelnen Zugangsweisen sollten die für den Workshop maßgebliche Fragestellung beantworten, was das Foto in seiner bildimmanenten, -formalen und -ästhetischen Vermittlung zu etwas Besonderen in der Bildpolitik
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der Moderne macht. Hierbei zeigte sich, dass das Foto aufgrund seiner „Mehrdeutigkeit“ (Martin Schuster, Psychologie, Köln) gar nicht so einfach zu analysieren und zu interpretieren ist. Im Vergleich der Beiträge wurde deutlich, wie Michael Corsten (Sozialwissenschaften, Hildesheim) – einer der Veranstalter – abschließend kommentierte, „dass es sehr schwer ist, mit der Informationsfülle von Bildern und den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, umzugehen“. Zu fragen wäre also, ob und wie solch ein „Dokument der Zeitgeschichte und politischen Demonstration“ (Gerhard Schweppenhäuser, Philosophie, Würzburg) wissenschaftlich und methodisch kontrolliert analysiert werden kann. Auf dem Workshop zeigten sich aus methodischer Sicht recht unterschiedliche Zugangsweisen: Aglaja Przyborski (Psychologie, Wien) oder Jürgen Raab (Soziologie, Magdeburg) analysierten das Foto z. B. unter Betrachtung der formalen Bildanalyseelemente. Martin Schuster oder Michael Diers (Kunstgeschichte, Hamburg) hingegen gingen eher assoziativ vor. Ulrich Oevermann (Soziologie, Frankfurt) interpretierte das Foto zunächst kontextfrei. Ulrike Pilarczyk (Pädagogik, Braunschweig) oder Ruth Ayaß (Soziologie, Klagenfurt) erforschten das Foto vom Kontext ausgehend. Alle Herangehensweisen boten bestimmte Antworten auf die den Workshop übergreifende Fragestellung, wie und wodurch dieses Foto zu einer politischen Ikonographie der Gegenwart wird. Für Ulrich Oevermann, der das Foto objektiv-hermeneutisch zunächst strikt aus seiner Eigenlogik heraus analysierte und es als „Protokoll sozialer Realität“ las, ist das Foto ein an sich „vergleichsweise banales Dokument“, das „in bescheidenem Ausmaß inszeniert wurde“. Für ihn wird das Foto erst aufgrund der „historischen Bedeutung“ des abgebildeten „Ereignisses, die dem Gegenstand der Live-Übertragung und damit auch dessen offizieller Rezeption zukommt […] zwingend zu einem historischen Dokument“. Indem es aus der amerikanischen Perspektive die Schließung einer Agenda präsentiere, die mit der Zerstörung der Twin Towers in New York wie eines Teils des Pentagon in Washington begann, würde das Foto zu einem politisch relevanten Dokument. Weniger bildimmanente Banalität, eher geschickte Inszenierungen, erkannten andere Referierende in dem Foto. Für Aglaja Przyborski, die das Bild mit der dokumentarischen Methode analysierte, vermittelte sich der sogenannte Wesenssinn des Fotos in seiner in ihm enthaltenen Übergegensätzlichkeit. In der Gegenüberstellung der geometrischen Mitte, die auf das Herz und die Ordenszeichen von General Marshall Webb verweisen, und der Tiefenschärfe, durch die Hillary Clinton in den Fokus genommen wird, erkannte sie eine bildimmanente Kontrastierung. Webb, so Przyborski, sitzt mit emotionaler Distanzierung an seinem Laptop. Clinton hingegen ist in das Sehen involviert und zeigt den stärksten emotionalen Ausdruck der Abgebildeten. Przyborskis Erkenntnis könnte man darüber hinaus auch so interpretieren, dass die illegale, weil ohne Einschaltung der Legislative vollführte, Tötung Osama bin Ladens vom Militär nüchtern vollzogen wird, während Clinton als Außenministerin das Legalitätskonzept demokratischer Staaten verkörpert und in ihrer Gestik die Übertretung des Rechts vermittelt. In der perspektivischen Projektion verstärkte sich für Przyborski die Übergegensätzlichkeit. Rekonstruiert man die im Foto abgelichtete Schrägperspektive und setzt die architektonischen Gegebenheiten des Raumes mit den in ihm abgelichteten Personen ins Verhältnis, so wird ein markanter Fluchtpunkt sichtbar. Die Linienverlängerung der unteren Tischkante sowie der auf dem Tisch stehenden Laptops verweisen alle auf die von
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der Tiefenschärfe her am undeutlichsten abgebildete Audrey Tomason, die Leiterin der Antiterrorzentrale. Sie bildet laut Przyborski den spiegelbildlichen Fluchtpunkt zu dem, worauf die Anwesenden blicken oder zu blicken scheinen: die Tötung Osama bin Ladens. Geht man interpretatorisch nochmals einen Schritt weiter als Przyborski, könnte man das Bild also auch als dramaturgischen Höhepunkt einer zehnjährigen Geschichte der Verfolgung sehen, die sich in der dargestellten Bildachse wiederfindet. Ulrike Pilarczyk fokussierte in ihrer seriell-ikonographischen Fotoanalyse die Darstellung des Präsidenten Barack Obama im Vergleich zu Hillary Clinton. Clinton wird in ihren Augen in der Gegenüberstellung mit Obama aufgrund ihrer unbeherrscht erscheinenden Gestik subtil abgewertet. Obama hingegen erscheine trotz der, wie Martin Schuster sagte, „niedrig, demütigen Position“, als Souverän, als ein in den Worten von Ulrich Oevermann „nur der Sache dienender, uneitler Amtsinhaber, der seine Autorität nicht auf äußeres Prestige und auf vordergründige Inszenierung gründen muss“. Laut Pilarczyk suggeriert die Inszenierung, ähnlich wie andere von Pete Souza (dem offiziellen Fotografen des Weißen Hauses) veröffentlichte Fotos, dem amerikanischen Volk, dass sie den richtigen Mann gewählt hätten. Er ist es, der den „Schneid hatte, eine solch risikoreiche und letztlich erfolgreiche Entscheidung zu treffen“, so ihre Schlussfolgerung. Für Jürgen Raab verdichtet sich die gesamte Bildkomposition in dem im Hintergrund des Fotos verdeckt zu sehenden Siegel des US-Präsidenten, ein Siegel, das Oevermann auf einem der beiden Pappbecher auf dem Tisch wiedererkannte. In seinem Schnabel trägt der im Siegel abgebildete Adler den Schriftzug „E pluribus unum“: aus vielen eines. In seiner rechten Kralle hält er einen Lorbeerzweig als Symbol des Friedens. In der linken Kralle befinden sich 13 Pfeile, die in konventioneller Lesart die Gründungsstaaten von Amerika symbolisieren. Gleichzeitig könnten, so Raab, die Pfeile aber auch als Symbol der Kriegsbereitschaft gelesen werden. Die durch den Adler symbolisierten Gegensätze finden sich laut Raab in den auf dem Foto abgelichteten Personen wieder: Clintons ruhender linker Arm verweise auf Frieden, wohingegen das Symbol des Krieges sich im Militär Webb widerspiegele. Des Weiteren identifizierte Raab auf dem Foto 13 Gesichter, die mit höchst unterschiedlichen, keineswegs einheitlichen Reaktionen aufwarteten. Insgesamt zeige das Foto also „Kohärenz und Geschlossenheit einerseits, Differenz und Heterogenität andererseits“. Ruth Ayaß erkannte in dem Foto, eine Formulierung von Susan Sontag verwendend, vor allem „ein Portrait der Abwesenheit“, des Verbergens und Auslassens. Auch das von Jürgen Raab in den Mittelpunkt seiner Analyse gerückte Siegel wird verborgen. Zugespitzt würde das „Portrait der Abwesenheit“ in der durch die rechte Handführung symbolisierten Gestik der Außenministerin. Im Vergleich mit klassischen Kriegsfotografien, z. B. von Robert Capa, sehe der Betrachter nicht, auf wen oder was das Foto verweise. Man könnte damit von einer „domestizierten Kriegsfotografie“ sprechen. Der Betrachter würde im Foto nichts Schauderhaftes sehen, er sieht vielmehr nur andere schaudern. Das Foto tritt Ayaß zufolge also zwischen den Betrachter und den Tötungsakt, den es verdeutlichen soll. Für sie ist die Betrachtergruppe im Foto die vermittelnde Instanz. Im Vergleich mit anderen in die Historie eingegangenen Fotos, wie dem Kniefall Willy Brandts oder Joe Rosenthals „Raising the Flag on Iwo Jima“, zeige sich gattungsanalytisch, so Ruth Ayaß, dass auch in diesem Foto die Geschichte zu einer einzigen Geste – hier die von Hillary Clinton – verkürzt wird. Ein langwieriger Prozess – die Verfolgung
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des Al-Qaida-Chefs Osama bin Laden – werde auf einen einzigen Moment reduziert. Das Foto dokumentiert für Ayaß einen flüchtigen Moment, trägt etablierte Symbole – wie die Orden von General Marshall Webb oder das Siegel des Präsidenten – in sich und lässt sich immer wieder erzählen, etwa durch Zitate oder die Überführungen in andere Materien, in diesem Falle auch durch zahlreiche Karikaturen, die für Ayaß entstanden, weil das Foto auf etwas verweise, das es selbst auslässt. Interpretiert man wie Michael Diers das Foto in der Tradition des Kunsthistorikers Aby Warburg, so lassen sich im Kompositionsvergleich erstaunliche Parallelen zu Ikonographien der Vergangenheit finden. Das Foto erinnerte Diers im Aufbau und Sujet etwa an das Gruppenbildnis in Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp aus dem Jahr 1632 oder an das berühmt gewordene Foto des „christusgleich aufgebahrten“ Che Guevara vom 10. Oktober 1967, fotografiert von Freddy Alborta. Martin Schuster erinnerte es an das von Vincenzo Camuccini 1798 gemalte Bild zum Mord von Brutus an Caesar. Es wecke die Assoziation eines gemeinschaftlichen Mordes an einem Gegner. Die Tat bleibe jedoch aufgrund des gemeinsamen Handelns ungesühnt. Da der Tote gleichwohl nicht gezeigt wird, unterscheide sich das Foto erheblich von den Darstellungen anderer historischer Bilder. Die Besonderheit dieses Fotos sei, wie wiederum Diers meinte, dass es ein „indirektes Zeugnis des Grauens“ ist. Es wird, wie Gerhard Schweppenhäuser sagte, „von einer unsichtbaren Kraft beherrscht, […] von einem ambivalenten, abstoßenden und anziehenden Bildobjekt, das im Bilde sichtbar zu sein scheint, für uns jedoch unsichtbar bleibt“: Osama bin Laden. In der Rekapitulation der Bildanalysen wird deutlich, dass das Foto vor allem auf Grundlage seiner Bildkomposition und unter Einbeziehung von Kontextwissen zur politischen Ikonographie der Gegenwart gehört. Wie Michael Kauppert (Veranstalter, Sozialwissenschaften, Hildesheim) in seinem Versuch der Zusammenfassung der Beiträge meinte, wird auf ganz verschiedene Weisen Bildpolitik betrieben: im, mit und durch das Foto. Im Foto würden sich etwa die Repräsentanten der amerikanischen Führungselite zeigen. Es verdeutliche das Verhältnis zwischen Politik und Militär, zwischen dem Präsidenten und der Außenministerin. Raffinierter, weil verdeckter, sei dagegen, dass im Foto offenbar auch die amerikanische Zivilreligion Gestalt annehme („e pluribus unum“). Mit dem Foto würde Politik betrieben, weil es im Nachhinein eine verfassungsrechtlich bedenkliche Handlung legitimieren solle. Es gewähre darüber hinaus für den Betrachter einen Blick hinter die Kulissen der Macht und simuliere seine Teilhabe, während es ihn gleichzeitig ausschließe, weil es das, was es zu zeigen vorgibt, gerade nicht zeigt. Durch die Bildkomposition schließlich würden Verknüpfungen zu Bildern der Vergangenheit evoziert. Das Foto fasziniere, weil es bestimmte Darstellungen aus der Vergangenheit in der Gegenwart nachleben lasse, die einen Verweis auf die Tötung eines Feindes lieferten, obwohl dieser im Foto nicht abgelichtet ist. In der Zusammenführung aller Beiträge zeigt sich, dass dieses Bild durchaus vielschichtig gelesen werden kann und reichhaltige Interpretationen zulässt. Ein Sammelband zum Workshop ist in Vorbereitung.